Archiv für den Monat: März 2024

In barocker Stilistik

In der Passionszeit häufig aufgeführt werden die Matthäus-Passion und die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach; von der früher Bach zugeschriebenen Lukas-Passion nimmt man inzwischen an, dass das Werk größtenteils nicht von Bach selbst komponiert wurde. Bleibt noch eine Passion nach dem Evangelisten Markus: Nach Wikipedia wurde die Markus-Passion von J. S. Bach am Karfreitag 1731 in Leipzig uraufgeführt; außerdem erklang diese Passion in von Bach etwas überarbeiteter Fassung am Karfreitag 1744.

Obwohl die Musik verschollen ist, blieb das Libretto von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, mit dem Bach vielfach zusammengearbeitet hat, vollständig erhalten. Zur Komposition nimmt man an, dass es sich – anders als bei den beiden berühmten Passionen – wohl um eine Parodie handelte, also hatte Bach, wie er es nicht selten tat, Teile von bereits zuvor komponierten Werken wiederverwendet. Bis in die jüngste Zeit wurde versucht, andere Arien aus Bachs Kantaten zu identifizieren und ihnen die Texte der Markuspassion zu unterlegen, so z.B. auch aus der ebenfalls von Bach mehrfach aufgeführten und dabei auch bearbeiteten Hamburger Markuspassion Reinhard oder Gottfried Keisers. Wikipedia zählt zehn solcher umfassenden Versuche auf, u.a. von Tom Koopman (1999).

Nun zur Neuvertonung des Picander-Librettos durch den 1981 geborenen Schweizer Musiker Nikolaus Matthes: Die erste Gesamtneuvertonung des Textes von Picander in barocker Stilistik entstand in den Jahren 2019/2020; im März 2023 wurde die neue Markuspassion in vier Schweizer Städten uraufgeführt. Die vorliegende Aufnahme ist aus Mitschnitten der Generalprobe, der Uraufführung in Zürich und der letzten Aufführung der Konzertreihe in Luzern zusammengefügt. Dies kann man dem umfangreichen, substanzreichen Booklet entnehmen; bei Interesse sei auf die informative Website verwiesen.

Beim Hören der ca. 2 ¾ Stunden dauernden Passion ist man gleich von Beginn an erstaunt, wie sehr sich Matthes in die Kompositionsweise Bachs vertieft, ja sie sich geradezu angeeignet hat. Die Komposition enthält aber auch einige Stücke, die klanglich von Bach abweichen, wie z. B. die melancholische Sinfonia vor Jesu Grablegung. Chor und Instrumentenensemble sind extra für dieses Projekt zusammengestellt, vielfach sind es ausgewiesene Spezialisten für historische Aufführungspraxis. Auffallend ist das groß besetzte  Continuo mit Cembalo, Orgel und Laute, Fagott, Kontrafagott, Violoncelli und Violonen sowie zwei Gamben und verschiedenen Bläsern.

Über die Aufnahme gibt es insgesamt viel Positives zu berichten: So sind die Choräle von wunderbarer Ausgewogenheit und Durchhörbarkeit. Das gilt gleichermaßen im Eingangs- und Schlusschor mit den als Cantus firmus unterlegten Choral-Strophen und den teilweise hochdramatischen, kompositorisch noch zugespitzten Turba-Chören, wie z.B. die kunstvolle Fuge „Gegrüssest seyst du, der Jüden König“. Die durchweg sehr versierten Instrumentalisten musizieren unter Leitung des Komponisten selbst mit durchgehender Transparenz und unterstützt dadurch die Gesangssolisten, die alle hohes Niveau aufweisen. Da sind zunächst die beiden Tenöre Daniel Johannsen und Georg Poplutz zu nennen, die aus „aufführungspraktischen“ Gründen (Nikolaus Matthes) die Rezitative und beide Arien unter sich aufgeteilt haben. Leider ist nicht zu erkennen, wer gerade an der Reihe ist, denn die lyrischen Stimmen sind sich sehr ähnlich. Beide verfügen als allgemein anerkannte Evangelisten über prägnante Artikulation und füllen die lyrischen, teilweise tonmalerischen Passagen („fing an zu zittern und zu zagen“, „er hub an zu weinen“) ebenso überzeugend aus, wie sie die notwendige Dramatik des Passionsgeschehens zur Geltung bringen; auch die beiden Tenor-Arien weisen hohe Gesangskultur auf. Die Worte Jesu sind dem Schweizer Sänger und Chorleiter Daniel Pérez anvertraut, der sie mit hellem, markant deklamierendem, in den wenigen Tiefen nicht so sehr ausgeprägtem Bariton singt. Maya Boog gefällt in ihren beiden, gesangstechnisch anspruchsvollen Arien mit schlankem, intonationsreinem Sopran. Mit volltimbriertem Mezzo präsentiert sich Annekathrin Laabs in der dramatisch zupackenden Arie nach Judas‘ Verrat und der viel Ruhe ausstrahlenden nach Jesu Gefangennahme. Auch der ebenfalls helle Bariton von Matthias Helm passt gut zu seinen beiden Arien, die Reflektion über Jesu Schweigen vor Pilatus und wenn Petrus seine Treue zu Jesu versichert.

Insgesamt sind die „Neue Markuspassion“ und ihre gelungene Aufnahme ein hochinteressantes Unternehmen, das dem Libretto Picanders im Sinne von Johann Sebastian Bach zu neuem Leben verhilft (resonando R-10018, 3 CD).      Gerhard Eckels

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Ein Wort zu Picander: Christian Friedrich Henrici  (Abbildung oben/Wikipedia)hat seinen Ruhm nicht Bach zu verdanken, aber Bach hat ihn unsterblich gemacht. Der Gelegenheitsdichter Christian Friedrich Henrici ps. Picander (1700-1764) war Librettist von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Heute gilt er als mittelmäßiger Lyriker und Dramatiker, was jedoch außer Acht lässt, dass er in den 1830er und 1840er Jahren in Leipzig mit seinen Gedichten für Aufsehen sorgte und zu den bedeutenden Dichtern seiner Zeit zählte. Sein Name findet sich in Biographien seiner Zeit. Nicht umsonst war er ein Hofdichter. Ob sich neben Bach auch andere Komponisten an seinen Texten bedienten, ist bisher nicht erforscht. Auch eine vollständige Übersicht über seine Gedichte, Kantaten und Passionen fehlt. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Bestandsaufnahme selbst vorzunehmen und mit den ersten Zeilen der Couplets als Grundlage für weitere Forschungen zu ergänzen. Picander schrieb die Libretti für die Johannes-Passion (BWV 245), die Matthäus-Passion (BWV 244) und die Markus-Passion (BWV 247), deren Musik nicht gefunden wurde. Hier ist der Schluss einer Passion von Picander aus dem Jahr 1725 abgebildet. Es handelt sich um eine frühere Fassung der Johannes-Passion. Die Urheberschaft der Bach zugeschriebenen Lukas-Passion ist umstritten, aber ihr Text könnte ebenfalls von Picander stammen. (Quelle rodinbook)

Ausnahmestimme

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Selbst wer die Canzoni von Francesco Paolo Tosti gar nicht mag und sie als Salonmusik abqualifziert, muss die bei Tactus erschienene CD mit dessen Vertonungen von Texten Gabriele D’Annunzios mögen, denn sie werden von einer der schönsten und technisch versiertesten italienischen Bassstimmen dargeboten, die augenblicklich auf dem Opernmarkt sind. Diese gehört Michele Pertusi, der seinen Bass von einer mit Rossini und dem Belcanto vertrauten zu einer profunden Verdistimme entwickelt hat und der augenblicklich im Zenit seiner Karriere  stehen dürfte. Wem also zu einem vollkommenen Kunstgenuss nicht nur die zugegeben gefällige Musik, sondern vielleicht noch mehr die manchmal schwülstigen Texte des zudem noch wegen seiner politischen Haltung, seines Umgangs mit Frauen und seiner Hinterlassenschaft Vittoriale am westlichen Gardaseeufer hinderlich sind, kann sich davon überzeugen, dass durch die noble Art der Interpretation durch Pertusi die Stücke geradezu geadelt werden.

D’Annunzio und Tosti fühlten einander schon einmal durch die Herkunft aus den italienischen Abruzzen verbunden, auf die auch das Cover mit einer Gebirgsszene mit Hirtinnen und Ziegen hinweist. Allerdings begegneten sie einander nach den gemeinsam in einem Circolo verbrachten Jahren nur noch selten, denn Tosti lebte lange Zeit in England, hatte auch die britische Staatsbürgerschaft, was man ihm in Italien übel nahm, und D’Annunzio stürzte sich in politische und sogar militärische Abenteuer, so dass er 1916 nach langer Zusammenarbeit mit dem Komponisten zu dessen Tod nur ein Telegramm an die Witwe schickte.

Die Zusammenarbeit begann nicht mit einem Text, den D’Annunzio Tosti überließ, sondern umgekehrt mit zwei Melodien zur Auswahl, für deren eine der Komponist um einen Text des jungen Dichters bat.  Es handelt sich um die 1880 entstandene Visione!, die auch den ersten Track auf den beiden CDs ausmacht und die die Möglichkeit bietet, eine Stimme mit einem ohne Registerbruch  einheitlichen, noblen, balsamischen Timbre zu bewundern, ein tragfähiges Piano, dazu eine Maßstäbe setzende Textverständlichkeit.  Auch wird bereits hier deutlich, wie sensibel das Klavier den Intentionen des Sängers nachspürt.

Im auf die erste Zusammenarbeit von Dichter und Komponist folgenden Vierteljahrhundert entstanden 36 Musikstücke, alle bis auf das erste, bei dem auch ein Cello mitwirkte, mit reiner Klavierbegleitung. Allerdings ist die Vaterschaft D’Annunzios nicht durchweg sicher belegt, da er seine Texte nicht zu signieren pflegte.

Aus den Achtzigern stammen außer Visione! Noch der Zyklus Malinconia und einige Gelegenheitswerke wie Vuoi note o bancanote als Bezahlung für ein Abonnement oder das ironische Buon Capo d’Anno, bei dem in Pertusis Stimme der Schalk aufblitzt, während das folgende Bimbi e neve durch seine Schlichtheit besticht. Vorrei , aber auch Notte bianca erfreuen durch ein perfektes Legato und eine ebensolche Phrasierung. In Dorme la selva aus dem Zyklus Malinconia macht Pertusi  hörbar, wie ein Naturerleben, gefiltert durch Kultur, eine neue Dimension gewinnt. Nicht Sentimentalität, sondern Einfühlsamkeit zeichnet die Interpretation des Italieners aus. Das populäre `A Vucchella besticht durch Schlichtheit und Intimität, die beiden Piccoli Notturni durch sanfte Melancholie.

Es folgen die eigentlich für Mezzosopran geschriebenen Quattro Canzoni d’Amaranta, die einfühlsam dargeboten werden,

Auf der zweiten CD kann man noch einmal bewundern, wie eine an sich große Stimme allen Intentionen bei der Gestaltung der kleinen Form folgt, so bei den beiden Poemette La Sera und Consolazione. Aber sie kann auch hämmernd und stählern klingen wie in E quale casa eguaglia ne la vita.

