Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Lichter im Gran Canal

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Nur wenige Stunden trennen an jedem 1. Januar die Übertragung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker von der des Venezianer Opernhauses La Fenice, ein ganzes Jahr jedoch die überprompt erscheinende CD vom ersteren von der DVD des letzteren. Eine gleiche beruhigende Gewissheit kann man auch in Bezug auf die Programmgestaltung beider Institutionen haben, denn während die Wiener sich musikalisch im Umfeld der Familie Strauß bewegen, sind in Venedig „Va pensiero“ aus Nabucco, „Libiam ne‘ lieti calici“ aus Traviata und „Nessun dorma“ aus Turandot unverzichtbar und so sicher im Programm auftauchend wie das Amen in der Kirche. Von den Wienern unterscheiden sich die Venezianer auch dadurch, dass stets Gesangssolisten auftreten und die weiblichen sich als perfekt im schnellen Kostümwechsel erweisen. In dieser Hinsicht enttäuscht auch der Sopran vom Jahreswechsel zu 2023 nicht, indem er nacheinander, wenn auch in veränderter Anordnung die deutschen Fahnen Schwarz Rot Gold trägt, wobei die Wahl der Farbe bereits Teil der Interpretation sein dürfte.

Es beginnt allerdings ungewöhnlich mit einem nichtitalienischen Dirigenten, Daniel Harding, und einem langen rein orchestralen Programmteil, der Italienischen Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy, nachdem ein außerordentlich edel aussehender Jüngling durch ein von Schneefall zusätzlich verzaubertes Venedig wallt und sich tanzend einer Ballettgruppe anschließt. Ein ähnliches Bild gibt es später so unvermittelt wie ungewöhnlich noch einmal. Es handelt sich um Jacopo Tissi und das Ballett des Teatro Massimo di Palermo. Das Orchester jedoch ist das des Teatro di Fenice, das unter Daniel Harding sehr beschwingt, sehr melodiös, sehr romantisch aufspielt. Es folgt die Ouvertüre zu Le Nozze di Figaro, die durchaus auch als eine solche von Rossini durchgehen könnte, und schließlich ein Ausschnitt aus Tschaikowskis Dornröschen.

Ihren ersten Auftritt hat Federica Lombardi mit Normas „Casta Diva“, die sie süß flötend sehr mädchenhaft klingend bewältigt, obwohl man sich eine „wissendere“ Stimme für die komplexe Partie vorstellen kann. Musettas Auftrittslied aus La Bohéme passt hingegen perfekt, die wenigen Töne des Schlusses von Turandot, „Padre augusto“, sagen wenig aus über die Kompetenz für die Gesamtpartie wie auch das sogar mit einem Bis bedachte Brindisi aus La Traviata.

Der Tenor des Konzerts ist Freddie De Tommaso, der mit weicher, dunkel getönter Stimme die Blumenarie aus Carmen dramatisch angeht, sich einen kleinen Schluchzer leistet und mit einem schönen Diminuendo endet. Kraftvoll wird „Nessun dorma“ in Tiefe wie Höhe bewältigt und erntet natürlich den meisten Beifall. Der Chor reüssiert mit Nabucco und La Clemenza di Tito, das Orchester mit einem süffigen Intermezzo aus Cavalleria Rusticana und dem spektakulärsten Ausschnitt aus der Ouvertüre zu Guglielmo Tell. Dirigent und Professori scheinen sich bei allen Stilrichtungen gleichermaßen in ihrem Element zu befinden (C Major 766208). Ingrid Wanja        

Endzeitstimmungen

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Immer wieder wurde die Kunstform Oper totgesagt. Aber sie lebt noch immer. 1598 wurde die nachweislich erste Oper „Dafne“ von Jacopo Peri uraufgeführt. Sie ist allerdings nur noch fragmentarisch erhalten.  1607 hat der Hofkapell­meister Claudio Monteverdi im Palast Vin­cen­zo Gonzagas, des Herzogs von Mantua, seine „Fa­vola in musica“, L’Orfeo zum ersten Mal aufgeführt. Monte­verdi beschritt mit seinem Orfeo in der musikalisch-dramatischen Schil­­derung menschlicher Freuden und Leiden einen Weg, der inzwischen ein vierhundert Jahre alter ist. 

Der bedeutende jüdischen Musik-Schriftstellers Oscar Bie meinte in seiner Publi­kation „Die Oper“ (aus dem Jahre 1913) : „Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk.“

Ob unmöglich oder nicht, die Oper diente der Staats-Re­prä­sentation, aber auch der Selbstdarstellung des Bürgertums. Sie gaukelt dem Zuschauer noch heute Träume vor, aber sie taugt auch für Gesellschaftskritik. Sie kann poetisch sein und weltfern, aber auch aufklärerisch und utopisch. In der Oper ist alles möglich.

Das eben macht das Faszinosum Oper aus, dass sie auf eine seltsame, unvorher­sehbare, unrealistische Art und Weise etwas in uns anspricht, was außerhalb unser kog­nitiven Sphäre liegt, aber „auf hohem Testosteronspiegel“, wie Carolyn Abbate und Roger Parker in ihrer bemerkenswerten Operngeschichte schrieben. Oper sei „manipulative Kommunikation“ jenseits des alltäglichen Lebens: „Im Sterben Lie­gende, die nichtsdestotrotz in den höchsten Tönen weitersingen, sind in der Oper das Normalste von der Welt.“ Man denke nur an Violetta in „La Traviata“

Dass eben macht die Oper so spannend. Gerade wegen der oft krassen Diskrepanz zwischen „un­­seren Plau­sibilitäts­erfahrungen aus der wirklichen Welt“ und dem, was in der Oper statt­finde, übe diese Gattung … eine so ungebrochene Anziehungskraft auf uns aus.“ Carolyn Abbate und Roger Parker haben Recht mit ihrem Seitenhieb aufs so genannte Regie- oder Regisseurstheater, wenn sie alle Versuche, All­tägliches auf die Opern­bühne zu bringen, als fragwürdigen Populismus bezeichnen.

Damit wären wir beim Thema: Heute stehen plüschiger Nostalgie, oder sagen wir althergebrachte Konventionalität zum Teil abstrusen Neudeutungen gegenüber. Vielerorts ist es das Opernpublikum leid, immer wieder Gewalt und Blut, Nazimäntel, Urinale und Kühlschränke auf der Opernbühne zu sehen, oft mehr Kommentare zu den Werken, als die Werke selbst, oft nur Selbstdarstellungen von berufenen wie unberufenen, nicht selten jungen, unerfahrenen Regisseuren und sogar Quereinsteigern.

Man fragt sich: Ist Oper vom Aussterben bedroht? Hat sie noch ausreichend künstlerische Kraft und Energie oder ist sie vielmehr so etwas wie ein Dinosaurier, gegen den sie in ihrem ursprünglich vorwärtsgewandten Anliegen angekämpft hat?

Autorin Carolyn Abbate / Professorin an der Harvard University of Music

Das heutige Operntheater hat zweifellos eine neue Lust am Obszönen und Vulgären entdeckt, und immer mehr Regisseure lieben es, wenn Kot spritzt, Urin fließt und Blut schießt, wenn nacktes Menschenfleisch sich zeigt, wenn der Geschlechtsakt in allen Variationen öffentlich vorgeführt wird, wenn Grausamkeit und Mord sichtbar sind. Das Vergnügen an extremen Grenzüber­schreitungen und die Schaulust der Grausamkeiten kennt keine Tabus mehr. Noch nie wurde das sadistische, voyeuristische Erregungs-Potential auf der Opernbühne so ausgereizt.

Jahrhundertelang glaubte man an die Kraft des Theaters, das nie versuchte, mit der Realität zu konkurrieren, sondern Wunsch und Wirklichkeit illusionistisch oder abstrahierend komprimierte, überhöhte, idealisierte oder kritisier­te.  

Musiktheater war immer grenzüberschreitend, brach immer Tabus. Doch welche Tabus? Tabus brechen kann jeder. Zeitungen und Fernsehsendungen sind tagtäglich voll davon. – Sie spiegeln eins zu eins den Zustand unserer Zeit, deren Menschenbild, Werteorientierung und Umgangsformen mehr und mehr zu verrohen drohen. Warum muss Theater Sex und Gewalt des Alltags mit dem alltäglichen TV- und Videoclip-Realismus, mit derselben Vulgarität und Obszönität (auch Banalität) kommerzieller Pornographie widerspiegeln, was auf der Bühne meist lächerlich wirkt? Warum werden Opern-Libretti und -Partituren von vielen Regisseuren oftmals so bedenkenlos und arrogant ignoriert, verstümmelt, ja ad absurdum geführt?  Und warum machen das die Sänger mit? Warum erheben so wenige Dirigenten, die es besser wissen müssten, Einspruch gegen solche Opernvergewaltigungen? Ist das Musiktheater wirklich an dem Punkt angelangt, wo es nur noch an die primitiven, atavistischen Instinkte einer Spaß- und Freizeitgesellschaft appelliert, einer Gesellschaft, die versucht, ihre wachsende Lustunfähigkeit und intellektuelle Verarmung dadurch aufzuhalten, dass sie auch noch die letzten Reste an Intimität in ihren Talkshows durchdiskutiert und jedermann offenbart? Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann setzt diese deprimierende Tatsache die Glaubwürdigkeit und Legitimation der ganzen Gattung Oper aufs Spiel.   

Die Gattung Oper ist seit je die die festlichste wie subversivste, die phantasie­vollste und teuerste von allen Künsten, aber auch die utopischste wie zerbrech­lichste. Sie hat nur überlebt, weil sie das Bedürfnis ihres Publikums befriedigte, ein Bedürfnis eben nach mehr als nur nackter Alltagsspiegelung mit unzurei­chenden Mitteln, die mit Fernsehen und Video ohnehin nicht konkurrieren kann. Wenn die Oper nur noch dem Motto „Menschen, Tiere, Sensationen“ huldigt, wenn sie nur noch nach „Einschaltquoten“ unserer Mediengesellschaften schielt, die immer lapidarer und larmoyanter selbst gräulichste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Sprache bringt und ins Bild setzt, dann ist die Oper auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen. Gottlob gibt es noch und wieder Regisseure und Intendanten, die sich dem widersetzen!

Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Mehr denn je stellt sich die Frage nach der Zukunft der Oper. Erleben wir die letzten Tage der Oper?  Dieser Frage ist eine opulente zweisprachige Publikation des renom­mierten Skyra-Verlags gewidmet, die Denise Wendel-Poray, Gert Korentschnig und Christian Kirchner herausgegeben haben. Da die Fertigstellung des Buches sich wegen der Covid-Pandemie um zwei Jahre verzögerte, sind auch Äuße­rungen von Persönlichkeiten (wie Christa Ludwig und Mariss Jansons) vertreten, die inzwischen verstorben sind.

Das Buch (ich rede von der deutschen Ausgabe) versucht eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation der Kunstform Oper. Es ist die umfangreichste, die je erschienen ist. Ziel des Sammelbandes, der rund 100 Essays umfasst, ist es, die Relevanz der Oper in der heutigen Welt zu erörtern und einen Blick auf mögliche Entwicklungen des Genres in der Zukunft zu werfen. Mehr und weniger prominente Autoren aus allen Wirkungsbereichen der Oper (Sänger und Dirigenten, Regisseure und Ausstatter), aber auch aus Philosophie, Bildender Kunst, Architektur, Film und Schauspiel wurden für befragte zum Thema Oper, darunter Marina Abramovic, Laurie Anderson, Cecilia Bartoli, Georg Baselitz, George Benjamin, Robert Carsen, Amira Casar, Martin Crimp, Peter Gelb, Markus Hinterhäuser, Mariss Jansons, Philippe Jordan, Jonas Kaufmann, William Kentridge, Christian Lacroix, Daniel Libeskind, Christa Ludwig, Katie Mitchell, Jonathan Meese, Riccardo Muti, Shirin Neshat, Hermann Nitsch, Hans Ulrich Obrist, Richard Peduzzi, Denis Podalydès, Thaddaeus Ropac, Bogdan Roscic, Tilda Swinton, Keith Warner und Robert Wilson.

So gegensätzliche Persönlichkeiten sollen ein weitgefächertes Panorama abbilden, kommen aber natürlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Startenor Jonas Kaufmann etwa sehnt sich nach den guten alten Zeiten des Ensemble­theaters. Und, ach ja: „Oper muss (für ihn) Emotion sein.“ Dirigent Mariss Jansons wünschte sich mehr Geldgeber. „Die Oper muss sich permanent verändern, um lebendig zu bleiben“, schreibt Cecilia Bartoli in ihrem Beitrag. Schön und gut, aber wie, wäre die Frage? Tilda Swinton geht es vor allem um die „visuelle Wirkung“ von Menschen auf der Bühne. Performance-Künstlerin Marina Abranović meint: „Es ist Zeit, die Regeln zu ändern.“ Eva Wagner-Pasquier erinnert nostalgisch an das seinerzeitige Protestgewitter um Götz Friedrichs „Tannhäuser“ und Patrice Chéreaus „Ring“. Das waren noch Zeiten! Markus Hinterhäuser beschwört die kathartische Wirkung von Elektra“ und „Salome“ bei den Salzburger Festspielen und meint damit: „Macht, Liebe, Hass, Begehren, Eifersucht“ und vor allem „die Zerrissenheit zwischen dem Leben an sich und dem, was man sich vom Leben erträumt. “ Das sei das Wesen der Oper. Unerschrocken und ehrlich wie immer sind die kritischen Anmerkungen zum heutigen System Oper der jüngst verstorbenen Christa Ludwig.

