Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Niccolò Piccinnis „Didon“

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Mit Spannung erwartet gab es 2024 ein bemerkenswertes Highlight auf den Aufführungsplänen der diesjährigen Festivals: Niccolò Piccinnis Didon (als Dido, Königin von Karthago einem weniger polyglotten Publikum annonciert, aber in der Originalsprache serviert). Das bezaubernde Ambiente des Rokkokko-Schlosses in Rheinsberg, Sitz von „Fritzes“ Bruder Heinrich, verfügt (bei gutem Wetter) über eine hinreißenden Spielstätte im Innenhof mit unvergleichlichem Bick über das Wasser.

Nicolò Piccinni/Wikipedia

In diesem Jahr also  Piccinnis Oper Didon, die zwischen 1969 und 2021 einige Male in Italien, Frankreich und der Schweiz gegeben wurde (davon nachstehend mehr), eines seiner wichtigen Werke für Paris 1783, in Anwesenheit des Noch-Königs Louis XVI und seiner Frau Marie-Antoinette, 16 Jahre vor deren Ende. Nach zwei Wiederaufführungen in Fontainebleau wurde die Oper am 1. Dezember 1783 in Paris uraufgeführt. Sie erwies sich als der größte Erfolg des Komponisten und wurde bis 1826 fast jedes Jahr mit insgesamt 250 Aufführungen an der Pariser Oper (der Académie Royale) aufgeführt.

In Rheinsberg nun dirigierte Bernhard Forck in der modernen deutschen Erstaufführung (1802 zuletzt eben in Rheinsberg gegeben) die Akademie für Alte Musik (liebevoll in Berlin Akamus genannt), die Regie hat Andreea Geletu; es singt das Vokalsystem Berlin, und als Sänger werden genannt: Fanny Utiger/ Noemie Bousquet als Didon, Chen Li/ Ido Beit Halachmi als Enée, Maksim Andreenkov/Yiwei Mao als Iarbe, Alexandra Neason/Lyriel Benameur als Phénice sowie in der Doppelrolle des Araspe/Anchise dann Hyunseok Lee – alles Preisträger*innen des 33. Internationalen Gesangswettbewerbs der Kammeroper Schloss Rheinsberg.

.Zur Oper selbst Texte von Friederike Janott aus dem Programmheft zur Rheinsberger Aufführung sowie von Mariateresa Dellaborra aus der CD-Beilage zur ersten Aufnahme bei Dynamic aus Baris Teatro Petruzzelli 2001. Eine Rezension der Aufführung findet sich  in unserer Rubrik Festivals 2024. Geerd Heinsen

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Zu Piccinnis „Didon“: die Titelsängerin der Uraufführung Antoinette de St. Huberty als Didon/Stich/Gallica

Friederike Janott: Von Intrigen, unerschöpflichem Schaffensdrang & Innovationsbewusstsein. Niccolò Piccinni.  Es scheint die Krönung eines ebenso schaffens- wie erfolgreichen Komponistenlebens zu sein: Vom neapolitanischen Botschafter König Ludwig dem XV. empfohlen und auf Initiative des Pariser Künstlerkreises um den Literaten Jean-Francois Marmontel wurde der süditalienische Komponist Niccolo Piccinni mit der Zusage einer jährlichen Gratifikation, Einnahmen aus den Aufführungen seiner Opern sowie der Beschäftigung am Hof und beim Adel 1776 nach Paris geladen. Diesem Angebot folgte der 48-jährige gestandene Tonsetzer direkt, sollte aber schnell herausfin­den, dass das Pariser Kulturleben, das gerade einmal fünf Jahre zuvor die Aufführung seiner Opera buffa »La buona figliuola« mit großer Begeiste­rung aufnahm, nicht nur glanzvolle Aussichten für ihn bereithalten sollte.

Im Geheimen führte ihn der Zirkel um Marmontel, dessen Mitglieder sich zu erbitterten Feinden des in Paris zu dieser Zeit dominierenden Kompo­nisten Christoph Willibald Gluck erklärt hatten, nämlich als Kontrahenten desselben ins Feld – und schon kurze Zeit nach Piccinnis Ankunft entbrann­te eine der größten Fehden der Musikgeschichte. Geführt wurde dieser Ästhetikkampf aber nicht von den Komponisten selbst, sondern von ihren jeweiligen Anhängern – es handelte sich also um eine Art Stellvertreter­krieg: Auf der einen Seite der 1714 in der Oberpfalz geborene Wahlwiener Gluck mit seinen sogenannten Reformopern, auf der anderen Seite der vierzehn Jahre jüngere und im süditalienischen Bari geborene Piccinni.

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Zu Piccinnis „Didon“: Etienne Lainez war der Enée der Uraufführung, hier als Rodrigue in Piccinnis „Chiméne“/Gallica

Wie aber kam es dazu und wo verliefen die vermeintlichen Trennlinien? Glucks Auffassung zufolge hatte sich sowohl die ernste Opera seria als auch die komische Opera buffa zu weit weg vom >wirklichen Wesen< der Kunstform entwickelt. Diese bestand für ihn darin, dass die Musik im Dienst der Dichtung stehen soll. Keine Nummernoper, in der sich le­diglich die Sängerinnen und Sänger produzieren, sondern ein durch­komponiertes Drama, das als Ganzes aus Text und Musik wirkt, war das von ihm angestrebte Ideal. Große Erfolge feierte er in Wien mit seinen beiden Reformopern »Orfeo ed Euridice« (1762) und »Alceste« (1767), die ihm auch international großen Ruhm einbrachten. Im Pariser Opernleben und damit der Hochburg der französischen Oper debütier­te er wiederum mit seiner »Iphigenie en Aulide« (1774) und sicherte sich mit diesem und den beiden nachfolgenden Bühnenwerken »Orphee« (ebenfalls 1774) sowie einer französischen Überarbeitung seiner »Alces­te« (1776) die Vormachtstellung im dortigen Adels- und Kulturkreis. In diesen Jubelsturm stimmten jedoch nicht alle mit ein und es formierte sich schnell eine Gruppe von »Anti-Gluckisten« geführt vom Literaten­kreis um Marmontel, dem Dichter Jean-Frangois de La Harpe und dem Musikkritiker Jean-Benjamin de Laborde. Ihrer Auffassung nach habe Gluck mit seiner Reform die Schönheit der Musik zugunsten einer ver­meintlichen »Natürlichkeit« im Ausdruck und letztlich den Genuss der Kunstform preisgegeben; die eigentliche Anmut, die melodiösen Einfälle und die Kantabilität seien aufgegeben worden. Sie wünschten sich eine Neuerung der französischen Oper in der die Musik zwar das Gemüt rührt, aber zugleich die Ästhetik der Gattung gewahrt wird – kurz: wo die Kunst ein untergeordnetes, schmückendes Faktum des Lebens dar­stellt. Ihr Vorbild fanden sie in der neapolitanischen Oper und suchten daher dort nach einem geeigneten Kandidaten, der für sie in Paris die französische Oper revolutionieren und Glucks Werke aus den dortigen Opernhäusern verbannen sollte.

Den glaubten sie in Piccinni gefunden zu haben, der sich mit schier unfassbarem Schaffensdrang und einem sicheren Gespür für kreative Innovationen auf dem Operngebiet einen internationalen Namen gemacht hatte. Über seine familiäre Herkunft und Kindheit ist wenig bis nichts bekannt; älteren Quellen zufolge soll sein Vater Musiker gewesen sein und bei seiner Mutter soll es sich um die Schwester des Opernkompo­nisten Gaetano Latilla gehandelt haben.

Zu Piccinnis „Didon“: Karikatur von Honoré Daumier in Charivari (3. Juli 1842)/ „Enée et Didon“/Museo Schmidt Turin

Die erste gesicherte Information ist sein Umzug an die westliche Küste Italiens in das von seinem Geburtsort etwa 260 Kilometer entfernte Nea­pel – zu dieser Zeit absolute Hochburg der italienischen Oper. Dort besuchte er ab 1742 im Alter von 14 Jahren das Konservatorium Sant’Onofrio und ging dort insgesamt zwölf Jahre lang bei den äußerst profilierten Komponisten Leonardo Leo und Francesco Durante in die Lehre, zu deren berühmten Schülern neben Giovanni Paisiello auch Giovanni Battista Pergolesi gehörte. Sein Operndebüt gab er 1754 am Teatro dei Fiorentini mit der Opera buffa »Le donne dispettose«, die in Neapel schnell Erfolg hatte und ihm innerhalb kurzer Zeit zahlreiche weitere Auf­träge sowohl für komische als auch ernste Opern einbrachte.

Sein Ansehen wuchs schnell und auch der internationale Durchbruch blieb nicht aus. In Neapel hatte er zu dieser Zeit verschiedene Posten inne: So war er zweiter Kapellmeister an der Kathedrale und seit 1771 dort auch zweiter Organist in der königlichen Kapelle. Unglaublich erscheint, in welchem Tempo er aus scheinbar unerschöpflicher Inspirationsquelle Opernwerke schuf: Bis ihn 1773 eine Intrige am römischen Hof den Auf­trag kostete, komponierte Piccinni für jede römische Karnevalssaison eine neue Oper; zur selben Zeit schuf er für Neapel über 30 Opern und weitere für die wichtigsten Städte Italiens. Bis zu seinem Wechsel an den Pariser Hof hatte Piccinni bereits 96 Opern und damit mehr als dreiviertel seines gesamten Oeuvres komponiert!

Als würdiger Nachfolger Pergolesis, als den ihn die Gluck-Gegner erachte­ten, erlangte er mit seiner ersten für Paris geschriebenen Oper »Roland«, die 1778 auf die Bühne kam, entgegen der Befürchtungen des Komponis­ten großen Erfolg. Das Libretto der dreiaktigen Tragedie lyrique schrieb dabei kein anderer als Marmontel selbst. Neben drei weiteren Opern ver­fasste er auch das Libretto zu Piccinnis fünf Jahre später auf Schloss Fontainebleau bei Paris uraufgeführten »Didon«, die mit Abstand das erfolg­reichste Werk unter all seinen in Paris aufgeführten Opern wurde. Hierin verbindet Piccinni kunstvoll die klassischen dramaturgischen Insignien der französischen Tragedie lyrique wie die Chor- und Ballettszenen mit der italienischen Operntradition und schafft so ein innovatives enges Inein­andergreifen von Handlung und Musik durch Einfügung von Arien, hand- lungsorientierten Ensembles und Chören. Letztlich zeigt sich gerade in diesem Werk – so die Pointe um den in Paris für eine neue französische Oper geführten Zwist – dass die gegen Gluck gerichteten Forderungen sozusagen meisterhaft mit Glucks Ergebnissen verschmelzen und auf einer künstlerischen Ebene die vom Publikum und einigen eingeschwore­nen Zirkeln heraufbeschworenen Gegensätze in dieser Form gar nicht existieren.

Nachdem Piccinni infolge des Ausbruchs der Französischen Revolution für kurze Zeit nach Neapel zurückkehrte, zog es ihn ab 1798 erneut nach Frankreich, wo er zwei Jahre später im Alter von 73 Jahren in Passy bei Paris verstarb. Was er der Opernwelt mit seinem unfassbaren Schaffens­drang hinterließ, spricht für sich: Bis auf 16 Werke, deren Herkunft als zweifelhaft gilt, schuf er in seinem gesamten Leben insgesamt 114 Werke für die Opernbühne und widmete damit sein Leben hauptsächlich der Oper, denn daneben schrieb er lediglich einige wenige geistliche Werke und Instrumentalmusik. Friederike Janott.

Zu Piccinnis „Didon“: Caroline Branchu (die berühmte Spontini-Julia und Cherubini-Médée ihrer Zeit) als Didon an der Academie Royale de Musique 1824/ Gallica

Mariateresa Dellaborra schreibt: Der Erfolg einiger ab 1754 in Italien gespielten Opern, der einfache, elegante Stil, die immer sorgfältige, passende Orchesterbesetzung, die Um- und wesentliche Neubearbeitung einiger bereits erfolgreicher Titel wie Alessandro nelle Indie, Artaserse und Olimpiade lenken in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit nicht nur von Publikums und Kritik in Italien auf Piccinni, sondern auch einiger französischer Literaten und Geistesmenschen wie Jean-Benjamin de Laborde, Jean Frangois de La Harpe und Jean-Frangois Marmontel. Letztere sehen in ihm den Nachfolger Pergolesis und betrachten ihn für geeignet, als Anti-Gluck aufzutreten, der fähig sein würde, das Sprachrohr einer neuen Poesie (die sie selbst auf den Seiten des Journal de politique et de literature verfochten) zu werden und innerhalb des Dramas eine originelle Sicht der Musik zu schaffen. Die Polemik, die bereits seit dem ersten Erscheinen Glucks auf den Pariser Bühnen (1774 mit der französischen Fassung von Orfeo ed Euridice) tobte, war auf die Kritik an der Gluck’schen Schreibweise voller „Schmerzensschreie, krampfhaftem Stöhnen“ anstatt „vollständigen, zusammenhängenden und regelmäßigen“ Gesangs konzentriert.

Um – nach Meinung der Enzyklopädisten – die verschie­denen Seelenzustände zum Ausdruck zu bringen, war es sicherlich nötig, „schmerzliche“, „aber nicht unange­nehme Akzente“ zu finden, die „dem Ohr, indem sie ins Herz eindrangen“ immer zu schmeicheln vermochten, und „der Zauber der Melodie“ sollte sich mit „dem erhal­tenen Eindruck“ vermischen. Das heißt, es schien, als ob Gluck „jenes wirklich opernhafte System des Einschubs von Motiven in das Drama“ verlassen und eher das „Reich“ einer rauhen, trockenen „Melodie“ errichtet hätte, die keine cantabili hatte und nicht zur französischen Phrase passte. Die Kunst sollte hingegen die Seele rühren, dies aber mit Anmut und immer Genuss vermittelnd.

Zu Piccinnis „Didon“: Die Titelrolle in der Uraufführung sang Anne Vallayer-Coster, Madame de Saint-Huberty, 1785/Wikipedia

Genau dies schien Piccinnis (1728-1800) Musik zu tun, des in Bari geborenen, in Neapel aufge­wachsenen und ausgebildeten Komponisten, eines Neffen jenes Gaetano Latilla, der damals als einer der erfolgreich­sten Musiker auf komischem Gebiet gefeiert wurde. Piccinni tritt also mit dem kulturellen Kreis um de La Harpe und Marmontel in Kontakt und bietet deren Idealen die weiche Kantabilität der neapolitanischen Oper, die Leichtigkeit in der musikalischen Annäherung und die Typologie der dramatischen Verflechtungen, die die antiken Mythen evozieren, an griechische und römi­sche Größe erinnern, dies aber aktualisieren und die Auffassung von einem Musiktheater widerspiegeln, wo die Kunst als untergeordnetes, schmückendes Faktum des Lebens betrachtet wird. Marmontel, ein ebenso fruchtbarer wie sorgfältiger Librettist, erinnerte nach­drücklich daran, dass „der Gegenstand der das Gemüt rührenden Künste nicht nur de Emotion ist, sondern der Genuss, der sie begleitet. Es genügt somit nicht, dass die Emotion eine starke ist, sie muss angenehm sein“. All dies stand sicherlich in völligem Gegensatz zu dem von Gluck verfochtenen strengen, tragischen Kunstideal und führte eher ein früheres Prinzip wieder ein, das in den ersten Jahrzehnten des 18. Jhdts. beliebt war. Demgemäß wurde die Musik als Ausschmückung eines süßlichen Dramas verstanden, in welchem die psycholo­gische Introspektion fehlte, die dramatischeren Situationen zugunsten einer zarten, konventionellen Liebenswürdigkeit verbannt waren und die Chöre nur zu Ehren der französischen Traditionen beibehalten wurden. Der Bund zwischen den Literaten und Piccinni wird 1778 offiziell besiegelt, als der Komponist als Paladin der neuen Anschauungen Roland und Phaon schreibt, wird vom künstlerischen Standpunkt aus aber konkret mit den Kompositionen von Iphigenie en Tauride (1781) und Didon (1783) wirksam, bei denen die gegen Gluck gerichteten Forderungen sozusagen mit Glucks Ergebnissen verschmelzen.

Zu Piccinnis „Didon“: der Dichter Jean-Francois de Marmontel/Gemälde von Alexandre Roslin, 1767/Wikipedia

Didon wird am 16. Oktober in Fontainebleau aufgeführt und hat einen derartigen Erfolg, daß sie im Dezember an der Pariser Academie Royale de Musique wiederaufge­nommen wird. Geschrieben ist das Werk in der Form der tragedie lyrique mit Accompagnati, Ariosi, Arien, Chören, in die Geschichte gemäß einer Logik eingefüg­ten Tänzen, sowie instrumentalen Zwischenspielen. Alle Teile sind perfekt untereinander verbunden und die Szenen eng miteinander verschmolzen.

Der von Marmontel geschriebene Text stellt die einzelnen Figuren äußerst klar vor und beleuchtet die ihre Handlungen bewegenden und bestimmenden Gefühle. Nicht nur Didon wird in ihrer zweifachen Haltung als gebieterische Königin und verliebte Frau dargestellt, sondern auch Enee und larbe weisen sowohl den politi­schen und öffentlichen, als auch den menschlichen und innerlichen Aspekt ihres Charakters auf. Ihr Handeln, das sie zu einer direkten Auseinandersetzung über beide Aspekte bringt, wirkt sich unvermeidlicher Weise auf die betreffenden Völker aus, wodurch es zu impo­santen Chorszenen voller Emotion kommt. Der Chor (einmal homophon, dann wieder in kleine kontrapunktie­rende oder mit den Solisten abwechselnde Gruppen unterteilt) spielt in der ganzen Oper eine sehr bedeuten­de Rolle; seine direkte Teilnahme am Fortgang der Handlung ist eines der deutlichsten Zeichen dafür, wie sich Piccinni dem französischen dramaturgischen Ausdruck angepasst hat. Auch die Rezitative (alle mit Orchester) sind höchst dramatisch und mit theatrali­scher Empfindung durchtränkt. Ihre Anzahl liegt wesent­lich höher als bei den Arien nach italienischem Vorbild, speziell nach dem Metastasios. Die Technik der „unitée de dessin – periode“ herrscht vor und wird in spezifi­schen emotionellen und berührenden Situationen ange­wandt, wo der lyrische, ununterbrochene Gesang das Drama bis zu höchsten Graden hervorstreicht.

Die Wirksamkeit dieses Singens entfaltet sich auf glänzende Weise, wenn es auf die szenische und interpretatorische Kunst des Ausführenden trifft und mit ihr verschmilzt. Im Falle von Didon war dies Antoinette Cecile-Clavel, genannt Saint-Huberty. Wie sie selbst sagte, war die Rolle der Didon auf sie zugeschnitten (Piccinni nannte sie „meine Didon“), da es sich um eine Partie handelte, in welcher das Spiel von größter Wichtigkeit war und „das Rezitativ so gut gemacht ist, dass es unmöglich ist, es zu singen“. Dieser Sängerin hat die Rolle der Didon somit ihre konkrete Realisierng zu verdanken, und noch heute heißt es, „Didon et Saint-Huberty sont immortelles“.