Der Pianist Raffaele Cortesi bewährt sich nicht nur als sensibler Begleiter, sondern hat im Vorspiel zu La Sera auch die Möglichkeit, als Solist zu glänzen (Tactus TC 842090).  Ingrid Wanja       

Gipfelwerk

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Der Dirigent und Cembalist Christophe Rousset hält Lully für den bedeutendsten französischen Barockkomponisten und widmet sich seinem Oeuvre seit vielen Jahren. Jetzt legt das Label Château de VERSAILLES auf drei CDs (CVS 126) die Einspielung des Atys vor, die mit dem Dirigenten und seinem Ensemble Les Talens Lyriques im Juli 2023 in der Opéra Royal du Château de Versailles entstand. Die Tragédie mise en musique ist des Komponisten viertes von insgesamt elf Werken dieses Genres, uraufgeführt 1676 im Palast Ludwig XIV. in St Germain-en-Laye. Der Text stammt von Philippe Quinault, basierend auf Ovids Metamorphosen. Die Tragödie besteht aus einem Prolog, in dem König Ludwig XIV. als neuer Held gepriesen wird, und fünf Akten, die von der Liebe der Göttin Cybèle zu dem Jüngling Atys erzählen. Dieser verliebt sich zunächst in die Nymphe Sangaride, deren Hochzeit mit Atys´ Freund Celaenus, König von Phrygien, bevorsteht. In einer Traumszene gesteht Cybele Atys ihre Liebe, der sich aber für Sangaride entscheidet. Diese erklärt sich jedoch zur Hochzeit mit Célénus bereit, aber Atys unterbricht die Zeremonie und entschwindet mit der Braut. Aus Rache ruft Cybèle die Furie Alecton herbei, die Atys verhext,  so dass er im Wahn Sangaride für ein Ungeheuer hält und ermordet. Wieder bei Sinnen, tötet er sich selbst und wird von Cybèle in einen Pinienbaum verwandelt. Ein ausgedehntes Divertissement als Trauerklage mit Nymphen, Priestern sowie Wasser- und Waldgöttern bildet den Schluss des Werkes.

Rousset ist für die Musik in ihrer Mischung aus Rezitativen, Airs, Chören und Divertissements der denkbar beste Anwalt. Die lautmalerischen Effekte der Komposition (Echos, Naturschilderungen, Albträume) malt er effektvoll aus, die starken Emotionen des Stückes gibt er mit packender Dramatik wieder. Sein Ensemble Les Talens Lyriques und der Choeur de chambre de Namur (Einstudierung: Thibault Lenaerts) sind exquisite Partner, die seine Vorgaben mit staunenswerter Perfektion umsetzen.

Eine illustre Sängerschar führt der haute-contre Reinoud Van Mechelen in der Titelpartie an, wo er vor allem seine lyrischen Qualitäten demonstrieren kann. Glänzend auch der Bariton Philippe Estèphe als sein Freund und König Célénus. Die Sopranistin Marie Lys als Sangaride singt betörend, Gwendoline Blondeel als ihre Vertraute Doris steht ihr in Idiomatik und vokaler Schönheit nicht nach. Die zentrale Rolle der Cybèle nimmt die Mezzosopranistin Ambroisine Bré wahr und macht ihre Interpretation zum Ereignis. Hier sorgt eine singende Darstellerin für den packenden Entwurf einer Figur – dank ihrer prägnanten Deklamation, der charaktervollen Stimme und der exquisiten Ornamentik.

Die Aufnahme ist ein würdiger Nachfolger von William Christies exemplarischer Aufnahme von 1987 bei harmonia mundi france (30.03.24). Bernd Hoppe

Aus Raum und Zeit

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Dies ist vermutlich der Parsifal des 21. Jahrhunderts. So bald wird es keinen weiteren geben. Die Zeit der bedeutenden Studioaufnahmen ist vorbei. Vorbei auch die Zeiten, in denen eine der großen Firmen einen Mitschnitt mit der Sorgfalt und dem Aufwand herausbringen wird, wie es Sony jetzt nochmals machte, um den Exklusivstar im Spätsommer seiner Karriere in einer seiner besten Partien zu zeigen (Sony 4 CD). Dazu ein luxuriöses Ensemble mit Elina Garanča und Ludovic Tézier bei ihren Kundry- und Amfortas-Debüts und dem bewährten Georg Zeppenfeld als Gurnemanz.

Entstanden ist das dicke, schön bebilderte Hardcover-Buch mit je zwei CDs im vorderen und hinteren Innenteil in Zusammenarbeit mit der Wiener Staatsoper. Überhaupt scheinen, mit Ausnahme von Solti, alle großen Parsifal-Aufnahmen von Knappertsbusch über Karajan, Goodall und Barenboim bis Thielemann im Zusammenhang mit Live-Aufführungen entstanden zu sein. Oder mit einem Film. Wie vor gut 40 Jahren Armin Jordans Aufnahme, die zu den Parsifal-Erfahrungen seines Sohns Philippe gehören, der im Beiheft außerdem einen Parsifal-Bezug zu den Passionen Bachs herstellt.

Die von Philippe Jordan dirigierte Wiener Parsifal- Aufführung war eine aus Raum und Zeit gefallene Besonderheit. Eine während des zweiten Lockdowns während der Pandemie ohne Publikum nur für die ORF-Kameras stattgefundene und im Fernsehen übertragene Aufführung. Die beiden am 8. und 11. April 2021 mitgeschnittenen Aufführungen verzichten leider auf die auf dem CD-Aufkleber gepriesene „iconic production by star director Kirill Serebrennikov“. Die Inhaltsangabe, die von der Haftanstalt Monsalvat erzählt, stammt allerdings vom dem damals unter Moskauer Hausarrest stehenden Regisseur. Dafür erhalten wir eine ausgezeichnete, fast möchte man sagen ideale CD-Aufnahme. Jordans nüchterne und prosaische, möglicherweise auch den Aufführungsbedingungen geschuldete sachlich unprätentiöse Herangehensweise ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Ein bisschen business as usual. Und damit gut zu Serebrennikovs Gefängnisalltag passend.

Jordan ist ein achtsamer, unpathetischer Gestalter, der bei ruhig breiten Zeitmaßen – Sony addiert die Zeiten der einzelnen Akte nicht, sie dürften sich aber irgendwo im gewohnten 100-70-75 Minuten-Maß bewegen -, auf Text und Details achtet. Auf diese Weise geraten auch die Gurnemanz-Erzählungen, das lange „Das ist ein andres“ und „Titurel, der fromme Held“ des ersten Aktes, weitgehend spannungsvoll und fast leicht lebendig, was auch an der plastischen Textgenauigkeit von Georg Zeppenfeld liegt, der seinem festruhenden schlanken Bass viele Farben und Nuancen abgewinnt, leise, beschwörend und auffahrend sein kann. Und dessen Gurnemanz im dritten Akt so ungemein resignativ und menschlich mitfühlend ist. Jordan erklärt das Ideal, „Aber im Letzten kann der Dirigent im Parsifal nicht ausschließlich führen, sondern muss vieles geschehen lassen, um dem Werk in seiner gewaltigen Dimension gerecht zu werden“. Die Wiener Philharmoniker genießen die Freiheit und umspielen die Erzählungen so farbenreich wie man es nicht oft hört. Die naseweisen und vorwitzigen Knappen und Ritter sind auffallend gut besetzt, ebenso der Titurel (Stefan Cerny), und die Chöre klingen so machtvoll, wie man es hier erwarten darf. Mit erzener Wucht, jeder Satz ein Manifest, so greift Ludovic Tézier nach Wagner. Sein Amfortas besitzt Autorität, strotzt vor Kraft (Erbarmen! Erbarmen!) und manchmal zu viel Leidensdruck.

Garanča und Kaufmann, die im ersten Akt mehr als nur dienliche Einwürfe geliefert hatten, die lettische Mezzosopranistin dazu noch mit glühender Intensität die „Stimme aus der Höhe“ gesungen hatte, machen den zweiten Akt zum Ereignis. Garanča ist als Kundry vielgesichtig und geheimnisvoll, lyrisch wie dramatisch, sanft wie verführerisch, mit nobler, nie entgleisender Gesangslinie, betörendem Timbre, sinnlicher Mittellage und Höhe. Jonas Kaufmanns baritonal bronzener Tenor, der nur inmitten der stimmig besetzten Blumenmädchen etwas sehr reif klingt, passt ideal dazu. Zwei kostbare Singdarsteller auf der Höhe ihrer Kunst, die mit wissendem Ausdruck die Lockungen des Textes und der Musik vom zartesten Piano bis zu den langen Phrasen aufgeheizter Leidenschaft ausreizen, ohne in vordergründige Exaltiertheit zu verfallen. Das ist ein besonderer Moment. Kaufmann hängt man auch im dritten Akt an den Lippen. Der müde gesungene Klingsor des Wolfgang Koch ist der Schwachpunkt der Aufnahme (alle Fotos von der Wiener und bei Arte gezeigten Produktion/Unitel Trailer/Youtube).  Rolf Fath

Beglückende „Pausensinfonie“

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Bruckner und kein Ende in Sicht. Das Jubiläumsjahr trägt diesem Umstand anhaltend Rechnung. Konkret nähert sich auch der Sinfonien-Zyklus von Gerd Schaller und der Philharmonie Festiva seiner Vollendung. Profil Hänssler bringt als neuesten Streich die 1877er Fassung der Sinfonie Nr. 2, also gleichsam die Letztfassung dieses Werkes (PH23085). Einmal mehr handelt es sich um eine Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk. Denjenigen, welche die seit 2011 erscheinende Serie verfolgen, ist das Kloster Ebrach in Oberfranken, mittlerweile zum vertrauten Aufnahmeort geworden (Einspielung am 1. Oktober 2023). Bruckners Zweiter widmete sich Schaller in ihrer Urfassung bereits ganz zu Beginn seines Aufnahmenmarathons (PH12022). Mit 70 Minuten Spielzeit ist diese Fassung von 1872 eine Viertelstunde länger als die nun vorgelegte 55-minütige Fassung von 1877 aus letzter Hand, wobei hierzu die Nowak-Edition von 1965 zurate gezogen wurde. Im Gespräch mit Rainer Aschemeier, das im Booklet abgedruckt ist, erläutert der Dirigent profund, dass der typische „weihevoll-erhabene Charakter, das Mystische“ der Bruckner-Sinfonien eigentlich erst mit der Dritten begänne und die Werke davor noch deutlich in der Beethoven-Nachfolge stünden. Vielleicht haben auch deswegen Dirigenten wie Sergiu Celibidache, Hans Knappertsbusch und Wilhelm Furtwängler die frühen Sinfonien nie berücksichtigt. Die Zweite, die zunächst als Sinfonie Nr. 3 konzipiert war (die eigentlich an zweiter Stelle stehende sogenannte „Nullte“ widerrief der Komponist erst später), erlebte in der Erstfassung von 1872 nach einigem Problemen ihre Uraufführung durch die Wiener Philharmoniker und selbst der berüchtigte Kritiker Eduard Hanslick fand anerkennende Worte. Gleichwohl kam es danach zur Umarbeitung, die in der 1877er Fassung mündete. Schaller sieht das Werk gerade in dieser als „sehr kompakt“ und „gut durchhörbar“ an. Gleichzeitig handle es sich um ein sehr kontrastreiches Stück, das neben Beethoven auch eine „Seelenverwandtschaft mit Schubert“ aufweise. Insgesamt kann man des Dirigenten Unverständnis, wieso die Zweite nicht öfter gespielt werde, durchaus nachvollziehen. Es nimmt nicht wunder, dass die berühmten Bruckner-Dirigenten der Vergangenheit fast durch die Bank der 1877er Fassung den Vorzug gaben, ob nun in der genannten Nowak-Edition (so etwa Carlo Maria Giulini – ein besonderer Verfechter dieser Sinfonie -, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Stanislaw Skrowaczewski und Sir Georg Solti) oder in der älteren, schon 1938 vorliegenden Haas-Edition (so unter anderem Volkmar Andreae, Günter Wand, Horst Stein, Bernard Haitink und Daniel Barenboim). Fast erwartbar, legt Gerd Schaller eine bemerkenswerte Lesart vor, die seinen Ruf als einer der führenden Bruckner-Interpreten unserer Tage abermals unterstreicht. Auf einseitigen Bombast verzichtend, kommt bei Schallers wohl akzentuiertem Ansatz gerade auch der lyrische Charakter der 2. Sinfonie zum Tragen. Auch die Pausen der sogenannten „Pausensinfonie“ weiß er mit Leben zu füllen. Unterstützt von der überlegenen Leistung der Tontechniker, braucht das Ergebnis keine Vergleiche scheuen und darf zu den beglückendsten Darbietungen der jüngeren Zeit gerechnet werden. Daniel Hauser

Ausgabe oder Aufnahme?