Die gesammelten Statements zum Thema Oper sind höchst divers. Es gibt essentielle wie banale, wichtige wie unwichtige, originelle wie langweilige Bekenntnisse. Was die Autoren und Autorinnen zum Thema zu sagen haben, ist von sehr unterschiedlicher Kompetenz und Bedeutung.  Wegweisend, aufregend und neu ist das, was in diesem Buch zu lesen ist, nicht wirklich.   

Natürlich, Viele bedauern die mangelnde Urteilsfähigkeit und Phantasie ihrer jüngeren Kollegen. Auch bühnenästhetische Fragen kommen zur Sprache. fundierte Kenntnisse über Gesang und Opern- wie Aufführungsge­schichte, so die Meinung Vieler, werden heute weitgehend ersetzt durch Abarbeitung eigener Obsessionen in der Regie, die Musik spiele oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Dem kann man nur zustimmen.

Auch der angesprochenen Tatsache, dass mindestens 25.000 Opernaufführungen jährlich stattfinden, aber meist immer di gleichen fünfzig Werke gespielt werden, die vor dem 20. Jahrhundert geschrieben wurden, kann man nur zustimmen. Georg Baselitz gesteht in dem Buch übrigens freimütig, kaum eine moderne Oper erlebt zu haben, der man beeindruckende Wirkung und nachhaltigen Erfolg bescheinigen könne.

Das Buch, dessen Titel auf das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus anspielt, sucht wie gesagt, nach Antworten auf die Frage, was das Genre Oper heute im 21. Jahrhundert ausmacht und wie es sich in Zukunft definieren könnte. Doch die Antworten sind dürftig.

Über eine Bündelung von nüchternen Analysen, gefühligen Liebeserklärungen, trockenen Schilderungen von Problem­bereichen und allenfalls vagen konstruk­tiven Ansätze geht das Buch nicht hinaus. Es gibt kluge Essays und harte Kritiken, optimistische Einwürfe und pessimistische Abrechnungen.  Allerdings ist das Buch recht redundant und enthält– mit Verlaub gesagt – auch viel über­flüssiges Geschwätz. Eine Signalwirkung für die Branche und eine Vision von der Oper der Zukunft hat das Buch nicht.

Sie wird wohl irgendwie erhalten bleiben, die Kunstform Oper. Das Publikums­inte­resse jedenfalls ist nach wie vor ungebrochen, wie die Theaterstatistiken belegen, aber wie schon der Regisseur Alexander Kluge einst sagte: „Oper ist ein Kraftwerk der Gefühle und sollte als solches keiner Mode unterworfen werden.“  Alle weiteren Fragen bleiben offen (Die letzten Tage der Oper, Skyra Verrlag, ISBN 9788857245119, 487 Seiten/ Abbildung oben: The New York Public Library Digital Collection/The old New Yorker Metropolitan Opera House). Dieter David Scholz

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Denise Wendel-Poray/facebook

Klappentext: The title is inspired by the epic drama The Last Days of Mankind by Karl Kraus. Published in full in 1922, its author ridicules the interconnected ills of modernity that he saw as fueling the war machine (nationalism, capitalism, unbridled technology, militarism, journalistic unscrupulousness) as well as the Viennese cultural scene of the time. The drama bears chilling parallels to our world in 2020. The goal of the anthology, which includes some 100 essays, is to consider the relevance of opera in today s dystopian world and to look to possible developments in the genre in the foreseeable future.

The writers include opera professionals: singers, directors, and conductors as well as creative minds from other fields, like philosophers, artists, film directors, and actors. The book features an iconography of original works by famous artists, in particular those of the renowned stage designer Richard Peduzzi.

Authors include: Marina Abramovic, Laurie Anderson, Cecilia Bartoli, Georg Baselitz, George Benjamin, Robert Carsen, Amira Casar, Martin Crimp, Peter Gelb, Markus Hinterhauser, Mariss Jansons, Philippe Jordan, Jonas Kaufmann, William Kentridge, Christian Lacroix, Daniel Libeskind, Christa Ludwig, Katie Mitchell, Jonathan Meese, Riccardo Muti, Shirin Neshat, Hermann Nitsch, Hans Ulrich Obrist, Richard Peduzzi, Denis Podalydès, Thaddaeus Ropac, Bogdan Roscic, Tilda Swinton, Keith Warner, Robert Wilson.

 
Denise Wendel-Poray war Sängerin, ist Musikwissenschaftlerin, Kuratorin und Opernkritikerin. Nach ihrem Studium sang sie auf internationalen Bühnen wie Covent Garden, Opera Bastille und Theatre du Chatelet, kuratierte u.a. für das Lehmbruck Museum und schreibt für das Canadian Opera Magazine. Die Kanadierin lebt und arbeitet in Paris./ JPC

 

Diebe und Huren auf Londons Bühnen

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Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert würden viele Werke, die das anglophone Publikum als „Opern“ betrachtete, heute nicht mehr unter diese Bezeichnung fallen. Der Begriff „Oper“ existierte in einem Spektrum mit verschiedenen anderen Arten von theatralischer musikalischer Unterhaltung. Unser Katalog versucht, dieses Spektrum abzudecken. Er umfasst Werke, die auch heute noch als Opern gelten (Raymond and Agnes, The Soldier’s Legacy, The Wreckers, The Boatswain’s Mate und Fête Galante), neben Operetten (Pickwick und Cups and Saucers), Charles Dibdins ‚Table Entertainments‘, die er als Ein-Mann-Opern betrachtete (Christmas Gambols und The Wags), ein Singspiel (The Jubilee) und ein Konzertmelodram (The Happy Prince).

Jack Sheppard (Jack Sheppard – A Victorian Melodrama, a Play by John Baldwin Buckstone (1802–79), Music by G. Herbert Rodwell (1800–52), Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield) erweitert den Blickwinkel von Retrospect Opera auf das theatralische Melodram, ein im 19. Jahrhundert äußerst beliebtes Unterhaltungsgenre, das mit der Oper konkurrierte, ihr nacheiferte und sie beeinflusste, da es oft in denselben Theatern aufgeführt wurde. Obwohl keine Melodramen aus der frühen viktorianischen Zeit vollständig erhalten sind, wurden bei Jack Sheppard – einem der erfolgreichsten Vertreter dieses Genres – das Libretto und die Lieder veröffentlicht. Daher hielten wir es nur für notwendig, die passende melodramatische Musik – handlungs- und stimmungsbestimmende Musik – desselben Komponisten einzuschieben, um diese gekürzte, speziell als Hörerlebnis konzipierte Adaption präsentieren zu können. Wir hoffen, dass dies dem modernen Publikum ein echtes Gefühl für die Aufregung, die Emotionen und die Melodramatik des Melodrams in seiner fesselndsten Form vermittelt und gleichzeitig einen wichtigen Kontext für die britischen Opern der damaligen Zeit liefert.

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‘The Escape No. 2’ by George Cruikshank, from „Jack Sheppard“ by W.H. Ainsworth (1839)/aindsworth and friends

Was ist ein Melodrama? In seinem Buch Melodrama (1973) wies James Smith auf das Definitionsproblem hin: „Fragen Sie einen Musiker, einen Literaturwissenschaftler oder sogar diese bequeme Abstraktion, den Mann auf der Straße, und Sie werden drei verschiedene Antworten erhalten.“ Aber in den 1830er Jahren ging das britische Publikum mit einer klaren Vorstellung davon ins Theater, was es zu erwarten hatte. Für sie war ein Melodram ein aufsehenerregendes musikalisches Stück, in der Regel aufwändig inszeniert und mit vielen Spezialeffekten versehen; die Handlung war auf maximale Spannung und Emotionen ausgelegt; es gab eine bestimmte Anzahl von Liedern, möglicherweise Refrains, und die gesprochenen Dialoge wurden durch Ausbrüche von Orchestermelodien unterbrochen, die oft ein „eingefrorenes“ Tableau begleiteten. Es handelt sich um ein Genre des neunzehnten Jahrhunderts. Jahrhunderts. Das erste vollwertige Melodram in diesem Sinne war Coelina, ou l’enfant du mystère von René-Charles Guilbert de Pixérécourt, das am 2. September 1800 in Paris uraufgeführt wurde. Obwohl das Melodram in London, wo es 1802 eingeführt wurde, zunächst als Kuriosität betrachtet wurde, feierte es in Großbritannien und später in Amerika bald denselben außerordentlichen Erfolg, den es bereits in Frankreich erzielt hatte. Seine Popularität hielt bis zum Aufkommen des Kinos an.

Der Autor und Schauspieler J_B_Buckstone/ Stich von Frederick_Waddy/aindsworth and friends

Das englische Melodrama des 19. Jahrhunderts kann als eine Art Alternative zur englischen Oper betrachtet werden (die ihrerseits in hohem Maße auf gesprochene Dialoge zurückgreift), zumal die beteiligten Komponisten die Dinge oft in diesem Sinne sahen. Nichtsdestotrotz hätte der Großteil des sehr unterschiedlichen Publikums das neue Genre aufgrund seiner eigenen Vorzüge genossen, und diese Aufnahme soll das Argument liefern, dass wir das auch tun sollten. Jack Sheppard ist ein hervorragender Ausgangspunkt, denn das Stück, das sich 1839, als es am 28. Oktober im Adelphi Theatre uraufgeführt wurde, großer Beliebtheit erfreute, vermittelt einen sehr guten Eindruck davon, was das Londoner Publikum zu Beginn des viktorianischen Zeitalters attraktiv fand. Tatsächlich löste Jack Sheppard, die Geschichte eines charismatischen Verbrechers, eine so große Begeisterung aus, dass nicht nur die konservativeren Mitglieder des Publikums, sondern auch die Genehmigungsbehörden, die darüber wachten, was in britischen Theatern aufgeführt werden durfte und was nicht, alarmiert waren. Als William Bodham Donne 1857 zum Examiner of Plays ernannt wurde, veranlasste er rasch ein Verbot der Aufführung von Jack Sheppard. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Stück jedoch bereits einen Eindruck in der Populärkultur hinterlassen, wie ihn kaum ein anderes Melodrama jener Zeit hinterlassen hat.

Der Komponist G. Herbert Rodwell/ainsworthandfriends.

Der echte Jack Sheppard (1702-24) war eine legendäre Figur in den Londoner Kriminalgeschichten. Der Sohn eines Zimmermanns ging selbst in die Lehre und führte bis etwa 1722 ein respektables Leben. Dann begann er nach eigenen Angaben, die Taverne Black Lion in der Drury Lane aufzusuchen, ein Treffpunkt für Kriminelle und Prostituierte. Sheppard begann 1723 eine Karriere als Dieb und wurde der Geliebte von Elizabeth Lyon, einer Prostituierten, die als Edgworth Bess bekannt war. In den letzten Monaten seines kurzen Lebens erlangte er sensationellen Ruhm, da es ihm gelang, viermal aus dem Gefängnis auszubrechen, darunter zweimal aus Newgate, dem berüchtigtsten Gefängnis des Landes. Er war ein Held für die ärmeren Bevölkerungsschichten und eine Figur von romantischer Faszination für viele in höheren Kreisen. Sheppards unerbittlicher Feind war Jonathan Wild (1682-1725), der berüchtigte „General der Diebe“, der auf beiden Seiten des Gesetzes agierte. Einer von Sheppards Verbündeten war Joseph „Blueskin“ Blake (1700-24), selbst ein berühmter Dieb und Gefängnisausbrecher. Sheppard wurde am 1. November 1724 zum letzten Mal verhaftet und am 16. November hingerichtet. Blueskin ging ihm in Wirklichkeit voraus, da er am 11. November hingerichtet wurde. Sheppards Geschichte wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts immer wieder erzählt, und er war eine wichtige Inspiration für John Gays The Beggar’s Opera (1728), in dem Wild als Peachum persifliert wird. Wahrscheinlich hat er auch William Hogarth zu seiner Serie Industry and Idleness (1747) inspiriert, in der der Abstieg eines Lehrlings in die Kriminalität mit dem Aufstieg eines anderen Lehrlings kontrastiert wird, der die Tochter seines Meisters heiratet.