Zu Piccinnis „Didon“: Bühnenbild von Alessandro Sanquirico/Tempel des Neptun/Wikipedia

Weiters trägt das orchestrale Element dazu bei, die Szenen oder einzelnen Gesten zu unterstreichen. Das Orchester übernimmt äußerst geschickt in den entschei­denden kritischen Augenblicken der Handlung eine erstrangige Rolle, indem es um neue Farben bereichert wird, die es auf völlig originelle Weise einsetzt. Beispielhaft für beide Fälle ist die Szene der Erscheinung des Schattens des Anchises oder die Sturmszene, die Äneas und den Seinen die Flucht ermöglicht. Die Verwendung dreier Posaunen, die zum Quartett der Holzbläser kommen, zwei häufig zur Besiegelung einer Passage eingesetzte Pauken, der Reichtum der Streicher und die spezifische Typologie ihrer Passagen wirken auf entscheidende Weise an der Betonung und Charakterisierung der Dramatik des sze­nischen Moments mit. Schon ab der (dreigeteilten) Ouvertüre konnte man die der Instrumentalbesetzung zugewiesene Bedeutung ahnen, ist sie doch nicht so sehr mit der Vorwegnahme von Inhalt und Themen des Dramas beschäftigt, als darauf ausgerichtet, den einzel­nen Sätzen eine außerordentliche klangliche Vielfalt und Intensität aufzuprägen. Von den drei Akten kann der letzte für die vollkommene Verschmelzung von Text und Musik als beispielhaft angesehen werden. Die Abfolge der vokalen und instrumentalen Teile erfolgt in Funktion der Handlung und der Worte, die auch durch einfache, aber sehr wirksame farbliche Kunstgriffe verstärkt werden. Die Schluss-Szene ist hochdramatisch mit der sich opfernden Didon, die „pour son bien-aimé Enee“ Worte der Liebe hat, dem Chor, der schwört, die Rasse Trojas verfolgen und ver­nichten zu wollen und den abschließenden Trompeten­stößen, die teilweise das Gefühl der Verzweiflung und völligen Vernichtung mildern. Obwohl er da und dort ita­lienischen Geist wehen lässt, gelingt es Piccinni also, musikalisch das Ideal der französischen Philosophen umzusetzen, und speziell den von Marmontel zum Ausdruck gebrachten Gedanken: „Mit Schreien, Gebrüll, durchdringenden oder schrecklichen Tönen werden Leidenschaften ausgedrückt; aber dies vermittelt, wird es in der Nachahmung nicht verschönt, nur den Eindruck des Leidens, wie in der Natur […]. Den wohl­klingenden Gesang aus der Oper verbannen zu wollen, ist ein ebenso seltsamer Einfall, als wollte man die schö­nen Verse aus der Tragödie verbannen […]. Mariateresa Dellaborra (Übersetzung: Eva Pleus)

 

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Dokumente/Verbreitung: Ein Wort zur Verbreitung der Oper vor Rheinsberg, das mit einer deutschen Erstaufführung aufwarten kann. Als eines der wichtigen Werke Piccinnis erlebte sie der Hof 1783, in Anwesenheit des Noch-Königs Louis XVI und seiner Frau Marie-Antoinette, 16 Jahre vor deren End, vorgestellt wurde. Nach zwei Wiederaufführungen in Fontainebleau wurde die Oper am 1. Dezember 1783 in Paris aufgeführt. Sie erwies sich als der größte Erfolg des Komponisten und wurde bis 1826 fast jedes Jahr mit insgesamt 250 Aufführungen an der Pariser Oper gegeben. Ein riesiger Zeitsprung findet in den Dreißigern des 20. Jahrhundert die große Sopranistin Yvonne Brothier in der Titelrolle in Paris wieder, wovon einige Tondokumente zeugen, andere wie Félia Litvinne oder Jeanne Hatteau sind nicht belegt.

Aber es gibt sie auch vollständig in der allerersten (mehr oder weniger) modernen Gesamtaufnahme bei der italienischen RAI von 1969 (Arkadia u. a.) mit Gabriella Tucci in der Titelrolle aus Neapel  unter dem vielseitigen Mario Rossi. Aus Baris Teatro Petruzzelli erschien die originale Fassung in CD-Aufnahme unter dem Pionier Arnold Bosman mit Sibongile Mngoma und Daniel Galvez-Vallejo auf dem Label Dynamic von 2003. Die jüngste Veröffentlichung kommt aus dem Hause Bongiovanni mit der für solche Rollen nicht nur heute m. E. absolut ungeeigneten Denia Mazzola-Gavazzeni sowie Yoshei Ushiroda unter Damiano Cerrutti von 2021.

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Sammler haben noch mehr. Live gab es Piccinnis Didon nach der RAI-Aufnahme von 1969 dann im selben Jahr in Paris und Tourcoing mit der bezaubernden Audrey Michael und Giles Ragon unter dem innovativen Jean-Claude Malgoire.; 2001 folgte wie erwähnt Bari; 2003 dann in Paris, Cité de la musique unter Antonio Florio mit der dünnstimmigen Roberta Invernizzi und Maria Ercolano (als Enée!), 2004 folgte Solothurn mit Liliane Schneider und Remì Garin unter Franco Trinca.

Soweit ein Blick in meine eigene kleine Sammlung; es gibt sicher weitere Dokumente.  In moderner Zeit haben sich die wunderbare Véronique Gens oder Carol Bogard darum bemüht; in der 20 CD Box 200 Ans De Musique À Versailles von 2007 gibt es zudem drei Ausschnitte aus der Oper. Sogar die Ouvertüre gibt es als Transcript für zwei Gitarren bei der Musical Heritage Soiciety … Geerd Heinsen

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Der Artikel von Mariateresa Dellaborra stammt  aus dem Beiheft zur der ersten „offiziellen“ Aufnahme der Oper, bei Dynamic von 2001 als Mitschnitt aus dem Teatro Petruzzelli, wo das Werk unter Arnold Bosman am Pult des Orchestra del Teatro Petruzzelli mit Sibongile Mngoma, Daniel Galvez-Vallejo, Davide Damiano, Teresa Di Bardi, Angelica Girardi und Antonio Signorile gegeben wurde (immer noch die beste aller drei verfügbaren Industrieaufnahmen). Dank an die Kammeroper Rheinberg für die Erlaubnis zur Übernahme des Artikels von Friederike Janott 

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Niccolò Piccinnis Statue in Bari/Wikipedia

Inhalt A1: Dido, die Königin von Karthago, könnte nicht glücklicher sein, ist sie doch frisch verliebt. Ihr Auserwählter ist der junge Held Äneas, der gerade noch rechtzeitig aus dem brennenden Troja fliehen konnte und bei ihr an der nordafrikanischen Küste angespült wurde. Doch schwere Albträume pla­gen Dido: Des nachts erscheint ihr der verstorbene Ehemann und bezich­tigt sie des Treuebruchs. Zugleich wird sie von Iarbas, dem König Numidi­ens, bedrängt. Der will sie zur Frau nehmen und ihr Land regieren. Diesen Antrag lehnt Dido wiederholt ab. Als Iarbas erfährt, dass Dido eine Hoch­zeit mit Äneas plant, schwört er Rache und fordert Äneas zum Kampf heraus.

A2: Äneas gesteht Didos Schwester seine Liebe für die Königin. Zugleich erzählt er ihr aber auch von seinem schweren Schicksal: Es zwingt ihn, Dido zu verlassen, denn die Götter haben ihm befohlen, mit den Troja­nern nach Italien zu ziehen und dort ein neues Königreich zu gründen. Dido, die davon nichts ahnt, erklärt Äneas ihre Liebe und will ihn vor den Augen ihres Volks zum Gemahl nehmen. Iarbas hat noch nicht aufgege­ben und berichtet Dido von Äneas‘ Plan, was sie jedoch nicht glauben will. Da der Druck auf Äneas wächst, gesteht er Dido letztlich, dass er sie verlassen muss. Währenddessen trifft die Nachricht ein, dass Iarbas mit seinem Heer in Richtung Karthago zum Angriff marschiert. Die Karthager und die Trojaner machen sich unter der Führung von Äneas zur Verteidi­gung Didos bereit für den Kampf. Iarbas erfährt, dass Dido eine Hoch­zeit mit Äneas plant, schwört er Rache und fordert Äneas zum Kampf heraus.

A3: Dass Äneas zu ihrer Verteidigung und für Karthago gegen Iarbas in den Krieg gezogen ist, nährt in Dido erneut die Hoffnung auf sein Bleiben. Die Numidier sind geschlagen und Äneas kehrt als Sieger zurück. Ihm erschien sowohl Jupiter als auch der Geist seines Vaters, die beide die Erfüllung seiner Pflicht und Gehorsam fordern. Dem leistet er Folge und verlässt Dido, die schwer verletzt und voller Trauer daraufhin ihren Freitod plant. Sie lässt einen Scheiterhaufen errichten, um dort Äneas‘ Kleider und Waffen zu verbrennen. Sie besteigt den Scheiterhaufen und nimmt sich mit einer der Waffen das Leben. Ihr karthagisches Volk schwört den Trojanern infolgedessen ewig währende Rache und Krieg. (Kammeroper Rheinsberg).

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier.

Sinnlichkeit und Stimmzauber

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Armiden und Rinaldos gaben sich auf den Opernbühnen des 18. Jahrhunderts die Klinke in die Hand. Relativ mutig nahm sich Rossini für die dritte der neun großen Opern, die er für den Impresario Barbaja und Neapel schrieb, eines Themas an, das neben vielen anderen Lully und Händel, Haydn und Gluck hin- und hergewendet hatten und Jommelli vor mehr als einem Menschenalter 1770 im San Carlo zur Uraufführung gebracht hatte.

Für die dritte seiner Reformopern Armida nach der Elisabetta von 1815 und dem Otello 1816 nahm Rossini sich ein gutes Vierteljahr Zeit, um den mythischen, üppig barocken Stoff aus Tassos Gerusalemme liberata für das neue Zeitalter und das neue Teatro San Carlo maßzuschneidern. Der Aufbau des ersten Aktes ist in der Abfolge der Nummern vorhersehbar. Während die von Geoffredo, sprich Gottfried von Bouillon, zusammengerufenen fränkischen Ritter ihrem verstorbenen Anführer die letzte Ehre erweisen, erscheint die Zauberin Armida im Lager und bittet um Krieger. Sie sollen ihr helfen, den geraubten Thron zurückzuerobern. Rinaldo, den Armida einst vor Feinden rettete und in den sie sich verliebte, wird zum neuen Anführer der Paladine ernannt. Er folgt ihr. Bringt zuvor noch den eifersüchtigen Gernando um. Ganz und gar ungewöhnlich ist der zweite Akt, ein zauberisches Blumen- und Palastambiente mit Höllen- und Schutzgeistern und Nymphen, die Armidas große Arie „D’amore al dolce impero“ umranken. Im dritten Akt dringen die Ritter Carlo und Ubaldo in den Zaubergarten ein und überreden Rinaldo zur Rückkehr. Armidas Macht ist gebrochen. Sie schwankt zwischen Rache und Liebe, gibt sich letztlich ganz der Rache hin und zerstört ihr Zauberreich. Hervorzuheben ist im letzten Akt das umfangreiche Terzett der drei Tenöre. Vor allem die Aktionen um Armida auf der Liebesinsel mit herbeigezauberten prächtigen Palästen, Nymphen und Amoretten und schließlich dem Drachenwagen, in dem die Enttäuschte in die Lüfte entschwebt, boten hinreichend Kulissenzauber, um die Verwandlungsmöglichkeiten des durch Brand zerstörten und gerade wiedereröffneten Teatro San Carlo auszureizen.

Die Naxos-Aufnahme fängt das Zauberische und Festliche, das Kriegerische und Liebestolle des Dreiakters ein (2 CD 8.660554-55) ein. 2022 war Rossini in Wildbad nach Absage des Festivals und eingeschränktem Corona-Betrieb in den Jahren davor wieder zur Normalität zurückkehrt, weshalb über den Aufführungen am 15. und 20. Juli in der Trinkhalle lag eine besondere Spannung lag. Bereits in der Sinfonia zwingt José Miguel Pérez-Sierra martialische Kreuzritterzackigkeit und schwärmerische Liebeslyrik geschickt zusammen, gleicht durch draufgängerische Heftigkeit anfängliche Mattstellen und Ruppigkeiten des Orchesters aus und unterstreicht die Originalität der mitten ins Geschehen greifenden Introduzione, in der der Spanier Moisés Marin mit sensationeller Höhe, hell strahlendem Tenor und Autorität in den Rezitativen als Goffredo den Ton für das Liebesdrama zwischen der Zauberin Armida und dem Ritter Rinaldo vorgibt. Er ist einer der sechs Tenöre des üppig bestückten Männer-Ensembles, das bei der Uraufführung mit vier Tenören ausgekommen war, da die meisten Partien sehr überschaubar sind und nie zugleich auftreten oder wie Gernando frühzeitig gemeuchelt werden. Patrick Kabongo singt die einzige geschlossene Arie, in der Gernando seiner Eifersucht auf Rinaldo freien Lauf lässt, mit klein wenig enger Höhe, aber Leichtigkeit und Eleganz, in der seine souveräne Erfahrung mit dem Repertoire und kluge Gestaltungskraft zum Ausdruck kommen. Chuan Wang und César Arrieta stehen als Carlo und Ubaldo Rinaldo im hinreißenden Terzett im dritten Akt zu Seite, Manuel Amati macht als Eustasie nachdrücklich auf sich aufmerksam. Achtbar die Leistungen der beiden Bässe (Jusung Gabriel Park, Shi Zong).

Die einzige und zentrale durchgehende Tenorpartie ist der Rinaldo, für den der Amerikaner Michele Angelini alles gab, dabei sowohl zärtlich und draufgängerisch, sanft und wild und immer mit Inbrunst und Überzeugungskraft sang, durch präzise Triller und Koloraturen, saubere Höhen und metallische Strahlkraft überzeugte. Die drei Szenen und Duette mit Armida sind von großer Sinnlichkeit und Stimmzauber. Bereits im ersten Akt umgirren sich die beiden Stimmen, steigern sich im zweien Akt in einen Sinnestaumel und liefern sich im dritten ein kurzes leidenschaftliches Duell.

Die spanische Sopranistin Ruth Iniesta, die mittlerweile mit Violetta, Gilda, Amina, Liu und Thais gut beschäftigt ist, verfügt über einen opulent warmen, dunkel sinnlich timbrierten Sopran, mit dem sie alle Facetten der Zauberin bis ihn zum virtuosen Gaukelwerk in „D’amore al dolce impero“ und den kernigen Racheattacken ausspielen kann. Für den Philharmonischen Chor und vor allem das Philharmonische Orchester Krakau bedeutet das Stück mit seinen solistisch ausgeleuchteten Stimmungen, Zauber- und Gruselszenen ein Kraftakt. Pérez-Sierra lässt keine Langeweile aufkommen und fängt den romantischen Ton der Musik ein, wie er nicht nur in der langen, einem Flötenkonzert gleichenden Ballettmusik am Ende des zweiten Aktes zum Ausdruck kommt. Rolf Fath

Giacomo Meyerbeers „Prophète“

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Und noch einer, seufzte man als Sammler und Opernliebhaber, als das Label LSO die geplante Veröffentlichung von Meyerbeers Prophète aus Aix bekannt gab. Aber zur meiner wirklich absoluten Überraschung ist diese Neueinspielung (als live angegeben, aber dazu später mehr) in Hinsicht auf Besetzung und Fassung wohl doch die ultimative unter den verfügbaren, denn rundherum wird hier am besten, eben sensationell gesungen. Man mag – wie ich – ein wenig über die recht dunkle Akustik und über Mark Elders zum Teil mir zu langsame Tempi grummeln (was die Oper in Teilen unnötig redundant wirken lässt, aber lang ist sie gewiss), und manche Momente seiner Interpretation scheinen mir orchestral nicht transparent genug, sind mir zu aufgetürmt, zu massiv, zu marzialisch (so das berühmte Ballett auf dem Eis). Da hat die Frankfurter Oehms-Einspielung die Nase vorn, wenngleich der Titelheld dort eher blander schien und nun – in Aix – sich als ganz großer Sänger in der Nachfolge von Nicolai Gedda (als Jean in dem alten Mitschnitt aus Rom) erweist.

Es sind die Solisten und die ungekürzte neue Fassung, die für mich das Gewicht dieser sensationellen neuen Aufnahme ausmachen. „Ungekürzt“ wird im Beiheft mit dem Artikel von Etienne Jardin nicht ausgeführt, nur „angerissen“ (wie alle anderen Beiträge dreisprachig!, was für eine Seltenheit angesichts des deutschsprachigen Raums in Europa), aber nicht so gut erklärt wie Matthias Brzoska in dem hochinformativen Beitrag zur Essener Aufnahme bei Oehms, Berthes Arie und Duett originale Tonart, Selbstmord zum Saxophon und vieles mehr. Das wird die Sammler interessieren, denn außer Essen haben alle verfügbaren Aufnahmen vorher barbarische Striche, und sie benutzen zudem natürlich die alte Brandus-Fassung.

Wie bereits erwähnt hadere ich etwas mit Mark Elders Sicht der Tempi, die mir in Teilen (wie im 1. Akt) zu schleppend in der Interaktion der Personen scheinen. Die fehlt vielleicht doch die Theater-Spontanität. Andererseits ist Elder mir in Teilen zu massiv, zu kompakt im Klang und betont Meyerbeer als Quasi-Sinfoniker. Worin Elder seinem Kollegen Giuliano Carella in Essen ähnelt, der ebenso breite Tempi bevorzugt. Der neue Vasco da Gama bei Naxos ist da für mich vorbildlicher und bietet ein weit mehr durchgefächertes Klangbild, zudem auch (bedingt)  live. Es geht also, und nicht so altherrenmäßig wie bei Elder. Das führt Antonello Manacorda in Frankfurt exemplarisch vor,  bei einer fabelhaften Raumstaffelung.

Meyerbeer: „Le prophete“/ John Osborn 2017 als Jean/ aus dem Booklet der Aufnahme bei Oehms Classics und der Essener Aufführung von Matthias Jung

Live war eingangs das Stichwort. Und live ist eben nicht unbedingt ein Live-Mitschnitt, wie man vermuten möchte. Es gibt keinen Beifall, alle Nebengeräusche wurden (technisch?) entfernt,  was für den akustischen Flickenteppich verantowortlich ist, wenn man die neue Aufnahme mit Kopfhörern genießt. Denn die vielen, vielen takes machen doch eine gewisse akustische Achterbahn im Ohr aus: Es wurde sehr viel korrigiert und einzeln nach-/auf-genommen, Nah- und Fern-Einsätze folgen etwas verwirrend aufeinander, die akustische Aura wechselt. Also ist dies kein Radioband von France Musique, sondern viel Kleinarbeit. Verständlich, aber doch nicht angezeigt. Und es gibt keine Aufnahmedaten, nur ein lakonisches „recorded in July 2023“, dagegen aber technisch in in SACD hybrid und in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane (LSO 0894, 3 CD mit dreisprachigem Booklet und Libretto)..

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Diese Aufnahme-Sorgfalt wirkt auf die Aufnahme als Ganzes wirklich lohnend aus. John Osborn in der Titelrolle singt wie ein Gott! Sein Problem ist es vielleicht, dass er nicht wirklich ein prägnantes Timbre besitzt, dass seine Stimme per se nicht wirklich interessant ist (anders als etwa die von Richard Leech in den Erato-Huguenots, unerreicht). Das gilt aber letzten Endes für seinen von mir so hochgeschätzten Kollegen Michael Spyres ebenso, der per Timbre nicht wirklich aufregend klingt, sondern per Interpretation und Gesang besticht. Beide Herren sind Künstler ihres Metiers, beide können eben sensationell singen.

Palais de l’Ancien Archevêché, Festival Aix-en-Provence/Aix festival

Und John Osborn hat nach seinem eher blanden Toulouser und Essener Jean eine weite Strecke zurückgelegt, ist absolut in der Rolle richtig, singt in vielen Momenten mit betörender voix mixte und scheut sich nicht, in herzzerreißendem pianissimo hochgelegene Töne fast im Falsett zu bewältigen statt sie herauszubrüllen. Seine Charakteranlage des zerrissenen Jean, namentlich in der Wiederbegegnung mit seiner Mutter, ist eine bewegende Studie in menschlicher und eben  musikalischer Charakterisierung. Ich bin sehr, sehr beeindruckt davon und dachte viel an Nicolai Gedda, dem manche Wendungen von Osborn in dieser Rolle frappierend ähneln. Er hat wirklich seine Hausaufgaben gemacht. Klang er mir im jüngsten Robert le Diable viel zu weisss, zu amerikanisch auf der Höhe, so ist seine Stimme nun rund, gedeckt, aussagekräftig, markant. Das passaggio ist beispielhaft, seine messa di voce exemplarisch und seine Diktion ohne Fehl. Seine gegenüber Spyres weichere Tenorstimme mittlerer Größe passt zu diesem Jean ungemein. Eine fabelhafte Leistung. Ich komme ins Schwärmen.