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The Italian Tenor nannte sich die erste CD von Vittorio Grigolo und das zu Recht, denn nach den vielen Tenören aus dem spanischen Sprachraum oder neben einem Jonas Kaufmann mit baritonaler Grundierung und verschatteter Höhe nahm sich die Stimme des Aretino mit ihren strahlenden Spitzentönen und dem durch und durch tenoralen Timbre wie eine Offenbarung aus. Dazu kamen die jünglingshafte Optik und die leidenschaftliche Darstellung, die eine Identifzierung mit vielen Figuren der italienischen Opernliteratur wie selbstverständlich erscheinen ließen.

Mit den Jahren scheint ein zu skrupelloses Ausloten der sängerischen Möglichkeiten nicht ohne Folgen geblieben zu sein, wie jüngste Auftritte zeigen, was um so mehr darüber staunen lässt, dass die kürzlich auf dem Markt erschienene Sony-CD mit dem Titel Verissimo den Tenor in sehr guter Verfassung zeigt. Des Rätsels Lösung ist das Datum der Aufnahmen (!), die – 2016! – vor immerhin acht Jahren, wie das Booklet ehrlicherweise, aber kleinstgedruckt, verkündet, in einem Prager Studio entstanden und offensichtlich 2023 im italienischen Cavarzere überarbeitet wurden. Trotzdem ist der Titel des Albums Verissimo, wohl noch als eine Steigerung zu Verismo, gleich der Wahrheit verpflichtet, aber auch als Anspruch zu verstehen, man habe es mit einer grundehrlichen Aufnahme von 2023 zu tun, wie auf der Rückseite des Albums zu lesen. Oder ist dies nur das Datum der Ausgabe der CD?

Es beginnt mit „Dai campi, dai prati“ aus Boitos Mefistofele, leider viel zu selten auf der Bühne zu erleben und vom Tenor mit allen Stärken und Schwächen seine Singens ausgestattet als da sind: ein wie weich gespült klingendes Timbre, eine sentimentale, wenn nicht gar sentimentalische Interpretation voller Effekthascherei und willkürlicher Agogik, eher ein falsch verstandener Werther als ein Faust. Aber das Timbre ist schön, die Textverständlichkeit gegeben. Das Schmachtende der Darstellung passt eher zu Osakas Ständchen aus Mascagnis Iris, offeriert angedeutete Glottischläge und eine recht offene Höhe. Ein Zuviel an Sentimentalität bringt  Cielo e mar, ein geheimnisvolles Raunen, das vom Extrem Fortissmo recht abrupt abgelöst wird, insgesamt eher Brüche in der Gesangslinie aufzeigend als eine schöne musikalische Linie, mehr Schmachten als Leidenschaft. Es folgen zwei Arien des Maurizio aus Cileas Adriana Lecouvreur, die in hemmungsloser Gefühlsseligkeit den Verdacht, es handle sich um eine tragische Operette, bestärken könnten. Auch in den beiden Arien des Andrea Chénier überwiegt  zuungunsten des Heldischen, das der Figur auch innewohnt, das orgiastisch Sentimentale.

Der Abschied Turiddus von der Mutter liegt dem Tenor sehr gut in der Stimme, für den Luigi aus Il Tabarro hat er mehr Sensibilität und Sentimentalität als üblich, was auch für die Arie des Johnson aus La Fanciulla del West gilt. Sehr innig klingt „Addio, fiorito asil“ und außergewöhnlich kontrastreich, mit dem Charakter des Pinkerton eher wenig vereinbar. Das „Vesti la giubba“, in dem sich der Tenor nichts schenkt, lässt den Hörer um die schöne Stimme fürchten, und auch Calaf schreit leider bereits beim eigentlich intimen „Non piangere, Liu“ ganz Pechino zusammen. Den Abschluss bildet ein Ave Maria mit der Musik des Intermezzo von Cavalleria Rusticana mit schönem Falsettone-Schluss, aber doch recht süßlichem Charakter. Pier Giorgio Morandi entlockt dem Czech National Symphony Orchestra Klänge angemessener Italianità.

Man kann sich an einem besonders schönen Stimmmaterial in nicht durchweg geschmackvollem Einsatz erfreuen, wenn auch um den Preis, nicht einwandfrei über das Entstehen der CD informiert zu sein. Mehr noch kann man bedauern,  dass Vittorio Grigolo in den Jahren zwischen Aufnahme und dem heutigen Tage nicht pfleglicher mit seiner Stimme umgegangen ist (Sony 88875100342). Ingrid Wanja

Moniuszko und kein Ende

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Fabio Biondis unermüdlicher Einsatz für den polnischen Komponisten Moniuszko geht weiter. Seit Jahren setzt sich der Alte Musik-Spezialist im Rahmen des jährlichen Warschauer Chopin and his Europe– Festivals für den Vater der polnischen Nationaloper ein. Natürlich hat er bei dem Festival mit Aufführungen von Bellinis Norma und Capuleti e i Montecchi, Verdis Macbeth und Corsaro auch ein bisschen das musikalische Vorläufertum erkundet.

Doch seine vom Fryderyck Chopin Institute mit opulenten CD-Büchlein veröffentlichen Aufnahmen im markant roten Hardcover (1 CD NIFCCD 092) gelten selbstverständlich Moniuszko, wozu die italienische Fassung der Halka in der Übersetzung des Moniuszko-Freundes Giuseppe Achille Bonoldi gehören, der idyllische Einakter Der Flößer von 1858, die Hrabina (Die Gräfin) von 1860 sowie der Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort) von 1861. Im August 2022 kam es im Teatr Wielki zu einer Aufnahme eines Werkes, das selbst an Moniuszkos einstiger Wirkungsstätte eine Rarität darstellt: Widma, was so viel heißt wie Die Geister, eine rund einstündige Kantate für Solostimmen, gemischten Chor und Orchester, die auf einem der wichtigsten Dramen von Adam Mieckiewicz (1798-1855) basiert Dziady, der Totenfeier oder Ahnenfeier, die den „vorchristlichen (baltisch-slawischen), schon zur Zeit Mickiewiczs nicht mehr ausgeübten Brauch der Totenverehrung“ bezeichnet. Die vier Teile des Dramas erschienen in den 1820er und 30er Jahren bzw. der erste und unvollendet gebliebene Teil erst 1860. Moniuszko verwendete den zweiten Teil. In der dörflichen Allerseelen- oder Allerheiligenfeier, die mythische und religiöse Bilder und ein nationales Gefühl beschwört, treten der Priester Guślarz auf, ein Mädchen, ein alter Mann, ein Engel (gesungen von zwei Knaben), Eule und Rabe und verschiedene Stimmen/ Erscheinungen.

Inspiriert und angeregt zu dieser hybriden Mischung aus Gesang und Sprache, dramatischer Erzählung und Monodram wurde Moniuszko während seiner Ausbildung in Berlin zwischen 1837 und 1840 durch Carl Friedrich Rungenhagen, Direktor der Berliner Singakademie, der ihn vertraut machte mit den Oratorien von Bach und Händel. Beeindruckt zeigte sich Moniuszko von Mendelssohn-Bartholdys Paulus. Besonderen Einfluss hatte aber die künstlerisch ambitionierte Form der dramatischen Kante in der Art von La damnation de Faust, doch am stärksten war Moniuszko fasziniert von dem Orient-Reisenden und -Kenner Félicien David und seiner Ode-Symphonie Le désert (1844), die von Paris bis St. Petersburg und bereits im Jahr nach der Uraufführung auch in Warschau gefeiert wurde, wo Moniuszko das Werk schließlich 1870 dirigierte. Die Beschwörung der Geister und Ahnen, die in den heidnisch altslawischen Ritualen und im ländlich dörflichen Umfeld gegenwärtig sind, mischen sich in Widma mit christlichen Riten zu bildkräftigen Feiern, die schwer zu begreifen sind. Doch nach der langen Erklärung des Sprechers (der polnische Schauspiel-Star Andrzej Seweryn) gelingt es Fabio Biondi und den Europa Galante-Musikern in den drei Erscheinungen der Intrada eine sowohl notturne solenne wie ländlich feurige Atmosphäre zu erzeugen, eben den spezifischen sanft leuchtenden Moniuszko-Ton und seine national- und identitätstiftende Emphase.

Leider wird der musikalische Fluss immer wieder durch die erst ein Jahr nach dem Konzert aufgenommenen und in Ton und Lautstärke sich stark von den Sängern abhebenden Sprechern und Sprecherinnen gebremst, die sich dann aber auch teilweise wieder mit Wispern und Geräuschen, Gurren und Zwitschern hörspielmäßig gut ins Geschehen mischen; eindrucksvoll Danuta Stenka als alte Eule. Mit seinem hohen Bass, den er machtvoll in das Geschehen schleudert, gelingt es Krzysztof Baczyk das Geschehen zu bündeln und zu konzentrieren und die starke Figur des Guślarz mit seherischer Intensität auszustatten, auch wenn wir im englisch-polnischen Libretto nicht immer genau begreifen, um was es geht. Der junge polnische Bass ist auf jeden Fall eine Entdeckung.

Die Kantate besteht aus zwölf musikalisch sehr unterschiedlichen Teilen, mal geisterhaft beschwörend, dann wieder tänzerisch heiter und idyllisch, wie im Knaben-Gesang der beiden kleinen gen Himmel aufsteigenden Solo-Engel. Mit einer auftrumpfenden Arie greift Pawel Konik mit einem höhensicher geschärften Bariton als gespenstische Erscheinung ins Geschehen, schwelgend wie in einer italienischen Oper ist das von Natalia Rubis mit innigem Ausdruck gesungene junge Mädchen im Barkarole-Duettino mit Guślarz und Chor, während Paulina Boreczko und Roman Chumakin als Eule und Rabe Randgestalten bleiben. Wucht und Ausdruck prägen alle Einwürfe des Podlasie Opera and Philharmonic Choir, die damit die theatralische Qualität des 1865 uraufgeführten Werkes unterstreichen, das nach seit seiner Aufführung in Lemberg 1878 immer wieder szenisch aufgeführt wird. Rolf Fath

 

Ein Bayerischer Lortzing

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Krempelsetzer? Georg Krempelsetzer? Nie gehört! Naja, kaum gehört. Denn seine Operette Der Vetter auf Besuch (auf ein Libretto von Wilhelm Busch) gab´s zumindest ein paarmal im Rundfunk, so beim Bayerischen und auch in Ö1 in den tiefen Fünfzigern (s. nachstehend), flott gesungen im Lortzing- und Biedermeier–Stil eines Kreutzers oder Nessler und von schöner Erfindung, namentlich die Ouvertüre und das rasante Finale. Und nun gibt’s die Nachricht, dass Krempelsetzers Märchenoper Der Rothmantel von 1886 mit dem Libretto von immerhin Paul Heyse in Rosenheim Ende April aufgeführt wird.

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Der Komponist Georg Krempelsetzer/erlesene oper

Dirigent Georg Hermansdorfer und seine Organisation „erlesene oper“, seit langem für die Restaurierung unbekannter Opern bekannt und mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik geehrt, hat – nach vielen anderen Titeln, eben diese Oper ausgegraben. Spannend – finden wir und lassen den Dirigenten selbst zu Worte kommen.

 Der Rothmantel – Entstehung mit zwei Unbekannten: Georg Kremplsetzer (1827 – 1871) ist wohl ein typisches Beispiel für die Situation der Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine spezielle Ausbildung zum Opernkomponisten gab es nicht. Und Kollegen wie Giuseppe Verdi komponierten zuerst Opern – und bei Erfolg ging es auf diesem Weg weiter. Oder er endete ebenso abrupt. Konservatorien entstanden erst nach und nach (z. B.. Paris 1795, Mailand 1807, Prag 1811, Wien 1819, München 1846). Und selbst da erlernte man vor allem Kontrapunktik und sinfonische Satztechnik. Musiktheater lernte man im Alltag eines Opernhauses. Das war der Alltag. Oft in der Provinz.

Georg Kremplsetzer begann als 30-Jähriger mit dem privaten Kompositionsunterricht bei Franz Lachner. Nach sechs Jahren wurde er Kapellmeister des Gärtnerplatztheaters und erhielt den Auftrag, das Eröffnungsfestspiel zu komponieren! Eine steile Karriere! Warum ist er unbekannt? Zum einen starb er bereits mit 44 Jahren, zum anderen sind seine Werke verschollen. Dass sein Librettist und Dichter Paul Heyse (1826 – 1871) heute selbst den Münchnern unbekannt ist, liegt wohl an den Zeitläufen und am heutigen Geschmack.