Diese Idee des Kontrasts zwischen zwei jungen Männern steht wiederum im Mittelpunkt des Romans Jack Sheppard von William Harrison Ainsworth, der zwischen Januar 1839 und Februar 1840 als Fortsetzungsroman erschien und mit großem Erfolg das Interesse an der Geschichte von Jack Sheppard wiederbelebte. Ainsworth erfand die zusätzlichen Figuren des Thames Darrell und seines schurkischen Onkels Sir Rowland Trenchard. Letzterer, so erfahren wir, war ein Jakobiter und erbte deshalb den Titel seines Vaters, nicht aber dessen Ländereien, die stattdessen an Thames‘ Mutter gingen. Ainsworth machte Blueskin zu einem viel älteren Mann aus Wilds Generation. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil spielt im Jahr 1703, zur Zeit des Großen Sturms (26. November), als Jack und Thames noch Babys sind. Der zweite Teil spielt im Jahr 1715, zur Zeit der jakobitischen Verschwörungen nach dem Tod von Königin Anne. Jack und Thames sind jetzt Lehrlinge in der Schreinerei von Owen Wood, und Thames ist Woods Adoptivsohn (ein Detail, das im Melodram nicht berücksichtigt wird). Die Unterschiede zwischen den Jungen werden stark hervorgehoben: „Die beiden Freunde standen in auffälligem Kontrast zueinander. In Darrells offenen Zügen standen Offenheit und Ehre in lesbaren Buchstaben geschrieben, während in Jacks Physiognomie Gerissenheit und Schurkerei ebenso stark eingeprägt waren. In allen anderen Aspekten unterschieden sie sich ebenso stark. Der dritte Teil, der im Jahr 1724 spielt, schildert die Ereignisse, die zu Jacks Hinrichtung führen.

Ainsworth’s „Jack Sheppard and the Newgate Controversy“/Illustration zum Roman/ainsworthandfriends

Das rasante Tempo und die ununterbrochene Spannung von Ainsworths Roman machten ihn zu einer offensichtlichen Quelle für ein Melodrama. So begann der Schauspieler und Dramatiker John Baldwin Buckstone (1802-79), ein regelmäßiger Mitarbeiter des Adelphi Theatre, lange vor der Fertigstellung der Serie mit der Ausarbeitung einer dramatischen Fassung, in der er einen Großteil von Ainsworths Dialogen wortwörtlich wiedergab. Dies war genau die Situation, die Charles Dickens zu dieser Zeit in Nicholas Nickleby (1839) angriff: Die „unvollendeten Bücher lebender Autoren“ wurden „hastig und grob“ für die Bühne adaptiert, und Romanautoren hatten keinen rechtlichen Schutz gegen solche Praktiken. In diesem Fall waren die Dinge noch komplizierter, da Ainsworth den kompletten Roman in drei Bänden am 15. Oktober 1839 veröffentlichte. Wenn man Melodram und Roman vergleicht, ist es offensichtlich, dass Buckstone zwischen dem 15. und 28. Oktober viele Änderungen an seinem Text vorgenommen haben muss, um Material einzubringen, das ihm vorher nicht zur Verfügung stand. In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, wie fließend das Melodrama ist, das sich nur bis zu dem Punkt eng an den Roman anlehnt, an dem Jack und Thames aus dem St. Giles’s Roundhouse fliehen; danach wird die Beziehung zwischen den Texten viel lockerer. Buckstones Melodram besteht aus vier Akten, von denen der erste 1703, der zweite 1715 und der dritte und vierte 1724 spielt. In dieser Form war es fast vier Stunden lang, so dass in der Praxis der erste Akt (der keine Lieder enthält) oft weggelassen wurde, so auch in dieser Aufnahme. Um ein kohärentes Hörerlebnis zu schaffen, haben wir zusätzlich einen Erzähler eingesetzt, der es ermöglicht, das Melodrama weiter zu kürzen und von abschweifenden Episoden zu befreien, während alle Lieder enthalten bleiben. Jack Sheppard eignet sich hervorragend für eine Präsentation in Audioform, da er viele dramatische Szenen zwischen nur zwei Sprechern enthält.

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ (aided by Edgeworth Bess and Poll Maggot) by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Das Melodrama verlangt nach mutigen Schauspielern, die die einfachen, überlebensgroßen Figuren überzeugend verkörpern und das leicht ablenkbare Publikum auf das Bühnengeschehen fixieren können. In dieser Hinsicht hatte Jack Sheppard besonderes Glück, denn die Chemie zwischen Mary Anne Keeley (1805-99) in einer Hosenrolle als Jack und Paul Bedford (1792?-1871) als Blueskin war vom ersten Abend an als ein einzigartiges Stück Theatermagie anerkannt. Beide Schauspieler wurden stark mit diesen Rollen identifiziert, die sie bis in die 1850er Jahre hinein spielten. Noch 1899 schrieb Clement Scott: „Die alten Theaterbesucher werden nicht müde, uns in das Jahr 1839 zurück zu versetzen und Mrs. Keeley als Jack Sheppard und Paul Bedford als Blueskin zu beschreiben. Blueskin ist in dem Melodram eine viel sanftere Figur als im Roman – wo er beispielsweise Mrs. Wood tötet, indem er ihr die Kehle durchschneidet – und Bedford spielte ihn mit gewinnendem Charisma.

Der Mann, der die Musik für Jack Sheppard komponierte und arrangierte, war George Herbert Buonaparte Rodwell, allgemein bekannt als G. Herbert Rodwell. Er wurde am 15. November 1800 in London geboren und „begann sein Leben unter sehr günstigen Vorzeichen“, wie es in seinem Nachruf in The Times heißt. Schon in jungen Jahren zeigte er eine starke Anziehungskraft auf die Bühne, sowohl als angehender Schriftsteller als auch als Komponist. Er machte sich zunächst als Dramatiker einen Namen, seine populäre gesprochene Farce Where Shall I Dine? erschien bereits 1819. In den folgenden Jahren konzentrierte er sich jedoch auf die Musik und nahm Privatunterricht bei Henry Bishop (1786-1855), Großbritanniens führendem Theaterkomponisten in den 1810er und 20er Jahren. Rodwells späteres Lehrbuch, The First Rudiments of Harmony (1830), war Bishop in den schmeichelhaftesten Worten gewidmet: „Ihnen allein verdanke ich all das musikalische Wissen, das ich besitze. … es wird immer meine stolzeste Erinnerung sein, wenn ich daran denke, dass ich der Schüler unseres englischen Mozarts gewesen bin“.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Sein kompositorisches Debüt gab Rodwell mit der „Dramatischen Romanze“ Waverley, or Sixty Years Since von Walter Scott, die 1824 am Adelphi Theatre aufgeführt wurde. Der Text stammte von Edward Fitzball (1792-1873), der bereits auf dem besten Weg war, einer der erfolgreichsten britischen Bühnenautoren zu werden. Fitzball schrieb später, er habe „das große Glück gehabt, einen genialen Mann für die Komposition der Musik zu haben, der die Ideen des Autors mit seinem eigenen überlegenen Können umzusetzen wusste“. Rodwell, laut Fitzball „stets ein höchst fröhlicher Gefährte, war damals ein fröhlicher junger Mann, voller Frohsinn und voller Freude“ (das Zitat stammt passenderweise aus einem populären Lied). Es überrascht nicht, dass Rodwell und Fitzball weiterhin zusammenarbeiteten. Ihren größten Erfolg hatten sie mit dem Melodram The Flying Dutchman, or The Phantom Ship (1826), das jahrzehntelang auf beiden Seiten des Atlantiks aufgeführt wurde und die populärste Theaterfassung der später von Wagner bearbeiteten Geschichte darstellte. Die Hauptperiode von Rodwells Karriere als Theaterkomponist erstreckt sich von Waverley bis Jack Sheppard. Sein berufliches Leben wurde in diesen Jahren vom Adelphi dominiert, wo er von 1827 bis 1835 und erneut von 1838 bis 1843 als Musikdirektor tätig war. Dazwischen war er Musikdirektor in Covent Garden und unterrichtete ab 1834 auch die zukünftige Königin Victoria. Im Jahr 1840 erlitt Rodwell eine schwere gesundheitliche Krise und widmete sich für den Rest seines Lebens hauptsächlich der eher sitzenden Tätigkeit des Schreibens von Fortsetzungsromanen, wobei seine sehr kompetenten Bemühungen seine tiefe Vertrautheit mit den populären Romanen seiner Zeit erkennen lassen. Er starb am 22. Januar 1852 in London.

Mary Anne Keeley war eine berühmte Hosenrollen-Darstellerin, namentlich als Jack Sheppard im Londoner Adelphy/Wikipedia

Als Komponist empfand Rodwell viel kreative Frustration, wie sein Brief an die Musiker Großbritanniens (1833) deutlich macht. Es handelt sich um eine schrille Klage, in deren Mittelpunkt die Tatsache steht, dass britische Komponisten nur sehr selten die Möglichkeit hatten, „große Opern“ zu komponieren, die er als „die Spitze des musikalischen Baumes“ ansah. Große Oper“ war eine eher vage Kategorie, bezog sich aber im Allgemeinen auf Opern im kontinentalen Stil, sei es im italienischen Stil von Rossini, im französischen Stil von Boieldieu (dessen La dame blanche Rodwell für den britischen Konsum als The White Maid adaptierte) oder im deutschen Stil von Weber. Am nächsten kam Rodwell der Komposition eines solchen Werks mit seiner „Grand National Opera“ The Lord of the Isles (nach Scott) mit einem Libretto von Fitzball, die 1834 vom Surrey Theatre herausgebracht und im darauf folgenden Jahr in Covent Garden aufgeführt wurde. Doch obwohl The Lord of the Isles erfolgreich war, konnte oder wollte Rodwell nicht mehr in diesem Umfang komponieren. Er war zwar immer gefragt, aber nicht für die große Oper. Ein Großteil seiner kreativen Energie musste in das fließen, was das Publikum am meisten wollte: das Melodram.

Die Lieder in Jack Sheppard haben meist Texte von Ainsworth selbst. The Newgate Stone“, das in Rodwells Vertonung als „Claude Duval“ bekannt wurde, „Jolly Nose“ und „The Carpenter’s Daughter“ stammen alle direkt aus dem Roman, während Jacks „St Giles’s Bowl“ eine Strophe einer langen Ballade ist, die Ainsworth Blueskin singen lässt. Nix My Dolly“, das Lied in der Umgangssprache, ist dagegen eine gekürzte Version von Jerry Juniper’s Chant“ aus Ainsworths früherem Roman Rookwood (1834). Ainsworth war sehr stolz auf diese Komposition und argumentierte, dass ihr „großes und besonderes Verdienst darin besteht, dass sie für den uninformierten Verstand völlig unverständlich ist, während ihre Bedeutung für den geübten Patterer des Romany oder Pedlar’s French vollkommen klar und deutlich sein muss. Der einzige von Buckstone gelieferte Text, „Farewell My Rory Tories“, enthält einen vergleichbaren Gebrauch von Diebesjargon.

Jack Sheppard vermittelt einen guten Eindruck von Rodwells Arbeitsmethoden, wenn er mit solchem Material konfrontiert wird, das er mit Sicherheit mit ausgewählt hat. Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ wurden originalgetreu vertont und erlangten beide enorme Popularität. Jolly Nose“ wurde zu einem Markenzeichen von Bedford, der es jahrzehntelang sang. Der große musikalische Hit der Show war jedoch „Nix My Dolly“. Die Era urteilte: So wie dies eindeutig das beste Lied in „Jack Sheppard“ ist, so ist es bei weitem das beste, sowohl vom Charakter als auch von der Originalität her, das wir je aus der Feder von George Herbert Buonaparte Rodwell kennen gelernt haben“. Es war „das Lied des Tages“, wie S. M. Ellis es beschrieb, und wurde stets als Zugabe gesungen, wobei das Publikum begeistert mitsang. Sir Theodore Martin (1816-1909) schrieb später über diese Zeit:

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Nix My Dolly kam überall hin und machte das Getrappel von Dieben und Einbrechern „in unserem Mund zu einem vertrauten Wort“. Es betäubte uns in den Straßen, wo es bei den Leierkastenmännern und deutschen Musikkapellen so beliebt war, wie es Sullivans hellste Melodien später je waren. Es schallte mittags vom Kirchturm von St. Giles, der Kathedrale von Edinburgh (Eine Tatsache. Dass ein solches Thema für das Glockenspiel einer Kathedrale, noch dazu in Schottland, überhaupt gewählt werden konnte, wird man kaum glauben. Aber meine erstaunten Ohren haben es oft gehört.); es wurde von jedem schmutzigen Straßenköter gepfiffen und in Salons von schönen Lippen gesungen, die die Bedeutung der Worte, die sie sangen, kaum kannten.

