Archiv für den Monat: November 2024

Schubert „modern“

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Nicht Die sondern Eine schöne Müllerin verspricht der Titel der Neuerscheinung bei ET’CETERA (KTC 1827). Der Name Schuberts, der sich dem Betrachter des Covers zwangsläufig einstellt, findet keine Erwähnung. Es gibt auch keinen Hinweis drauf, ob jemand singt. In auffälligen Lettern treten das Ensemble Spectra hervor – und Daan Janssens, beim dem es sich um den 1983 in Brügge geborenen belgischen Komponisten handelt, der auch Opern schuf. Mehr nicht. Dabei hätte es der ebenfalls aus Belgien stammende Tenor Thomas Blondelle, dem auch in dieser Müllerin eine gewichtige Rolle zukommt, durchaus verdient gehabt, nicht erst auf der Rückseite genannt zu werden. Er ist auch in Deutschland sehr gut bekannt – und geschätzt. Mit Berlin fühlt er sich besonders verbunden. Dafür spricht, dass er bereits in mehr als zwanzig Produktionen an der Deutschen Oper mitwirkte. Seinen Einstand gab er 2009 mit dem Ersten Geharnischten in der Zauberflöte. Es folgten Loge, Tambourmajor, Erik, Eisenstein und etliches mehr. Und da er noch nicht sehr viele Einspielungen vorweisen kann, wäre sein Name für die neue CD gewiss verkaufsfördernd. Nach wie vor lassen sich Musikfreunde bei Neuerwerbungen oder beim Streamen auf diversen Plattformen im Netz von der Bekanntschaft mit Sängerinnen und Sängern auf Bühnen und Konzertpodien leiten. Sie sind und bleiben Zugpferde, schaffen Verbindungen zwischen gewohnten Werken und neuen Schöpfungen. Blondelle jedenfalls lässt sich unvoreingenommen und mit großem Enthusiasmus auf die Produktion ein und hinterlässt mit schönem, sensiblem und flexiblem Tenor sein individuelles Gütesigel. Gern würde man ihn auch mit dem Schubertschen Original hören. Er wäre – auch wegen seines perfekten Deutsch genau richtig. Nicht nur, dass er die Texte exakt vorträgt. Er findet den Sinn heraus, weiß also, worum es geht

Der Tenor Thomas Blondelle auf einem Foto im Booklet / © Simon Payly

Bei dieser Müllerin handelt es sich um ein Auftragswerk des Festivals 20/21 im belgischen Leuven, das – wie es der Name schon in seinem Bezug auf zwei Jahrhunderte sagt, eine Brücke zwischen morgen, heute und gestern schlagen, die unglaublich vielen Facetten der jüngeren Musikgeschichte hörbar machen und am Puls der Zeit bleiben will. Ein Festival, das das Repertoire der letzten 118 Jahre in Ehren hält und zugleich furchtlos nach vorne blickt, was die musikalische Zukunft bereithält, ist aus erster Hand auf der eignen Website zu erfahren. Die Müllerin-Adaption entstand 2018. Der Wunsch sei es gewesen, eine Neuinterpretation dieses Meisterwerks zu schaffen, bei der das Original erkennbar bleibe, kann im Booklet nachgelesen werden. Es gehe aber um mehr, als um einer bloße „moderne Instrumentierung“. Den Angaben zufolge entschied sich Janssens dafür, seinem Werk zusätzliche textliche und musikalische Elemente hinzuzufügen. So würden zwei klangvolle und zwei poetische Welten in unterschiedlichem Maße miteinander verwoben. Die Rede ist von einem „Doppelzyklus“. Obwohl die Grundstruktur erhalten bleibt, wurden einige Titel mit neuen Versen oder instrumentalen Zwischenspielen – wie es heißt „überschrieben“. Dabei verwendet Janssens Texte des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935), der in seiner Heimat hochverehrt wird. Sie stammen aus seinem Buch der Unruhe. „Wie ein böser Geist / hat mich mein Schicksal damit gequält, / nur haben zu wollen, / was ich wohlweislich nicht haben kann“, beginnt – um ein Beispiel anzuführen – der Vers, der auf das Lied Der Neugierige im Original folgt. Romantischer könne ein Gedanke nicht sein. Diese Eingriffe erzeugten eine ständige Konfrontation zwischen zwei literarischen Welten (Müller / Pessoa) und zwei Musikstilen (Schubert / Janssens), wird im Booklet weiter erklärt. Die Absicht bestehe aber nicht so sehr darin, Gegensätze zu erzeugen, sondern vielmehr die eigentliche zeitgenössische Bedeutung des Stücks noch stärker hervorzuheben. Der Sänger geht mit den teils schroffen Übergänge dergestalt um, als sei es schon immer so gewesen.