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Georg Kremplsetzer – ein vergessener bayrischer Komponist. Johann Georg Kremplsetzer wurde am 20. April 1826 in Vilsbiburg als viertes Kind von zehn des ersten bayrischen Tuchfabrikanten geboren. Nur zwei Schwestern überlebten mit ihm das Kindesalter. Er lernte im Betrieb seines Vaters und ging als Volontär nach Sachsen. Dort finden sich in seinem Tagebuch zwischen technischen Anleitungen und Baumwollrechnungen Gedichte und erste Kompositionsversuche, wobei seine musikalische Ausbildung hinter dem Rücken des Vaters ohne dessen Wissen erfolgte. Er organisierte Konzerte, in denen er auch mit seiner viel gelobten Tenorstimme sang. Das Klavierspielen machte ihm jedoch wegen der schweren Handarbeit zeitlebens Probleme.

1853 gründet er eine Manufaktur in Neuötting und heiratete Luise Barbarino, die aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie stammte. Erste Kompositionen schickte er Carl Mozart, dem Sohn Mozarts, mit dem er einen regen Briefwechsel pflegte. Dieser beurteilte die Werke des jungen Autodidakten sehr wohlwollend. 1855 ließ er sich den Anteil an seinen Fabriken auszahlen und zog nach München, um bei Franz Lachner Kompositionsunterricht zu nehmen. Auch dieser attestierte ihm Talent  und Ideenreichtum. Ein Zyklus seiner „Landsknechtlieder“ (gedichtet von Franz Graf Pocci) machte ihn in weiten Kreisen bekannt. Josef Rheinberger wurde ihm ebenfalls zum geschätzten Freund und Berater.

In München wurde er Mitglied der Künstlervereinigung „Die Jungmünchner“, später der „Argonauten“, in denen er bedeutende Künstler wie Wilhelm Busch, Moritz von Schwind und viele andere kennenlernte. Er war wegen seines lebensfrohen, ehrlichen und bescheidenden Wesens sehr beliebt, was zahlreiche Balladen, Karikaturen und Festgelage zu seinen Ehren bezeugen. Wilhelm Busch lieferte ihm  auch die Textbücher zu seinen ersten Bühnenwerken: „Schuster und Schneider in der Herberge“ und „Die Kreizfarer oder Der Schutzgeist um Mitternacht“. Besonderen Erfolg hatte das Singspiel „Hänsel und Gretel“, das im Karneval 1862 für die Bevölkerung inklusive des Königshofes als Märchen-Maskenfest aufgeführt wurde. Kritiker schreiben, dass Kremplsetzers Musik an „die glücklichsten Schöpfungen Haydns“ erinnern, wobei die Werke Lortzings wohl eher sein Vorbild waren. Auch für den „Akademischen Gesangverein“, den er drei Jahre leitete, komponierte er eine Serie köstlicher Burlesken, tragikomischer Ritterstücke und Possen. Von seinen Künstlerkollegen erhielt er liebevoll den Spitznamen „Gnack“. Ganz München liebte und sang seine volkstümlichen Weisen. (Einen Artikel von Georg Hermansdorfer zu eben diesen Münchner Künstververeinigungen gibts es bei uns später./ G. H.)

Sein Einakter „Der Vetter auf Besuch“ mit dem Libretto von Wilhelm Busch wurde mit großem Erfolg am Residenztheater aufgeführt. Dieses (neben dem „Rothmantel“ und „Schuster und Schneider in der Herberge“) einzig erhalten gebliebene Opus wurde sogar in Berlin zum lang gespielten Repertoirestück, obwohl sich Busch eher abfällig über seine eigenen Libretti äußerte („… somit lege ich dann die Schnurre getrost zu den Todten und wasche meine Hände in Unschuld, so viel das überhaupt möglich ist, wann man einmal in die Sünde eines Operntextes verfallen ist.“).

Librettist und Dichter Paul Heyse/Wikipedia

Durch den Erfolg ermutigt, komponierte Kremplsetzer in sechs Wochen die große romantisch-komische Oper „Franzosen in Gotha“, die trotz Zusage des Hoftheaters nie aufgeführt wurde. Immerhin war sein Ruf nun so groß, dass er als Kapellmeister am neu gegründete „Volkstheater auf Actien“, dem heutigen Gärtnerplatztheater, eine feste Anstellung erhielt, was seine finanzielle Not wesentlich linderte.  Das beliebte Volkstheater wurde 1863 mit seinem Festspiel „Was wir wollen“ eröffnet. Bis 1868 leitete er dort Opern und Operetten (Mit Widerwillen dirigierte er Offenbach!), außerdem komponierte er zahlreiche Gesangseinlagen zu den sehr beliebten Münchnerisch-bayrischen Singspielen, nicht ohne weitere große Opern in Angriff zu nehmen: So entstand 1868 nach dem Libretto von Paul Heyse, den er im Künstlerzirkel „Die Krokodile“ kennengelernt hatte, „Der Rothmantel“, wobei ihn sein Freund Rheinberger kräftig unterstützte. Die Märchenoper wurde in München und Berlin mehrmals erfolgreich aufgeführt.

Doch die finanzielle Schieflage des Actientheaters, die 1870 im endgültigen Bankrott endete, und Intrigen zwangen ihn 1868 München und viele liebgewonnene Freunde, wie die Komponisten Josef Rheinberger, Robert von Hornstein und Max Zenger, den Maler Wilhelm von Kaulbach und den Bildhauer und Erzgießer Ferdinand von Miller. zu verlassen. Mit vielen hatte er gesellige Treffen im Haus Heyse verbracht.

Er ging nach Görlitz, Magdeburg und Königsberg, um dort Kapellmeisterstellen anzunehmen. Dort erkrankte er und kam völlig abgemagert und entkräftet durch eine schwere Lungenkrankheit zu seiner Mutter nach Vilsbiburg zurück, wo er am 8. Juni 1871 starb. In den letzten Tagen hatte er noch eine Festouvertüre für die „Heimkehr der siegreichen Truppen“ (aus dem Deutsch-Französischen Krieg) komponiert.

Er hinterließ nur seine Frau, alle Kinder waren schon früh gestorben. In Daglfing erinnert die „Kremplsetzerstraße“ und in Vilsbiburg der „Kremplsetzerweg“ an ihn. (Georg Hermansdorfer)

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Der Rothmantel – eine heitere romantische Märchenoper von Georg Krempelsetzer, Libretto von Paul Heyse. Mit Andreas Agler, Christina Gerstberg, Kayo Hashimoto, George Vincent, Orchester und Chor der „erlesenen Oper“ und Mitglieder der Ballettschule Bad Aibling; Dirigent Georg Hermansdorfer 

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Wilhelm Busch: Münchner Freunde (2. v. links Krempelsetzer)/Wikipedia

Und als Sohn der Heimatstadt Vilsbiburg  widmet ihm diese per Vilsburger Heimat-Museum auch noch eine Eloge: Georg Kremplsetzers künstlerischer Aufstieg wird von berühmten Leuten begleitet.
„Sehr freue und sehne mich nach dem Augenblick, dieselben unter meiner Clavierbegleitung von Ihnen selbst vorgetragen zu hören. Schon die Wahl des Textes, für sich allein, zeugt und offenbart die Zartheit der Gefühle, welche ich alsogleich in den ersten Augenblicken, die mir in Salzburg das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft zu Theil ward, in Ihnen erkannte.“ Um eine Auswahl Lieder geht es in diesem Brief, der am 2. Juni 1857 von Carl Thomas Mozart in Italien verfasst und „An Wohlgeb. Herrn G. Kremplsetzer, Fabrikbesitzer, Landshut“ adressiert wird. Der ältere Sohn von Wolfgang Amadeus Mozart schickt das Schreiben wohl deshalb nach Landshut, weil Kremplsetzer geschäftliche Aufenthalte dort immer wieder nutzt, bei der dortigen Liedertafel mitzuwirken. Er bringt sich selber das Notenschreiben bei und komponiert für den Landshuter Wanderverein.

Mozarts Gutbefinden scheint für Georg Kremplsetzer der letzte Anstoß zu sein, aus dem bürgerlichen Leben des kleinen Vilsbiburg auszubrechen. Für den am 20. April 1827 in dem stattlichen Anwesen vor dem Oberen Tor geborenen Sohn eines angesehenen Bürgers ist ursprünglich aber ein anderer Lebensweg bestimmt: Er steigt in die elterliche Tuchmanufaktur ein. Doch ?Frau Musica? veranlasst den Dreißigjährigen, den Webstuhl endgültig mit dem Klavierschemel zu vertauschen. Er lässt sich sein Erbe auszahlen und übersiedelt nach München, wo er bei Franz Lachner Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt nimmt. Die bayerische Haupt- und Residenzstadt ist zu dieser Zeit ein Eldorado der Maler, Musiker und Literaten. Der offenbar recht kontaktfreudige Kremplsetzer findet schnell Zugang zur legendären Künstlerszene. Sie nennen ihn „Gnack“

Den 1861 gegründeten Akademischen Gesangsverein dient Georg Kremplsetzer drei Jahre als Chormeister. Im selben Jahr vertont er einige Landsknechtslieder aus der Feder von Franz Graf von Pocci. Schon bald findet Kremplsetzer Zugang zur Künstlervereinigung Jung-München. Hier verpassen sie dem jungen Niederbayern den prägnanten Spitznamen Gnack und hier trifft er auf einen aus dem niedersächsischen Wiedensahl stammenden Maler, Zeichner und Gelegenheitsdichter. Mit Wilhelm Busch als Librettisten produziert Kremplsetzer mehrere Singspiele. Als bekanntestes Werk hat sich die Operette „Der Vetter auf Besuch“ bis in die Gegenwart herübergerettet. Bei der Premiere am 24. Oktober 1863 im Münchner Residenztheater fehlt allerdings der Textdichter. Busch ahnt wohl, dass sein Beitrag von den Theaterkritikern eher zurückhaltend aufgenommen, Kremplsetzers Komposition dagegen in den höchsten Tönen gelobt werden. Wilhelm Busch entdeckt in dem Tondichter aber auch ein Modell; 14 Karikaturen sind bekannt. Ein Teil davon zeigt Kremplsetzer als solchen („Der Compositeur am Morgen“). Daneben verwendet Busch den Typus des kleinen, dicklichen Mannes, dessen kahler Schädel ein einzelnes Haar ziert, in verschiedenen Bildergeschichten.

Gedenktafel in Kempelsetzers Heimatstadt Vilsbiburg/BNA

Kapellmeister am Actien-Volks-Theater: Als am 4. November 1865 am Münchner Gärtnerplatz eine neue Bühne eröffnet wird, überträgt man Georg Kremplsetzer die Stelle eines Kapellmeisters und Haus-Compositeurs. Natürlich stammt auch die Musik zu dem an diesem Tag aufgeführten Festspiels „Was ihr wollt“ aus seiner Feder. Kremplsetzer stürzt sich mit Elan in die neue Aufgabe und erlebt drei produktive Jahre. Dann ist das Haus finanziell ruiniert und mit ihm auch der Kapellmeister. Kremplsetzer muss sein geliebtes Künstlerbiotop verlassen und erlebt freudlose Wanderjahre in Görlitz, Magdeburg und Königsberg. Zudem macht sich eine Lungenkrankheit bemerkbar. Im Jahr 1870 kehrt er ein letztes Mal nach München zurück, um eine Festouvertüre für die siegreichen bayerischen Truppen zu komponieren. Der Tondichter darf sich zwar noch über eine Ehrengabe von König Ludwig II. freuen, erlebt aber die Aufführung der patriotischen Vertonung nicht mehr. Ganz still zieht er sich in sein Geburtshaus in Vilsbiburg zurück, wo er am 6. Juni 1871 im Alter von nur 44 Jahren stirbt.