Kurzum, „Nix My Dolly“ war ein kulturelles Phänomen innerhalb eines kulturellen Phänomens. Nur ein denkwürdiges Beispiel für seine immense kulturelle Wirkung findet sich in einer Beschreibung des „Wagens der Zeit“ in Charles Henry Knox‘ Roman Harry Mowbray (1843): Vulkan selbst hatte die Räder geschmiert, bevor er losfuhr; Bacchus hielt die Zügel, und Phaeton schwang die Peitsche über seine Schultern, mit Venus auf der Kiste, Diana und den Grazien als innere Passagiere, und Apollo als Wächter, der in das Horn blies: „Nix wie weg, Kumpels, fake away“. Die Zeit selbst bewegte sich zu Rodwells Takt! Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass Rodwell mit der enormen Popularität von „Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ nicht ganz glücklich war, denn dies war nicht die Art von Musik, für die er in Erinnerung bleiben wollte. Er lizenzierte jedoch vornehmere Salonversionen der beiden Lieder mit anderen Texten: Sparkling Wine“ und „The Woodland Call“. Von ersterem haben wir ein Fragment in diese Aufnahme aufgenommen.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Für die anderen Lieder adaptierte Rodwell bestehende Melodien, die sein Publikum in den meisten Fällen wiedererkennen würde. The Carpenter’s Daughter“ adaptierte den alten Kinderreim „Dame Get Up and Bake Your Pies“. Farewell, My Rory Tories“ adaptierte Charles Dibdins „Farewell, My Trim-Built Wherry“, eine berühmte Ballade aus The Waterman (1774). St Giles’s Bowl“ ist eine Adaption von „If the Heart of a Man“, einem Lied aus The Beggar’s Opera, dem Werk, dem Jack Sheppard eine wunderbare Hommage widmet. Claude Duval“, das sich als Jacks Erkennungsmelodie durch das Melodrama zieht, wurde ebenfalls als „Arranged from an Old Tune“ veröffentlicht, obwohl es bisher nicht identifiziert wurde und möglicherweise eine umfassendere Bearbeitung darstellt. Alle diese Lieder, mit Ausnahme von „St Giles’s Bowl“, wurden in ihrer bearbeiteten Form veröffentlicht, und für „St Giles’s Bowl“ haben wir John Parrys Bearbeitung von „If the Heart of a Man“ aus den 1810er Jahren verwendet. Es ist selten, dass ein Melodram aus dieser Zeit, in der alle Lieder veröffentlicht wurden, so einfach zu rekonstruieren ist.

Der Autor und Musik-/Literatur-Wissenschaftler David Chandler/OBA

Wie bei den meisten Melodramen des 19. Jahrhunderts ist die Instrumentalmusik zu Jack Sheppard leider verloren gegangen, obwohl der Text eine Vorstellung davon vermittelt, wo die Musik gespielt wurde. Glücklicherweise sind einige Orchesterstimmen für den Fliegenden Holländer im Working Men’s Institute, New Harmony, Indiana, erhalten. Wir können nicht sicher sein, dass Rodwell die Instrumentalmusik für Jack Sheppard im gleichen Stil komponiert hätte, aber das Melodrama stützte sich in hohem Maße auf bestimmte „Standard“-Klänge, und Kritiker kommentierten oft die Vertrautheit dessen, was sie hörten. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass es sich bei Der fliegende Holländer um echte melodramatische Musik von Rodwell handelt, die in den 1820er Jahren für ihre Originalität bewundert wurde, sind wir der Meinung, dass Jack Sheppard heute am authentischsten mit dieser früheren Rodwell-Partitur präsentiert werden kann, der das kurze Vorspiel und die Schlussmusik entnommen sind.  Für die Begleitmusik hat Valerie Langfield die Stimmung der Szenen in den beiden Melodramen sorgfältig verglichen und die Musik aus dem einen ausgewählt, die für das andere am besten geeignet schien, oder sie hat Musik aus den Liedern genommen. Nachdem wir auf diese Weise eine Art Verbindung zwischen dem Fliegenden Holländer und Jack Sheppard hergestellt haben, haben wir die populärste Gesangsnummer aus dem ersteren in unsere Adaption des letzteren eingebracht, und zwar in einem Geist, den das Publikum des neunzehnten Jahrhunderts durchaus für zulässig gehalten hätte.

„Jack Sheppard“/Poster für die Premiere in Edinburgh/Weir Collection/Wikipedia

Es handelt sich um die Ballade „Return, O My Love“, ursprünglich gesungen von Lestelle, der Heldin des Fliegenden Holländers (entspricht Wagners Senta). Sie war einer von Rodwells ersten großen Hits und wurde von dem zeitgenössischen Dramatiker John Maddison Morton als „die schönste Ballade der Zeit“ bezeichnet, während William Makepeace Thackeray seinen fiktiven Helden Arthur Pendennis als „das aufregendste Liedchen meiner Jugend“ bezeichnete. Es war eine von nur zwei Nummern aus The Flying Dutchman, die veröffentlicht wurden, und erhöht die Zahl der Rodwell-Lieder auf diesem Album auf drei.

Alles in allem gibt diese Aufnahme einen guten Vorgeschmack auf Rodwells Musik für zwei bahnbrechende Melodramen und stellt hoffentlich sicher, dass seine Musik und diese lange verschollene Theatertradition nicht völlig in Vergessenheit geraten. Jack Sheppard wird nie wieder so zu erleben sein wie 1839, aber in der hier aufgenommenen Form ist es hoffentlich immer noch möglich, ein wahres Echo von Apollos Horn zu hören, das „Nix My Dolly“ aus dem fernen Wagen der Zeit erklingen lässt.   © 2023 David Chandler/ Übersetzung DeepL

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JACK SHEPPARD. A Victorian Melodrama. Play by John Baldwin Buckstone (1802–79). Music by G. Herbert Rodwell (1800–52). Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield. Charli Baptie – Jack Sheppard. Peter Benedict. – Owen Wood /Sir Rowland/Trenchard,/Davies,/Hogarth. Simon Butterises – Narrator,/Blueskin/Jonathan/Wild/Mrs Wood/Mendez/John Gay, Daniel Huttlestone – Thames Darrell/Quilt/Slimkid, Emily Vine – Winny, Stephen Higgins, piano. Recorded at the Richard Burnett Heritage Collection,. Royal Tunbridge Wells, 4–7 January 2023. Recording Producers Simon Butteriss, Valerie Langfield. Recording Engineer Adam Binks. First Recording. Executive Producer David Chandler (LC 52095)

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Diese Aufnahme wurde größtenteils von David Chandler und Kaori Ashizu finanziert und erhielt Forschungsmittel von der Doshisha University, Kyoto. Wir sind The Finchcocks Charity und Michael Symes für zusätzliche finanzielle Unterstützung sehr dankbar.  Das Klavier auf dieser Aufnahme ist der Erard-Flügel von 1866 aus der Richard Burnett Heritage Collection. Valerie Langfield hat die Musik bearbeitet und die Partitur vorbereitet. Sie übernahm auch die Verantwortung für die verschiedenen „live“ produzierten Soundeffekte und sang im Chor mit.

Retrospect Opera  (eingetragene Wohltätigkeitsorganisation 1164150) mit den Treuhändern Valerie Langfield, David Chandler, Andrew H. King, Christopher Wiley und Benjamin Hamilton hat ein klares Ziel: die Wertschätzung und das Wissen über die britische Oper und verwandte Musikwerke von Mitte des 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu fördern. Wir tun dies, indem wir vergessene britische Opern und verwandte Musik erforschen, aufnehmen und veröffentlichen. Unsere Arbeit ist spannend, bereichernd und erfüllt die wertvolle Aufgabe, das britische Opernerbe für künftige Generationen zu bewahren. Ohne die Unterstützung einzelner Spender und anderer gemeinnütziger Einrichtungen, von denen wir finanzielle Mittel erhalten, wäre dies nicht möglich. Bitte besuchen Sie retrospectopera.org.uk, um mehr zu erfahren, wenn Sie glauben, dass Sie für unsere zukünftigen Veröffentlichungen spenden können.

Zu Unrecht selten

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Diesen Ernani aus Florenz hätte man doch gern als DVD gehabt, denn das Cover der CD beweist, dass man sich beim Maggio Fiorentino Musicale alller inszenatorischen Mätzchen enthielt und schön grimmig dreinschauende echte Räuber auf der Bühne standen, mit Pistol bewaffnet und phantasievoll gewandet. Ob die Aufnahme von 2022 allerdings die altbekannte und fast unangefochten ihren Platz behauptende mit Freni, Domingo,  Bruson und Ghiaurov aus der Scala ablösen kann, ist zweifelhaft, denn dazu ist die Qualität der sängerischen Leistungen allzu unterschiedlich.

Nicht sechs wie der Don Carlo und auch nicht fünf vorzügliche Sänger wie Il Trovatore braucht Ernani, sondern lediglich vier, aber die müssen tatsächlich Erstaunliches leisten, um das Werk aus seinem durch nichts zu begründenden Schattendasein herauszuholen.

Francesco Meli hat sich vorsichtig und Schritt für Schritt vom tenore lirico zum tenore spinto vorgearbeitet und ist inzwischen einer der begehrtesten Stimmen dieses Faches. Allerdings fehlt ihm jede Aura des Glamourösen wie Domingo oder des Skandalösen wie einst Franco Bonisolli, und so wie die Optik eine angenehme, aber keine die Herzen höher schlagen lassende ist, so ist die Stimme, was das Timbre betrifft, keine aufregende, die Technik eine durch und durch zuverlässige, eine reiche Agogik ermöglichende mit immer wieder überraschenden Schwelltönen. Manchmal erleidet sie in der Höhe einen Qualitätsverlust, wird dort auch einmal eng, kann aber in den Finali auch überraschend auftrumpfen. Lyrisch Getragenes liegt dem Tenor besonders, sein zärtlich-pathetisches „Ah, morir potessi“ kann berühren.

Eine wunderbare Partie ist die des Carlo V, der zwei höchst effektvolle Arien singen darf, so das verführerische „Vieni meco“ und die elegische, den Verlust der „verd‘ anni“ beklagende. Für den gestandenen Bariton von Roberto Frontali aber sind zwar die wütenden Ausbrüche des verschmähten Liebhabers eher im Bereich des Möglichen als zärtliche Verhaltenheit, der Bariton klingt streckenweise dumpf, oben eng und generell recht kurzatmig.

Die Unerbittlichkeit, mit der der russische Bass Vitalij Kowaljow als Silva die Vollstreckung des Todesurteils fordert, lässt wohlig erschauern, weit gespannte Bögen und eine angenehme Geschmeidigkeit lassen keinen Wunsch offen.

Wer nie mit Mirella Freni als Elvira glücklich wurde, kann sich über Maria José Siri freuen, deren Timbre von Tragik weiß, deren Piano präsent ist und der man abnimmt, wenn sie singt: „Ogni cor‘ serba un mistero“. Die Partie verlangt ein ausgeprägtes tiefes Register, über das sie verfügt, wenn auch manchmal etwas fahl klingend,  die Höhe selten gepresst und die Intervallsprünge sicher. Ihre Stimme passt zu den Sopranfiguren aus dieser Schaffensperiode des Komponisten.

Genießen kann man, was Chor und Orchester unter James Colon mit viel Brio und Slancio von sich geben und womit sie das genussreiche Verdi-Hochgefühl erzeugen können (Naxos 8.660534-35). Ingrid Wanja   

Exquisit

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Extrempuristen mögen ihn in Anlehnung an den ebenfalls verunglimpften Salontiroler als Salonneapolitaner bezeichnen, aber Sänger wie Publikum lieben Francesco Paolo Tosti gleichermaßen, von ersteren besonders die Tenöre, von denen besonders Di Stefano, José Carreras oder Carlo Bergonzi Zeugnisse ihrer Zuneigung hinterlassen haben. Eher dem Salon als dem Neapolitaner zugeneigt zeigt sich Javier Camarena, denn der seine ist ein tenore di grazia und in seinem Zugriff auf die Canzoni recht weit entfernt von dem naturstimmennahen Giuseppe Di Stefano.

Die vom Mexikaner ausgewählten, zum Teil sehr, zum Teil weniger bekannten Canzonen stellen an den Beginn der CD die Quattro Canzoni d’Amaranta, die eigentlich für einen Mezzosopran komponiert wurden und mit dem Schicksal einer der vielen Geliebten des Dichters Gabriele D’Annunzio verbunden sind, mit dem der wesentlich ältere Tosti, beide stammten aus den Abruzzen, befreundet war. Es handelt sich um die Contessa Giuseppina Mancini, die wie die weitaus berühmtere Eleonora Duse vom Dichter verführt und dann verlassen wurde, im Unterschied zur Schauspielerin aber nach dem Treuebruch D’Annunzios in Wahnsinn verfiel, dem Ex-Geliebten damit wie so viele andere Material für sein künstlerisches Schaffen liefernd. Camarena nimmt sich der vier Lieder nicht mit einem  in schönen Farben prunkenden und deshalb entzückenden  Tenor an, sondern mit einem hoch kultivierten, technisch perfekt geführten und allen feinsinnigen Intentionen gehorchenden in der Tradition eines Tito Schipa. Er hat einen wunderschönen Schwellton für „pianto“ im ersten, einen zu Herzen gehenden Sehnsuchtsruf auf „O notte“ und eine strahlende Höhe für „il sole eterno“ im zweiten Track.  Für „Invan preghi“ steht ihm die Klarheit der Stimme zur Abmilderung der Schwüle des Textes zur Verfügung, und  die „ombra infinita“ der abschließenden Canzone atmet eine schöne Melancholie. Bereits inhaltlich in einem starken Kontrast dazu steht ein ebenfalls von D’Annunzio stammender Text, das im neapolitanischen Dialekt verfasste „‘A vucchella“, dessen gewollt schlichte Naivität auch vom Pianisten Ángel Rodriguez wunderbar getroffen wird.

Francesco Paolo Tosti war nicht nur Komponist, sondern auch Tenor und musikalischer Erzieher für italienische und englische Prinzessinnen, so zwei Töchter der Königin Victoria. So ist es nicht verwunderlich, dass er während langer Aufenthalte in London auch englische Texte vertonte. Die allerdings üben einen weit geringeren akustischen Zauber aus als die italienischen und französischen. In Because of you gefällt allerdings die reiche Agogik, in The first Waltz die rhythmische Gestaltung. Die französischen Mélodies bezaubern durch tatsächliche Eleganz und scheinbare Schwerelosigkeit des Singens.