Meyerbeers „Prophéte“ im Konzert Aix-en-Provence 2023: Edwin Crossley-Mercer, Elizabeth DeShong und Mané Golyan/Foto Vincent Baume/Festival Aix-en-Provence

Und ich schwärme weiter. Besonders für die wirklich sensationelle Elizabeth DeShong als Fidès. Auch sie erinnert in einigen tief gelegenen Wendungen an ihre Rollen-Vorgängerin, eben Marilyn Horne, in entscheiden Momenten mit dem unverstellten Griff in das absolut wahnsinnige Brustregister, dies natürlich vor allem in der alles sprengenden Arie im 4. Akt, die aber eben nicht nur eine der ganz großen Bravourarien (für Pauline Viardot) ist sondern hier genial schon viel früher angelegt wird (mit eingeschobenem Chor). DeShong fegt mit ihren drei Oktovanen durch die Partie wie ein Orkan, hat aber auch viele weichere Momente zuvor, etwa im bezaubernden Duett mit Berthe zu Beginn. Hing die Kritik an der Essener Aufnahme bei  Oehms an der unterbelichteten Fidès, so kann die neue mit eben dieser aufregenden von Elizabeth DeShong prunken. Sowas hat man lange nicht mehr, wenn überhaupt, gehört. Die (oft nach Traktorfahrerin klingende Fidès der) Horne hat hohe Maßstäbe gesetzt, aber die DeShong fügt der Partie vieles an dort fehlender Weichheit, an Fürsorge und schön gesungener Mütterlichkeit hinzu.

Und zum Dritten ist Mané Galoyan aus den USA ein Gewinn. Zu Beginn gebührend timide schwingt sich ihr entzückender Sopran zu entschlossenen Tönen empor, verfügt über unglaubliche Höhenwirkung und wie ihre Rollenvorgängerin Margherita Rinaldi  in Rom über eben diese entschlossene Leuchtkraft des sich namentlich in der oberen Lage entfaltenden Soprans. Absolut bezaubernd. Und wie ihre Kollegen absolut wortverständlich.

Meyerbeers „Prophéte“ im Konzert Aix-en-Provence 2023: Mané Goloyan und John Osborne/Foto Vincent Baume/Festival Aix-en-Provence

Die Sprach-Coaches in Aix müssen Überstunden gemacht haben. Mäkelte ich beim Robert le Diable vom Palazzetto noch über die Wort-Unverständlichkeit mancher Sänger so kann man hier buchstäblich mitschreiben. Das hat man so lange nicht mehr erlebt, denkt man an das Esperanto der vielen Opern-Aufnahmen jüngerer Zeit.

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Auch die übrigen halten dies Niveau, allen voran der markant timbrierte Edwin Cross-Mercer als Comte de Oberthal, dräuend und sonor die arme Berthe verfolgend. Valerio Contaldo sticht mit seinem bemerkenswerten Tenor aus der Gruppe der Anabaptisten heraus (James Platt und Guilhem Worms sind die beiden anderen). Hugo Santos, David Sanchez und Maxime Melnik machen als drei Soldaten ebenfalls was her. Gut ausgesucht. Der Chor vom Opernhaus Lyon unter Benedict Kearns und der Kinderchor Bouches-du-Rhône unter Samuel Coquard vervollständigen überzeugend das vokale Bild. Mark Elder hat seinem LSO Orchester zu einem heißen Sommer im schönen Aix verholfen, während das Mediterranean Youth Orchestra sich um die an Verdis Autodafé erinnernden Banda-Einlagen kümmert. Und vielleicht ist es auch Elder zu verdanken, dass man nun oft an Späteres nach Meyerbeer denkt, nicht nur an Verdi.

In Summa also ist dies wirklich eine bedeutende, wichtige Neuaufnahme von Meyerbeers Propheten, ganz sicher für mich trotz kleiner Einschränkungen im Klang und Dynamikbereich die ultimative und wichtigste bislang. Was sind wir doch reich an dieser Musik.

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Giacomo Meyerbeer: „Le Prophéte“ bei Oehms Classics aus Essen

In dem Artikel zur Essener Ausgabe bei Oehms (darin auch als Übernahme der hochinformative Artikel von Markus Brzoka zur Ersteinpielung der neues Meyerbeer-Ausgabe) machte ich einen Rückblick auf Vergangenes, das war 2018. Seitdem ist in Sachen Prophète nicht viel Neues hinzugekommen, und der Bequemlichkeit wiederhole ich hier einiges vom bereits Gesagten.

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Der berühmte (Meyerbeer-)Knoten platzte für mich anlässlich der DOB-Version des Propheten in Berlin 2017, nicht so sehr wegen der lässlichen Umsetzung durch Olivier Py (Sohn des bekannten Tenors), sondern wegen des wissenschaftlichen Umfeldes. Ich habe mich zum ersten Mal in meinem langen Kritikerleben deswegen damals so richtig mit Meyerbeer beschäftigt. Da gab es das hochspannende Symposium in der DOB und vier Meyerbeer-Opern zu erleben (mit der konzertanten Dinorah fing alles an): Meyerbeer satt möchte man sagen. Bis dahin hatte ich ihn „nur“ als so eine Art „etwas schwierig zu hörenden Belcanto-Komponisten“ betrachtet, wichtig natürlich, als Steinbruch für Verdi und die Nachfolger, einschließlich Wagner. Und die Huguenots waren mir wegen Richard Leech so vertraut (Berlin und Montpellier). Ich sah Meyerbeer nicht als intellektuellen, hochpolitischen Neuerer. Spätestens der Prophète zeigte mir dann, wie sehr Meyerbeer seine Zeit und deren Strömungen, die politische Umwälzungen in seinen Opern behandelt, konservativ zwar (die Revolution muss scheitern, weil sie aus dem Ruder läuft, aber notwendig ist sie gewiss), aber einsichtig. Die Spannungen und Diskriminierungen religiöser Gruppen gegeneinander, die Verfolgung Andersdenkender, die Ausbeutung der Kolonien, der Tanz auf dem gesellschaftlichen Vulkan, die Fatalität von scheinbar sicheren Fluchtpunkten – all dies ging mir im Laufe der Beschäftigung als Resultat der drei bislang gezeigten Hauptwerke auf. Und dafür meine Verbeugung vor der DOB. Eine große Leistung und ein lobenswerter Kraftakt.

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Dennoch – ohne den alten und immer noch fabelhaften Prophète-Mitschnitt aus Rom 1970 möchte ich auch nicht sein, alte Fassung hin oder her. Nicolai Gedda ist auch nach Osborn, Heller/Karlsruhe und Sledge/Berlin unerreicht: höhensicherst, lyrisch, zerrissen und absolut – für mich – der aufregendste Jean weit und breit, pardon Messieurs. Die junge Marilyn Horne sucht als Fidés immer noch ihresgleichen, selbst wenn etwa Ewa Wollack in Karlsruhe und Ronnita Miller in Berlin sich in meinem Musikerleben fabelhaft gegen sie behaupteten. Und ich liebe Margherita Rinaldi als Berthe! In Stereo (eher Stereo-Arkadia als Myto/Discogs). Aber die neue LSO-Aufnahme stellt manches in Perspektive, muss ich sagen. Und überzeugt rundherum.

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Erstaunlicher Weise hatte es vierzig Jahre gedauert, bis nach Rom und der CBS  eine zweite (Fast)-Studio-Aufnahme von Meyerbeers Oper Le Prophète erschien. Die gruselige CBS-Einspielung mit dem indiskutablen James McCracken und der nicht mehr so durchschlagenden Marilyn Horne stammt von 1977 (die Scotto war ein Irrtum) und verwendet natürlich die alte Brandus-Fassung. Denn erst 2007 war die neue, ultimative Ricordi-Bärenreiter-Ausgabe offiziell erschienen, der weder Toulouse 2017 noch Berlin 2017 (trotz der Beteuerungen) wirklich gefolgt waren, Münster 2004 aber ja. Karlsruhe 2015 war Kratzer-fassungsmäßig außer Konkurrenz. Die bei Oehms vorliegende Aufnahme aus Essen 2017 bot nun diese (mit ganz kleinen Aufführungs-bedingten Strichen/ 3 CDs, OC 971).

Am 6. November 1814 wurde der Belgier Adolphe Sax geboren, der Erfinder des Saxophons. Am 21. März 1846 erhielt Sax in Frankreich ein Patent. Sax baute nun das Saxophon in seiner Produktionsstätte in Paris in acht verschiedenen Größen (Sopranino, Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Kontrabass, Subkontrabass). Seine Instrumente wurden besonders in der französischen Militärmusik eingeführt. Doch auch die Komponisten wie Meyerbeer oder Massenet  wurden auf den besonderen Klang aufmerksam. (Mit Dank an „moderato“ vom Tamino Klassik-Forum)

„Trotz Beteuerungen“ verwendete die Deutsche Oper, deren Aufführungen mir so sehr im Ohr sind (namentlich die letzte im Januar 2028 mit anderer und tränen-bewegender Besetzung Sledge, Miller und Haslett, dankenswerter Weise war die Bühnen-Maschinerie ausgefallen),  eine „revidierte Fassung der historisch-kritischen Ausgabe von 2014“, und auf den Ankündigungs-Plakaten stand so etwas wie „nach der gängigen Aufführungspraxis“ (pardon, ich find den genauen Wortlaut nicht mehr). Das hieß etwa – im Gegensatz zur Neuaufnahme aus Essen – ohne die vom Saxophon(!!!) begleitete Todesszene der Berthe im letzten Akt und ohne manches andere. Da war man eben doch halbherzig –  denn allein diese paar Minuten mit diesem wunderbaren, und erstmalig in einer Oper verwendeten, Instrument, das nur wenige Jahre vor der Premiere des Prophéte von Adolphe Sax in Paris entwickelt wurde (1846),  war die Anschaffung der Oehms-Ausgabe lohnend. Was war doch Meyerbeer für ein moderner, an Neuerungen interessierter Mann. Wie man ja auch von den Erfindungen und Bühnenbedingungen für seine Opern weiß.

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Live gab´s den Prophète erstaunlich oft. In meiner kleinen, unvollständigen Sammlung finde ich natürlich die (optisch damals wirklich grausliche) Wiener Aufführung mit einer die Partie verkennenden Agnes Baltsa neben einem Plácido Domingo in zerquältem Allgemein-Modus (Wien 1988)Stockholm gab das Werk 1999 mit einem bemerkenswerten Jean-Pierre Furlan neben Ingrid Tobiasson unter Gunnar Stearn. 1977 dirigierten Richard Lewis und 1979 Charles Mackerras die Oper mit Horne, Scotto/Shane und McCracken an der Met2004 gab´s den ersten „modernen“ Prophéte nach der neuen Meyerbeer-Edition in Münster. 2007 machte Essen ein Symposium mit dem kompletten 5. Akt nach der neuen Edition und einigen Schmankerln konzertant dazu, sehr verdienstvoll (David de Villiers/Loukianetz, Scalchi, Bruns). Braunschweig schaffte eine stark gekürzte Version 2014. Dann kam Karlsruhe 2015 mit Ewa Wollack und Marc Heller in der diskutablen, stark gekürzten Kratzer-Produktion, danach Toulouse 2017 mit Osborn und Kate Aldrich (blass!), Essen 2017 (Osborn) und Berlin 2017/18 (Kunde + Margaine sowie Sledge + Miller, sensationell); nachdem am selben Haus das Werk 1966 in Deutsch wahre Buhorkane ausgelöst hatte: Das Ehepaar Warfield-McCracken bestritt neben Annabelle Bernard den Abend (ich erinnere mich an den Skandal). Auf youtube gibt´s einen angeblich absolut ungekürzten, zusammengebauten Prophète, aber da hab´ ich aufgegeben. Ganz sicher habe ich einige Dokumente nicht erwähnt. Man möge mir verzeihen. Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

 

Festspielecho aus Bayreuth & Potsdam

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Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci gab es bei den letztjährigen Festspielen eine absolute Opernrarität mit der Festa teatrale L’Huomo von Andrea Bernasconi. Die Koproduktion mit Musica Bayreuth erschien nun bei der deutschen harmonia mundi auf drei CDs in aufwändiger Ausstattung (19658892092). Der Live-Mitschnitt vom 4. Juli 2023 stammt aus dem Markgräflichen Opernhaus Bayreuth, wo das Stück mit einem französischen Libretto von Wilhelmine von Bayreuth, das der Hofdichter Luigi Maria Stampiglia in italienische Verse gesetzt hatte, 1754 zur Uraufführung kam.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Mit ihrem Ensemble 1700 breitet die Potsdamer Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die reiche Palette der Musik mit Drive und straffem Zugriff aus. Immer wieder setzt sie markante Akzente, ob mit festlichem Trompetengeschmetter und Paukenwirbel, einer graziösen Gavotte oder einem gravitätischen Marsch. Die Sopranistin Maria Ladurner hat als Animia reizende, auch kokette Arien, reich an Verzierungen, zu singen, was ihr beachtlich gelingt. Phänomenal im Koloraturfluss bewältigt sie ihr resolutes Solo „Fuggi da me“ im zweiten Teil. Die Stimme des Sopranisten Philipp Mathmann klingt fragil und kindlich, doch trumpft er in Anemones Arien in der oberen Lage mit stupender Wirkung auf. Virtuos wechselt er in der Arie „Sino al respiro estremo“ zwischen baritonaler Tiefe und der Extremhöhe. Auch in „La ragion gli affetti“ durchmisst er eine weite Skala, beginnend mit sanften tiefen Tönen und dann mit stratosphärischen staccati  . Spektakulär beginnt die Aufführung mit dem Auftritt des Buon Genio. Francesca Benitez singt ihre Gleichnisarie „Soffre talor del vento“ vom sanften, aber auch tobenden Meer mit dramatischem Aplomb, flexibler Stimmführung und bravouröser Bewältigung des Zierwerks. Der Buon Genio befreit seine von Höllengeistern gefesselte Tochter Negiorea, die von Alice Lackner mit klangvollem Alt gesungen wird. Mit dem pathetischen „Ti sembro austera“ und der Wutarie „Del tuo malvagio impegno“ fallen ihr zwei attraktive Nummern zu, welche sie mit kultiviertem Vortrag bzw. explosiver Attacke vorträgt. Gegenspieler ist der Cattivo Genio, den Florian Götz mit auftrumpfendem, resolutem Bass singt. Er befiehlt dem Amor Volubile und der Volusia, das junge Liebespaar zu verführen. Anemone kann deren Verlockungen nicht widerstehen und wird Animia untreu. Die Sopranistin Anna Herbst kann als Verführerin in vielfältigen Arien mit reicher Farbpalette glänzen. Als Amor Volubile (und verkleidet als Amor  Ragionevole) wartet der Tenor Simon Bode mit beherztem Vortrag und buffoneskem Beiklang auf. Die rundum ausgewogene Besetzung komplettiert Johanna Falkinger als Incosia, die mit der reizenden Schmetterlings-Arie „Della farfalla infida“ voller funkelnder staccati und lieblicher legati erfreut. Am Ende will Anemone seine Schuld mit dem Leben büßen, doch Animia verzeiht ihm. Ein Freudenchor besingt den Sieg über die Finsternis und den Triumph des Lichts. Bernd Hoppe

Ruth Hesse

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Mit Bedauern hörten wir vom Tode der Mezzosopranistin Ruth Hesse, Berliner und Wiener Operngängern immer noch ein Begriff. Nachstehend eine Würdigung unserer Kollegen von Isoldes Liebestod.

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Hesse, Ruth, Alt,  (18 September 1936 Wuppertal – 13 Juli 2024 Hallstatt/Österreich); sie erhielt ihre Ausbildung zuerst bei Peter Offermanns in Wuppertal, dann bei Hildegard Scharf in Hamburg, schließlich studierte sie in Mailand. sie debütierte 1958 am Stadttheater von Lübeck als Orpheus von Gluck und blieb an diesem Haus bis 1960. Seit 1960 gab sie regelmäßig Gastspiele an der Hamburger Staatsoper. 1960-62 war sie am Staatstheater Hannover engagiert. 1962 wurde sie an das Deutsche Opernhaus Berlin berufen, an dem sie eine große Karriere hatte, die sich bei vielen Gastspielen im In- und Ausland auch dort als erfolgreich erwies. Als hervorragende Wagner-Altistin sang sie viele Jahre hindurch bei den Bayreuther Festspielen, und zwar 1960-61 ein Blumenmädchen, 1960-61 und 1963-66 einen der Knappen, 1961 und 1963-64 das Altsolo im »Parsifal«, 1961 und 1966 die Roßweiße, 1963 die Schwertleite in der »Walküre«, 1963-64 die Magdalene in den »Meistersingern«, 1966 die Floßhilde im Nibelungenring, 1965 die Mary im »Fiegenden Holländer«, schließlich 1979 die Ortrud im »Lohengrin«. 1966 sehr erfolgreiche Gastspiele an der Wiener Staatsoper als Ortrud im »Lohengrin«, als Brangäne im »Tristan« und als Eboli in Verdis »Don Carlos«. 1966 hörte man sie in Paris als Carmen, 1967 an der Oper von Bordeaux, 1972 sang sie an der Pariser Grand Opéra in »Figaros Hochzeit« und in »Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss, jedesmal mit großem Erfolg. Bei den Salzburger Festspielen hatte sie 1974-75 große Erfolge als Amme in der »Frau ohne Schatten«. Auch als Interpretin zeitgenössischer Musik wurde sie bekannt; so sang sie am 7.4.1965 in der Uraufführung der Oper »Der junge Lord« von Henze am Deutschen Opernhaus Berlin (und Judith in »Blaubart«, Gräfin von Helfenstein in »Mathis der Mahler«).

Ihr Engagement an der Deutschen Oper Berlin bestand bis 1995. 1965-88 trat sie regelmäßig an der Wiener Staatsoper (seit 1982 österreichische Kammersängerin) auf, wo sie 19 große Rollen zum Vortrag brachte, darunter die Ortrud im »Lohengrin«, die Herodias in »Salome« und die Amme in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss, die Fricka wie die Waltraute im Ring-Zyklus, die Kundry im »Parsifal«, die Preziosilla in Verdis »Macht des Schicksals«, die Azucena in »Trovatore«, die Amneris »Aida«, Carmen, Giulietta in »Hoffmanns Erzählungen« von Jacques Offenbach und die Küsterin in »Jenufa«. Sie gastierte an der Covent Garden Oper London (1969 als Amme in der »Frau ohne Schatten«, 1971 als Fricka, 1975-76 wieder als Amme), an der Oper von Lyon (1966 als Brangäne im »Tristan«, 1967 als Ortrud im »Lohengrin« und als Fricka), beim Holland Festival (1968 als Herodias in »Salome«, 1972 als Quickly im »Falstaff« von Verdi), am Teatro Colón Buenos Aires (1979 als Amme und Ortrud) und sang die Herodias 1975 in einer konzertanten »Salome«-Aufführung in der New Yorker Carnegie Hall. Weitere Gastspiele an der Königlichen Oper Stockholm, an den Opernhäusern von Marseille, Toulouse und Rio de Janeiro, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Amsterdam, an der Oper von Rom (1971 als Fricka), in Turin, am Teatro Fenice Venedig (1971 als Jocasta in »Oedipus Rex« von Strawinsky), am Teatro alla Scala (9. Beethoven), in Mexico City (1970 als Fricka), Barcelona ( u.a. Klytaemnestra, Kundry, 1977 als Herodias), am Grand Théâtre Genf, am Bolshoi Theater (als Brangäne), in Washington (Herodias) und an der Chicago Opera. Beim Festival von Orange hörte man sie 1973 als Brangäne, 1974 als Herodias. In der Deutschen Oper Berlin hatte sie 1988 einen besonderen Erfolg als Klytämnestra in »Elektra« von R. Strauss. Die Berliner Kammersängerin war nicht zuletzt eine der bedeutendsten Konzert- und Oratorienaltistinnen innerhalb ihrer Generation in Deutschland, war aber auch im pädagogischen Bereich tätig. Prof. Ruth Hesse lebt mit ihrem Gatten, dem Regisseur und Ausstatter Prof. Siegwulf Turek seit Beendigung ihrer Karriere in Hallstatt (Österreich).