Info: Georg Kremplsetzer gehört zu den Persönlichkeiten, die in der Sonderausstellung „Vilsbiburger im Porträt“ im Heimatmuseum gewürdigt werden. Im Ausstellungskatalog ist ein umfangreicher Beitrag zu Leben und Werk des Tondichters enthalten.   Mit Dank an das Heimatmuseum Vilsbiburg   

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Georg Hermansdorfer: Der Rothmantel – Inhalt. Eine kleine Stadt am Rhein im 17. Jahrhundert . 1. Akt  Später Abend in einer Schenke. Wie jeden Abend treffen sich die Nachbarn zum fröhlichen Umtrunk in der Schenke. Konrad steigert die Stimmung mit einem Trinklied, als Dr. Melchior, ein vermeintlicher Doktor, den Gastraum betritt. Drei gesprächige Frauen berichten Konrad, dass Meta, die Tochter von Martha Sträubler, bald verheiratet werden soll – allerdings hat jede der Tratschenden eine andere Information. Franz kommt, nachdem er von Martha vom Fenster Metas, die der verarmte Witwer liebt, vertrieben worden ist. Er ist verzweifelt. Dr. Melchior will ein Haus kaufen, allerdings gibt es außer dem Schloss, in dem es spuken soll, kein freies Gebäude. Er glaubt nicht an Gespenster und bietet demjenigen, der das „Gespenst״ vertreibt, eine hohe Belohnung. Jörg berichtet von seinen schrecklichen Erfahrungen mit dem Spuk – er geht in keinem Fall! Franz, der das Geld gut brauchen könnte und nichts zu verlieren hat, unterschreibt einen Vertrag, dass er noch in dieser Nacht den Spuk zu beenden versucht. Alle rüsten sich, um Franz zu seinem schweren Gang zu begleiten. Als er einen Abschiedsbrief an Meta schreibt, kommt diese, um verzweifelt Rat bei ihm zu suchen. Da betritt Martha, die Mutter, mit Dr. Melchior den Raum: Er ist der Auserwählte für Meta. Daraufhin weigert sich Franz, aufs Schloss zu gehen, aber der Vertrag zwingt ihn.

Georg Krempelsetzer: „Der Rothmantel“/Textbuch MDZ

2. Akt Eine Stunde vor Mitternacht im verfallenen Schloss. Die Nachbarn bringen Franz, ausgerüstet mit viel Essen und Trinken, zum Schloss. Nach einem Trinklied lassen sie ihn allein. Um Mitternacht erscheint tatsächlich das Gespenst, der Rothmantel, und rasiert Franz sowohl den Bart als auch die Haare. Durch dessen Verhalten errät Franz, dass auch das Gespenst rasiert werden will. Das ist für den Rothmantel die Erlösung: Nun findet auch er Ruhe. Franz wickelt sich in eine Decke und träumt von einer glücklichen Zukunft. Am Morgen kommen die Nachbarn, um Franz hoffentlich noch am Leben zu finden. Dr. Melchior zahlt die verabredete Summe und die Nachbarn schwören, die Bedingungen des Rothmantels (die Franz erfunden hat!) zu erfüllen. Er will ein Jahr auf Wanderschaft gehen und die Treue Metas prüfen.

3. Akt Ein Jahr später. 1. Szene: In einem Stall. Jörg arbeitet im Stall, als der Wirt ihm Aufträge für die Hochzeit erteilt, die heute Abend im Schloss stattfinden soll: Dr. Melchior heiratet Meta. Als der nun wohlhabende Franz, der just in dem Moment zurückkehrt, das erfährt, ist er erzürnt über die Untreue Metas. Diese erscheint in Männerkleidern, um in letzter Minute zu fliehen, wie es ihr Konrad geraten hatte. Als der unerkannte Franz ihr berichtet, Franz sei tot, bricht sie ohnmächtig zusammen. Beim Erwachen fallen sich beide glücklich in die Arme. Franz droht, die Hochzeit Dr. Melchiors platzen zu lassen. 2. Szene. Kurz vor Mitternacht im Schloss. Dr. Melchior gibt dem Wirt noch Anweisungen für die Hochzeitsfeier, bevor er stolz besingt, dass er nun am Ziel seiner Pläne sei. Die Freundinnen der Braut geleiten die Braut zu ihrem Bräutigam, als plötzlich Franz als Rothmantel verkleidet die Feier stört. Als Dr. Melchior ihn für diesen üblen Scherz vom Bürgermeister entfernen lassen will, berichtet Franz, dass er in Mainz einen Steckbrief des Betrügers und Heiratsschwindlers Dr. Melchior erhalten habe. Dieser wird verhaftet und die beiden Liebenden bekommen nun auch den Segen von Mutter Martha.

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Auswahl von Kompositionen für das Gärtnerplatztheater  München (UA = Uraufführung, WA = Wiederaufnahme): Was wir wollen Festspiel in einem Akt zur Eröffnung des „Volkstheaters auf Actien“          Text: Hermann Schmid ; Der Tatzlwurm oder das Glöckl vom Birkenstein  UA 06.02.1866  Volksstück mit Gesang und Tanz in 3 Aufzügen (WA 1881 + 1882 + 1894); Nur Fidel! Oder Eine Reise nach München UA 16.01.1867   Posse mit Gesang und Tanz in 6 Bildern  Text: L[udwig] Held; Almenrausch und Edelweiß UA 31.03.1867  Volksstück in 6 Bildern und Vorspiel Text: Hermann T. von Schmid;  (WA 1886/ 1891 50. Vorstellung); Die Geister des Weins UA 06.04.1867    Operette mit Tanz in einem Aufzug  Text: Aimé Wouwermans; Ein alter Praktikus UA 04.06.1867  Liederspiel in einem Aufzug [??]  Text: Otto Mylius; Das Oktoberfest unterm Dach  UA 13.10.1867 ; Komische Szene mit Gesang Text: [??] Erdmann; Das Orakel von Delphi UA 30.11.1867  Parodistische Operette in 4 Bildern [1865]    Text: Franz von Ziegler; Such! Verloren oder Die Reise nach Abenteuern UA 15.03.1868 Große Posse mit Gesang in 5 Bildern  Text: Friedrich Droll

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Dokumente: Den Vetter auf Besuch von Georg Kremplsetzer (mit dem Text von Wilhelm Busch) gab es in einer Fernsehsendung (25. 9. 1953), die live von der ‚Funk- und Fernseh-Ausstellung 1953‚ aus Hannover im NWDR Hamburg gesendet wurde. Die Mitwirkenden waren: Wilhelm, der Müller – Adolf Meyer-Bremen / Margaret, die Müllerin – Ursula Zollenkopf / Nanette, die Base – Christine Görner / Fridolin, der Vetter – Willy Langel / Ein Chor der Bauern / Das Hamburger Kammerorchester / Dirigent: Gerhard Maasz / Szenenbild: Karl-Hermann Joksch / Regie: Herbert Junkers. Das kurze Singspiel (Dauer: 40 Minuten) wurde für das Fernsehen musikalisch bearbeitet von Walter Girnatis und trug den Titel „Vetter sein dagegen sehr…“.

Zusätzlich zur TV-Sendung aus dem Jahre 1953 von Georg Kremplsetzers „Der Vetter auf Besuch“ – weitere Fernseh-Inszenierungen und  Rundfunksendungen Singspiels:  Den Rundfunksendungen liegt eine Bearbeitung von Bernd Alois Zimmermann (!) zugrunde und beide stammen aus dem Jahr 1960.; sodann „Der Vetter auf Besuch“ (Georg Kremplsetzer): Der Müller – Wilhelm Schirp / Die Müllerin – Ursula Zollenkopf / Die Base – Clementine Mayer / Der Vetter – Willi Brokmeier / Das Kleine Unterhaltungsorchester des Südwestfunks Baden-Baden / Dirigent: NN / Bearbeitung: Ludwig Kusche / TV-Regie: Karlheinz Hundorf (Sendung am 15. 11. 1961); dto.: Der Müller – Robert Titze / Die Müllerin – Elisabeth Pack / Die Base – Ruth-Margret Pütz / Der Vetter – Willy Langel / Das Rundfunkorchester Hannover des Norddeutschen Rundfunks / Dirigent: Willy Steiner / Der Erzähler ist Klaus Schwarzkopf. Eine Rundfunk-Aufnahme des NDR (Niedersächsisches Landesstudio Hannover).; dto.: Der Müller – Andreas Camillo Agrelli / Die Müllerin – Hetty Plümacher / Die Base – Edith Mathis / Der Vetter – Karl Wolters / Das Berner Stadtorchester / Dirigent Luc Balmer. Eine Aufnahme von Radio Beromünster. (Dank an unseren Leser Carl Meffert).

Die österreichische Radio-Aufnahme von 1959 stammt aus Innsbruck und wurde in diesem Jahrhundert wiederholt ausgestrahlt. Es wirkte das Innsbrucker Städtische Orchester, Dirigent war Walter Hindelang, dazu  Mitglieder des Chores des Tiroler Landestheaters sowie als Solisten Dagmar Hartel (Die Müllerin) Edith Boewer (Prosa), Eva Ortbauer (Nanette) Christl Lorenz (Prosa), Richard Itzinger (Der Müller) Axel, Corti Prosa u.a.; aufgefunden und für den Funk eingerichtet von Hans Hömberg. Sendedaten: 26. Dezember 1959 (Dank an Tina Tengel ). G. H.

 

Warum?

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Kaum ein rennomierter Sopran, der nicht die Mimi und kaum ein berühmter Tenor, der nicht den Rodolfo sang, selbst der Belcanto-Purist Alfredo Kraus bekannte sich zu dieser nie wiederholten Jugendsünde, und Monteserrat Caballé legte sich noch als würdige Matrone auf das Sterbebett der Grisette. Da  bedarf es schon einigen Mutes, noch eine Gesamtaufnahme von Puccinis La Bohème und dazu noch aus dem italienfernen Dublin von der dortigen Irish National Opera auf den Markt zu bringen.

Es ist auch das Liebespaar, das den Zuhörer mit zunehmendem Befremden an seinem traurigen Schicksal teilnehmen lässt, nicht weil es über hässliche, schlecht ausgebildete Stimmen verfügen würde, sondern weil diese, in beiden Fällen angenehm und technisch versiert, einfach zu leicht für Puccini sind, was wiederum zur Folge hat, das das Orchester streckenweise allzu verhalten, Puccini gemäße Üppigkeit vermissen lassende Vorsicht walten lassen muss. So stehen eine zaghafte, vorsichtige Begleitung und ein unverhofftes üppiges Aufblühen  ziemlich unverbunden neben-, nein, nacheinander, Spannungsreiches wechselt ab mit schüchtern Zurückhaltendem, auch im ersten Akt ein teilweise langsames, im zweiten Akt ein teilweise sehr flottes Tempo. Auf keinen Fall kann man dem Dirigenten Sergio Alapont vorwerfen, er nehme keine Rücksicht auf die Solisten.