Zu den populärsten Canzonen gehören Malia mit zauberhaften „ninfa“ und „fata“, Aprile, der für den Italiener der deutsche Mai, das heißt der Frühlingsmonat, ist und wo der Tenor ebenso wie in Sogno sich als besonders feinsinniger, allen Gefühlsregungen nachspürender Interpret zeigt. L’ultima canzone schließlich weiß dolcezza und amarezza aufs Schönste miteinander zu vereinen.

Vom Pianisten für Piano arrangiert wurde Marechiare, in dem Stimme wie Piano Lebensfreude versprühen und genüsslich ausgekostet werden, in der abschließenden Chitarrata abruzzese kann der Tenor noch einmal alle seine Vorzüge unter Beweis stellen und mit einer Superhöhe prunken (Pentatone 5187 184). Ingrid Wanja              

Alexander Weatherson

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Mit Bestürzung hörten wir vom Tode unseres Freundes, Mentors und unersetzlichen Musikwissenschaftlers Alex Weatherson. Operalounge-Lesern ist er ja ein Bekannter wegen seiner vielen Artikel und Kommentaren namentlich im Donizetti- und Belcanto-Repertoire. Mir selbst ist er stets ein liebevoller Freund gewesen, ein auch widersprüchlicher und hochspannender Gesprächspartner, ein Felsen an Wissen. Die Trauer über den auch persönlichen Verlust bleibt. Geerd Heinsen

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Alex´ enger Mitarbeiter bei der englischen Donizetti Society, deren Gründer, Movens und Felsen Alex Weatherson war, Fulvio Lo Presti, hat uns den folgenden Text geschickt: 1973 gründete eine kleine Gruppe von Enthusiasten und Gelehrten in London die Donizetti Society. Weder Alexander Weatherson noch der Schriftsteller, der einige Jahre später beitrat, waren damals Mitglieder, während sich die Gesellschaft allmählich ausbreitete und im Einklang mit der immer ehrgeizigeren weltweiten Wiederbelebung der untergegangenen Donizetti-Produktion, der Donizetti-Renaissance, immer weniger ausschließlich britische Konnotationen annahm. Weatherson war ein eifriger Mitstreiter der Gesellschaft und wurde ihr mutiger Präsident, den er bis zum Schluss behielt. Er verlieh der Gesellschaft ein hohes internationales Profil, auch dank seiner Kontakte und seiner fruchtbaren und freundschaftlichen Beziehungen zu den wichtigsten Musikwissenschaftlern, Kritikern, Dirigenten, Sängern und verschiedenen Persönlichkeiten, darunter Montserrat Caballè, Alberto Zedda, William Ashbrook, Patric Schmid, Leyla Gencer, Philip Gossett, Joan Sutherland, Franca Cella, Sergio Segalini und Piero Mioli.
Geboren am 6. Oktober 1927 in Mansfield (Nottinghamshire) als Sohn eines schottischen Arztes, den er nicht kannte, und einer französischen Adeligen, die aus einem Zweig der Familie Rohan stammte, lebte er auch in Frankreich und Portugal und lernte Charles De Gaulle in dessen Londoner Wohnung kennen.
Nach seinen beruflichen Erfahrungen als Krankenhausarzt und Psychologe, seiner künstlerischen Tätigkeit als bald etablierter Maler und seiner Karriere als Hochschullehrer – er erzählte mir von der Zeit, als er als Dekan der Fakultät Frau Thatcher, die damalige Bildungsministerin, in seinem Büro empfing – kam Weatherson zur Musikwissenschaft als vollwertige und endgültige Berufung mit einem heftigen und beharrlichen Engagement und einer beneidenswerten Kompetenz. In erster Linie widmete er Donizetti größte Aufmerksamkeit, unter anderem mit einem beachtlichen Werk an Aufsätzen und unzähligen Rezensionen. Umfassende Schriften, in denen der scharfe Blick und der Humor eines Menschen von großer Kultur, aber mit den Füßen im Alltag, eines Donizettianers, der wie kaum ein anderer den Geist und den Elan des Bergamasken verinnerlicht hat, zum Ausdruck kommen. Er überwachte die Herausgabe der verschiedenen Zeitschriften der Donizetti-Gesellschaft, die 2002 ihre siebte Ausgabe erreichte, und redigierte jahrzehntelang, bis zum Sommer 2022, fast den gesamten Newsletter, dessen Reihe mit der Ausgabe 146 zu Ende ging. Diese Rundbriefe enthielten auf den rund 30 Seiten jeder Ausgabe eigene und fremde Texte von überzeugendem Inhalt und großem Interesse. Neben dem gedruckten Nachlass werden seine Veröffentlichungen auch auf seiner Website veröffentlicht.
Die Besonderheit von Weathersons Engagement liegt jedoch in dem durchdringenden und kritischen Überblick, in dem er die Persönlichkeit und das Werk Donizettis in das Panorama des Melodramas des 19. Jahrhunderts einordnet, das er bietet und das von Rossini bis Verdi reicht, unter den verschiedensten Figuren der bevölkerungsreichen Sixtina der italienischen Oper: Simone Mayr, Carlo Coccia, Saverio Mercadante, die Brüder Luigi und Federico Ricci, Nicola Vaccai, Giuseppe Lillo, Alessandro Nini, sowie Giacomo Meyerbeer für die italienische Seite, jeder mit seiner eigenen Individualität nicht voreilig betrachtet, ganz zu schweigen von anderen. Einen besonderen Platz in Weathersons Herz hat jedoch bis zu seinem letzten Atemzug der Katanier Giovanni Pacini eingenommen, der in seiner Heimatstadt leider viel zu sehr misshandelt und verunglimpft wurde. Über Pacini kann man den sorgfältigen Essay von Weatherson nicht ignorieren, der unter seinem Namen ins Netz gestellt wurde.
Zum Abschied von Alex, der am 7. Februar in London gestorben ist, leihe ich mir die Worte von Horatio, Hamlets Freund: „Gute Nacht, süßer Prinz“./ Fulvio Stefano Lo Presti/12/2/2024/DeepL

Tödlicher Dreier

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Was uns die relativ ausführliche Ouvertüre zu dem relativ kurzen Einakter erzählen will, kann sich auch ein unbegabter Zuhörer so trefflich ausmalen wie beim Rosenkavalier. Alexander Zemlinsky türmt Leidenschaften, Zärtlichkeiten, Begehren in großartig orchestral wuchernder Manier hundert Takte lang aufeinander. Guido Bardi und Bianca haben offenbar nicht nur Händchen gehalten. „Der Florentiner Prinz Guido Bardi kniet vor Bianca. Sie haben ihre Hände verschlungen. Er sieht lächelnd zu ihr auf, als sie plötzlich zusammenschrickt, aufsteht und sich von ihm loslöst“. So die Szenenanweisung. Der Kaufmann Simone kehrt unerwartet von einer Reise zurück, spürt rasch, dass er Bianca und Guido inflagranti überrascht hat und es beginnt eine scheinbar artige Konversation, in die Wilde manche doppelbödigen Fallen eingebaut hat. Scheint es zunächst so als wolle Simone ein gutes Geschäft mit dem Sohn des Herzogs zu machen, schlägt die Stimmung langsam um, bis Simone den Prinzen mit dem Schwert herausfordert, ihn entwaffnet und zum Dolchkampf reizt und schließlich erwürgt. Berühmt wurde Biancas Begeisterung, „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so stark?“ und Simones Bewunderung, „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so schön!“.
„Sex. Macht. Mord“ bzw. „Sex and Crime in der Renaissance“, die Schlagworte, mit denen 2011 zwei unterschiedliche Borgia-Produktionen im Fernsehen beworben wurden, gelten auch für eine Reihe von Opern zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Willkürlich ausgewählt: während des Ersten Weltkriegs wurden 1915 Schillings Mona Lisa, im Jahr darauf Korngolds Violanta, 2017 Zemlinskys Eine Florentinische Tragödie und 1918 Schrekers Die Gezeichneten uraufgeführt; und irgendwie könnte man Franz Schmidts Pariser Renaissance-Bild Notre-Dame von 1914 auch dazuzählen. Alle zeichnet der Klangrausch aus Spätromantik und Expressionismus aus.
Mit der in Stuttgart unter von Schillings uraufgeführten Eine Florentinische Tragödie vollbrachte der damals 27jährige Patrick Hahn Ende November 2022 im Prinzregententheater eine seine ersten Großtaten als Erster Gastdirigent des Münchner Rundfunkorchesters, das erneut seine bei vielen konzertanten Opernaufführungen unter Beweis gestellte besondere Befähigung für das Musiktheater ausstellen konnte (BR Klassik 900347); seinen Einstand hatte Hahn ein Jahr zuvor mit Ullmanns Der Kaiser von Atlantis gegeben . Hahn hat eine theatralisch packende, fast bühnennah wortverständliche Aufführung realisiert, die trotz der manchmal überbordenden Orchesterwogen durchsichtig bleibt, orchestrale Details der Celesta, Violine und Harfe ausleuchtet und die lauernden Momente in der Konversation der beiden Männer, des hell tenoralen, gleisnerischen Benjamin Bruns als Guido Bardi und des mit splitterndem Bariton mächtig auffahrenden Christopher Maltman als Simone, energisch und eindrucksvoll nachzeichnet. Rachel Wilson bleibt in diesem tödlich endenden Dreier, irgendwie außen vor. Ausgesprochen spannend. Rolf Fath

Wilhelmenia Fernandez

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Die amerikanische Sängerin war vor allem durch ihre Mitwirkung in dem Film Diva von Jean-Jacques Beineix berühmt geworden. Sie erlangte plötzlichen Ruhm, als 1981 der Film Diva von Jean-Jacques Beineix in die Kinos kam, in dem sie mitwirkte und in dem sie eine überwältigende Arie aus Catalanis La Wally sang. Abgesehen von diesem Coup verfolgte sie jedoch eine klassische und eher unauffällige Opernkarriere, nachdem sie an der Academy of Vocal Arts in Philadelphia (wo sie 1949 geboren wurde) und später an der Juilliard School in New York ausgebildet worden war.

Wilhelmenia Fernandez debütierte 1976 in Porgy and Bess, einer Produktion der Houston Grand Opera, die durch Europa tourte. Sie kehrte nach Europa zurück, um Musetta in La Bohème an der Pariser Oper zu singen, zusammen mit Kiri Te Kanawas Mimi und Giacomo Aragals und Placido Domingos Rodolfo in den Jahren 1979 und 1980 – bei dieser Gelegenheit wurde sie von Beineix entdeckt. Ihre Karriere führte sie auch nach Toulouse, Straßburg und Liège. Sie übernahm die Titelrollen in Carmen, Aida (insbesondere bei einer Produktion von Verdis Oper in Luxor und am Fuße der Pyramiden in Ägypten), Tosca, Luisa Miller.

Die Sängerin, die am 2. Februar im Alter von 75 Jahren in Kentucky verstarb, hinterlässt eine knappe Diskographie: neben dem Soundtrack zu Diva ein Album mit Gershwin-Liedern und eines mit Spirituals. Außerdem gibt es eine Gesamteinspielung von Oscar Hammersteins Musical Carmen Jones nach Bizet, eine Rolle, die sie auf der Bühne gespielt hatte und für die sie 1992 mit dem Laurence Olivier Theatre Award ausgezeichnet wurde (Foto youtube). Jane Avril/DeepL

Urvater der amerikanischen Musical Comedy

„When a Man is Twenty one“. Ja, was ist dann? Der Chor macht neugierig. Ohne viel orchestrales Aufheben drängt das Stück mitten in die Komödie. Frölich marschierend. Der reiche Junggeselle Harry Bronson hat eine Nacht durchgemacht. Am kommenden Mittag soll er die Sängerin Cora Angelique heiraten. Neben Cora erscheinen auch die Music-Hall-Sängerin Kissie Fitzgerald, die ebenfalls Ansprüche anmeldet, ihr Bruder, der Dünnbierboxer Binky Bill, und der Schauspieler Kenneth Mugg. Im Durcheinander verliebt sich Harry quasi im Vorbeigehen in die französische Konditorentochter Figi. Und schließlich erscheint noch Harrys Vater Ichabod, der in seiner Funktion als Präsident der Liga zur Rettung junger Männer sowie der Anti-Zigaretten-Vereinigung von Cohoes ebenso wenig zur Schichtung und Lösung der Konflikte beiträgt wie zwei portugiesische Grafen und der deutsche Karl von Pumperick, der Harry aus Eifersucht umbringen will. Der Vater enterbt den so vielfältig interessierten Sohn und wirft sein Vermögen der Erstbesten, dem Heilsarmeemädchen Violet, hinterher. Das alles, was Kerkers vielfacher Textdichter Hugh Morton (1865-1916) aufschrieb, muss nicht en detail erzählt werden, ist aber recht unterhaltsam. Das ist zwar alles aus dem gleichen Stoff, aus dem europäische Operetten gemacht wurden, und doch schlägt die 1897 uraufgeführte Musical Comedy The Belle of New York einen zwar musikalisch recht einfachen, rhythmisch prägnanten und melodisch leichtflüssigen, aber in jedem Fall einen neuen und anderen Ton für eine musikalische Komödie und ein elegant geschmeidiges Konversationsstück an und wurde bald zum Inbegriff der amerikanischen Musical Comedy oder Light Opera. 