Die dunkel timbrierte, groß dimensionierte, zu intensiver Dramatik des Ausdrucks befähigte Stimme der Sängerin erscheint auf den Marken Electrola (»Meistersinger«, Querschnitt »Verkaufte Braut«), DGG (»Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss, »Der junge Lord« von Henze), Concert Hall (Mozart-Requiem), Westminster (Fricka und Waltraute in vollständigem »Ring des Nibelungen«, Ortrud im »Lohengrin«), CBS (»Violanta« von Korngold), HRE (»Frau ohne Schatten« von R. Strauss).- Schallplatten auch auf Eurodisc und auf Philips (Floßhilde im »Rheingold«) sowie auf Rodolphe

Records (Mitschnitt »Tristan«). Golden Melodram (»Parsifal« von Richard Wagner – Bayreuther Festspiele unter Knappersbusch 1961, 1963 und 1964), Archiv Salzburger Festspiele (»Frau Ohne Schatten « von Richard Strauss) (Fotos im Text und oben: Ruth Hesse Portrait und als Amme/Strauss). Quelle Isoldes Liebetod

Hinreissend

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Der zugegebenermaßen hochverdiente Erfolg mit Rimski-Korsakovs Die Nacht vor Weihnachten oder aber die vorausgegangene positive Aufnahme des Werks selbst in Lyon, Erfurt und Amsterdam  waren vielleicht für die Frankfurter Oper ein Anlass dafür, sich wieder einer unbekannten russischen Oper zuzuwenden, nämlich Tchaikovskys Die Zauberin (der englische Titel ist mit The Enchantress korrekter, weil um Verzauberung geht),derer sich inzwischen Naxos mit der Herausgabe einer Bluray angenommen hat. Es geht um eine eigentlich im 15. Jahrhundert spielende Geschichte um eine junge, schöne Witwe, in deren Gasthof sich das Volk, insbesondere die Männer, amüsiert, der zauberische Kräfte nachgesagt werden und in die sich fast gleichzeitig der Fürst des Landes am Ufer der vielzitierten Oka, unerwidert, und sein Sohn, erwidert, verlieben. Die Gattin des Fürsten fordert ihren Sohn auf, die Kuma genannte Nastasya zu töten, dieser verliebt sich aber in die schöne Frau und will mit ihr fliehen, woraufhin seine Mutter sie vergiftet, was wieder den Fürsten dazu veranlasst, Frau und Sohn zu töten und selbst in Wahnsinn zu verfallen. Bei all dem spielt die Geistlichkeit eine wenig lobenswerte Rolle.

Regisseur Vasily Barkhatov lässt zwar einiges volkstümlich Russisches, so in Form einer riesigen Matroschka, zu, versetzt aber ansonsten die Geschichte in die postsowjetische Zeit, in der  bekanntlich die Geistlichkeit nach schlechter russischer Tradition auch keine positive Rolle spielt, und stellt der Galerie (?) Kumas mit einer Wolfsplastik als Symbol ihres freien, ungebändigten Lebens, die recht luxuriöse Wohnung des Fürsten gegenüber, in der Frau und Tochter sich körperoptimierenden Übungen hingeben. Hier taucht auch ein wunderschöner Schäferhund auf, der zur Ruhigstellung vom Fürsten  mit Unmengen von Leckerli gefüttert wird. Stehen die beiden Tierchen für naturnahes und von Zivilisation beeinträchtigtes Leben? Modernisierungen des Ambientes in Richtung Soap Opera gibt es auch, wenn anstelle der Quelle, an der Kuma rastet und vergiftet wird, ein mit Dosen (Red Bull?) bestückter Kühlschrank fungiert oder der Prinz ein aufstrebender Boxer mit schon vielen Pokalen auf der Wohnzimmervitrine ist.  Über allem schweben in wechselnder Farbgebung die Umrisse eines Häuschens. Der Vorhang geht auffallend häufig hoch und runter, und wenn er trotz erklingender Musik unten ist, scheint  einem diese noch blühender, noch eindringlicher, noch schicksalsträchtiger zu sein, als wenn das Auge zusätzlich beschäftigt ist. Das ist natürlich auch das Verdienst des Frankfurter Oper- und Museumsorchesters unter Valentin Uryupin, während das Leid des unterdrückten russischen Volkes eindrucksvoll vom Chor des Hauses (Leitung Tilman Michael) zu Gehört gebracht wird.

So unangefochten die schöne Nastasya das Zentrum des Operngeschehens ist, so unbezweifelbar ist auch ihre Verkörperung durch Asmik Grigorian der Glanzpunkt der Aufführung. Sie macht die Figur nicht nur optisch glaubwürdig, sondern hat auch das klare, leicht melancholische Timbre, die farbige, fast mezzoartige Mittellage und die unangefochtene, nie scharfe Höhe dafür. Claudia Mahnke stellt ihren bruchlos ebenmäßigen, warmen Mezzosopran für die betrogene Fürstin zur Verfügung, ihr It-Girl von Töchterchen ist rollendeckend Zanda Švede. Einen urgesunden, farbigen Bariton hat Iain MacNeil für den Fürsten Nikita (Vater), einen oft gequetscht klingenden Tenor Alexander Mikhailov für den Prinzen Yuri (Sohn). Aus dem Ensemble ragen vokal wie darstellerisch Frederic Jost als Mamirow und Kudma und Božidar Smiljanić als Ivan Zhuran heraus, aber das gesamte Ensemble als solches ist phänomenal in seinem unbedingten Einsatz für das Werk, das so unbekannt nicht weiter bleiben sollte. (Naxos NBD0180). Ingrid Wanja

Conradin Kreutzers „Taucher“

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Eine neue Oper von einem so scheinbar Bekannten/Unbekannten sollte doch eigentlich für Opernfreunde ein Grund zum Aufhorchen sein. Sollte eigentlich! Denn Conradin Kreutzer (* 22. November 1780 in der Thalmühle bei Meßkirch im Fürstentum Fürstenberg; † 14. Dezember 1849 in Riga, nicht zu verwechseln mit dem älteren Franzosen Rudolphe Kreutzer/* 16. November 1766 in Versailles; † 6. Januar 1831 in Genf), dessen Namen unsere Groß- und Urgroßeltern wie ein Haushaltswort ihr eigen nannten,  hat nicht nur seine heute einzig bekannte Oper Das Nachlager in Granada (nebst Ohrwurm für jeden antiken Bariton von Rang) geschrieben. Neben einigen Aufnahmen davon (mit und ohne Hermann Prey aber auch mit Jörn W. Wilsing) gibt es zudem einen Radiomitschnitt der Alpenhütte von 1965 aus Freiburg und einen privat gehandelten Mitschnitt seiner Oper Melusina aus Linz 2023,  aus Rastatt  gab´s im Radio 2021 Gesänge aus Goethes Faust mit vier Solisten zum Klavier, zudem Kammer- und einige Sinfonische Musik auf CD, was nicht gerade viel ist, bedenkt man Kreutzers ehemaligen Ruhm. Aber …

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Nun hat die Firma Carus die Vertonung von Schillers Ballade Der Taucher in der Fassung von 1813 in einer Aufnahme des SWR herausgegeben (Leitung: Frieder Bernius. Mitwirkende: Sarah Wegener, Philipp Mathmann/Countertenor, Johannes Hill, Pacal Zurek, Daniel Schmidt, Hofkapelle Stuttgart, Kammerchor Stuttgart, 1 CD 83536).

Das ist ein sehr gemischtes Glück, Tauchen in flachen Gewässern sozusagen, und lässt mich ratlos, schon weil die ursprüngliche Damen-Hosenrolle des Tauchers mit einem Counter (dem mit einer erstaunlichen Vita behafteten Philipp Mathmann) besetzt wird, was nicht nur unverständlich a-historisch, sondern (natürlich nur für mich allein) auch nicht wirklich erfreulich ist. Zumindest entlockt Frieder Bernius seinem Orchester schöne, historisch orientierte Klänge. Aber  reicht das? Zumal dies auf 64 Minuten reduzierte Singspiel fragwürdiger Provenienz auch im Ganzen nicht viel hermacht. Armer Kreutzer.

Dazu schreibt die Firma mutig: Frieder Bernius ist es ein großes Anliegen, vergessene Werke in den Archiven aufzustöbern und dem Publikum vorzustellen. Conradin Kreutzers zweiaktige Oper Der Taucher (frei nach Schiller) ist solch eine Rarität. Sie besticht durch wunderbar eingängige lyrische Melodik und farbenreiche, frühromantische Orchestrierung. Entstanden ist das Werk ursprünglich für eine Aufführung im Stuttgarter Hoftheater im Jahr 1813. Heute ist vor allem eine zweite Fassung bekannt, die Kreutzer für spätere Aufführungen in Wien erstellte. Erstmalig liegt nun eine Einspielung der ursprünglichen, originalen Fassung vor.

Wirklich? Counter? Im Stuttgarter Hoftheater 1813? 64 Minuten only? Und wo kann man die einsehen? Keine Quellenangabe! Wer hat die Partitur erstellt? Im Netz gibt´s nur die Wiener Fassung von 1824 und die von Bürde für Reichardt (1811). Im Programm zum gleichnamigen Konzert in Backnang 2023 (vom SWR mitgeschnitten und bei Sammlern vorliegend) wird immerhin von „Ausschnitten“ gesprochen. Der Beitext zur Carus-CD hält sich da sehr bedeckt: Wo ist da der Sinn einer ausführlichen Betrachtung über die Wiener Fassung 1824, wenn hier die „originale“ (?) von 1813 (in welcher Form auch immer) eingespielt wurde? Weiss man dazu nichts? Wer hat gesungen? Wann genau wurde das Operchen aufgeführt? Keine Quellen, keine Zeitungsberichte? In Stuttgart, damaliger Hauptstadt des Landes? Schlampig, sorry. Da ist man doch als Käufer recht mürrisch …

Aber da es sowenig von Kreutzer gibt, seufzten wir einmal durch und baten den Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Waidelich (und die Firma Carus) uns seinen Einführungstext aus der 1-CD-Ausgabe über die spätere und hier nicht aufgenommene Wiener Fassung zu überlassen. Zumindest lernt man da was, wenn auch nicht das Gewünschte. G. H.

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Nun also Gerritt Weidelich: Conradin Kreutzer (1780–1849), der Sohn eines Mühlenpächters aus Meßkirch in Baden, war als einer der produktivsten deutschen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt und beliebt. Nach Erfahrungen mit geistlichen Singspielen während seiner Schulzeit in Zwiefalten und Schussenried sowie mit Opernkompositionen während seiner Freiburger Studienzeit entschloss sich Kreutzer 1804 zu einem Wechsel nach Wien, wo er bis 1810 verblieb.

Conradin Kreutzer, Daguerrographie/Ipernity

Aufführungen von großen Opern in den dortigen Theatern, aus dem Umfeld Schikaneders, von Antonio Salieri, Luigi Cherubini und insbesondere auch von Beethovens Fidelio, begeisterten ihn derart, dass er neben seiner Tätigkeit als Musiker und über seine Kompositionsstudien bei Albrechtsberger hinaus Ambitionen entwickelte, nun auch selbst „große Opern“ komponieren zu wollen. In seinen Briefen an Freunde, Mäzene, Verleger und Mitarbeiter äußerte sich Kreutzer ständig über seine Aktivitäten. Hier wird sehr viel Wissenswertes mitgeteilt über konzeptionelle und ästhetische Erwägungen, über das Feilen an der Struktur seiner Werke, bis hin zu den komplizierten Vertriebswegen, damit seine Opern auf die Bühne gelangen konnten. Nach wenigen Jahren in Wien hatte er mehrere Opern fertiggestellt, und er konnte davon ausgehen, dass sie auch auf die Bühne gelangen würden, berichtete er doch 1808: „Dieses Jahr habe ich für das National-Theater eine heroische Oper geschrieben, die so eben einstudirt und längstens in 3 Wochen aufgeführt werden wird. Mir pocht jetzt schon das Herz, denn dieß ist wirklich in Wien ein gewagtes Werk. Seit ich hier bin haben schon mehr wie 10 Kompositeure gescheitert, selbst Beethoven hat mit seiner Oper nicht reüßirt, er hat über der schönen Instrumentirung den Sänger vergeßen und oft selbst der Instrumentirung den Instrumentisten.“

Bei der von ihm erwähnten eigenen Oper könnte es sich um die verschollene Frühfassung des Taucher handeln. Aber aufgrund der wirtschaftlich und politisch heiklen Situation dieser Jahre hatte er als freier Komponist ohne offiziellen Kapellmeisterposten keine Chance, eines seiner großen Werke wirklich auf die Bühne zu bringen.

„Der Taucher“/Illustration zur Schillerausgabe 1880/Wikipedia

Außerdem hatte Kreutzer in Joseph Weigl, einem seinem Naturell durchaus wesensverwandten Tonsetzer, wohl seinen stärksten Konkurrenten und zog es daher vor, sein Glück wieder anderenorts als ausübender Musiker zu versuchen. Seine Reisen führten ihn nach Belgien, in die Niederlande und nach Paris, wo er sogar Gaspare Spontini erstmals persönlich begegnete. Auf dem Rückweg erlangte er dann in Stuttgart die Position eines Hofkapellmeisters, die er vier Jahre lang bekleidete. Dort brachte er zwar mehrere eigene Opern erfolgreich auf die Bühne, musste aber das ganze Repertoire betreuen und die lokale Einrichtung von Opern italienischer und französischer Meister arrangieren, wobei er bei fremden Werken vielfach Rezitative oder die Orchestrierung ergänzte, so dass er sie in der „großen Form“ Spontinis Vestale oder anderen Vorbildern seiner Zeit anglich. Nach Auflösung seines Vertrags in Stuttgart und einem Engagement in Donaueschingen strebte er wieder nach Wien. Und seine Vorliebe für die Schiller-Ballade Der Taucher, die ihn schon um 1808/1809 in Wien und 1813 in Stuttgart zu Opern inspiriert hatte, ließ ihn dieses Sujet nochmals neu bearbeiten. Über sein neues Werk nach der großen Oper Libussa und dem spektakulären Monodram Cordelia für Wilhelmine Schröder(-Devrient) schrieb er an mehrere Verleger, seine Musik zum Taucher habe „sehr viel Gesang […] ich habe darin zwischen Weber und Roßini die Mittelstraße eingeschlagen!“ Diese Orientierung schien nach der umstrittenen Uraufführung von Webers Euryanthe und der Absage von Schuberts Fierrabras taktisch klug zu sein.

Ende 1823 berichtete Kreutzer: „Den Sommer über habe ich nun wieder eine neue große Oper, der Taucher, geschrieben […]  ich verspreche mir hievon noch größeren Succès – weil ich nun die Richtung des hiesigen musikalisch-theatralischen Geschmakes näher kennen lernte – dem ich zwar niemals auf Unkösten der hohen Kunst fröhnen werde, allein kleine Modificationen muß sich ein kluger Componist wohl gefallen lassen – Im ganzen ist hier doch noch immer, trotz den schrecklichsten Roßiniaden, sehr viel Liebhaberey für schön gedachte, warm und wahr empfundene Compositionen – nur fehlt es wie überall der deutschen Oper an bessern Sängern – mit den Sängerinnen – wenigstens mit 3 bin ich sehr gut zufrieden – das sind eine Mll: Sontag – Sopran – und Mlle. Unger, und Mad: Schütz 2 herrliche MezzoSoprane –“

Die hochbegabten, bald auch international erfolgreichen Sängerinnen inspirierten ihn dazu, die vokalen Ansprüche der Partien virtuos auszugestalten. Zugleich betonte er gegenüber den Liebhabern der „großen romantischen Oper“, sein neues Werk sei „durchaus in höherem pompeuserem Style geschrieben ist, und durchaus in Musick ohne Prosa –“ In der Wiener Theaterzeitung wurde dann gleich moniert, Kreutzer habe sich in dieser Hinsicht zu sehr an der Euryanthe orientiert, hier sei »Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre.« Kreutzer wies diesen Vorwurf zurück, da er sein Werk verfasst habe, bevor er Webers Oper kennen habe können. Selbst wenn seine Orchesterbehandlung in der Regel als gewandt und originell eingestuft wurde, wenn auch gewiss nicht als so eigenwillig und brillant wie jene Webers, nahmen die Zeitgenossen wahr, dass es für Kreutzers Inspiration entscheidend war, stets in Melodien zu denken, wodurch er letztlich ähnlichen Idealen huldigte wie eine ganze Reihe zeitgenössischer Exponenten der italienischen oder auch französischen Oper dieser Zeit. In einer Besprechung über Kreutzer heißt es denn auch: „Seit je her ist bei Kreutzer der Gesang immerdar der Alles umschlingende Zaubergürtel, der eben sowohl in seinen reizenden Cantilenen als vielstimmigen Combinationen sich entfaltet, dann weiß er die Melodie des italienisches Styles mit französischer Eleganz und teutscher Kraft zu vereinen; sein Instrumentalspiel endlich ist feurig, brillant, voll Leben und höchst wirksam, ein Resultat erprobter Kenntnisse.“

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876/Wikipedia

Kreutzer komponierte anfangs im Stil der Wiener Klassiker und Frühromantiker, aber er beschritt alle für ihn gangbaren Wege der Entwicklung einer differenzierten und effektvollen Instrumentation wie auch arios-rezitativischen Deklamation, und setzte sich erfolgreich dafür ein, zu beweisen, dass auch in der deutschen Oper neben dem motivisch-semantisch durchgestalteten Orchestersatz die Gesangsmelodie ihre Berechtigung hat.

Durch das Metier seines Vaters, eines Mühlenpächters, seit frühester Jugend vertraut mit dem Wasser als einem energetischen Element des Lebens an und für sich und dessen wirtschaftlichem Aspekt, hatte Kreutzer zeit seines Lebens eine ganz besondere Affinität zur Donau und dem Rhein, den Strömen seiner Heimatgegend. Dies thematisierte er immer wieder, und auch die großen Flüsse Elbe, Moldau und Düna (bei Riga) hat er kennengelernt. Über eine Wahrnehmung des Meeres oder auch großer Seen scheint er sich nicht näher geäußert zu haben, ob er jemals geschwommen oder gar getaucht ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Friedrich Schillers Ballade Der Taucher schien für ihn und andere Musiker der Zeit jedoch ein sehr reizvolles Objekt zur Vertonung. Aber anders als Schubert ließ er sich weder in durchkomponierter noch melodramatischer Form auf Schillers Originaldichtung ein.

Wie Kreutzer an das Libretto des Breslauer Autors Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831) geriet, ist nicht überliefert. Er dürfte es in handschriftlicher Form zur Kenntnis genommen haben, da es vor der Vertonung durch Kreutzer und dem in Berlin wirkenden Johann Friedrich Reichardt nicht im Druck erschienen ist. Bürde entwarf im Grunde eines der zahlreichen Opernbücher, die von Shakespeares letztem Drama Sturm (The Tempest, 1611) inspiriert waren und verknüpfte dieses mit Schillers Ballade, von der er jedoch fast nur ganz am Schluss jenes Moment heranzog, dass die Titelfigur ins Wasser springt. Ansonsten geht es, wie in den meisten Opern dieser Epoche, um Liebesdinge und Heiratssachen sowie um berechtigte und unangemessene Machtansprüche von Herrschern und Usurpatoren.