Das geschieht ganz besonders auch bei der Begleitung zu „Mi chiamono Mimi“, wo Celine Byrne eine zarte Sopranstimme mit blassen Farben vernehmen lässt, ein helles, eher kindliches Timbre, das in der Höhe eher spitzig als aufblühend klingt, zwar berührend in seiner Fragilität, aber halt nicht einer Puccinistimme angemessen ist. Viele Phrasen werden schön ausgesungen, im 3. Akt ist die Stimme von schmerzlicher Innigkeit, aber insgesamt doch eher einem leichteren Fach zuzuordnen. Das gilt auch für den Rodolfo von Merunas Vitulskis, einem lyrischen Tenor mit dünner, blässlicher, wenn auch sicherer Höhe, der die Arie im ersten Akt empfindsam interpretiert, für deren zweiten Teil ein zartes Aufblühen zur Verfügung hat, im dritten Akt Phrasen von schöner Melancholie singt und sich zum Schluss des ersten Akts eines allerdings nicht von Puccini komponierten hohen Tons rühmen kann. Da geht die Partnerin natürlich hoffnungslos unter. Im Duett mit dem Bariton im vierten Akt klingt die Stimme wenig italienisch im Unterschied von der des Marcello, gesungen von David Bizic, der über eine markante und farbige, dazu geschmeidige Stimme verfügt. Elegant und verführerisch singt Anna Devin die Musetta des zweiten Akts, eher geziert als innig klingt ihr Gebet im vierten Akt. John Molloy kann mit Collines Mantellied eher angenehm auffallen als Ben McAteer mit der Schilderung des Papageienmordes. Schrecklich chargierend gibt sich Eddie Wade als Benoit, angenehmer als Alcindoro. Angemessen durchdringend ist die Stimme von Fearghal Curtis, der den Parpignol singt. Elaine Kelly gebührt ein Sonderlob für das Zusammenhalten des Chors im 2. Akt. Alles in allem ist das eher eine Aufnahme von lokaler als von internationaler Bedeutung (Signum Classics SIGCD702). Ingrid Wanja

Sinfonisches

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Von Ottorino Respighi hört man häufig seine sinfonischen Dichtungen aus Italiens Metropole oder auch seine Antiche danze ed arie. Seltener aufgeführte Werke des eher konservativen Komponisten hat das Sinfonieorchester Wuppertal schon 2000 unter seinem damaligen Chefdirigenten George Hanson eingespielt. Im Zentrum steht neben der Rossiana das 1930 entstandene Metamorphoseon modi XII, bestehend aus Thema mit zwölf Variationen. In diesem Auftragswerk zum 50-jährigen Jubiläum des Boston Symphony Orchestra wollte Resphighi die liturgische Schlichtheit der Gregorianik zu orchestraler Klangfülle ausweiten, was ihm mit gekonnter, abwechslungsreicher Instrumentation gelang. Die zwölf Variationen in allen zwölf Kirchentonarten geben unterschiedlichen Instrumentalsolisten und –gruppen des Orchesters reichlich Gelegenheit, ihr Können zu beweisen. Die in allen Gruppen ausgezeichneten Wuppertaler Sinfoniker zeigen mit gut beherrschter Virtuosität hohes Niveau. Die freundliche, 1925 in Hamburg uraufgeführte Orchestersuite Rossiniana huldigt dem berühmten Komponisten-Vorgänger in vier Sätzen: Nach Capri e Taormina – Barcarola e Siciliana folgen ein längeres Lamento und ein Intermezzo, die zu der abschließenden, flott servierten Tarantella führen. Auch in dieser freundlichen Suite zeigt sich die Qualität des Sinfonieorchesters Wuppertal, für die sicher auch der langjährige Chefdirigent George Hanson mit verantwortlich war. Als Ersteinspielung erklingt außerdem die Burlesca per Orchestra von 1906, mit der sich Respighi allmählich durch impressionistische Anklänge von seinen großen Vorbildern Rimski-Korsakow und Richard Strauss löste. Darüber hinaus enthält die CD die im Auftrag von Arturo Toscanini 1930 entstandene orchestrale Bearbeitung der Passacaglia d-Moll von Johann Sebastian Bach. Insgesamt gibt die gelungene Einspielung Einblicke in das sinfonische Schaffen Respighis mit seiner überaus vielseitigen Instrumentationskunst (MDG 102 2299-6). Gerhard Eckels

Solide Höllenfahrt

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Gerade mal fünf Jahre ist es her, dass zum Jubiläumsjahr 2019 eine Fülle von Aufnahmen der Werke von Héctor Berlioz „ausgegraben“ wurde und erschien. Nun haben das London Philharmonic Orchestra & Choir mit dem Mitschnitt einer Aufführung in der Southbank Centre’s Royal Festival Hall im Februar 2023 eine grundsolide Aufnahme der Oper La damnation de Faust vorgelegt. Das Werk ist bekanntlich eine Mischung aus Chor-Sinfonie, Oratorium und Oper, sodass man auf eine Szenerie getrost verzichten kann.

Schon beim ersten Hören fällt die hohe Qualität des London Philharmonic Choir auf (Einstudierung: Neville Creed). Er löst seine vielfältigen Aufgaben mit perfekter Ausgewogenheit, besonders im Schlusschor sowie in den Herrenchören wie dem Chor der Trinker und den Chören der Soldaten und der Studenten. Im Osterchor zeichnen ihn Jubeltöne aus, während Fausts Traum im 2. Teil gibt es ausgesprochen sanfte Tongebung und gewaltige Wildheit im Choeur de damnés et de demons. Der US-amerikanische Tenor John Irvin lässt als Faust wie selbstverständlich höhensichere, heldische Töne hören, hat aber auch schöne lyrische Passagen vorzuweisen, wie z.B. im 3.Teil in der Arie Merci, doux crépuscule und im großen Solo, bevor es in die Hölle geht. Sehr flexibel führt der englische Bariton Christopher Purves seinen markant charakterisierenden Bariton durch die Partie des Mephistopheles, wobei die Höhen manchmal verengt klingen. Auffällig ist die ruhige, lyrische Stimmführung, wenn er Faust in den Schlaf versetzt, in dem ihm dann Marguerite erscheint, und die glanzvolle Virtuosität der Sérénade. Voll timbriert und durchschlagskräftig ist der Mezzosopran von Karen Cargill; obwohl die Schottin ihre Stimme nicht durchweg abgerundet zu führen weiß, gefällt sie mit Marguerites träumerisch verhalten interpretierten Chanson gothique Le roi de Thulé und der Romance zu Beginn des 4.Teils. Jonathan Lemalu ergänzt sicher als Brander mit bassgrundiertem Timbre seines Baritons.

Das London Philharmonic Orchestre unter seinem souveränen Chefdirigent Edward Gardner zeigt hohes Niveau in allen Gruppen, wenn es die bei Berlioz häufigen Farbwechsel in immer wieder faszinierender Instrumentierung erklingen lässt, wie im effektvollen marche hongroise und in der rasanten Höllenfahrt  (LPO-0128, 2 CDs). Gerhard Eckels

In langer Reihe

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Die mythische Figur der Médée stand im Zentrum der Barocktage 2023 an der Berliner Staatsoper. Nach der Version von Luigi Cherubini gab es ebenfalls die von Marc-Antoin Charpentier (wie berichtet).  Nun erscheint bei ALPHA-CLASSSICS (1020) eine Einspielung dieser Oper:  Médée –  Tragédie en musique von 1693,  auf drei CDs mit vorzüglicher Ausstattung, aufgenommen im März 2023,   eine Koproduktion mit dem Centre de musique baroque de Versailles. Die hochrangig besetzte Einspielung wird geadelt vom Ensemble Le Concert Spirituel unter Hervé Niquet, das wieder einen ganz individuellen Klang hören lässt und hier eine seiner besten Aufnahmen vorlegt – theatralisch, geschärft, aber auch elegant und maßvoll. Mitreißend in ihrem Schwung und der rhythmischen Verve sind die vielen orchestralen Zwischenspiele/Tänze wie Loure, Canaries, Menuet en Rondeau, Passepied, Ritournelle, Fanfare, Sarabande, Passacaille und Chaconne.

Die Oper wird dominiert von der Titelrolle. Nach Jill Feldman bei harmonia mundi 1984 und Lorraine Hunt bei Erato 1995 ist Véronique Gens in unserer Zeit die erste Wahl. Sie übertrifft ihre Vorgängerinnen durch Noblesse, Würde, die dramatische Kraft und den existentiellen Ausnahmezustand im Ausdruck. Auch das übrige Ensemble ist von außerordentlichem Niveau – Cyrille Dubois als Jasón mit Facetten der Falschheit, Schäbigkeit, aber auch Zärtlichkeit, Judith van Wanroij als verletzliche Creusa, Hèléne Carpentier als eindringliche Nérine und Thomas Dolié als markanter Créon mit imposanter Stimmfülle (20. 03. 24). Bernd Hoppe 

Valerie Eickhoff im Gespräch

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Die junge Mezzosopranistin Valerie Eickhoff hätte es sich für ihr CD-Debüt auch einfacher machen können. Doch warum mit schönen Bravourstücken brillieren, wenn es jenseits der Komfortzone auch „brennendere“ Themen gibt. In heutigen kriegstrunkenen Tagen sind die Exil-Texte von Bertolt Brecht und die von Hanns Eisler dazu komponierte Musik für das „Hollywood Songbook“ ein aufwühlendes Statement.

Zusammen mit dem Pianisten Eric Schneider hat sich Valerie Eickhoff diesem Repertoire angenommen, das er während seines amerikanischen Exils verfasste. Hier fand er Zuflucht vor den Nazis und dem Zweiten Weltkrieg, doch auch in den USA war Eisler wegen seiner Kapitalismuskritik nicht gut gelitten. Die Distanz zum weltkriegsgebeutelten Europa mag für den Komponisten fruchtbar gewesen sein, um die Botschaft von Brechts Texten durch die Musik noch eindringlicher zu bündeln.

Das hochmotivierte Duo beweist auf dieser Aufnahme ein tiefes intuitives Verständnis von Texten und der Musik. Valerie Eickhoff mit ihrem Mezzosopran und Eric Schneider als kraftvoll akzentuierender Klavierspieler machen in den insgesamt 48 Einzelstücken dieses CD-Programms hörbar gemeinsame Sache.

Der komplexe Kompositionsstil des Schönberg-Schülers mit seinen kantigen Intervalle und schroffen Tonlagenwechseln, Anflügen von Dodekafonie und Jazz-Elementen ist für die junge Mezzosopranistin Herausforderung genug, welcher sie sich, was hörbar ist, vorbehaltlos annimmt. Flexibel navigiert Valerie Eickhoffs Stimme durch die Registerwechsel und Intervallsprünge, was die Höhen mit expressionistischem Drängen auflädt, während in der Mittellage Momente von eine aufrichtig empfindender Lyrik imemr wieder tief berühren. Auch Eric Schneider hat sich tief in die Sache eingehört, um auf dem Flügel mächtige Klangräume bereitzustellen und der Dramatik genug dynamische Kraft zu geben. Es ist ein Kosmos, in dem neben aller verstörenden Wucht auch viel musikalische Schönheit und menschliche Innigkeit lebt. Eisler wusste bei aller Modernität auch immer, effektvoll und un-akademisch die Töne zu setzen – und nie einen zu viel davon. Immer wieder überraschende Wendungen stehen für das ständig lauernde Doppelbödige, was auch nicht selte ins Bodenlose fallen lässt.

Niemals geriet Hanns Eisler in Versuchung, Brechts lakonische Worte durch Musik zu verwässern oder zu romantisieren. Tief berührende emotionale Momentaufnahmen wie im Stück „Der Sohn“ fächern eine breite Palette von Emotionen auf, die von unschuldiger Liebe bis hin zu Verzweiflung und Bitterkeit reicht. Kindliche Lyrik schwingt in Valerie Eickhoffs Stimme, etwa in der Liebeserklärung „An den kleinen Radioapparat“, aus dem im nächsten Moment wieder das Gebrüll der Kriegspropaganda scheppert. „Auf der Flucht“ suggeriert durch ruhelos pochende Klaviertöne ein auswegloses Drängen. Zwei Inschriften-Tafeln inspirierten expressive Miniaturen über die anonymen Gefallenen im Krieg. „Über den Selbstmord“ beginnt wie eine zärtliche Elegie, bevor das finale Wort, in dreifachem Fortissimo von Stimme und Klavier herausgeschleudert, die Brutalität eines solchen Aktes hervorhebt.

Die Hollywood-Elegien markieren eine kleine Welt für sich im „Hollywood-Songbook“. Hier geht es spürbar metaphorischer zur Sache. Die „Anakreontischen Fragmente“ sorgen für zusätzlichen Reiz dadurch, dass Valerie Eickhoffs Gesang hier auch mal auf englisch und französisch zu erleben ist. Das finale Stück mit dem Titel „Sturmesnacht“ ist anders als alles, was vorher war: Jetzt nimmt die Mezzosopranistin den Druck und die Spannung weitgehend heraus, dass es fast wie ein schlichter Choral anmutet. Brecht wagt hier einen im wortwörtlichen Sinne entwaffnenden Ausblick: Die Menschen werden es vielleicht schaffen, die ganzen Hitlers der Weltgeschichte zu überwinden. Aber sie müssen sich bemühen. Tun sie das?