Noch vor den raren Werke des 1878 in Indianapolis als Sohn polnischer Einwanderer geborenen Albert von Tilzer und des 1887 in New York geborenen Louis Achille Hirsch oder des aus Ungarn stammenden berühmteren Sigmund Romberg, der in Wien bei Heuberger studiert hatte, als Hauskomponist der Shubert Brothers in New York in die Fußstapfen von Hirsch trat und ab den 1920er Jahren mit Dutzenden Bühnenwerken eine feste Größe am Broadway wurde, verband Gustave Adolphe Kerker amerikanische Akzente und europäische Operette zu einem eigenen Genre. Die cpo-Aufnahme mit Gustave Adolphe Kerkers The Belle of New York geht zu den Anfängen des Broadway Theaters zurück. Ein Zufall, denn der Chef des cpo-Labels stammt aus der gleichen Stadt, in der Kerker 1857 geboren wurde. Aus Herford. Die 2013 von Florian Ziemen dirigierte Produktion von Kerkers Berliner Operette Die oberen Zehntausend (Berlin 1909) am Theater Gießen führte dazu, gemeinsam weitere Kerker-Projekte anzugehen. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis Ziemen im Mai 2022 in Hildesheim, wo er seit 2017 GMD des theater für niedersachsen ist, seine Kerker-Initiative fortsetzen konnte und cpo-Mann Burkhard Schmilgun zu einer weiteren Kerker-Aufnahme kam.

Kerker genoss als Kind einer Musikerfamilie früh eine entsprechende Ausbildung und machte, nachdem er mit zehn Jahren mit seiner Familie nach Louisville ausgewandert war, früh auf sein musikalisches Talent aufmerksam. Inzwischen hatten die Eltern offenbar jeweils ein amerikanisches „e“ an seine Vornamen gehängt. Er spielte als Cellist im Orchester, dirigierte als 16hähriger den „Freischütz“, komponierte mit 22 Jahren eine komische Oper und landete irgendwann am Broadway, wo er für das neue Bijou-Theatre europäische Stücke einrichtete und schließlich 1888 Leiter des Casino Theatre wurde. Hier kam auch The Belle of New York heraus, die in New York nur bescheidene 64-mal gespielt wurde, aber in London annähernd 700 Aufführungen erlebte und plötzlich diesseits und jenseits des Ozeans erklang. Insgesamt folgten bis 1912 insgesamt 29 musical comedies, außerdem schrieb Kerker einige wenige Operetten für Berlin und Wien, bis seine Werke von Wiener Importen verdrängt wurden. Er starb 1923 in New York.

„Dieses wichtigste Werk Kerkers, dieser Welterfolg“, so Ziemen im Beiheft zur cpo-Aufnahme (2 CDs 777 189-2), „hat ihn international bekannt gemacht und ihn (gemeinsam mit dem heute weit bekannteren Komponisten Victor Herbert) zum Erfinder und Urvater der originär amerikanischen Musical Comedy und damit zum Ahn des Phänomens Broadway-Musical gemacht, also einer Musiktheatergattung, die in die ganze Welt exportiert wird und Millionen von Menschen begeistert“. Man merkt der moussierenden Konzertaufführung an, mit wieviel Leidenschaft Ziemen das von dem Dirigenten Dario Salvi edierte Material plus die von Ziemen selbst instrumentierte Nummer, die aus der späteren Londoner Fassung stammt (Das Trio „Oh! Come with us to Portugal“), angeht. Ziemen setzt mit der tfn Philharmonie auf einen vollblütigen, fast großorchestralen, manchmal geradezu lautstark überwältigenden Sound mit einigen nicht reizlosen Unschärfen und erreicht mit der „Inszenierung“ der gekürzten amerikanischen Sprechtexte, die mit Akzenten und Dialekten die Atmosphäre des Melting Pot New York einzufangen versucht, die perfekte Dichte einer gut eingespielten altmodischen Operettenaufführung. Sprachcoach Jacobsen Woollen hat eine tolle Arbeit geleistet. Werk und Aufführungen wirken in der Mischung aus französischen und Wiener Traditionen und Formen, im Wechsel von schmissigen Märschen und Chornummern und sentimentalen Kurzsongs bühnenprall, rampennah und lebendig. Und die Sänger-Darsteller geben ihren Nummern oftmals eine herrlich schmachtende Tiefe, wie die musicalspitze Fifi von Kathrin Finja Meier, die in „At ze naughty Folies Bergères“ wie die Kammerzofe Adele klingt und in „When we are Married“ so reizend mit Harry kokettiert, den Julian Rohde mit seinem charakteristisch leichten Tenor auf fast schülerhaft-forsche Weise gibt. Der Gegenpol zur Fifi ist Robyn Allegra Partons charmantes Heilsarmeemädchen, das so kultiviert wie eine Mozart-Primadonna singt. Eine Fülle rundum praller Porträts, darunter Eddie Mofokang als Blinky Bill, Felix Mechitz als Kenneth Mugg usw., runden den guten Eindruck ab. Rolf Fath

 

Selig sind….

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2022 war Franck-Jahr. 200 Jahre war es her, dass César-Auguste-Jean-Guillaume-Hubert Franck am 10. Dezember 1822 im damals niederländischen Liège geboren wurde. Exakt am Geburtstag fand dann auch am 8. und 10. Dezember 2022 in der Salle Philharmonique der Höhepunkt und Abschluss des Bicentenaire César Franck mit Les Béatitudes, Francks zweistündigem Oratorium für großes Orchester, Chor und acht Gesangssolisten statt. Das Konzert mit dem OPRL, dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège, unter seinem Chefdirigenten Gergely Madaras, der sich aus seiner Heimat Verstärkung durch den Ungarischen Nationalchor geholt hatte, erschien mittlerweile beim Brüsseler Label Fuga Libera (2 CDs FUG 817); leider ohne den gesamten Text, den Joséphine-Blanche Colomb aus den acht Seligpreisungen der Bergpredigt paraphrasiert hatte.

Die letzte Lütticher Franck-Großtat, an die ich mich erinnere, war 2012 die Aufführung des Stradella des 15-Jährigen anlässlich der Wiedereröffnung der Opéra Royal de Wallonie nach dreijähriger Renovierung. Nun also Die Seligpreisungen, wobei man sich nur wundern kann, weshalb Francks Hauptwerk, an dem er zehn Jahre bis 1879 arbeite und dessen erste komplette Aufführung erst im Jahr nach Francks Tod stattfand, in Deutschland so gut wie nie aufgeführt wird. Aber auch nicht andernorts. Die beiden CDs sind deshalb willkommen. Auf einen kurzen Prolog folgen acht Sätze, „in denen die Christusworte kontrastierenden irdischen Szenen gegenübergestellt werden. Dem Chor kommt dabei als Kommentator des Geschehens eine bedeutende Rolle zu. Der Schluss des Werkes ist ein überwältigender Hymnus: der Einzug ins Paradies“. Jeder der Abschnitt ist von geradezu überwältigender andachtsvoller Ausdruckskraft. Irdische Plage, Klagen und Verzweiflung, himmlische Erlösung und schließlich „Hosianna“: Eine Grand opéra für Heilssucher. Opernhaft gleich das Tenorsolo mit Chor im Prolog, den der mehrfach bei Rossini-in-Wildbad aufgetretene Artavazd Sargsyan mit dem sanften Silberklang eines typischen französischen Tenors singt. Die folgenden acht Seligpreisungen sind jeweils großdimensionierte, in der Regel viertelstündige spätromantische Tableaux mit zumeist mehreren Gesangssolisten, die als Stimme Christi, Mater dolorosa (Mutter Gottes), Satan oder eine Vielzahl weiterer Personen in Erscheinung treten, zuzüglich eines himmlischen und zweier irdischen Chöre.

Madaras breitet die üppigen Gemälde als opernhafte Andachtsbilder aus, lässt den ungarischen Chor die Aktion kräftig vorantreiben und klangvoll ausschöpfen. Ist in der Ersten Seligpreisung neben den irdischen und himmlischen Chören nur die Stimme Christi zu vernehmen, der Bariton David Bizic, so treten bereits in der Zweiten Seligpreisung sämtliche Solisten auf, die mit Ausnahme des Satans Patrick Bolleire auch in der Folge kleine „Partien“ übernehmen: die Sopranistin Anne-Catherine Gillet, die beiden Mezzosopranistinnen Héloise Mas und Ève-Maude Hubeaux, die Tenöre John Irvin und Artavazd Sargsyan, David Bizic sowie die Bässe Patrick Bolleire und Yorck Felix Speer. Man kann sich dem Reiz dieser Andachtsbilder schwer entziehen, wenngleich die verzückte Hingabe und der andächtige Text gelegentlich etwas formelhaft wirken. Aber Franck hat die Texte wunderbar dramatisch illustriert und Gergely Madaras, die Königlichen Philharmoniker von Liège sowie die Chöre und Solisten loten die leidenschaftlichen Szenen und schönen Worte aufwühlend und sinnlich aus, geschliffen im Gesamtklang, exquisit in den feinen Linien, aufbrausend und geschmeidig.

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Zur gleichen Zeit, genauer im November 2022, hat sich Sandrine Piau ins Auditorium de la Cité des Arts in Besançon gegeben, um ihr Clair-Obscur betiteltes Berg-Strauss-Zemlinsky-Album durch Reflet zu ergänzen (Alpha 1019). Zuerst sei die ingeniöse Begleitung durch das Orchestre Victor Hugo und Jean-François Verdier erwähnt, die gleich bei „Le spectre de la rose“ auffällt und die Sängerin in diesem reichhaltigen Programm sicher trägt. Man liebt die Nuits d’Été von Berlioz gesungen von üppigeren und volleren, auch farbenreicheren Stimmen, die in diesen Sommernächten schwelgen und baden und den Text von Gautier kosen. Piau findet im Frühherbst ihrer Karriere einen aufrechten Ton, wenngleich man merkt, wie sehr sie sich anstrengen muss. Auch die folgenden Lieder von Duparc, Koechlin, Ravel, Debussy und Britten gestaltet sie mit ihren Möglichkeiten ziemlich gut, vor allem gelingt ihr das glitzernde, spätromantisch angeleuchtete Changieren der Gauthier-, Baudelaire- und Verlaine-Gedichte. Besonders gelungen scheint mir das impressionistische Farbenspiel und die enge Wort-Ton-Durchdringung in den drei „Poèmes de Stéphane Mallarmé“ von Maurice Ravel. Eine Entdeckung sind die frühreifen „Quatre Chansons Françaises“, die der 14jährige Benjamin Britten seinen Eltern widmete, bevor er ins Internat nach Norfolk ging und in denen man geradezu die Kinder aus The turn of the screw sprechen hört (11.02.24). Rolf Fath

Aus dem bulgarischen Bregenz

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Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten stammend erscheint dem mitteleuropäischen Opernfreund die Aufnahme von Wagners Fliegendem Holländer von der Seebühne auf dem bulgarischen Pancharevo See mit den Kräften der Nationaloper von Sofia, die immerhin sich in den letzten Jahren  zu einem Bayreuth des Südostens entwickelt hat mit einem vorzüglichen Ring, der eine Quelle des Trostes für vom „echten“ Bayreuth wegen grässlicher Regie- und nur durchschnittlicher Sängerleistungen Geschädigte. Wenn man beim Abspielen der Videoaufzeichnung nicht weiß, ob man eher lachen oder weinen soll, dann wegen der bedauerlichen Tatsache, dass dieser Fliegende Holländer alle nur möglichen Schwächen von Opas Oper ausweist, ohne durch ihre Stärken versöhnen zu können.

Unglücklich ist erst einmal schon, dass der erste Akt mit dem nächtlich strandenden Schiff Dalands noch am helllichten Tag spielt, mit im Hintergrund auf ruhigem Gewässer dahin gleitenden Booten neugieriger Ausflügler, während die Spinnstube in nächtliches Dunkel getaucht ist. In einem Rahmen aus weißer Pappe gibt es viel Stoffgewoge, weiße Luftballons und Flitter und Glitzer, die Kostüme (Leo Kulaš)  sind teilweise geschmacklos wie die bonbonfarbene Festtagskleidung der Norwegerinnen oder die blutrote Puffmutterrobe der Senta, ehe diese in ihr Brautkleid schlüpft. Personenregie findet kaum statt, man beschränkt sich auf besonders bei den Großaufnahmen peinlich wirkende pathetische Gesten, und der deutsche Betrachter der inszenatorischen Unfähigkeit fragt sich betreten, was wohl die allerdings gutwillig nicht mit Beifall sparenden Zuschauer von deutscher Oper halten mögen (Regie Plamen Kartaloff).