Conradin Kreutzer: Das Stuttgarter Hoftheater, Ort der Uraufführung seiner Oper „Der Taucher“1813/Wikipedia

Aber zurück zum Titel der Oper: Der Tatsache, dass beim Prozess des Tauchens durch den Sauerstoffmangel Halluzinationen entstehen können, trägt der Aspekt Rechnung, dass das Textbuch eine Fata Morgana und eine Feen-Erscheinung thematisiert. Luftspiegelungen kann es zwar nur beim zerstäubten Wasser – etwa bei dem Kreutzer aus heimatlichen Gefilden vertrauten Rheinfall bei Schaffhausen – geben und nicht in der Meerestiefe selbst, aber es ist ja keineswegs nötig, in romantischen Opernlibretti realistische Szenarien zu thematisieren. Beim ersten Anlauf Kreutzers, das Libretto zu vertonen, war es in seiner Eigenart und der expliziten Bezeichnung „romantisch“ noch vergleichsweise untypisch, während es später in der Zeit des Biedermeier zahllose „romantische“ und „pseudoromantische“ Handlungen auf den Bühnen gab.

Bürdes Libretto entsprechend, gab es in den ersten Versionen noch zwei später völlig ausgeschiedene Hauptrollen, nämlich eine Erzieherin (Alt) der Alphonsine und die explizit komische Rolle für einen Baßbuffo. An Stelle der umfangreichen Episoden und Ensembles mit diesen Charakteren wurde in die späteren Fassungen ein Nebenbuhler des Tauchers im Wettstreit um die Prinzessin eingeführt, der junge Antonio, Herzog von Calabrien, als anspruchsvolle Partie für einen Tenor, weshalb die ursprünglich alternativ vorgesehene Besetzung des hohen Mezzosoprans Ivo (eine sogenannte Hosenrolle) mit einer Tenorstimme verworfen wurde.

Das Wiener Kärntnertortheater, langjährige Wirkungsstätte Kreutzers als Dirigent, mit acht Uraufführungen zwischen 1810 und 1838/Wikipedia

Bei seinem dritten Versuch, das Süjet in Musik zu setzen, hatte Kreutzer an der Wiener Hofoper eine durchaus beachtliche Stellung inne. Die wesentlichen Verantwortlichen dieses Opernhauses waren zu der Zeit jedoch ein italienischer Impresario (Barbaja) bzw. ein französischer Tänzer (Duport). Man wartete von dieser Seite zunächst ab, ob sich deutschsprachige Werke rechnen oder gar etablieren konnten. Kreutzer standen die Sterne des Ensembles zur Verfügung, namentlich die später auch international äußerst erfolgreichen jungen Damen Henriette Sontag und Caroline Unger. Darüber hinaus trat Therese Elßler, Schwester der berühmten Tänzerin Fanny Elßler, in der Rolle der Fee in Erscheinung. Auch die männlichen Protagonisten waren umjubelte Darsteller aller markanten Rollen des Repertoires. Im Bereich der Szene setzte man auf höchsten Aufwand in der Ausstattung, auf optische Effekten, Ballett, Chor und Statisterie: Auf der vergleichsweise kleinen Bühne des Kärntnertortheaters traten ungefähr 60-80 Darsteller|innen in Erscheinung.

Theater in der Josephstadt, hier fanden 1834 –1837 acht Kreutzer-Uraufführungen statt/Wikipedia

1824 an der Hofoper und dann auch wieder 1834 im Theater in der Josefstadt setzten sich zahlreiche Journale mit Kreutzers Werk auseinander, und man verglich es mit anderen Opern seiner Zeit, in erster Linie mit jenen italienischer und französischer Provenienz, aber auch Webers Freischütz und der in Wien jüngst uraufgeführten Euryanthe: „Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug. […]“

Als Kreutzer den Taucher Ende 1834 noch einmal herausbrachte an jenem damals als Opernhaus sehr erfolgreichen und mit der Hofoper konkurrierenden Vorstadttheater in der Josefstadt, hatte er sich dort bereits als Schöpfer des Nachtlager in Granada (nach einem Sujet des Freischütz-Librettisten Friedrich Kind) und mit der Schauspielmusik zu Ferdinand Raimunds Verschwender etabliert. Man brachte seinen neuen Bühnenwerken inzwischen große Wertschätzung entgegen, und das über viele Jahrzehnte (bis ins 20. Jahrhundert hinein) erfolgreiche Nachtlager begründete – neben seinen Chören und dem Liedschaffen – seine langjährige Beliebtheit. Gerritt Waidelich/Carus

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Noch einmal sehr herzlichen Dank an Gerritt Waidelich, dem renommierten Wiener Musikwissenschaftler und Spezialisten zur Musik des frühen 19. Jahrhunderts, für seinen Artikel und vor allem für die ausgiebige Erschließung der weiteren Quellen und des Bildmaterials! G. H.

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Hier ein paar Kritiken 1823/4: Conradin Kreutzer – Der Taucher/ Theaterzeitung (Wien), 29. Januar 1823, Nr. 13, S. 51ff./ K. Kärnthnerthortheater. Endlich wieder eine neue deutsche Oper, welche allgemein gefiel; dies ist die am 24. Jänner zum ersten Mahl gegebene Composition; sie heißt: »der Taucher,« romantische Oper in zwey Aufzügen, Musik von Hrn. C. Kreutzer, Kapellmeister des k. k. Hoftheaters nächst dem Kärnthnerthor.

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876 veröffentlicht

Das Buch machte eine vortheilhafte Ausnahme von andern Opernbüchern. Es kommt in selbem ein schwermüthiger Herzog Lorenzo vor, welcher seinen Bruder vertrieb, und nun von Gewissensbissen verfolgt wird. Der vertriebene Bruder erscheint als Pilger, und dessen, vielleicht mitpilgernder Sohn, als Schützling der Fee Morgana. Diese zeigte ihm des Herzogs Lorenzo Tochter im Traume, und als sich diese im Walde auf der Jagd verirret, erkennet der junge Ivo sogleich sein geliebtes Traumbild in ihr. Die Prinzessinn findet an dem Vetter auch mehr Behagen als an dem ihr zugewiesenen Bräutigam, dem Herzoge von Calabrien. Selbst der Herzog Lorenzo findet sich von dem Jünglinge so angezogen, daß er ihn an seinen Hof mitnimmt. Als der Herzog Lorenzo seinen pilgernden Bruder sieht, wird zwar die Erinnerung an sein Benehmen gegen denselben wach, doch ohne daß er ihn eigentlich erkennet. Ein Traum aber bestimmt ihn, seinen goldenen Becher in der Charibde Schlund zu werfen, damit ihm mit demselben auch Gemüthsruhe und Versöhnung mit dem Bruder herauf geholet werde. Auf das Versprechen, die Tochter als Preis dem Kühnen zu geben, stürzt sich Ivo hinab, und bringt den Becher. Die Verbindung der Liebenden und die Versöhnung der Brüder ist der Lohn. Der Bräutigam war schon früher durch das Zureden der Braut aus dem erbitterten Gegner der Freund ihres Liebhabers geworden. Das Ganze endet nach Wunsch.

Die Musik ist angenehm, leicht, verständlich und heiter. Der geachtete Compositeur mahlet alle Situationen aus, ohne den Zuhörer zur besonderen Anstrengung zu nöthigen. Seine Instrumentation ist höchst effektvoll und die Musik erhielt vielen Beyfall. Hr. Kreutzer wurde nach jedem Akte gerufen. Unter den Tonstücken ist keines, welches lange Weile machte, mehrere gefielen besonders, wie ein Chor im ersten Akte, ein Duett, ein Terzett und das Finale desselben, sodann ein Duett und Terzett des zweyten Aktes so wie auch ein Chor desselben.

Bey den folgenden Darstellungen soll noch über mehrere Details dieser Oper gesprochen werden. Jetzt nur noch, daß die Aufführung sehr brav war. []

Die Ausstattung der Oper ist sehr angenehm; schöne Dekorationen, reitzende Tableaux zieren das Ganze. Nur die Charybdis gleichet einem Ringel-Spiel-Mechanism, oder einer horizontalen Windmühle. Solche Phänomene nachzuahmen, kann der Dekorateur nicht wagen, hier thut ein bescheidenes Versteck noch die beste Wirkung. Hoffentlich wird diese Oper viele Wiederholungen erleben.   M–r.

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Gedenktafel für Conradin Kreutzer in der Wiener Dorotheengasse 9/Wikipedia

Wiener Zeitschrift, 3. Februar 1824, Nr. 15, S. 123ff. Oper. [] Der Stoff, so wie er hier dramatisch behandelt, man darf wohl auch sagen, größten Theils erfunden worden, scheint die Einbildungskraft des Tonsetzers wenig angeregt, und noch weniger begeistert zu haben. [] Das Recitativ – denn die Handlung ist nur an einigen Stellen in Prosa dialogirt – hat den Vortheil einer verständigen, und den Vortrag oft sehr begünstigenden Declamation.

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Theaterzeitung (Wien), 10. Februar 1824, Nr. 18, S. 70f. Noch etwas über die Oper, »der Taucher.« Von einem geschätzten Kunstfreund eingesendet. Wir haben uns mit Beurtheilung der Musik des Herrn Conradin Kreuzer deshalb nicht übereilen wollen, weil bey den neuesten Erscheinungen im Gebiethe der deutschen Oper beynahe gewöhnlich der Fall eintritt, daß ohnerachtet des manchen Musikstücken gezollten Beyfalls, doch immer noch ein großer Theil des gebildeten Publikums eines andern Sinnes ist, und so manche Forderung, welche an ein neues Tonwerk gemacht werden könne, nicht darin erfüllt findet.

Wenn bey Weber’s »Euryanthe« der außerordentliche Kunstaufwand, der in mehreren Scenen bis zur Verschwendung getrieben und nicht selten dem genialen Fluße der Musik höchst nachtheilig ist, als ein Mangel der neuen Schöpfung erkannt, und dieselbe von vielen wahren Kennern dem »Freyschützen« deshalb nachgesetzt wurde, so tritt hier ein ganz anderer Fall ein. Weber zeigte in seiner Musik ein all zu sichtbares Streben nach Originalität, und daraus entstand wirklich eine gewisse düstre Farbe seiner Composition, eine gewisse Steifheit vieler Tonstücke, welche sich in seinem »Freyschützen« nicht vorfindet. Kreuzer hat überall eine liebliche Melodie anzubringen, und dieselbe noch obendrein stets mit einer recht blumigen Instrumentirung zu schmücken gesucht. Hierbey ist er aber oft in den Fehler gefallen, daß er nach einem fremden Muster gearbeitet und sich öfters selbst copirt hat.

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga (Die Gartenlaube, 1868)/Wikipedia

Ja wenn diese Oper ganz so in die Scene gegangen, und in den vielen Proben von der Hand eines geschickten Kenners nicht in vielen Theilen beschnitten worden wäre, so würden besonders mehrere Reminiscenzen aus der »Libussa« der Aufnahme geschadet, und vielleicht gar den ersten günstigen Eindruck vernichtet haben. Der Mangel an Originalität zeigt sich unverkennbar, und wird nur auf den ersten Moment durch die fleißige Arbeit des geschickten Compositeurs überdeckt. Sehr lieblich sind viele Melodien, sehr lebendig die Bewegungen, welche den Gesang im Orchester begleiten, aber die Töne, welche aus der Tiefe der Seele hervorklingen, sind darin nicht aufzufinden.

Weber’s »Euryanthe« ist in manchen Scenen allzudeutlich zum Grunde gelegt. In den instrumentirten Rezitationen aber ist Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre. Das Thema eines Duetts, einer Arie würde weit besser hervortreten, wenn diese ewige Bewegung unterbrochen, und durch gehörige Ruhepunkte getrennt wäre. Ein immerwährendes Streben verbannt die Ruhe, welche doch bey jeder Bewegung erst die nöthige Steigerung möglich macht, ganz aus dem Werke.

Die Leistungen der Sänger sind vom Tonsetzer mit so viel Umsicht und Geschick behandelt, und der Gesang gewöhnlich sehr dankbar geführt. Als ein Vorzug muß ebenfalls angeführt werden, daß der Gesang gewöhnlich nicht so sehr in der Tiefe sich verliert als dieß oft bey Weber der Fall ist. Hr. Kreuzer hat die Individualität seiner Sänger sehr genau beachtet und dadurch die freundliche Mitwirkung derselben erzielt, ein Umstand, der seiner Musik viel genutzt hat.

Dem. Sonntag, welche darin sehr glänzend aufgeführt ist (sie gab die Alphonsine) trägt auch in der That sehr viel zum Gelingen dieses Werks bey, und man darf annehmen, daß es ohne ihre liebenswürdige Persönlichkeit seines größten Reitzes ermangelt hätte. Gleich ihr erster Auftritt in der Introduktion sichert ihr den Beyfall für den Abend. Sie singt so gefühlvoll, und zeigt in jeder Bewegung ihrer Stimme die gebildete treffliche Sängerinn. Im Duett mit Ivo (welcher von Dem. Unger gegeben wurde) herrscht eine anmuthige Frische der Melodie, und beyde Sängerinnen rivalisirten mit Glück im Vortrage dieses Tonstücks.

Gerade in diesem Musikstücke, wo Ivo Alphonsinen seinen Arm zum Schutze anträgt, ist auch Dem. Unger sehr glücklich in ihrer Leistung. Hr. Forti, der den König gibt, zeigte sich im ganzen Stücke äußerst brav, aber als ein höchst ausgezeichneter Sänger erschien er im Duett mit Lorenzo (Hr. Preisinger). Diese Scene besonders erinnert sehr an die »Euryanthe.« Hr. Preisinger stand sehr brav an der Seite des genannten Sängers. Er befriedigte ganz im Gesange und wenn auch sein Spiel weit hinter dem eines Vogel zurück blieb, so kann man doch ohne Unbilligkeit von einem so jungen Operisten nicht mehr Routine verlangen. Im Komischen übertrifft er unsre Erwartungen gewöhnlich. Seine Arie im ersten Akt hat einen recht natürlichen Melodienfluß und liegt gut für die Stimme. Er trug sie brav vor.

Hr. Haitzinger zeigte sich sehr vortheilhaft. Gleich seine erste Scene im ersten Akte gab seiner hellen, hohen Tenorstimme treffliche Gelegenheit hervorzutreten. Die Scene mit Chor im Anfang des zweyten Akts entwickelt noch mehr Kraft und wird von ihm brav executirt. Hr. Kreuzer hat mit kluger Vorsicht die tieferen Lagen ganz vermieden. In den Ensemblestücken trat der sonore Tenor dieses Sängers gut hervor. Doch gestehen wir, daß das Gefühl seinem Vortrage in solchem Grade mangelt, als es Hr. Jäger besitzt. Der Chor zeichnet sich im Vortrage des Fischerliedes aus durch Präcision und ein gutes Verhältniß im Forte und Piano. Der Jagdchor wollte nicht so recht ansprechen. Es fehlt ihm an Einfachheit und Originalität, das erste Finale hat einige kräftige Momente gegen das Ende, doch imponirt es zu wenig durch Größe des Styls.

Die Ouverture hat zu wenig entschiedenen Charakter. Als die Oper das vierte Mahl zu Hrn. Kreuzers Einnahme gegeben wurde, war das Haus wenig besucht. Parterre und Logen waren nur zur Hälfte besetzt.

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Gedenkmarke für Conradin Kreutzer für die Französische Zone Baden 1949/Wikipedia

Der Sammler (Wien), 12. Februar 1824, Nr. 19, S. 75f./ Notitzen. Schauspiele. (Hoftheater nächst dem Kärnthnerthor.)/ [] Um von der Musik eine vorläufige Übersicht zu geben, müssen wir sagen, daß Hr. Conradin Kreutzer durch dieselbe bewiesen hat, wie er die Fortschritte der neuesten Zeit geschickt zu benutzen, und zu verfolgen versteht. Weber und Rossini haben bedeutenden Einfluß auf seine Manier gehabt. Das eigentliche Recitativ, welches hauptsächlich in Webers »Euryanthe« in einen fortgesetzten, melodischen Fluß verwandelt, und beständig mit der ganzen Maße der Instrumentirung in Verbindung gesetzt ist, erscheint auch hier ganz in derselben Gestalt. Manches wird bey dieser Manier gewonnen, manches verloren. Verloren wurde die Deutlichkeit, Charakteristik und oft auch die Wahrheit. Gewonnen wird die Aufmerksamkeit des Publicums auf jeden einzelnen Moment, in welchem bald dieser, bald jener individuelle Reitz der Instrumentirung das Interesse fesselt. Die vier Waldhörner geben durch ihre gestopften Töne so manchen effectvollen Moment, und die neue Methode, welche ein immerwährendes Umstecken der Bogen für gar keinen Mißbrauch mehr hält, erhöht diese frappanten Momente bey unerwarteten Transitionen.

Die Clarinetten, Oboen, Fagots ec. nahmen auch ihren Antheil bey der fortgesetzten, nie unterbrochenen Mitwirkung des Orchesters. Die Sänger sind genöthigt, einer ununterbrochenen Cantilena ihre physische Kraft zu widmen, aber eben deßhalb treten die lyrischen oder dramatischen Momente der Oper, in denen die Musik in ihrer ganzen melodischen Kraft und Gewalt erscheinen, in denen also eine Arie, Duett oder Ensemblestück beginnen soll, etwas mehr in den Hintergrund, als bey der Oper, wie sie sonst war.

Wir haben es schon öfter erfahren, daß ohne Textbuch deßhalb der Inhalt der Opern etwas unverständlich wird. Daß bey manchen Textbüchern eine Oper dadurch gerade gewinnen kann, weil der Zuhörer gar nicht in den Stand kommt, das Ganze zu verstehen – dieß gehört auf eine andere Rechnung.

Was den Charakter der Kreutzer’schen Recitative sowohl, als der ausgeführten melodischen Tonstücke betrifft, so wird Niemand läugnen, daß er auf der von Rossini und Weber vorgezeichneten Bahn mit Vorliebe fortgegangen, nicht selten aber so fest in ihre Fußstapfen getreten ist, daß man seinen Gang für einen und denselben Schritt halten sollte. Nahmentlich die Euryanthe wäre bey mehreren Stellen zu citiren, ganz augenscheinlich aber in der Scene zwischen Alphonso und Lorenzo, vor dem zweyten Finale.

Sehr klug verfuhr der Tonsetzer, daß er seinen Tonstücken so viel melodischen Reitz als möglich zu geben bemüht war, und dieses Verdienst wird ihm jeder unpartheyische Kenner und Freund der Kunst zugestehen; doch wird auch Niemand läugnen, daß der schöpferische Genius, die originelle, hohe Kraft, vor welcher die Mit- und Nachwelt freudig staunt, daraus gar nicht hervor leuchtet.

Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug.

In Betreff der Instrumentirung, wie wir sie jetzt am ganzen Werke betrachten, ist das Verfahren des Hrn. Kreutzer eben so lobenswerth, denn er hat die Virtuosität der meisten Mitglieder, nicht selten in Anspruch genommen.

Sein Violinen-Orchester steht beynahe stets in dem Verhältnisse eines verzierten Contrapuncts gegen die Singstimmen, ja man kann dreist sagen, daß es beynahe zu oft in einer laufenden oder trippelnden Bewegung erscheint.

Hieraus wird einiger Maßen der Mangel erklärbar, den ein großer Theil des Publicums aufrichtig empfand, wenn er hohe Einfachheit, Würde und originelle Kraft vermißte.

Was die Charakteristik der einzelnen Rollen betrifft, so läßt sich nach dem Gesagten eigentlich der Schluß schon von selbst machen. Der individuelle Reitz hebt die ideale Schönheit schon von selbst auf. []

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga zum 175. Geburtstag/Wikipedia

Der Jägerchor ist wohl unter den Chören einer der schwächsten. Die Solostimmen arbeiten viel hinein, dann sind die Modulationen auch etwas zu gesucht für eine Musik, welche durch Klarheit und Charakteristik imponiren, nicht aber durch Virtuosität der Solosänger reitzen soll.

Im Allgemeinen ist der zweyte Act besser gehalten und reicher an musikalischer Kraft. Hierunter sind aber auch die Scenen verstanden, welche wir schon als der Euryanthe Webers entlehnt, bezeichnet haben.