Eine ironische Randnote im Zusammenhang mit der Aufnahme dieser bedeutenden Musik hätte vielleicht Bertolt Brecht zu einem weiteren Text inspiriert: Valerie Eickhoff und Eric Schneider mussten sich mit der Aufnahme dieses Stücke-Marathons beeilen. Denn das Rosbaud-Studio des SWR, ein musikhistorisch bedeutsamer, akustisch exquisiter und allemal würdiger Ort für so ein Unterfangen, wurde kurz danach abgerissen (Ars152096548;.). Stefan Pieper

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Anlässlich der neuen CD führte Stefan Pieper auch ein Gespräch mit der Sängerin: Diese zeitlose Botschaft lässt mich über die Gegenwart nachdenken“ Die Mezzosopanistin Valerie Eickhoff, im Jahr 1996 in Herdecke geboren und aktuell als Gast an der Düsseldorfer Oper am Rhein engagiert und längst international gefragt, hat sich mit bemerkenswerter Konsequenz auch dem Liedfach angenommen. Jetzt gerade hat sie zusammen mit dem Pianisten Eric Schneider ihre Debut-CD vorgelegt – Hanns Eislers Zyklus „Hollywood-Songbook“ nach Texten von Bertolt Brecht ist in aktueller Zeit ein erschütterndes, pazifistisches Statement. Was sie antreibt und bewegt und wo sie in ihrer jungen Karriere noch alles hin will, erläuterte sie im Gespräch mit Stefan Pieper für opera lounge. Am 28. März gibt es ein CD-Präsentationskonzert im Pianosalon Cristophori. 

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Sie sind gerade erst aus Hongkong zurückgekehrt. Was haben Sie erlebt? In Hongkong debütierte ich in der Rolle der Dryade bei einem Gastspiel der Bayerischen Staatsoper. Es war meine erste Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsoper. Wir haben „Ariadne auf Naxos“ aufgeführt, es war großartig neben etablierten Größen der Opernwelt, auf der Bühne zu stehen. Kurz zuvor feierte ich mein Konzert Debüt in Italien mit Liedern von Gustav Mahler. Wir haben drei Konzerte in Florenz, Livorno und Pisa unter der Leitung von Emmanuel Tjeknavorian. Die Atmosphäre in Hongkong war einzigartig. Auch die Toskana bot eine wunderschöne Kulisse für die Konzerte – und das Publikum war von den Liedern begeistert.

Wie fühlen Sie sich jetzt, wo Ihre Debüt-CD veröffentlicht ist? Diese Veröffentlichung ist ein aufregender Moment für mich. Ich bin sehr dankbar, dass dieses Album ab sofort erhältlich ist. Es war eine intensive und lohnende Erfahrung, diese Lieder aufzunehmen und ich hoffe, dass sie den Hörern genauso viel Freude bereiten werden, wie sie mir beim Aufnehmen gemacht haben.

Wie kam es dazu, dass Sie sich für das Hollywood-Songbook von Hanns Eisler entschieden haben? Es fühlte sich einfach von Anfang an richtig an. Die Texte und die Themen, die da behandelt werden, könnten aktueller gar nicht sein und berühren mich sehr. So traurig das ist. Es ist wichtig, dass solche Botschaften gehört und verstanden werden, auch wenn sie oft erschütternd sind. Die Musik von Eisler und das Hollywood-Songbook transportieren so etwas auf eine raffinierte Art und Weise. Das ist einfach es wert, entdeckt zu werden.

Wollen Sie bewusst aus einer gewissen Komfortzone raus mit diesem Debut? Ich habe mir gedacht, warum soll ich jetzt eine weitere von ganz vielen Best-of-Mezzo-Sopran-Arien-CDs als Debüt-Aufnahme herausbringen, wenn es so etwas doch schon von so vielen Leuten gibt. Also mache ich doch lieber etwas, was es noch nicht gibt und was auch zeitgeschichtlich gerade sehr relevant ist. Hinzu kommt, dass es meine Erachtens noch keine Komplettaufnahme dieser Werke von einer Frau bislang gegeben hat.

Wo sind Sie dieser Musik zum ersten Mal begegnet und wie ging es dann weiter? Das erste Mal bin ich mit Eisler in Berührung gekommen, als ich für das Robert-Schumann-Fest in Düsseldorf einen Liederabend gestalten sollte. Der Veranstalter schlug vor, einige Lieder aus dem Hollywood-Songbook mit einzubeziehen. Daraufhin habe ich den Pianisten Eric Schneider gefragt, der bereits eine CD mit Eisler-Liedern aufgenommen hatte, und wir haben uns gemeinsam mit dem Repertoire auseinandergesetzt. Obwohl diese Lieder ganz anders als Schubert oder Schumann sind, passten sie gut zu mir und meiner künstlerischen Ausrichtung. Wir haben zunächst einen Teil des Hollywood-Songbooks aufgenommen und dann beschlossen, das gesamte Album einzuspielen. Insgesamt haben wir fünf Tage für die Aufnahmen gebraucht, aufgeteilt in zwei Blöcke. Der erste Block fand im Februar 2023 statt, der zweite im August. Dazwischen war ich im Juni oder Juli nochmal in Berlin, um den zweiten Teil vorzubereiten und dort zu proben.

Was machen die Lieder aus dem Hollywood-Songbook mit Ihnen? Beim ersten Hören denkt man vielleicht nur, dass es schöne Lieder sind. Aber wenn man genauer hinhört, erkennt man, worum es wirklich geht und welche Botschaften transportiert werden. Oft erlebt man dann einen bestürzenden Aha-Moment. Sozusagen als Bonustrack zum Hollywood-Songbook habe ich Eislers Lied „In Sturmesnacht“ hinzugefügt, da es mir wegen seiner klaren Aussage sehr am Herzen liegt: Wenn wir alle zusammenhalten, sind wir stärker als autoritäre Regime wie Hitler oder vielleicht auch in der heutigen Zeit Putin. Diese zeitlose Botschaft berührt mich sehr und lässt mich über die Gegenwart nachdenken.

Können Sie ein paar Herausforderungen beim Singen bestimmter Lieder beschreiben? Ich kann mir vorstellen, Eislers Kompositionsstil ist fürs Singen etwas gewöhnungsbedürftig. Ein Stück, das mir sofort in den Sinn kommt, ist „Später Triumph“. Beim Singen fühlt es sich zunächst unangenehm und sperrig an, aber genau das war wohl die Absicht des Komponisten. Der Text verstärkt dieses Unbehagen. Aber genau darum geht es: Eine eindringliche Bildkraft zu transportieren, die jeder empfindet, der das Stück hört.

Wie sind Sie auf das Label Ars gekommen und wie war die Erfahrung damit? Ich hatte vor circa zwei Jahren Kontakt mit Frau Schumacher vom Label Ars, nach dem ARD-Wettbewerb. Damals hatten wir bereits überlegt, gemeinsam ein Projekt zu realisieren, aber zu dieser Zeit war alles noch recht vage und ich hatte kein klares Ziel vor Augen. Als wir dann mit der Idee für diese Debüt-CD kamen, habe ich Frau Schumacher erneut kontaktiert und sie war sofort begeistert dabei. Ihr Engagement und ihr Interesse an interessantem Repertoire sind wirklich bemerkenswert und ich bin froh, dass wir mit Ars zusammengearbeitet haben.

Wie meistern Sie eine so große Bandbreite zwischen Ihren Opernrollen und einer derart ambitionierten Liedproduktion wie „Hollywood-Songbook“? Es ist für mich eine faszinierende Verschmelzung zweier Welten. Mein Gesangslehrer Konrad Jarnot hat mir immer geraten, auch das Liedrepertoire zu pflegen, und das habe ich beherzigt. Neben meiner Arbeit mit Orchestern und in der Oper ist das Lied für mich eine wichtige Facette meines Gesangs. Es erlaubt mir, meine Stimme auf eine andere Art zu nutzen und verschiedene Nuancen auszudrücken. Etwas erschwerend kommt hinzu, dass im Liedfach der Markt relativ eng ist und es weniger Möglichkeiten gibt. Umso dankbarer bin ich für jede Gelegenheit, die sich auftut. Ein aktuelles Beispiel ist meine Aufführung von Mahlers „Des Knaben Wunderhorn“ in Italien. Solche Projekte sind Balsam für die Seele. Ich liebe auch die Musik von Korngold sehr. Ebenso finde ich Mischformen aus Lied und Arie, wie zum Beispiel Respighis „Tramonto“, finde ich reizvoll. Ich habe dieses circa 15-minütige Werk bereits mit dem Adelphi Streichquartett aufgeführt. Bald folgt eine Version mit einem Streich-Orchester in Zusammenarbeit mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester

Sehen Sie in solchen Liedprojekten einen eigenen künstlerischen Freiraum jenseits des Opernbetriebes? Ja, ich sehe in solchen Liedprojekten definitiv einen eigenen künstlerischen Freiraum. Auf der Opernbühne verkörpert man eine Rolle, die oft von Regisseur:innen und Dirigent:innen vorgegeben wird. Im Liedbereich hingegen kann ich selbst entscheiden und meine eigene Interpretation in den Vordergrund stellen. Das ist eine kreative Freiheit, die mir sehr wichtig ist. Natürlich gibt es auch hier einen Duo-Partner, aber letztendlich können wir zusammen eine Interpretation selbst gestalten und ausleben.

Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf für Ihre Zukunft als Künstlerin? Ich möchte immer offen für neue Erfahrungen bleiben, denn Neugier ist für das künstlerische Schaffen am wichtigsten. Ich würde gerne an renommierten Opernhäusern wie der La Scala, der Metropolitan Opera in New York und der Wiener Staatsoper auftreten. Auch Konzertorte wie die Carnegie Hall oder die Wigmore Hall stehen auf meiner Liste. Mein Ziel ist es, mit bedeutenden Dirigenten und Dirigentinnen zusammenzuarbeiten und Liederabende in renommierten Konzertsälen zu geben. Seit meinem Engagement in Kopenhagen 2022 habe ich gemerkt, dass mich das Reisen und die Zusammenarbeit mit inspirierenden Menschen glücklich macht. Ich schätze den sozialen Aspekt meines Berufs sehr, da ich ständig neue Menschen kennenlerne und mich dadurch als Künstlerin weiterentwickeln kann. Persönliche Erfahrungen spielen eine entscheidende Rolle beim Erzählen von Geschichten. Es ist schwierig, authentisch und einfühlsam zu sein, wenn man nicht selbst etwas erlebt hat.

Sie haben neben vielen anderen Wettbewerben, ja auch den ARD-Wettbewerb erfolgreich absolviert. Was für Möglichkeiten und Wege hat er Ihnen eröffnet? Ich frage deswegen, weil dieser Wettbewerb ja von massiven finanziellen Einsparplänen bedroht ist. Ja, ich habe kürzlich mit einer Vertreterin des Wettbewerbs gesprochen und erfahren, dass die Zukunft des Wettbewerbs unsicher ist. Vor allem dieser Wettbewerb ist meines Erachtens extrem wichtig für die Sichtbarkeit und Vernetzung junger Musikerinnen und Musiker. Für meine bisherige Entwicklung waren auch noch andere Wettbewerbe von Bedeutung – zum Beispiel „Neue Stimmen“ sowie der Concours musical international de Montréal, Kanada. Dort durfte ich wieder einmal die Erfahrung genießen, in einer schönen Halle mit einem Orchester zu singen. Solche wertvollen Erfahrungen bereichern immer wieder das Leben.

Was steht als nächstes an? Ich stehe vor meinem Rollen Debüt als Angelina in „La Cenerentola“ in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein. Direkt danach habe ich ein Konzert in Mannheim mit dem SWR, bei dem wir die Wesendonck-Lieder mit Kammerorchester und „Il Tramonto“ von Respighi aufführen werden. Ganz besonders freue ich mich auf mein CD-Präsentationskonzert am 28. März im Piano-Salon Christophori in Berlin. Das ist eine großartige Gelegenheit, die Lieder live zu präsentieren und mit dem Publikum zu teilen. Ich hoffe, dass viele Freunde und Interessierte dabei sein können. Im Mai gebe ich mein Konzertdebüt in Spanien. Zusammen mit dem Pianisten Hartmut Höll werde ich am 21. Mai einen Liederabend in Barcelona bei Life Victoria geben (alle Photos Valerie Eickhoff).