Altstar Kurt Rydl, der auch einen sehr anständigen Daland singt und spielt, soll als Coach an der Einstudierung beteiligt gewesen sein, kann aber nicht verhindern, dass ein ganz absonderliches Deutsch gesungen wird. Das fällt besonders beim Erik von Kostantin Andreev auf, der eine sehr klare Diktion sein Eigen nennt, was hier zum Nachteil gerät, denn man merkt auf erschreckende Weise, dass er einen Aussprachefehler an den anderen reiht. Optisch gleicht er, je näher ihm die Kamera rückt, umso mehr einem gealterten Operettenbuffo. Mit dem Aussehen eines reifen Basses und einer Stimme, die weder jung noch lyrisch ist, entspricht Daniel Ostretsov in keiner Weise den Vorstellungen, die man von der Partie des Steuermanns hat. Optisch einen Rollentausch anraten möchte man den Darstellerinnen von Senta und Mary, denn letztere, Alexandrina Stoyanova-Andraeva, ist jung und schön und singt mit einem satten, gesunden Mezzosopran. Radostina Nikolaeva hingegen wirkt für das verträumte Mädchen allzu reif, ist eine Hochdramatische, deren Sopran in der Höhe scharf, in der Tiefe dumpf ist und die mit den Intervallsprüngen hörbar zu kämpfen hat. Einen Holländer optisch gesetzten Alters gibt Markus Marquardt, der vokal vollkommen zufriedenstellt mit kultiviertem Legato und einem Bariton, der weder in den Höhen noch in der Tiefe Ausfälle verzeichnen muss. Chor und Orchester kommen von der Sofioter Oper und künden vom beachtlichen Niveau daselbst. Allerdings könnte Dirigent Rossen Gergov manche Tempi etwas anziehen, da wirkt einiges zu breit und behäbig. Von der Szene ( Plamen Kartaloff, inspiriert von Babara Hepworth) gefallen am besten die Fischernetze, an denen sich die sonst als Spinnerinnen tätigen Mädchen zu schaffen machen. Eine reine Freude sind die Chöre, einstudiert von Violeta Dimitrova, und schön ist es zu sehen, dass der Holländer nun endlich, gen Himmel schwebend, sein Heil gefunden hat. Das versöhnt natürlich mit vielen Unzulänglichkeiten, wie es auch der Eindruck, dass man mit Eifer und Hingabe zu Werke ging, vermag (Dynamic 57991). Ingrid Wanja           

Ambitioniert

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Eine CD mit dem umfassenden und anspruchsvollen Titel Licht zu beglücken ist allemal ein Wagnis, besonders wenn einige der Tracks sich O finstre Nacht oder Nach dem Lichtverzicht nennen. Da nun einmal die Romantik die Zeit der Lieder ist und sie Abend und Nacht besonders feiert, ist der Titel Licht eher unpassend. Gleich 800 Years of German Lieder auf gut siebzig Minuten CD bewältigen zu wollen, mutet verwegen an, denn da muss man einfach einmal mir nichts dir nichts einige Jahrhunderte überspringen. Ein Booklet mit unzähligen Druckfehlern beizusteuern und zu behaupten, einige Liedtexte, so von Friedrich Rückert, der vor mehr als 150 Jahren das Zeitliche gesegnet hat, seien wegen des copyright nicht abdruckbar gewesen, ist schon eine gewisse Zumutung an den Leser, genau wie ein Ausflug  durch die Reiche aller Weltreligionen in einem so kurzen Text, welchen ein Booklet einfach nur haben kann.

Es beginnt mit zwei Beiträgen aus dem mittelalterlichen Minnesang, einem Text Oswald von Wolkensteins, zu dem eine Musik nicht nachgewiesener Herkunft gesungen wird von einem üppigen, dunklen Mezzosopran mit einer eher raunenden Begleitung. Danach singt die ebenmäßige, in allen Registern sich durch eine schöne Farbe auszeichnende Stimme Walthers von der Vogelweide Unter der linden, leider nicht in Mittelhochdeutsch und leider von dem Irrtum ausgehend, Frauenlieder seien eine „Kuriosum“ gewesen. Das trifft nicht zu, eines der ersten Lieder, Ich zoch mir einen falken, ist ein solches. Auch die „spirituelle Dimension“ bleibt eine nicht nachgewiesene Behauptung, so wie die angebliche Haft Luthers in Eisenach, mit der wohl die Zuflucht gemeint ist, die dieser auf der Wartburg fand. Dass es sich bei Bach, der nun folgt, um den „größten Komponisten der Aufklärung“ handelt, ist altes DDR-Wissen, dem die allgemein nachvollziehbare These gegenüber steht, dass mit des Komponisten Tod auch die Epoche des Barock ihr Ende fand. Das ändert nichts daran, dass zwar für die beiden Stücke des Leipzigers die Diktion eine recht verwaschene ist, dass aber die Stimme von Anna Lucia Richter klar, rein und gut konturiert, wenn auch etwas geschmäcklerisch eingesetzt, der Musik gerecht wird. In Haydns Landlust leuchtet der Mezzosopran angemessen, bei Mozarts Abendempfindung zeigt sich die Klavierbegleitung von Ammiel Bushakevitz als besonders empfindsam, für Schuberts Der Zwerg erweist sich das tiefe Register  der Sängerin als zu flach, Im Abendrot strahlt eine schöne Ruhe aus. Vielfach vertont ist Eichendorffs Frühling, die Sängerin wählte die Komposition von Fanny Mendelssohn und hat für sie einen glanzvollen Jubelton. Der Bruder steuert Neue Liebe auf einen Text von Heinrich Heine bei, überromantisch die Parodie streifend und von der Sängerin am Schluss mit schönem Pathos bedacht. In dunkler Trauer endet Schumanns Die Fensterscheibe, die Stimmung von seinem Abendlied wird konsequent durchgehalten.  Auch Johannes Brahms ist vertreten und zwar mit Sommerabend, dessen dunkle Leichtigkeit gut getroffen wird. Abgesehen vom Refrain geht der Text von Mörikes Feuerreiter in der Vertonung von Hugo Wolf leider fast gänzlich verloren, aber spätestens bei diesem Lied geht dem Hörer auch auf, dass die Sängerin nicht der Versuchung erlag, allseits bekannte Lieder auszuwählen, dass sie auch weniger Populäres anbietet. Leider gibt e keinen Richard Strauss, dafür aber gleich vier Lieder von Alban Berg, derer drei Texte des Symbolisten Albert Mombert beinhalten und deren Atmosphäre von Richter und Bushakevitz zutreffend eingefangen wird. Auch die Verhaltenheit von Eislers Und endlich stirbt wird schön vermittelt, Weills Berlin im Licht klingt recht verrucht, und zum Schluss wird mit einem gregorianischen Gesang zum Anfang zurückgekehrt (CC72965). Ingrid Wanja

Ewa Podles

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Ewa Podles  war ein Naturereignis. Stimmlich wie auch als Persönlichkeit. Raumgreifend, wunderbar, humorvoll, liebenswürdig. Stimmlich umwerfend. Ein Koloratur-Contralto mit der (3!) Oktaven, mühelosen Spitzentönen und erderschütternden tiefen Noten. Außer von Lucia Valentini-Terrani habe ich eine solche Orgie an Contra-Alt nie erlebt, bis heute nicht.

Ich hab´ sie oft gehört, bin ihr auch nachgereist, denn sie sang in den Neunzigern eben auch das Repertoire, das sich mir erstmals 1986 in Pesaro mit besagter Kollegin Valentini eröffnete: Rossini. Erstmals erlebte ich sie 1996 an der Berliner Staatsoper als Tancredi (mit und ohne lieto fine) und dann an der Deutschen Oper Berlin als absolut phänomenaler Arsace in der idiotischen Geranienproduktion der Intendantin Harms. Nicht einmal diese konnte von der fulminanten Wirkung Ewa Podles´ (und Simone Alaimos als glänzender Assur) ablenken. Was für ein  Organ. Ihr Auftritt mit wirkungsvollem Rezitativ und nachfolgender Arie rockte das Haus, da störte auch der Lidl-Einkaufswagen nicht. Aber kaum jemand wusste, dass sich Ewa Podles eine akute Rückenverletzung zugezogen hatte. Das war Professionalismus.

Ewa Podles als Tancredi an der Mailänder Scala/Foto Lelli & Masotti

Zuvor war Liége gewesen, dann Pesaro und später die Welt, dank Alberto Zedda, der sie erstmals in Warschau gehört und zu einer beneidenswerten Karriere an allen internationalen Belcanto-Zentren gebracht hatte. Ihre Auftritte waren Legenden, ob in Frankreich, Italien oder Amerika.

Nach und nach verließ sie Rossini und folgte dem eher angestammten Repertoire, das sie ja zu Hause am Wielki immer gesungen hatte, eben Verdi, Saint-Saens (ihre Dalila in Paris erntete berechtigte Lorbeeren), aber dann auch Wagner, Brahms, Mahler, sogar Haydn und vieles mehr. Dennoch denke ich, dass ihre bemerkenswerten Talente im Rossini-Fach zu finden waren und dort unerreicht bis heute sind.

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Sie hat nicht viele offizielle Aufnahmen gemacht, aber ihr Orphée von Gluck in der Viardot-Fassung bei Forlane sprengt schon den Rahmen des Konventionellen (sie hat auch die italienische Version  eingespielt), ihre Rossini-Arien-CDs und ihr Tancredi bei Forlane, Naxos und anderen sind unschätzbare Memorabilien ihrer Kunst. Ein paar reife Rossini-Video-Dokumente aus Pesaro u. a. bei Dynamic kommen dazu. Aber Sammler haben natürlich alle ihre vikelen wunderbaren Live-Auftritte (auch die Semiramide aus Berlin und Liège, wohin Zedda sie oft holte).

Ich hab´ sie viele Male getroffen, namentlich in Pesaro und Liege und zuletzt noch in Posen als Arsace im Kostüm der Abigaille (das Theater hatte zum Gastspiel ihren alten Nabucco aktiviert, sehr putzig und sie natürlich überwältigend), aber nachstehend folgt das Interview unserer ersten Begegnung 1996 anlässlich ihres Tancredi in Berlin, wo ich sie mit ihrem liebenswürdigen Dirigenten-Ehemann Jerczy Machwinsky (der kurz vor ihr 2023 gestorben war) erlebte. Was für eine kluge und reizende Frau (geb. 26. April 1952 in Warschau, † 19. Januar 2024 ebendort). Was für Erinnerungen. Danke Ewa! Geerd Heinsen

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Ewa Podles und ihr Ehemann Jerczy Marchwinsky/Foto privat

Contralto mit Hohen C: Unverstellt, engagiert, sensationell virtuos, mit reichem Pathos, zu Herzen gehend: alles Vokabeln, die sich beim Erleben der naturgewaltigen Stimme von Ewa Podles einstellen. Ihr Tancredi an der Ber­liner Staatsoper Unter den Linden im Marz (1996) war eine solche Tour de Force, verbunden mit einer das Herz rührenden Persönlichkeit auf der Bühne: Ich war gespannt, wie die Sängerin sich privat geben wurde – dies war einer der wirklich seltenen Fälle, bei denen ich mich als Musikjournalist förmlich nach einem Gespräch drängte, denn eine solche Leistung erlebt man nicht oft: Berlin stand wegen der Podles und wegen des Dirigenten Alber­to Zedda (dazu natürlich die übrigen Mitwirkenden in Rossinis Oper) absolut auf bestem Pesaro-Niveau, damals noch der Maßstab der Dinge in Sachen Rossini, auf dem Kopf.

Ewa Podles‘ Ruhm war ihr bereits vorausgeeilt. Ich selber hatte sie in Venedig als Arsace (mit der Devia) erlebt, Freunde hatten von ihrem Tancredi an der Scala berichtet, aus Frankreich kamen viele gute Nachrichten über sie, und von dort stammte nicht zuletzt die prachtvolle Naxos-CD des Tancredi (ebenfalls unter Zedda, mit Sumi Jo und Robert Swenssen), während von Forlane vorher der umwerfende französisch ge­sungene Orphee von Gluck und zwei Recitals mit Arien von Händel und rus­sischem Liedgut herausgekommen waren. Ihre CD mit Amor brujo (unter Pende- reckis Leitung) fiel mir erst später in die Hände. Alle diese Dokumente zeigten die­se aufregende Stimme mit der exzeptio­nellen Reichweite eines wahren Contra­-Alts, der mühelos das hohe C, aber auch eine geradezu „Baß“-Tiefe erreicht, der die makellos aneinander gebundenen drei Register durchmisst wie im Fluge, der vor allem eine fast altmodische Ausdrucksska­la des Bedeutsamen besitzt – eine aus der Maske und Nase kommende Ehrlichkeit der Äußerung, besonders in den Rezitativen, aber auch – wie im Falle Glucks – in der großen Arie. So müssen die großen Sängerinnen der Vergangenheit gesun­gen haben.