Die Vorzüge, die wir an diesem Werke gerühmt, und worunter wir besonders die Lieblichkeit der Melodie bezeichnet haben, errangen ihm vorzüglich dadurch das Glück des Beyfalls. Hr. Kreutzer wurde zweymahl hervorgerufen, und der Beyfall erhielt sich auch in den nächsten Vorstellungen. (Gerritt Waidelich)

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Abbildung oben: Ausschnitt/“Der Taucher“/Illustration zu Schillers Ballade von Ary Schaeffer (1795 – 1858)/Aquarell/Artnet/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier

Rossini in Wien

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Viel zu verdanken hat der italienische Opernkomponist Gioacchino Rossini dem unermüdlichen Schweizer Opernforscher Reto Müller, (operalounge-Lesern wegen seiner Veröffentlichungen im Umfeld eben dieses Komponisten kein Unbekannter), der nun auch für die Herausgabe des zwölften Bandes der Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft und zwar des Tagungsbands mit dem Titel Rossini in Wien verantwortlich zeichnet. Die Tagung fand 2022, genau zweihundert Jahre nach dem Gastspiel Rossinis und seiner aus Neapel stammenden Operntruppe, die auch die ihm frisch angetraute Sängerin Isabella Colbran umfasste, in Wien statt, und das Buch beleuchtet das Ereignis in überaus vielseitiger, mehr oder weniger erhellender Art.

Abgedruckt sind das Programm der Tagung und das eines im Zusammenhang mit derselben stattgefunden habenden Konzerts mit Mitgliedern der Opernklasse  des mdw. Es schließt sich ein Vorwort des Vorsitzenden der Rossini Gesellschaft, Jakob Lehmann, an, das dem Leser wohl das erste zustimmende Nicken abnötigt, denn auch er wird sich wie der Verfasser fragen, warum Wien, nicht aber Bologna, Pesaro, Neapel oder Paris zum Gegenstand der Tagung wurde. Immerhin gibt es gewichtige Gründe für die Wahl Wiens, das als Ort der Vermittlung zwischen Nord und Süd gelten kann und wo Rossini während des monatelangen Aufenthalts bedeutende Erfolge erzielte. Es folgt unter dem Titel Vorbemerkungen ein Bericht Reto Müllers über die durch Corona erschwerten Vorbereitungen der Tagung, die Gewinnung von 24 Referenten und die die Lektüre erleichternde Übersetzung der fremdsprachlichen Beiträge ins Deutsche.

Jeder Leser des umfangreichen, immerhin fünfhundert Seiten umfassenden Bandes wird den Schwerpunkt seines Interesses bei unterschiedlichen Artikeln finden, die eng am Thema Rossini und Wien verharrenden bevorzugen oder ihen ausweichen, dem weit ausschweifenden, das Thema verlassenden etwas abgewinnen oder ihn als unpassend empfinden, so dass auch eine Beurteilung des Gesamtbandes schwer und nicht einheitlich ausfallen kann.

Viel Gewinn und neue Erkenntnisse ziehen kann der Leser sicherlich aus dem Beitrag Reto Müllers, der sich mit der eng begrenzenden Frage befasst, ob es eine Begegnung zwischen Rossini und Beethoven im Jahre 1822 gegeben hat. Der Beitrag ist spannend wie ein Krimi und gewissenhaft abwägend wie eine wissenschaftliche Abhandlung, konfrontiert den Leser mit einer Fülle von Quellen, die kritisch beäugt  und nicht ohne Humor dargestellt werden, so die Aussagen des wortreichen Edmond Michotte, der Rossini Jahrzehnte mach dessen Wienaufenthalt befragte.

Eine Art Gegenpol zu diesem so sachlichen wie unterhaltsamen und humorvollen Beitrag bietet Anke Chartons Die Italienerin in Wien: Performativität und verkörperte Vokalität im Rossini-Gesang, in dem gendernd über „gegenderte Darstellung“ geschrieben, über „Gruppenhierarchie nach Fachprinzip“ referiert  und zur Schlussfolgerung gekommen wird, dass Rossinigesang lesbar sei als „gegenderte, verkörperte Vokalität“.  Da kehrt man gern zurück zu sich tatsächlich an Wien und 1822 haltende Beiträge wie Melanie UnseldsSuper Coupleoder „Compositeur, sammt Gattin“, wo sich an Quellen gehalten wird, wie in Martina Gremplers Beitrag über den Übersetzer Grünbaum, wagt gern auch einen Blick ins von Rossini verlassene Neapel in Paolo Fabbris und Maria Chiara Bertiers Aufsatz.

Beachtenswert ist auch Ilaria Naricis Einsicht, dass Rossini durch seinen Erfolg in Wien den endgültigen Durchbruch als europäischer Komponist vollzog, sind die Erkenntnisse über das Wirken von Impresarii wie Domenico Barbaja, das Auf und Ab, was die Aufführungszahlen von Rossiniopern in Wien betrifft, denn nach dem Rossini-Fieber setzte eine schlimme Vernachlässigung ein, ehe durch Pesaro und Alberto Zedda eine Wiederentdeckung stattfand.

Marco Beghellis Beitrag über den Tenor Giovani David kann man entnehmen, welche Anforderungen die Musik Rossinis an die menschliche Stimme stellte und wie der gefeierte Sänger diese erfüllte, ob Falsett oder nicht zum Rossinigesang gehört, wer nun eigentlich als Erster von ihm Abschied nahm. Das geht zwar über das Tagungsthema hinaus, erfreut aber durch die „Praxisnähe“ zum Singen.

Gewinn ziehen kann der Leser auch aus dem Vergleich der beiden Fassungen von Elisabetta, regina di Inghilterra, die eine für Neapel, die andere für Wien bestimmt. Vincenzo Borghetti ist der Autor. Verzichtbar, wenn auch amüsant ist Guido Johannes Joergs Beitrag über Kanone und Kanon trotz der niedlichen Kanönchen im Text, müßig ist es, sich zu fragen, warum Rossini als Opernkomponist erfolgreicher war als Schubert. Auch das Verlagswesen wird kontaktiert von Fabian Kolb, wenig Berührungspunkte gibt es zwischen Raimund und Rossini (Bernd-Rüdiger Kern), und dem Vermarkten auch von Rossini-Ouvertüren für den Gebrauch beim Musizieren zu Hause wird Rechnung getragen (Simone Di Crescenzo).  Joachim Veit hingegen widmet sich dem Vergleich mit Weber in Wien 1822/23 und das Verhältnis von deutschem und italienischem Ensemble der Hofoper.

Der Band bietet ein überaus breites Spektrum von vielen mehr oder einigen weninger das Thema berücksichtigenden Beiträgen, die stilistisch ebenso breit gefächert erscheinen und ein vielfarbiges Bild des Schwans von Pesaro und des Wiener Opernlebens malen.

Ein umfangreicher kritischer Apparat  und ein Anhang, bestehend aus Personenregister, Werkregister und Sachregister vervollständigen das Buch (Rossini in Wien/ Tagungsband/ Herausgegeben von Reto Müller/ Leipziger Universitätsverlag 2024/ 500 Seiten / ISBN 978 3 96023 576 7/ 10. Juni 2024 ). Ingrid Wanja 

Joachim Raffs „Samson“

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Das Alte Testament ist nichts für schwache Nerven: da werden zerteilte Jungfrauen per Kurier verschickt, junge Männer im vermeintlich heiligen Krieg geopfert und hin und wieder ganze Völker eliminiert. Die Episode um den Israeliten Samson bildet in Sachen Mord und Totschlag keine Ausnahme. Samson hat sich in Delilah verliebt, eine Frau aus dem Lager seiner Widersacher – eine eher ungünstige Fügung, die ihn seine Frisur, sein Augenlicht und später alle Beteiligten das Leben kosten wird.

In den 1850er Jahren griff der Komponist Joachim Raff das Thema auf und machte daraus eine Oper mit dem Titel Samson. Anders als der spätere Camille Saint-Saëns schrieb er auch das Libretto. Wenn Raffs Samson auch mindestens so blutig ist wie die Passage aus dem Buch der Richter, so ist sein Samson doch reicher an zahlreichen Szenen mit tiefem und innigem Gefühlsausdruck – weniger ein religiöser Akt (übrigens in dieser Fassung ohne den Mythos des Haarschnitts), mehr ein menschliches Drama. Sieben Jahre lang hat Raff an seinem Samson gearbeitet. Entstanden ist eine groß angelegte Komposition mit abwechslungsreicher Orchestrierung, feiner Linienführung, einigen beeindruckenden Massenszenen und einer immer wieder spürbaren Affinität zum Musikdrama à la Richard Wagner. Trotz der unbestreitbaren Anziehungskraft des Werkes verzögerte sich die Uraufführung: 2022 wurde sie am Nationaltheater in Weimar uraufgeführt.

Das ausführliche Libretto der Ersteinspielung der Oper liefert eine Erklärung für diese verspätete Premiere. Übrigens enthält es auch das Libretto in drei Sprachen – sehr schön! Henrike Leissner

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Selten oder nie gespielte Opern haben ja für Opernfreunde stets ihren Reiz, zumal wenn sie vom Plot her Parallelen aufweisen: Es ist stets spannend zu sehen, wie das die Kollegen gemacht haben. Aber das Bessere ist eben auch leider der Feind des Guten oder des Soliden. Und es gibt da ja auch die Frage, warum ein Werk keinen Erfolg hatte oder warum es nicht zur Aufführung kam. Nicht alle Ausgrabungen lohnen sich, zumindest nicht für einen laufenden Theaterbetrieb, eher für Festivals. Oder die CD, wie nun hier.

In den 1850er Jahren beschäftigte sich der Komponist mit dem Thema des biblischen Samson, bei dem ich als Zuhörer weniger der Verführung sondern eher der Langeweile erliege, denn die neue Aufnahme bei der Schweizer Fonogramm – so verdienstvoll sie sicher ist – kann in keiner Weise mit Saint-Saens´ Bauchtanz-Oper mithalten (diese noch im Titel durch die Dame selbst erweitert). Bei Raff liegt sicher der Akzent auf dem allzumenschlichen Gefühl, auf alemannischer Befindlichkeit, wenngleich es da auch um Mord und Todschlag geht. Und natürlich ist Raff der Komponist des Kraftvollen ebenso wie des Zarten, der intimen Szenen ebenso wie der monumentalen kriegerischen Auseinandersetzungen (wie soll man das inszenieren?), aber im schweizerischen Bern verbleibt alles eher im Händelschen Oratorien-Fahrwasser, bleibt unüberzeugend, akademisch, papiern. Und eben im Gesamteindruck langweilig.

Dem arbeitet die neue Aufnahme nicht entgegen. Sicher, Philippe Bach am Pult des Berner Symphonieorchester, dem Chor der Bühnen Bern (toll!) und der Protagonisten macht einen wirklich guten Job und versucht uns von der Klangfülle der Komposition zu überzeugen – aber da ist mir zu wenig musikalisches Backing, zu wenig Rückhalt für die Protagonisten, die doch angeblich in elementaren Situationen aufeinandertreffen.

Und eben diese sind das Defizit der Aufnahme, denn einen so stentoralen Samson hat man seit Jon Vickers nicht mehr erlebt (und seiner kam aus Frankreich): Magnus Virgilius und Michael Weinius als Samson und Micha lassen mich jede Minute zum Lautstärkeregler greifen, um einer Kündigung meiner Wohnung vorzubeugen. Das ist einfach zu forciert, zu sehr unter Druck, zu unschön im Ton, Altes Testament oder nicht. Und es wird in der Dynamik schlicht zu monochrom. Auch Bariton Robin Adams als Abimelech muss sich den Vorwurf einer recht grauen, unscharfen Stimmführung gefallen lassen (meine Meinung sag ich mal gleich prophylaktisch). Das ist alles nicht spannend, nicht ereignisreich.

Der Dirigent Philippe Bach/ Wikipedia

Die Dame selbst, Olena Tokar, verwechselt Sinnlichkeit mit Kraft. Jeder Samson würde aus seiner Trance erwachen und ihr die Schere aus der Hand schlagen. Das ist mir zu viel Vibrato, zu robust der Ton, wenngleich sie von den Dreien zumindest um Zärtlichkeit und bewegende Momente bemüht ist. Auch ihr Schluss macht was her, in der Tat, selbst wenn man bei den hohen Noten etwas in Deckung geht.

Die übrigen sind funktional im großen Ganzen, das mich ab CD2 mehrere Teepausen einlegen ließ. Bei aller Wertschätzung der ganz sicher kostspieligen, mit Schweiß und Ausdauer verbundenen Bemühungen diese seltene Oper eines wenig bekannten Komponisten ans Tageslicht zu bringen und eben diesem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mehr als akademisches Interesse kann ich der neuen Aufnahme nicht entgegenbringen. Pardon. Stefan Lauter

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Dazu auch ein Text zum Komponisten und Werk von Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, anlässlich der Uraufführung in Weimar 2022: Mit der Uraufführung des Lohengrin unter dem Taktstock von Franz Liszt am 28. August 1850 im Weimarer Hoftheater begann der Siegeszug der Wagnerschen Bühnenwerke im deutsch-sprachigen Raum und bald auch darüber hinaus. Der Komponist des bahnbrechenden Werkes war zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch schon einige Schritte weiter: In seinen theoretischen Schriften, die der Exilant von seinem neuen Wohnort Zürich aus in die Welt entließ, entwirft er das «Musikdrama», das sich kategorisch von der zu überwindenden, kommerziellen Oper unterscheiden soll. «Wie hast du’s mit Wagner?» wurde bald zur musikästhetischen Gretchenfrage der Zeit. Zu den gründlichsten Kennern von Wagners Werk und Theorie in dieser Sattelzeit der Geschichte des Musiktheaters gehört der damals knapp 30-jährige Lehrer und autodidaktische Komponist Joachim Raff, der von 1850 bis 1856 in Weimar als Assistent von Franz Liszt wirkte. Ermuntert durch den Erfolg der Weimarer Uraufführung seiner grossen historischen Oper König Alfred am 9. März 1851 machte sich Raff sogleich an sein zweites Bühnenwerk, Samson. In einem Brief an seine Stuttgarter Freundin Kunigunde Heinrich charakterisiert Raff das Werk folgendermassen: «Was nun meine neue dramatische Arbeit anlangt, so verlasse ich darin den Boden der Oper, auf dem der ‹König Alfred› noch steht, gänzlich, und stelle mich aufs Gebiet des von Wagner angebahnten Musikdrama’s; auf welchem ich übrigens in einer von jenem Componisten und Dichter verschiedenen Weise zu arbeiten gedenke oder vielmehr im Begriffe bin.»

Der Autor: Severin Kolb, MA und Leiter der schweizerischen Joachim Raff-Gesellschaft/ Facebook

Raff zeigt sich in seinem Schaffen als Komponist, der stets versucht, die Positionen seiner Vorgänger zu einer Synthese zu amalgamieren. So ist auch Samson ein Versuch, Wagners Schaffen mit der Grand Opéra, insbesondere mit Giacomo Meyerbeers überaus erfolgreichen Werken, zu versöhnen, wie schon auf den ersten Blick auf die Einteilung des Werks in drei Abteilungen und die fünf Akte der französischen Tragödie sichtbar wird. Bei der Lektüre von Raffs parallel zum Samson entstandener Schrift Die Wagnerfrage, der ersten Wagner-Monographie überhaupt, kristallisiert sich heraus, in welchen Belangen Raff an Wagners Theorie und an Lohengrin (in Ermangelung an bereits existenten Musikdramen) anknüpfte, und in welchen er andere Wege ging.

Die Musik soll auch für Raff im Dienst des Dramas stehen, dessen Sujet er zwar der Bibel entnimmt, aber realistisch wie einen säkularen historischen Stoff behandelt: Parallel zur Ent-stehung des Werks wollte sich Raff mit einer Doktorarbeit über den Samson-Stoff an der Universität Jena «in der Gelehrtenwelt hinlänglich accreditieren». Der Plan scheiterte. Doch die Arbeit war nicht vergebens, denn Raff legte höchsten Wert auf eine historisch fundierte, re-alistische und enorm detailgetreue Umsetzung von Bühnenbild und Kostümen. Die Gestaltung des Titelhelden ist zeittypisch: Samson erscheint in Raffs eigenhändig verfasstem Libretto wie Wagners Rienzi oder Raoul de Nangis aus Meyerbeers Les Huguenots als Spielball des Schicksals, nicht als dessen Schmied. Zwischen den einzelnen Akten vergeht einige Zeit, so dass die Anlage des Werks Züge eines Stationendramas trägt, zumal Raff mehrfach an die biblische Passionsgeschichte anspielt.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/ Foto Candy Welz

Wie in der Grand Opéra üblich (auch Wagner geht im Lohengrin keine anderen Wege), kombiniert Raff eindrückliche Massenszenen und eine intime Privathandlung, die an den widrigen Umständen letzten Endes scheitert und zum Untergang der beiden Hauptprotagonisten führt. Der dramatischen Anlage des Werks entsprechend stehen sich in der Partitur grossbesetzte Szenen (sowohl der erste Akt mit dem eingängigen Bittgesang der Philister im Zentrum oder der finale Akt mit dem umfangreichen Ballett, das ebenfalls auf die Grand Opéra verweist, sind gross angelegte Massenszenen) und psychologisch subtil gestaltete Solonummern und Duette gegenüber. In Bezug auf die Dramaturgie folgt Raff Wagners Forderung zur Auflösung von Einzelnummern in ein größeres Gefüge, ohne jedoch selbst die Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie zu nivellieren. Die arienartigen Gebilde sind zumeist kurz, verzichten auf viel Textwiederholung und bieten wenig Gelegenheit zur Demonstration von vokaler Virtuosität – obwohl die Partitur hohe Ansprüche an die Interpretierenden stellt. Wäh-rend sich die beiden Soloszenen von Abimelech (2. Akt) und Samson (3. Akt) an der traditionellen, aus zwei kontrastierenden Teilen bestehenden Scena orientieren, lösen sich die Duette in kleingliedrigere Einzelteile auf. In dieser Hinsicht ragt das Duett des 4. Akts hervor, der Kerkerszene mit der Wiederbegegnung von Samson und Delilah, in der die Liebenden im-mer wieder neue Affekte durchleben. Raffs Tonsprache verbleibt trotz immer wieder kühnen Modulationen, chromatischen Einfärbungen und Ausflügen in ferne tonartliche Regionen weitgehend diatonisch. Er gliedert die Vertonung seiner Verse zudem weitgehend in jene quadratische syntaktische Taktgruppen, die Wagner in seinen Musikdramen auf der Suche nach der «endlosen Melodie» immer mehr aufsprengt. Dies hängt nicht zuletzt mit dem auf traditionelle Weise gereimten Libretto zusammen: Raff schätzte Wagners Dichtung des Lohengrin, verwarf aber dessen vor allem in Oper und Drama angebahnte Emanzipierung des Stabreims, der den Ring des Nibelungen prägt.

Zu Raffs „Samson“: Franz Liszt am Klavier in Weimar/ Postkarte/ Weimar-Lese

Raff nutzt die Möglichkeiten des Komponierens für Orchester auf der Höhe der Zeit: Mehrere Leitmotive setzt er auf subtile Art und Weise ein, jedoch nicht annähernd in dem Ausmaß wie Wagner im Ring des Nibelungen: (Samson-Herausgeber Volker Tosta schreibt dazu: Raff verwendet das gleiche Orchester wie Wagner im „Lohengrin“, also die Kräfte, die er am Hoftheater Weimar erwarten konnte. Er verwendet damit im „Samson“ die größte Orchesterbesetzung aller seiner Werke. Mehr noch als Wagner setzt Raff aber auf ein kammermusikalisches Klangbild mit zahlreichen Instrumentalsoli. Ein volles Orchestertutti und entsprechende Lärmentfaltung ist äußerst selten.) Während das Samson-Motiv, das vielleicht nicht zufällig dem «Siegfried/Schwert»-Motiv gleicht, die Präsenz des Helden sogar noch dann andeuten kann, wenn sich dieser gar nicht auf der Bühne befindet, wird der zweite Akt durch ein ahnungsvolles Motiv geprägt, das mit Abimelechs Intrige verknüpft ist – in der Verwendung nicht unähnlich wie das «Frageverbot»-Motiv aus Lohengrin. Ausgedehnte instrumentale Passagen – zu einem Vorspiel existiert bloß eine Skizze – verwendet Raff in erster Linie, um Szenerien zu charakterisieren, so das mit «Ländliches» überschriebene pastorale Vorspiel zu dritten Akt oder das die Kerkerszene einleitende düstere Fugato des vierten Akts. Ersteres er-scheint im vierten Akt als Erinnerungsmotiv. Steht die Instrumentalmusik der ersten vier Akte weitgehend im Dienst des Dramas, so zeigt sich Raff im die Handlung retardierenden Ballett auch als geschickter Komponist von geschlossenen Marsch- und Tanzformen. In den meisten Szenen dient das Orchester zur traditionellen Begleitung oder der Charakterisierung der Stimmung, doch in Samsons Arie des dritten Akts erweist es sich besonders deutlich als «wissendes Orchester», das durch Molleintrübungen auf Samsons Selbsttäuschung hinweist und dessen Aussagen unterminiert. Da Raff schon als feinsinniger Instrumentator gelobt wurde, ehe er überhaupt die Gelegenheit hatte, eigene Orchesterwerke zu hören, so überrascht es nicht, dass auch Samson zahlreiche faszinierende Einfälle enthält.