Endlich

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Der einzige Makel dieser beglückenden Aufnahme oder, um im Bilde zu bleiben, der einzige Schatten, der auf sie fällt, ist der Titel, den man sich bei Erato für die neue Arien-CD von Michael Spyres hat einfallen lassen: In the Shadows, dazu ein grauschwarzes Cover, auf dem Spyres mit starr nach oben gerichtetem Blick wie zur Geisterbeschwörung aufruft (Erato 5054197879821).

Es geht schlichtweg um Komponisten im Schatten Wagners, um „those who formed the foundation of his compositional aesthetic and sculpted the framework of vocal writing that would become the Wagnerian tenor“. Und Spyres selbst spricht im Beiheft richtigerweise von Einflüssen, „Ich entdeckte, dass mein Weg zu Wagner über ein verflochtenes Netzwerk von Einflüssen verläuft, die ihn geprägt haben. Mit wenigen Ausnahmen war das Repertoire, das mich am meisten bewegte und herausforderte, Musik, die den jungen Wagner selbst inspirierte“. Im Schatten Wagners standen zu Lebzeiten weder Méhul noch Weber, weder Auber noch Meyerbeer und schon gar nicht Spontini, Rossini und Bellini, dessen Norma Wagner bekanntlich außerordentlich bewunderte. Manches davon ist heute freilich vergessen.

Umso schöner, dass Spyres und Christophe Rousset das Augenmerk auf die eine oder andere Rarität lenken. Dazu gehört gleich zu Beginn Josephs leidenschaftliche Arie „Vainement Pharaon“ aus Etienne Méhuls gleichnamiger Opéra comique von 1807, in der Spyres die Eingangsphrasen souverän gestaltet und sie nahtlos in den ariosen und leidenschaftlich gesteigerten Teil überführt. Auf diese Weise wirkt die Arie wie eine Vorlage zu Beethovens Florestan, dessen orchestralen Teil Rousset und Les Talens Lyrique ebenso behutsam ausmalen wie Spyres das Rezitativ und schließlich die ekstatischen, leicht gebremsten Aufschwünge „ein Engel Leonore“ und „führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich“. Die verflixt schwere Arie klingt, bei aller flüssigen Aufbau, stellenweise etwas vorsichtig, auch ist die Stimme etwas angedickt und in der Höhe nicht ganz frei. Auf Beethoven folgt, chronologisch korrekt, der Leicester aus Rossinis Elisabetta. Dazu Spyres, „Es war Rossinis musikalische Gestaltung der Rolle des Earl of Leicester in Elisabetta, regina d’Inghilterra (1815) mit der innovativen Verschmelzung von Koloratur und einem dramatischen Tenor als romantischen Protagonisten, – quasi ein Vorläufer des Stimmfachs des jugendlichen Heldentenors – , die den Gesangsstil veränderte und Meyerbeer bei seiner Gestaltung des Adriano in Il crociato in Egitto (1824) tiefgreifend beeinflusste“. Bei Rossini bewegt sich Spyres, der auf der Aufnahme dann auch die großartige, von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen reichende Szene „Suona funerea“ mit Chor aus Meyerbeers Crociato folgen lässt, auf dem vertrauten Terrain seiner frühen Erfolge.

Michael Spyres zu seinen Aufnahmen von „In the shadows“ bei Warner/youtube

Erstmals gehört hatte ich ihn mit Rossini 2007 in Bad Wildbad als Alberto in La Gazzetta, in der er bereits alle Mitwirkenden an stilistischer Versiertheit übertraf, doch Sensation machte im folgenden Jahr sein Otello, bei dem er neben der baritonalen Grundlage bis zu den sicher platzierten Höhen Klangfülle und Schönheit, vokale Energie und gestalterische Phantasie auf triumphale Weise verband. Sein Rossini-Katalog erweiterte sich in Bad Wildbad noch um Néoclès und den Arnold in Guillaume Tell, stets auf hohem, wenngleich nicht ungetrübten Niveau. Toll ist auf der aktuellen CD die furiose, von Les Talens Lyrique zugespitzte Attacke des Leicester. Die Leichtigkeit der frühen Jahre freilich ist dahin.

Als Webers Max verbindet Spyres sowohl sensible Seelentöne wie dramatische Aufwallungen zu einer bravourösen Gesangsnummer. Eine sichere, feste Höhe demonstriert er als Aubers Masaniello aus La muette de Portici, eine Besonderheit ist – als World-premiere recording in the original German – der Heinrich aus Spontinis preußischer Festtagsoper Agnes von Hohenstaufen; die Arie quält sich allerdings genauso mühsam wie der Text des Hohenstaufen-Chronisten Ernst Raupach „Der Strom wälzt ruhig seine dunklen Wogen“.

„In the shadows“: Dirigent Christophe Rousset/Warner

Welch ein Unterschied dann der mit heroischer Geste und martialischer Wucht draufgängerisch gestemmte Pollione aus Bellinis Norma, in der Julien Henric als Schwertträger Flavio assistiert. Mit einem Ausschnitt aus Hans Heiling weist Spyres nachdrücklich auf die Bedeutung von Marschner hin, dessen Szene des Konrad „Gönne mir ein Wort der Liebe“ geradezu den Erik vorwegnimmt. Spyres singt allerdings den wie eine Fleißarbeit wirkenden Arindal in Wagners Die Feen. Rienzi („Allmächt’ger Vater, blick herab“) und Lohengrin („Mein lieber Schwan“) schließlich erscheinen im Zusammenspiel mit den anderen Arien und Komponisten zwar nicht in neuem Licht, aber doch als konsequente Weiterentwicklung eines Gesangsstils, dessen Verankerung in den innovativen Werken der Übergangszeit vom 18. zu 19. Jahrhundert zu finden ist, was Spyres in der feinen Artikulation, den skrupulösen Steigerungen und den bravourös angelegten Höhepunkten belegt.  Rolf Fath

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Dazu auch die Rezension von Rolf Fath zum ersten Lohengrin von Michael Spyres in Strasbourg in der Rubrik „Die besondere Oper“.

Rares vom Donizetti Festival

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2022 hievte DonizettiOpera, also das Donizetti Festival in Bergamo, ein Werk aus der Versenkung, das seit seiner Uraufführung vor exakt zweihundert Jahren nie wieder gespielt wurde. Das Melodramma semiserio Chiara e Serafina gilt als einer der größten Misserfolge Donizettis, mit dem sich der damals 25jährige im Herbst 1822 jede Chance verbaute, an der Mailänder Scala Fuß zu fassen. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis er im Dezember 1833 mit Lucrezia Borgia die Scala-Schande ausmerzte. Wieder schrieb ihm Felice Romani den Text, dem Donizetti für Chiara e Serafina, o sia Il pirata das französische Melodram La Cisterne (1809) des seinerzeit populären Charles Guilbert de Pixérécourt, des „Corneille der Boulevards“, empfohlen hatte. Das umfangreiche Stück um die auseinander-gerissenen Schwester Chiara und Serafina ist Verwechslungs-, Verkleidungs- und Intrigenstück sowie Schauer- und Rettungsoper, vermischt also alle Moden der Zeit zu einem unterhaltsamen zweieinhalbstündigen Zweiakter, dem allerdings schon bei den ersten vier Aufführungen die Zuschauer der Scala davonliefen. Heute mag man das großherziger sehen. Auf jeden Fall ist es verdienstvoll, dass DonizettiOpera das Werk in seiner den Frühwerken Donizettis gewidmeten Reihe #200 zu retten versuchte. Und heutige Hörter und Zuschauer reagieren möglicherweise großherziger auf die Musik des jungen Donizetti, der den Schablonen und Mustern seiner Zeit durch eine ausgesuchte Instrumentation und aufwendige Ensembles – das erste Finale und das Sestetto am Ende des zweiten Aktes – durch seine Melange aus Melancholie und Zärtlichkeit ein eignes Flair zu geben versuchte.

Regisseur, Ausstatter und Kostümbildner Gianluca Falaschi unternahm jedenfalls alles, um das Publikum von der unbedingten Kraft des Stückes zu überzeugen. Pures Amüsement, ohne Logik, doch nicht ohne Hintersinn. Falaschis szenisches Potpourri holt vom Boulevard- und Unterhaltungstheater, von Revue und Show, Kleinkunst und Varieté des 19. und frühen 20. Jahrhunderts alles auf die Bühne, was Effekt macht und dekoriert diese mit allem, was Thema und Fundus hergeben von der runden Insel samt Palmen, Kreuzfahrtschiff, schaumgekrönten Wellen, weißen Wölkchen vor blauem Himmel bis zur furchterregenden Zisterne und maroden Burg. Bevölkert wird das Schautheater von Tanz-Girls in Glitzer-Petticoats, feschen Matrosen (Coro dell’Accademia Teatro alla Scala) und Menschen, die allesamt ihre roten Bäckchen auf weiß geschminkten Gesichtern, langen Nasen und vorstehenden Kinnpartien Spazierenführen. Das ist nostalgisch ausgebleicht wie ein liebevoll restauriertes Musical.

Das Stück scheint kompliziert. Chiara und ihr fälschlicherweise des Verrats angeklagter Vater Don Alvaro wurden von Piraten verschleppt und auf einer Insel festgesetzt. Serafina verblieb derweil in der Obhut von Don Alvaros Feind Don Fernando, der Serafina heiraten will, um an ihr Vermögen zu kommen. Serafina liebt aber Don Ramiro, den Sohn des Bürgermeisters. Soweit die Vorgeschichte. Nach zehn Jahren gelingt Chiara und ihrem Vater die Flucht. Sie stranden an der Küste Mallorcas, wo sie auf Don Meschina, Lisetta und ihre Mutter Agnes treffen, die so etwas wie das Faktotum des verlassenen Schlosses Belmonte ist. Don Fernando muss rasch handeln und heuert den Piraten Picaro an, der Serafina die Heirat mit ihm schmackhaft machen soll. Schließlich landen alle irgendwann in der Zisterne, die dem ursprünglichen Stück den Titel gab, bevor es zum absehbaren Happy End kommt und durch ein wieder aufgefundenes Dokument sogar die Unschuld des Don Alvaro bewiesen wird.

Ich hätte nicht erwartet, dass die DVD (Dynamic 37987) die bei der Premiere nicht unbedingt mitreißende Aufführung im Teatro Sociale in Bergamos Oberstadt, derart animierend einfangen würde. Das liegt aber vor allem an Sesto Quatrini und seinem Originalklangorchester Gli Originali, die Donizettis Musik und seine ambitionierten Instrumentaldetails so gustös und rhythmisch schwerelos präsentieren, dass der Hörer davongetragen wird. Vor allem in dem swingenden Duett Serafinas mit Don Ramiro „Come più dolce il zeffiro“, dem Porzellanpüppchen und dem Frack tragenden Conférencier, der kleinstimmig zuckersüßen Fan Zhou und dem tenoral durchdringenden Hyun-Seo Davide Park. Die Tanzbein schwingende Operetten-Lust steigert sich noch in Serafinas Szene mit dem Piraten in der schmucken weißen Kapitäns-Uniform „Per vederli o mia figliuola“, wobei Sung-Hwan Damien Park mit höhenstark beweglichem Bariton in der für Antonio Tamburini geschriebenen Paraderolle des Picaro glänzt. Sie alle kommen von der Accademia Teatro alla Scala, wodurch der einstige Misserfolg wieder mit der Stätte der Uraufführung in Berührung kommt, und erhielten von Pietro Spagnoli ihren letzten Schliff. Der erfahrene Buffonist selbst glänzt in der Partie des Don Meschino durch vokale Vis comica. Neben der im ersten Finale durch ihre intensive Gestaltung herausstechenden Greta Doveri als Chiara machen Valentina Pluzhnikova mit ihrem originellen Mezzosopran als groteske Lisetta und die dunkel tönende Mara Gaudenzi als skurrile Agnese großen Effekt.  Rolf Fath