Ewa Podles als Orphée in Triest/Teatro Giuseppe Verdi

Gegenüber in ihrem kahlen Miet-Apartment in Berlin saß mir eine temperament­volle, attraktive Frau in den absolut be­sten Jahren, mit einem brandroten Haar­schopf, mit schönen braunen Augen, mit lebhaften Bewegungen der Hände, die sie nicht ruhig halten konnte. Sie und ihr eleganter Ehemann Jerczy Machwilsky sprechen Französisch mit jenem lie­benswerten gerollten -r-, das man von weitgereisten Polen und ihren Nachbarn kennt. Er wirkt mit seinen eleganten weißen Haaren auf mich als der Inbegriff eines Gentleman der alten Schule, ist ihr Coach und zudem selber ein bedeutender Mu­siker, Pianist, Begleiter (nicht nur seiner Frau, sondern auch anderer großer Sän­ger, so Maureen Forrester oder Rita Streich bei deren Abschiedskonzert bei Radio France 1979). Während er eher gelegentlich die eine oder andere korri­gierende oder ergänzende Bemerkung beisteuerte, schwärmten seine Frau und ich von Rossini, den sie mir bereitwillig in einzelnen Tönen oder Phrasen beim Kaffee vortrug.

Sie besaß diese phänomenale Natur­stimme schon immer, sagt sie, und die Begabung zu dunklen Stimmen liegt in der Familie. Ihre Mutter war eine außerordentliche Sängerin gewesen und verfügte ebenfalls über einen weitreichenden Contra-Alt, ihre Schwester ist ebenfalls ein runder Mezzosopran.

Contra-Alt: Die Sache bedurfte der Erklärung, denn normaler­weise kennt man echte Contra-Altistinnen kaum noch, und wenn, dann nur im Kon­zert- und Kirchenrepertoire. Falsch, sag­te Ewa Podles. Ein Contra-Alt war die wahre Stimme, für die z. B. Rossini schrieb, denn seine Frau Isabella Colbran war eine Contra-Altistin, kein Mezzoso­pran, der ohnehin erst zu Verdis Zeiten in Mode kam. Mezzosoprane sind, sagt sie, und ich nicke, meistens kurze Sopra­ne mit guter Tiefe, die in heutiger Zeit viel zu häufig aufgefordert werden, Belcanto-Partien zu singen, für die ihnen die Tiefe und vor allem die Reichweite und das Passaggio fehlen – hier kann nicht wie­dergegeben werden, über wen wir alles sprachen, die leider in diese Kategorie fallen, auch sehr hochdotierte. Contra­-Altistinnen hingegen haben in ihrem und im idealen Fall diese nahtlose Durchbil­dung der Stimme, die bis zum hohen C reicht, die im Lauf nicht die Farbe ändert, die im unteren Bereich durchaus bis in die tiefe Brust herunterreichen kann. Ich mache ihr Komplimente wegen ihres dis­kreten Gebrauchs des Brustregisters, das sie im Tancredi nur wie spielerisch an­getippt hat (wenn sie es nicht als geziel­ten Effekt einsetzte), und sie lächelt, denn sie weiß, dass das Publikum das tiefe, ausgesungene Register liebt. Es gibt eben Situationen und Partien, wo man ausgie­big in die Brust gehen muss, und es gibt andere, bei denen man sparsam damit sein soll. Die erstklassige Beherrschung der ganz hohen Lage hat natürlich auch etwas mit der gutsitzenden Tiefe der Stim­me zu tun, und es gibt Tage, an denen alles zusammenkommt, und es gibt an­dere (vor allem im Leben einer Frau), an denen man sich auf seine Technik verlas­sen muss.

Ewa Podles als Arsace am Teatre Wielki Posen/Foto Podles

Aber generell singt Ewa Podles mit großer, kräftiger und gesunder Na­turstimme und denkt nicht so viel in tech­nischen Bereichen. „Madame de Langereux“ ist das Zauberwort, hinter dem sich für sie eine wunderbare Lehrerin und ein gan­zes Programm verbergen.

Wie war denn das an der Hochschule zu Hause (früher Posen, heute War­schau)? Natürlich dachten die ersten Leh­rer, dass sie ein Sopran sei, wegen der leichten Höhe. Aber ihre Mutter und an­dere erkannten sehr schnell ihre eigentli­che Lage. Leicht war der Anfang nicht, denn zum einen war damals das Repertoire des Belcanto noch nicht erschlossen, das kam in den letzten zehn Jahren, und zum anderen wurde in Polen das konservati­ve Repertoire gepflegt, wenngleich Ehe­mann Machwilsky auf die eine oder an­dere Rossini-oder Belcanto-Aufführung im Lande hinweist.

Während Ewa Podles im Ausland weit­gehend für ihren Belcanto gefeiert wird, singt sie zu Hause am Teatr Wielki das ganze tiefe Fach, von der Marina über die Kontschakovna bis zur Dalila alles (Dalila war sie auch in der prestigerei­chen Inszenierung im alten Palais Gar­nier in Paris vor dem Umzug in die Bastil­le) – was den Zuhörer doch staunen macht, denn die Vorstellung, dass diese große, ungemein bewegliche Contra-Alt-Stimme Dalila oder Carmen singt, überrascht zwar nicht, spricht aber für ihre Kunst. Wie hat sie diese stilistische Sicher­heit erworben, mit der sie eine Adalgisa, Rosina oder den Tancredi gibt, wie die überzeugende Kenntnis der Rezitative, die sie mit Pathos und Bedeutung füllt? Sie lacht und zeigt auf ihren Kopf: „So wie die Kadenzen und Verzierungen der Partien habe ich auch den Belcanto im Kopf, wahrscheinlich aus Instinkt. Wenmich ein Dirigent nach meinen Kadenzen fragt, ob ich sie ihm auf dem Papier zei­gen könnte, sage ich nur, dass ich sie alle im Kopf habe. Das ist wohl angeboren.“ Und in der Tat variiert sie ihre Apoggiaturen und Kadenzen von Mal zu Mal, steht souverän in der Musik und im geforderten Ausdruck – was natürlich einen ähnlich kompetenten, kenntnisreichen Dirigenten erfordert, wie Zedda es ist.

Ewa Podles und Deborah Voigt in „La Gioconda“ an der Canadian Opera Toronto/Foto Sprizzo PM

Während wir uns bei einem Kaffee durch die Packung „Mon Cherie“ auf dem Couchtisch arbeiten, erlebe ich immer wieder, wie direkt, wie „unverdorben“ im Sinne einer Marketing-Promotion oder gestylten Karriere diese ungemein sympathische Sängerin ist – sie ist in der Tat so direkt, so unkompliziert wie auf der Bühne, wo sie zupackt und ganz sie selbst ist, kein Glamourgirl, keine Starallüren, sondern eine reelle, mit beiden Beinen auf dem Boden stehende Künstlerin mit einer prachtvollen Stimme. Und wann hat man das zum letzten Mal erlebt?

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(Mit großem, Dank an Wolfgang Denker für seine umfangreiche Kopier- und Archivarbeit. Foto oben Ewa Podles /privat)

Quer durch Europa und anders wohin

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Aus  voneinander weit entfernten Teilen Europas, ja der Welt stammen die Musikstücke, die das Ehepaar Magdalena Kožená/Simon Rattle auf seiner neuesten  CD vorstellt, allen gemeinsam ist, dass sie auf Melodien von Volksliedern beruhen, die CD sich also zu Recht Folk Songs nennen darf.

Es beginnt mit dem Ungarn Bela Bartok, der für seine fünf Hungarian Folk Songs die Volksliedmelodie jeweils durch die Orchestrierung in einen neuen Kontext versetzt. Im einleitenden A törnlöchen, gleich In Prison, lässt der warme, helle Mezzosopran müheloser Emission eine sanfte Klage ohne Aufbegehren vernehmen, die ungarische Sprache wird nicht allzu akzentuierend dargeboten. Eher eine kindliche als eine weibliche Stimme scheint für Old Lament eingesetzt zu werden, und schön korrespondierend mit den Instrumenten erklingt Yellow Pony. Weit gespannte, schmerzlich klingende Bögen von schmerzlicher Intensität hat die Sängerin für Complaint bereit, und für Virag’s lamps und den schillernden Refrain des Stücks liefert das Orchester eine besonders interessante Begleitung.

Für Cathy Berberian komponierte Luciano Berio 1964 Folk Songs, für die es auch eine Version für nur sieben Orchestermitglieder gibt.  Das Entstehungsjahr der Songs ist auch das ihrer Scheidung, die jedoch eine weitere künstlerische Zusammenarbeit nicht verhinderte. Black ist he Colour ist eine zarte weibliche Liebeserklärung, während I wonder as I wonder eine interessante Rollenverteilung zwischen Stimme und Orchester bereit hält. Silbrig aufblühen in schöner Reinheit kann der Mezzosopran in Loosin yelav, während die Leichtigkeit der Emission im an die Nachtigall gerichteten Lied zu bewundern ist. Aber die Sängerin und das Orchester können auch anders, wenn sie für einen derben Dialekt auch den entsprechenden Ton finden. Zurück zur Leichtigkeit und Beschwingtheit geht es mit La donna ideale, wie eine wilde Tarantella klingt Ballo, in dem besonders schöne, fein gerundete Töne zu vernehmen sind. In zärtlicher Verspieltheit scheinen Stimme und Orchester einander zu umkreisen, und spätestens jetzt beginnt der Hörer den Einsatz ganz unterschiedlicher Instrumente und damit unterschiedlicher Hörerlebnisse zu konstatieren. Ein ganz besonderes ist das der Wildheit im abschließenden Aserbaidschanischen Lied.

Es geht weiter mit fünf Chansons von Maurice Ravel, teilweise von diesem selbst, teilweise vom Schüler Manuel Rosenthal instrumentiert. Es geht um Griechisches in französischer Sprache, in der die Stimme wie eine schlanke Flamme lodert, so im La-bas, vers l’eglise, oder wo in Quel galant eine Vielzahl unterschiedlicher Empfindungen offenbart wird, während im vorletzten Beitrag ein feierlicher Klang schön durchgehalten wird im ununterbrochenen Fluss der Musik. Über einem dumpfen Schlagzeug erhebt sich hell die Stimme in Tout gai! und beendet die Gruppe der Ravel-Lieder.

Exotisch schillernd wird es mit Xavier Montsalvatge, einem Katalanen mit Beziehungen zu Kuba und den Antillen, der mit Canciones negros der schwarzen Bevölkerung eine Stimme verleiht.  letzte Song Canto negro liefert einen furiosen Abschluss seiner Tracks , von denen selbst das Wiegenlied von der Unterdrückung durch den „white devil“ oder „mandinga blanco“ spricht. Stimme und Orchester setzen sich gleichermaßen emphatisch für die Klage der schwarzen Mutter ein (Pentatone PTC 5187 07). Ingrid Wanja             

Liebeskrank

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Lovesick heißt die neue Platte des Countertenors Randall Scotting bei signum CLASSICS (SIGCD736), die im November 2020 in Los Angeles entstand. Der renommierte Lautenist Stephen Stubbs begleitet den Sänger in einem Programm, das neben barocken Kompositionen von Purcell, Blow, Dowland u. a. auch schottische, irische und englische Balladen offeriert. Es umspannt einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten, beginnend mit John Dowlands „Fortune my foe“ von 1596. Es ist eines der Stücke für Laute solo, zu denen noch Purcells Suite aus King Arthur für Barockgitarre von 1691 und „Packlington´s Pound“ eines anonymen Schöpfers für Bass-Laute von 1600 kommen. Der Solist Stephen Stubbs kann hier mit feinen Tönen und großem musikalischem Empfinden für sich einnehmen.

Die vokale Auswahl beginnt mit jenem Titel, welcher der Platte den Namen gab: „I´m sick of love“ von William Lawes (1645). Von diesem Komponisten folgen später noch „Perfect and endless circles are“ und „I rise and grieve“. Die Stimme des Countertenors ist ungewöhnlich klangvoll und resonant, vermag die empfindsamen Songs mit adäquatem Ausdruck wiederzugeben. Die meisten Stücke stammen von Henry Purcell. Es sind auch die populärsten und am häufig interpretierten: „When Orpheus sang“, „She loves and she confesses too“, „O, lead me to some peaceful gloom“ und natürlich „O solitude“. Stimmungen der Melancholie, der Traurigkeit, des Schmerzes und der Trauer werden vom Sänger berührend eingefangen. Zwei Titel stehen für John Blows reiches vokales Schaffen: „Tell me no more you love“ und „The self-banished“.

Dass die Liebeskrankheit nicht an geographische Regionen gebunden ist, beweise französische und italienische  Beispiele. Von Étienne Moulinié erklingt „Enfin la beauté“, von Pierre Guédron „Cessés mortels de soupirer“. Im ersten Stück hört man delikate Töne und feine Triller, im zweiten Momente von flehentlicher Intensität. Italienische Arien gibt es von Marc’Antonio Cesti („Intorno all’idol mio“ aus L’Orontea) und Daniele da Castrovillari („Luci belle“ aus La Cleopatra). Die Schönheit der Stimme des Counters kommt in diesen getragenen Kompositionen besonders zur Geltung.

Von den Balladen seien genannt „There’s none to soothe my soul to rest“, ein traditional Gaelic song, „At the mid hour of night“, ein traditional Irish song, die traditional Scottish ballads „Mary’s dream“ und „Black is the colour“ sowie die traditional English ballad „The three ravens“. Randall Scotting interpretiert auch diese mit starkem Engagement und stilistischer Versiertheit. Bernd Hoppe