Zu Raffs „Samson“: Wagners Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld/ hier mit Ehefrau Malwina als Isolde auf einem Foto von Albert, sollte die Titelpartie singen/ Wikipedia

Zwar zeigten sich so eminente Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Hans von Bülow und, der erste Sänger von Wagners Tristan, von dem Stück begeistert. Zu einer Aufführung kam es bis heute jedoch nicht. Scheiterte eine Produktion in Darmstadt an «Delilahmangel», so lag es in Weimar zunächst an Engpässen in der Spielplangestaltung. Wegen der sabotierten Aufführung der von Liszt protegierten Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius legte dieser sein Amt als Kapellmeister im Dezember 1858 nieder und begrub dadurch die Hoffnung, den Samson in Weimar zur Aufführung zu bringen, auf längere Zeit. In den frühen 1860er Jahren versprach Raff seinen Freunden Hans von Bülow und Lud-wig Schnorr von Carolsfeld, das Werk wieder in Angriff zu nehmen. Nach Schnorrs unerwartetem Tod im Alter von bloß 29 Jahren gab Raff das Werk 1865 erneut auf. Albert Schäfer, der im Jahre 1888 das erste Verzeichnis der Werke Raffs herausgab, berichtet jedoch, dass der Komponist in seinem Todesjahr noch mehrfach davon gesprochen habe, den Samson zu überarbeiten, um ihn endlich aufgeführt zu sehen. Nach Raffs Tod geriet das Werk, das so früh wie kaum ein zweites auf das im Entstehen begriffene Musikdrama Wagners reagierte, weitgehend in Vergessenheit (…). Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, gab uns 2022 seinen Text anlässlich der Uraufführung der Oper am Nationaltheater Weimar. Mit herzlichem Dank an den Autor.

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Und der Herausgeber der musikalischen Edition des Samson, Volker Tosta, schreibt dazu: Es kommt fast einem Wunder gleich, wenn ein Herausgeber/Verleger es einmal schafft, ein Theater für ein vergessenes Werk zu begeistern. Normalerweise ist man dort gerne autark, auch wenn es darum geht Randrepertoire zu erkunden. Im Falle des Musikdramas in fünf Aufzügen Samson von Joachim Raff (1822-1882) mag geholfen haben, dass der Komponist in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, aber der Enthusiasmus, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Nationaltheaters Weimar den schon 2019 zum ersten Mal herausgegebenen Klavierauszug des Stücks begrüßten, war doch sehr bemerkenswert.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/Foto Candy Welz

Die hohe Meinung von dem Werk, die sich jetzt bei den Proben unter den Beteiligten noch gesteigert hat, lässt die Überzeugung wachsen, dass sich der Funke bei der Premiere am 11. September 2022 auch auf das Publikum in Weimar überträgt. Es ist vielleicht DIE Ausgrabung der vergangenen Jahre. Schon Hans von Bülow, enger Freund Joachim Raffs, schrieb diesem: „Lass den ‚Samson‘ nicht liegen! Dass der einschlägt, ist mir sicher.“ Aber Raff ließ den 1851 begonnen und 1857 fertiggestellten „Samson“ tatsächlich liegen. Da halfen auch die flehentlichen Bitten Ludwig Schnorr von Carolsfeld (dem ersten Tristan) nichts, der das Werk in Dresden herausbringen wollte. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vermutlich war Raff, der im Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Traditionalisten eine neutrale Position einnehmen wollte, dieses Werk doch zu nahe an Wagner, zu modern geraten.

Volker Tosta, Herausgeber der Edition Nordstern/ Link

Das DNT schreibt im Flyer zu Produktion: „Die Musik Raffs erinnert an Wagner, ist jedoch kühner in der Harmonik und klassizistischer in ihrer Durchlässigkeit.“ Man kann noch hinzufügen, dass sie kontrapunktischer ist und die traditionellen Formen immer wieder durchscheinen lässt. Raff konzipierte das Werk, zu dem er auch das Libretto selbst verfasste, als Musik gewordene Manifestation seiner umfangreichen Schrift „Die Wagnerfrage“, mit der er 1856 ordentlich Wirbel im Kreise der Neudeutschen entfachte. Die 1850 erfolgte Premiere des „Lohengrin“, bei er selbst tatkräftig Liszt assistierte, waren Raff Anlass zu Lob aber auch Tadel an Wagners Werk. So erscheint der „Samson“ als Melange zwischen deutschem Musikdrama und französischer grand opéra. Dabei ist das reichbesetzte Orchester oft kammermusikalisch reduziert und gibt der vokalen Linie ungeschmälerte Präsenz. Bülow schreibt: „…das (dramatisch)-Gesangliche hat mich fast durchgängig im höchsten Grade überrascht. Reiche, schöne – ‚blühende‘ – Melodik – ungeheuer sangbar – ungeheuer dankbar!“

Zu Raffs „Samson“: Der Dirigent Hans von Bülow/ Wikipedia

Obwohl Raffs Verhältnis zu Liszt durch die Nachwirkungen der „Wagnerfrage“ getrübt war, bemühte sich dieser um eine Uraufführung des „Samson“ in Weimar, verlor dort aber bald seine Stellung und konnte das Projekt nicht weiter verfolgen. Erst 1870 gab es wieder die Premiere einer Raff Oper in Weimar. Das war aber dann die komische Oper „Dame Kobold“, mit der Raff allen neudeutschen Einflüssen abschwor und seine Ambitionen für das ernste Musikdrama für immer einstellte. Es sollten noch drei weitere Opern folgen, alle von heiterem oder lyrischem Charakter. Ausgerechnet in Weimar erfolgte dann 1877 die Premiere eines Konkurrenzwerks über den gleichen Stoff: Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Die Riege der handelnden Personen in beiden Opern ist durch die gemeinsame Vorlage (AT: Buch der Richter) natürlich ähnlich, aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Motivation ist deutlich verschieden. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Raff Religion und Metaphysik keine Rolle spielen. Alles ist menschlich, politisch und diesseitig. Auch in seiner tiefsten Agonie kommt Raffs Samson der Ausruf „Gott“ nicht über die Lippen. Frappant ist auch die Parallele zwischen dem großen Liebesduett zwischen Samson und Delilah  im dritten Akt und der dramaturgisch ähnlichen gebauten Szene in Wagners „Tristan und Isolde“, die beide durch Eindringlinge von außen jäh beendet werden. Mit Genreszenen hält sich Raff in den ersten vier Aufzügen zurück, um dann aber im fünften Aufzug ein opulentes Fest der Philister mit großem Ballet zu zeigen. Auch hier gibt es Orientalismen, aber nicht so auffällig wie bei Saint-Saëns, der den Vorteil hatte, derartige Musik selbst gehört zu haben. Volker Tosta/ Nordstern

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Die Autoren: Severin Kolb (*1988), ist M. A., Studium der Musikwissenschaft, Religionswissenschaft und Hermeneutik an der Universität Zürich (Abschluss 2016), wo er nach einer Masterarbeit über Raffs Sinfonik über das Verhältnis von Raff zu Richard Wagner dissertiert. Seit 2016 ist er im Vorstand der Joachim-Raff-Gesellschaft und wirkt als wissenschaftlicher Leiter des Joachim-Raff-Archivs. (Quelle arbido)

Der Musikforscherr Volker Tosta von der Edition Nordstern ist der Herausgeber vieler Aufführungspartituren vergessener Opern, so zuletzt der von Meyerbeers Feldlager in Schlesien an der Oper Bonn und so auch des Samson von Raff nun am Nationaltheater Weimar im September 2020, zu dem wir dann eine längere Präsentation planen und die Aufführung auch besprechen werden. Das Vorspiel zum 3. Akt ist in einer Aufnahme unter Roland Kluttig auf youtube zu hören.  G. H.

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Abbildung oben: Samson et Dalilah von José Echenagusia Errazquin/Ausschnit.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Jung und alt

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Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts etwas miteinander zu tun haben? Ja, meinen die Urheber der CD Debussy & Strauss und finden es darin, dass beide Komponisten für ihnen nahe oder sehr nahe stehende Sängerinnen komponiert haben. Das wäre für Debussy seine allerdings anderweitig verheiratete Geliebte Mary Garden, später seine erste Melisande, und für Strauss seine Gattin Pauline, die allerdings Jahrzehnte vor dem Entstehen der Vier letzten Lieder sich als Sängerin, so als erste Freihild im Guntram produzierte. Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts in einem Kontrast zueinander stehen? Auch ja, meinen seine Verursacher und sehen diesen darin, dass Debussy beim Entstehen von Ariettes oubliées erst 24, Strauss hingegen beim Entstehen seines Mini-Zyklus, der nicht als solcher gedacht war, bereits 84, war allerdings zu dieser Zeit und auch sonst nicht gezwungen, ins Exil in die Schweiz zu gehen, wie das Booklet behauptet.

Die Texte zu Debussys Chansons wurden auf Gedichte des Symbolisten Paul Verlaine vertont, ursprünglich mit Klavierbegleitung, die Begleitung durch Orchester komponierte Brett Dean auf Anregung von Simon Rattle und Magdalena Kožena und orientierte sich dabei zwischen La Mer und L’Après-midi d’un faune. Für Strauss weist das Booklet interessanterweise darauf hin, dass aus Eichendorffs letzter Zeile „Ist das etwa der Tod“ ein „Ist dies etwa der Tod“ und damit eine größere Nähe zum nahenden Lebensende wurde.

Die Sängerin der beiden Zyklen ist Siobhan Stagg, eine australische Sopranistin, die dem Berliner Publikum durch jahrelange Präsenz an der Deutschen Oper Berlin bestens bekannt ist. Hier konnte man sie als leichten, dann lyrischen Sopran zwischen Sophie und Pamina erleben, inzwischen hat sie eine internationale Karriere gemacht und kümmert sich auch bereits um die nachfolgende Sängergeneration mit den Siobhan Stagg Encouragement Awards. Der Dirigent der Aufnahme ist Jaime Martin, Chefdirigent des Melbourne Symphony Orchestra, das er auch für dieses Konzert leitet.

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Strauss hatte sich für die Uraufführung, die er selbst nicht mehr erlebte, Kirsten Flagstad gewünscht, die auch als Erste, begleitet von Wilhelm Furtwängler, den Zyklus sang. Frühe Aufnahmen gibt es auch von Sena Jurinac und Fritz Busch, Lisa della Casa und Kurt Böhm sowie Elisabeth Schwarzkopf und Herbert von Karajan. Das sind sehr unterschiedliche Stimmtypen für eine Musik, für die man sich die lockere Stimmführung, den natürlichen, duftigen Klang einer Sophie und die Wärme und den melancholischen Touch einer Marschallin wünscht, dazu noch wegen der hohen Qualität der Texte eine perfekte Diktion. Die von Siobhan Stagg ist etwas verwaschen, da vertraut die Sängerin wohl darauf, dass das australische Publikum sowieso auf eine Übersetzung angewiesen ist. Der Sopran nimmt allerdings sehr schön das Farbenspiel des Orchesters auf, die Stimme  schraubt sich mühelos in die höchsten Höhen, dem Klangrausch die Textverständlichkeit opfernd. Ein sehr sanfter Tod wird mit einem schön verhallenden Schluss des letzten Liedes verheißen. Die leichte Veränderung des Eichendorfftextes von „ist das“ in „ist dies vielleicht der Tod“ wird damit eher zurückgenommen als bestätigt.

Der Debussy-Zyklus beginnt mit einer „extase langoureuse“ in schillernder Bewegtheit, allerdings auch wieder verhuschter Diktion, der Sopran korrespondiert in Il pleur dans mon cœur schön mit den Orchesterfarben und hat für L’ombre des arbres eine reiche Agogik. Leichtigkeit und Geschmeidigkeit zeichnen den instrumental geführten Sopran in Chevaux de Bois aus, Eleganz und schillernde Farben hat sie für Green und kraftvoll aufblühen kann sie für Spleen– insgesamt ist sie bei der Interpretation des jungen Debussy noch weit mehr in ihrem Element als bei der des über achtzigjährigen Strauss., während das Orchester beiden Komponisten in seiner begleitenden Funktion gerecht wird (SACD MSO 001)I. Ingrid Wanja  

Eric Tappy

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Mit großem Bedauern und persönlicher Betroffenheit las ich vom Tode des von mir außerordentlich bewunderten Schweizer Tenors Eric Tappy. Kaum eine andere männliche Stimme hat mich so erreicht wie die seine, zumal auch seine elegante, virile Erscheinung seine Wirkung auf der Bühne und im Konzert ergänzte. Ich erinnere mich sehr lebhaft an seinen Monteverdi-Nerone im bezaubernden Holztheater des schweizerischen Jura, an seine Auftritte in Salzburg und Zürich (die dankenswerter Weise als DVD dokumentiert sind). Sein Pelléas neben der erotischen Rachel Yakar unter Armin Jordan bei Erato bleibt für mich der beste überhaupt (und zudem einer der wenigen Tenöre in dieser Partie).  An seine vielen Aufnahmen unter Corboz und Harnoncourt et.al.  braucht man nicht zu erinnern. Seine Lieder-Einspielungen bleiben beispielhaft (Claves et al.), aber seine Wirkung war eben auch eine optische von unerreichter Wirkung. Was für eine Persönlichkeit und Präsenz. Er war für mich eine feste Größe meines eigenen Musiklebens. Daher die Betroffenheit. Nachstehend eine Würdigung durch die englische Wikipedia mit Dank. Geerd Heinsen

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Eric Tappy und Rachel Yakar in Monteverdis „Poppea“ in Zürich/Film/Wikipedia

Éric Tappy (19. Mai 1931 – 11. Juni 2024) war ein Schweizer Operntenor. Er trat international auf, sowohl in der Oper, bekannt als Mozart-Tenor, als auch im Konzert, insbesondere als Evangelist in Bachs Passionen. Ab 1981 konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit. Von 1962 bis 1974 war Tappy Mitglied des Grand Théâtre de Genève, wo sein breites Repertoire große Mozart-Rollen und Uraufführungen wie La Mère coupable von Darius Milhaud umfasste. Er gilt als legendär, weil er Monteverdis Orfeo, den Tamino in Mozarts Die Zauberflöte und Debussys Pelléas mit einer Stimme von beispielhafter Klarheit und Diktion gesungen hat.

Tappy wurde am 19. Mai 1931 in Lausanne als Sohn des Metallarbeiters Constant Albert Tappy und seiner Frau Cécile Emile, geborene Apothéloz, geboren. Er erhielt früh musikalischen Unterricht in Geige und Chorgesang von seinem Cousin André Charlet.

Nachdem Tappy 1951 Lehrer geworden war, studierte er Gesang am Conservatoire de Musique de Genève bei Fernando Carpi. Weitere Studien absolvierte er am Salzburger Mozarteum bei Ernst Reichert,[2] am Conservatorium van Hilversum bei Eva Liebenberg,[7] und in Paris bei Nadia Boulanger.[2] Die Konzerttätigkeit begann 1956, und verstärkte sich, als er 1958 mit einem Preis ausgezeichnet wurde, mit Konzerten in der Schweiz und im Ausland; 1959 gab er deshalb seinen Lehrauftrag auf.[3] 1959 sang er in Straßburg erstmals die Rolle des Evangelisten in Bachs Matthäuspassion. Im Dezember 1959 sang er die Tenorpartie in Frank Martins Oratorium Mystère de la Nativité in Genf.

Als das Grand Théâtre de Genève 1962 wiedereröffnet wurde, trat Tappy als Graf de Lerme in Verdis Don Carlos auf. Er trat dem Ensemble bei und sang dort zwölf Jahre lang ein breites Repertoire, darunter große Mozart-Partien und Rollen in neuen Werken wie Martins Monsieur de Pourceaugnac und La Tempête; er wirkte bei der Uraufführung von Darius Milhauds La Mère coupable mit.

Er gastierte international in Rameaus Zoroastre in Bordeaux und in Paris, in der Titelrolle von Monteverdis L’Orfeo am Schlosstheater Drottningholm und als Nerone in L’incoronazione di Poppea an der Staatsoper Hannover. Im August 1970 beeindruckte er als Tamino in Mozarts Die Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen, gefolgt von derselben Rolle und der Titelrolle in Mozarts La clemenza di Tito beim Festival von Aix-en-Provence.

Eric Tappy als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“/Agence Nouvelle/HB

Nachdem er 1979 als Nerone in L’incoronazione di Poppea am Opernhaus Zürich unter der Regie von Jean-Pierre Ponnelle und unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt an der Seite von Rachel Yakar in der Titelrolle aufgetreten war, wurde die Produktion auch beim Edinbourg Festival und an der Mailänder Scala gezeigt und gefilmt.[ Tappy trat erstmals 1974 am Royal Opera House in London in Mozarts La clemenza di Tito auf.

1981 zog sich Tappy von der Bühne zurück; seine letzten Auftritte auf der Bühne waren Mozarts Lucio Silla in Zürich und Nerone an der San Francisco Opera.

Nach seiner Pensionierung arbeitete Tappy als Regisseur und konzentrierte sich auf das Unterrichten. Er gründete ein Opernstudio, das Atelier d’interprétation vocale et dramatique, an der Opéra National de Lyon und leitete es. Von 1984 bis 1999 lehrte er am Conservatoire de Musique de Genève. Er starb am 11. Juni 2024 im Alter von 93 Jahren.

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Aufnahmen: Tappy nahm 1968 L’Orfeo auf. Zweimal nahm er Debussys Pelléas et Mélisande auf, 1969 eine Live-Aufnahme in Genf unter der Leitung von Jean-Marie Auberson mit Erna Spoorenberg, Gérard Souzay und dem Orchestre de la Suisse Romande und 1979 unter der Leitung von Armin Jordan mit Yakar, Philippe Huttenlocher und Chœurs et Orchestre National de L’Opéra Monte Carlo. Ein Rezensent bemerkte seine „feine, schlanke Stimme“, viriler und durchsetzungsfähiger als die mancher Kollegen, „kraftvoll in seinen Liebesbekundungen“, aber „geneigt, hart im Ton zu werden, wenn man ihn drängt“. [9] Tappy sang die Rolle des Tamino in einer Aufnahme von Die Zauberflöte, die 1980 bei den Salzburger Festspielen entstand, neben Ileana Cotrubaș als Pamina und Zdzisława Donat als Königin der Nacht, dirigiert von James Levine.  Tappy war auch in zwei Filmen von Ponnelle zu sehen: L’incoronazione di Poppea (1979)[1] und La clemenza di Tito (1980), neben Tatiana Troyanos und Carol Neblett. Er nahm das Oratorium L’Enfance du Christ von Berlioz unter der Leitung von Colin Davis und Clairières dans le ciel, einen Liederzyklus von Lili Boulanger, auf[1].

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Für seine Darstellung von Monteverdis Orfeo wurde Tappy 1966 mit der Goldmedaille des Drottningholm-Theaters ausgezeichnet. Zwei Jahre später erhielt er den Edison Award für seine Aufnahme derselben Rolle. 1994 wurde er Offizier des Ordre des Arts et des Lettres. 2007 wurde er mit dem Prix culturel de la Fondation Leenaards und der Médaille d’or von Lausanne ausgezeichnet./ Wikipedia

WONDER WOMEN

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Forschungen der Musik der Spätrenaissance im Übergang zum Frühbarock haben ergeben, dass es eine ganze Reihe ansprechender Werke von Komponistinnen gibt, die entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten eher im Stillen gewirkt haben. Stücke dieser Frauen hat.

Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata in den Mittelpunkt ihrer neuesten CD mit dem Titel WONDER WOMENMusic by and about women gestellt. Im sehr instruktiven Beiheft weist die kompetente Lautenistin darauf hin, dass es bereits im 17. Jahrhundert „wundervolle“ Komponistinnen“ gegeben habe, „von denen Lieder hier interpretiert werden.“ Außerdem habe man sich Inspiration aus der traditionellen Musik Mexikos und Italiens geholt; so erklingen Lieder über „außergewöhnliche, starke, mutige, aber auch traurige Frauen“.  So hört man Lieder der venezianischen Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619-1677), von Francesca Caccini (1587-1641) aus der florentinischen Musikerfamilie sowie je ein Lied von Antonia Bembo (1640-1720) aus Venedig, Isabella Leonarda (1620-1704), einer Nonne aus Norditalien, und Francesca Campana (1615-1665). Zusätzlich enthält die CD mehrere, von Christina Pluhar arrangierte Traditionals aus Mexiko und Italien, die sich dem Stil der Alten Musik gut anpassen. Im Übrigen sind drei Instrumentalstücke von männlichen Komponisten dabei, und zwar vom neapolitanischen Lautenisten Andrea Falconieri (1586-1678) und Maurizio Cazzati (1616-1678), der hauptsächlich in Bologna als Kirchenmusiker tätig war. Bei den rein instrumentalen Stücken, aber natürlich auch bei der Begleitung in den vokalen Werke fällt besonders positiv auf, wie stilsicher und gut durchhörbar das Instrumentalensemble L’Arpeggiata unter seiner Gründerin musiziert. Das schon länger mit Christina Pluhar zusammen arbeitende Gesangsensemble ist eine Klasse für sich: Alle wissen ihre Stimmen dem Stil der Spätrenaissance entsprechend schlank zu führen, was die Verständlichkeit der Lieder erheblich erleichtert, obwohl der Abdruck auch in deutscher Sprache hilfreich gewesen wäre. Die belgische Sängerin Céline Scheen verfügt über einen volltimbrierten Sopran mit großer Ausdruckspalette, die sie überzeugend einzusetzen weiß. Ein dunkel getönter Mezzosopran ist der Schwedin mit chilenischen Wurzeln Luciana Mancini eigen, der bestens zu mexikanischen Traditionals wie La Bruja (Die Zauberin) oder den Vorwürfen gegenüber Alcina (Cosi, perfida Alcina von Francesca Caccini) passt. Die andere Mezzosopranistin der Aufnahme ist Benedetta Mazzucato, deren helle Stimme ebenfalls über unterschiedliche, geschickt eingesetzte Farben verfügt. Ausgesprochen feminin klingt der Altus von Vincenzo Capezzato, wodurch das italienische Traditional La Canzone di Cecilia angenehm authentisch wirkt. Insgesamt ist die CD allen zu empfehlen, nicht nur den ausgemachten Liebhabern dieser Alten Musik (ERATO 5054197959163).

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Unter dem Titel Mélodies d’ailleurs ist bei Carpe Diem Records eine CD erschienen, die spätromantische Lieder enthält, die die schweizerischen Künstlerinnen Viviane Hasler (Sopran) und Maren Gamper (Klavier) präsentieren. Im Kontrast dazu enthält die CD den Zyklus Ophelia sings von Wolfgang Rihm. Bereits in den sechs fast durchgängig melancholischen Ariettes oubliées nach Gedichten von Paul Verlaine von Claude Debussy zeigen sich die Vorzüge der jungen Sopranistin, die mit den teilweise extremen Intervallsprüngen keine Probleme hat. Mit den lautmalerischen Effekten im Klavier (Regen und Pferde-Karussell auf dem Jahrmarkt) werden die jeweiligen Stimmungen überzeugend nachempfunden. Das setzt sich in fünf gegenüber Debussy etwas schlichteren Liedern von Ernest Chausson fort, wenn hier unterschiedliche Gemütslagen ebenfalls mit perfektem Legato und damit ausgesprochen weicher Stimmführung wiedergegeben werden. Dazwischen erklingt der erste der drei Gesänge Ophelias, deren zum Wahnsinn führende Zerrissenheit mit hohen technischen Anforderungen an die Sängerin darzustellen ist. Wie diese im von ihr verfassten, sehr instruktiven Beiheft schreibt, erfordern die drei eingestreuten Lieder „schnelle Wechsel in Lagen, Dynamik und Gestus und umfassen einen weiten Ambitus“. Trotz dieser enormen Schwierigkeiten, zu denen auch gesprochene Einwürfe im Klavierpart gehören, gelingen den kompetenten Musikerinnen eindrucksvolle Seelenbeschreibungen. Mit sprudelnder Leichtigkeit und auch zurückhaltender Verträumtheit werden vier feine Miniaturen von Cécile Chaminade gestaltet. Den Abschluss der gut gelungenen CD bilden fünf Lieder von Raynaldo Hahn, die wieder mit wie selbstverständlicher Intonationsreinheit und leichter Stimmführung in exzellentem, partnerschaftlichem Zusammenspiel musiziert werden (CARPE DIEM RECORDS 11792009).

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Schwarze Erde ist eine neue CD übertitelt, die Solo MUSICA herausgebracht hat. Der Titel weist auf das erste der Acht ungarischen Volkslieder von Béla Bartók hin, der diese  sozusagen zu Kunstliedern erhoben hat. Ähnlich ist Zoltán Kodály vorgegangen, indem er in den Verspäteten Liedern op. 6 ebenfalls auf ungarische Volksmusik zurückgegriffen hat. Die aus einer deutsch-ungarischen Familie stammende Sängerin Corinna Scheurle und die Pianistin Klara Hornig interpretieren diese Lieder sowie auch die frühen Lieder op. 2 von Alban Berg, die fast alle tiefe Traurigkeit atmen. Zusätzlich enthält die CD als kompositorisch krassen Gegensatz zu den Anfang des 20. Jahrhunderts komponierten Werken die romantischen Fünf Lieder op. 40 von Robert Schumann, die allerdings thematisch passen, indem auch sie um unglückliche Liebe und die Nähe von Liebe und Tod kreisen. Bestechend an den ausgefeilten Deutungen der Lieder ist die klare, prägnante Tongebung der zur Zeit im Ensemble des Staatstheaters Nürnberg tätigen Mezzosopranistin, die ihre charakteristisch timbrierte Stimme abgerundet durch alle Lagen zu führen weiß. Allgemein ist bei der Liedgestaltung die Textverständlichkeit immens wichtig, die wohl wegen ihrer Abstammung auch in den ungarischen Liedern geradezu perfekt ist. Außerdem setzt die Sängerin den Farbenreichtum ihres Mezzos dem jeweiligen Inhalt der melancholischen Lieder angepasst gekonnt ein. Schließlich ist ihr die Pianistin, die den anspruchsvollen Klavierpart sicher beherrscht, jeweils eine gleichrangige Partnerin, so dass jeweils ungemein eindrucksvolle Stimmungsbilder entstanden sind (Solo MUSICA SM435). Gerhard Eckels

On the Golden Road to Samarkand

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Kaum jemand hierzulande dürfte noch Beechams Aufnahme von Intermezzo and Serenade von Frederick Delius Schauspielmusik zu Hassan kennen. Wie denn der in Bradford geborene und seit der Jahrhundertwende bei Fontainebleau lebende Delius (1862-1934) trotz des Einsatzes von Thomas Beecham bereits zu Lebzeiten ein wenig in Vergessenheit geriet. Mit der Schauspielmusik zu Hassan rief sich Delius als Komponist nochmals in Erinnerung, wobei er offenbar nicht die erste Wahl war. Auf jeden Fall gelang ihm damit einer der größten Erfolge seiner Laufbahn, zugleich eines der letzten Werke, bevor der Kranke auf die Hilfe und Unterstützung des jungen Komponisten Eric Fenby angewiesen war, der Delius bis zu seinem Tod betreute und seine Werke notierte. Den Auftrag erhielt Delius durch den Schauspieler und Regisseur Basil Dean, der ihn in Grez-sur-Loing aufsuchte und überredete die Musik zu einem Stück des berühmten James Elroy Flecker (1884-1915) zu schreiben, das dann 1923 im Londoner His Majesty’s Theatre eine exorbitant aufwendige und überladene Aufführung erlebte: Das Versdrama The Story of Hassan of Baghdad and How He Came to Make the Golden Journey to Samarkand. Delius zierte sich ein wenig. Doch Delius‘ Frau schrieb bald danach an Dean: „Ich werde nie vergessen, wie Sie herkamen und uns das ganze Drama vorlasen. Es war so aufregend zuzusehen, wie Delius immer interessierter wurde“.

Die Musik war rasch geschrieben, wobei Delius und später dessen Freund, der australische Komponist Percy Grainger, weitere Musik für erforderliche Szenenwechsel beisteuerten. Die Aufführung in Deutschland (Darmstadt, Juni 1923), wo sich Delius aufgrund der Uraufführung dreier seiner Opern einer gewissen Beliebtheit sicher sein konnte, war ein Reinfall. Die Londoner Aufführung ein Vierteljahr später am 20. September 1923 war indes ein großer Erfolg, an dem u.a. der Ballets Russes-Choreograph Michel Fokine und der Dirigent Eugene Goosens Anteil hatten. Die reine Bühnenmusik hängt an einem seidenen Faden. Ohne die Geschichte, die weitgehend den englischen Übersetzungen von Tausendundeine Nacht folgen, bleibt sie blutleer.

Einer der Vorzüge der neuen 80minütigen, im Februar 2023 entstandenen Chandos-Aufnahme (CHAN 20296/ das Label nun neu im Naxos-Verrtieb) besteht darin, dass zu den Britten Sinfonia Voices und der Britten Sinfonia quasi als gleichberechtigter Partner der Rundfunkmann und durch vielfache Beteiligung als Sprecher bei klassischen Konzerten und Projekten hervorgetretene Zeb Soanes hinzukommt. Soanes gelingt es die von Meurig Bowen eingerichteten Texte und die rund 20 Minuten verbliebene Sprechzeit derart lebhaft zu füllen, dass man sich mit den kurzen Hinweisen des Narrators mühelos den Fünfakter imaginieren kann. Jamie Phillips überzeugt durch dramatische Gestaltungskraft und sublime Farben vor allem im fünften Akt, in dessen Schlussszene sich der weltkluge Hassan einer Pilgerkarawane anschließt, die durch die Wüste „zu den großen Bildungs- und Religionszentren von Buchara und Samarkand unterwegs ist“. Rolf Fath

 

In Offenbachs Spuren

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Nur Mascagnis einziger Ausflug zur Operette ist um einen Buchstaben kürzer: Si ist der Name einer Schauspielerin der Folies Bergère, die nicht „nein“ sagen kann oder will. In Maurice Yvains Opérette Yes! handelt es sich um das bedeutungsvolle „Ja“, das dem schönsten Tag im Leben eines Paares das Glanzlicht aufsetzt. Bei Totte und Maxime ist es jedoch ein nüchterner Akt, mit dem man Maxime Gavards Vater, dem neureichen „Nudel-König“ („Il n’est qu’un roi sur terre“), eins auswischen möchte. Der alter Gavard besteht darauf, dass sein Sohn zur Festigung geschäftlicher Beziehungen eine exotische Schönheit aus Valparaiso heiraten solle. Der junge Maxime lebt vom Geld seines einfältigen Vaters und unterhält eine Beziehung zu Lucette de Saint-Eglefin, deren Gatte von dem jungen Charmeur ebenso angetan ist wie Madame. Gemeinsam verfallen sie auf den Plan einer Heirat in England, wo man ohne größere Formalitäten sein „Yes“ vor dem Standesamt sagen und bald darauf lösen könne. Nach vielen frivolen Verwicklungen bleiben Maxime und seine Manikürin Totte zusammen, der Nudel-König erkennt die Liebe der beiden und heiratet selbst die reiche Geschäftsfrau aus Südamerika.

Es ist ein Stoff, aus dem noch in den 1920er Jahren Operetten gezaubert wurden. Auch in Paris, wo Yes! nach dem Bestseller Totte et sa chance von Pierre Solanine und René Pujol am 28. Januar 1928 über die Bühne des kleinen Théâtre des Capucines ging. Die schmale Bühne wurde durch kein Orchesterchen zusätzlich verkleinert: Yvain begnügte sich mit zwei Klavieren, wobei die Pianisten Georges Raffit und Léo Kartun zu den Stars der umjubelten Uraufführung gehörten, und zwei spätere Stars des französischen Kinos, Arletty und Renée Devillers, frühe Erfolge feierte. Einen Monat später wechselte die Show in das Théâtre des Variétés, wo die beiden Klaviere durch ein zehnköpfiges Orchester ergänzt wurde. Im Mai zog Yes! schließlich ins 2000-Pätze-Theatre Apollo, wo zusätzlich zu den neuen Dekorationen und Kostümen das Orchester auf 35 Musiker aufgestockt wurde und Chorus Girls auftraten. Volker Klotz beschreibt in seiner Operetten-Enzyklopädie diesen Schritt, „Yvain, der ironische Gegner musikalischer Verkitschung ergab sich später leider dem Trend zur aufgeblasenen „opérette a grand spetacle“, die den internationalen Verfall der Gattung klangbunt besiegelte“.

Über rund drei Jahrzehnte setzte der 1891 in Paris und 1965 in Suresnes bei Paris gestorbene Yvain mit seiner alerten Handwerkskunst bedeutende Akzente im französischen Unterhaltungstheater, das nur selten ins Ausland vordrang. Vor allem war er, obwohl er noch nach dem Zweiten Weltkrieg tätig blieb, der „prägende Meister der Pariser Operette in den zwanziger Jahren“, eigentlich der Meister der Kammeroperette. Dieser untrügliche Bühneninstinkt, der Sinn für gestisch mitreißende Melodik, treffsicher illuminierte Texte, die bis in die 50er Jahre fast durchgehend von Albert Willemetz stammen, springen den Hörer in dieser glänzenden, im Juni 2022 entstandenen Aufnahme von Alpha-Classics (2 CD Alpha 974, engl.-franz. Beiheft, franz. Libretto) mit Les Frivolités Parisiennes in der Orchesterfassung mit Michael Ertzscheid und Nicolas Royez an den Klavieren sofort an. Das Ensemble hält Spannung und Tempo auf bewundernswerte Weise, ist jazzig und südamerikanisch, leicht und rhythmisch elegant, stets graziös und durchsichtig wie im Sextuor du thé, drall wie in Arlettys „Moi je cherche un emploi“ oder rasant purzelnd wie im Terzett „Dites à mon fils“. Die Stimmen haben Charakter und Gesicht, sind sicherlich nicht in jedem Fall hübsch, aber prägnant und sprechend, wie die unschuldig engstimmige, raffinierte Sandrine Buendia als Totte oder Guillaume Durand mit einem farblos gewöhnlichen Bariton, der schon wieder reizvoll klingt, als Maxime. Jugendliche Stimme mit außerordentlich Projektionskraft. Clément Rochefort gibt den Sprecher mit milder Affektiertheit. Die eineinhalb CDs mit 61 Minuten und 33 Minuten Spielzeit vergehen wie im Flug, hinterlassen den Hörer aber auch etwas ermattet, da die vielen kurzen temporeichen und artistischen Nummern kaum eine Atempause einlegen (13.06.24). Rolf Fath

Enchantement doublé

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Desmarests Circé zum Zweiten: Höchst ungewöhnlich ist die Veröffentlichung von Henry Desmarests Circé bei cpo (555 594-2, 3 CDs), hatte doch das Label Château de VERSAILLES diese Tragédie en musique etwa ein halbes Jahr zuvor herausgebracht (die Rezension s. nachstehend). Eine zweite Aufnahme bei einer solchen Rarität ist ohnehin ein Wagnis. Die Einspielung entstand im August 2022 in Bremen als Koproduktion des Boston Early Music Festival und radiobremen. Wenn sie auch nicht das Siegel der Erstveröffentlichung tragen kann, so doch das der ersten kompletten Aufnahme, ist sie immerhin etwa 45 Minuten länger als die Vorgängerin bei VERSAILLES unter Sébastien d´ Hérin. Auf diesen Seiten wurde sie bereits besprochen, so dass wir jetzt auf eine Inhaltsangabe verzichten können.

Das Boston Early Music Festival Orchestra wird geleitet von Paul O´Dette und Stephen Stubbs, die durch die Wiedereinfügung mehrerer Tänze (Menuet, Gigue, Bourrée, Gavotte, Canarie, Sarabande, Rondeau, Ritournelle, Loure, Passe-pied, Rigaudon) die Balance zwischen orchestralen und vokalen Teilen wiederherstellen. Das Orchester musiziert sehr kultiviert mit eher moderaten Tempi und originellen instrumentalen Effekten. Der Boston Early Music Festival Chorus nimmt seine vielfältigen Aufgaben (besonders im Prologue als Götter und Nymphen) mit hörbarem Einsatz und hoher Gesangskultur wahr.

Die Besetzung wird dominiert von der Mezzosopranistin Lucile Richardot in der Titelpartie. Sie ist eine singende Darstellerin mit sehr persönlich timbrierter, eigenwilliger Stimme und reizt die Emotionen der Figur bis zum Äußersten aus. Besonders reizvoll ist ihre Färbung in der tiefen Lage, welche bis in die Contralto-Dimension reicht und ihrem Vortrag einen sinnlich-androgynen Hauch verleiht. Ihre Szene zu Beginn des 4. Aktes „Sombres Marais du Styx“, von der Windmaschine aufregend untermalt, deklamiert sie furios, was sich mehr und mehr zu wilden Ausbrüchen steigert. Die Stimme nimmt zuweilen einen hysterischen oder heulenden Ton an, der doch stets als Ausdrucksmittel eingesetzt ist. Ihre Interpretation gipfelt im 5. Akt mit einer veristischen Hasstirade („O Rage/ô douleur mortelle!“) und in der ausgedehnten Schluss-Szene („Ah! quelle rigueur extrême“), in der sie bei aller Raserei auch eine tragische Dimension erreicht.

Ihre Gefährtin Astérie gibt Teresa Wakim mit lieblichem Sopran. Sie liebt Polite (Douglas Williams mit resonantem Bassbariton), einer der Griechen, die von Circé in wilde Tiere verwandelt wurden. Beide können im 5. Akt endlich ihr Glück besingen („Enfin le juste Ciel a comblé nos désirs“). Der Bariton Jesse Blumberg ist ein markanter Elphénor, den Circé nicht verzaubert hat, da er ihr die geplante Flucht der Griechen verraten hatte. Da seine Liebe zu Astérie unerfüllt bleibt, scheidet er aus dem Leben. Diese seine Todesszene am Ende des 3. Aktes gestaltet er mit packender Intensität.

Circés Liebe gehört Ulisse (der Tenor Aaron Sheehan mit weicher, ausgewogener Stimme), doch hat sie eine Rivalin in Èolie (Amanda Forsythe mit delikatem Sopran), die am Ende mit dem Helden vereint auf einem Schiff die Insel verlässt („Ne nous quittons jamais“). Gewaltiger Donner begleitet diese Szene und führt das Werk zu einem grandiosen Finale. Bernd Hoppe

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Und das Ganze bei Chateau de Versailles: Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

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.Foto oben: Still aus dem Film „Die Irrfahrten des Odysseus“ mit Kirk Douglas und Silvana Mangano, Italien 1954, Regie Mario Camerini/Die Nacht der lebenden Texte/Wordpress