Janssens hat sich hier dafür entschieden, Pessoas Texte in deutscher Übersetzung zu verwenden, um die Einheit von Schuberts Werk nicht zu stören, erfahren die Leser des Booklets weiter. Der Gesangspart bleibe erhalten und Janssens respektiere auch die formalen Strukturen der Lieder. „Der Hauptunterschied liegt also in den Begleitstimmen: Der ursprüngliche Klavierpart wird zu einem Ensemble aus neun Musikern (Violine, Viola, Cello, Flöte/Altflöte/Bassflöte, Klarinette/Bassklarinette, Horn, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug) erweitert.“ Oft – insbesondere zu Beginn des Zyklus – bleibe Janssens den Noten von Schuberts Begleitung treu, reichere sie jedoch mit moderneren Elementen wie Geräuschen, Perkussionseffekten und speziellen Streichertechniken an. Dem aufmerksamen Publikum entgeht nicht, dass die Bearbeitung auch Deutung sein will. Im instrumental gehaltenen Einstieg klingt schon das Ende an. Nicht versöhnlich wie im Original sondern alsbald hart und brutal. Janssens schenkt seinem Publikum nichts. R.W.

Lieder meines Urgroßvaters 

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Was für eine großartige Entdeckung: Viele Jahre lang hatten einige Lieder-Manuskripte des Schweizer Komponisten Willy Heinz Müller in den Regalen der Urenkelin, der Sängerin Mélanie Adami, Staub angesetzt. Erst während der Corona-Pandemie fand sie endlich die Zeit, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Und siehe da: Die Manuskripte entpuppten sich als wahrer Schatz! Nun hat Adami die Werke ihres Urgroßvaters auf CD bei Propero) aufgenommen (dazu unsere Rezension). Ein Herzensprojekt – und die weltweit erste Aufnahme dieser Werke. Darüber sprach sie mit Ruth Wiedwald für operalounge.de

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Was waren die entscheidenden Momente in Ihrer Kindheit, die Sie dazu gebracht haben, Sängerin zu werden? Als Vierjährige bekam ich meinen ersten Violinunterricht bei meiner Großmutter. Ab sieben Jahren folgte der Klavierunterricht. Zuhause hatten wir nur drei Schellackplatten, und die konnte ich in- und auswendig. Eine davon war «Die Zauberflöte». Mit fünf sagte ich: «Wenn ich groß bin, werde ich die ‚Königin der Nacht‘ singen.» Nach meinem Stimmbruch – ja, Mädchen haben das auch – kam ich allerdings nicht mehr ganz so hoch hinauf, aber Sopranistin bin ich trotzdem geworden. Vor allem hat mir die Bühne gefallen. Ich hatte das Glück, in der Schule jedes Jahr ein Stück aufführen zu können, Texte auswendig zu lernen und auf der Bühne zu stehen. Mit 17 durfte ich dem Theaterchor in St. Gallen beitreten und in «Faust» von Gounod singen. Ich habe die Theaterluft förmlich aufgesogen, mir einen Klavierauszug zum Geburtstag gewünscht und die CD gekauft. Jeden Takt kannte ich in- und auswendig, und während der Aufführungen stand ich am Bühnenrand neben dem Inspizienten. Dort wurde ich von David Maze und Inva Mula gefördert, die mich ermutigten, Gesang zu studieren, und mir auch meinen ersten Gesangsunterricht gaben. Als ich bei einer Theaterführung die Gelegenheit hatte, auf einer großen Bühne zu stehen und in den leeren Saal zu schauen, habe ich in mich hineingefühlt: «Kann ich diesen Raum mit meiner Präsenz füllen, und will ich das?» Da habe ich die Entscheidung getroffen, Sängerin zu werden.

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Wann und wie haben Sie zum ersten Mal die Kompositionen Ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller entdeckt? Es war im Frühjahr 2020, als alles stillstand und meine Konzerte gerade abgesagt wurden. Ich saß auf dem Boden meines Musikzimmers, und mein Blick fiel auf eine Kiste mit einem Stapel Noten, den ich nie genauer angeschaut hatte. Diese Noten hatte ich schon einige Jahre, nachdem ich sie von meiner verstorbenen Großmutter bekommen hatte, aber sie hatte nie etwas darüber erwähnt. Der Stapel bestand aus Liedern und Duetten, von denen die meisten gar nicht mehr verlegt werden. Darunter befanden sich auch unvollendete und fertige Arrangements für Streichorchester, alle mit der Unterschrift meines Urgroßvaters. In einem Couvert stand in Omas Handschrift: «Lieder von Willy Müller».

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Wie sind Sie bei der Recherche und Sammlung der Werke von Willy Heinz Müller vorgegangen? Zuerst habe ich die Werke transkribieren lassen und ein Notenbuch erstellt, damit ich sie einem Pianisten vorlegen konnte, um sie richtig zu hören und zu lernen. Danach habe ich mit der Pianistin Judit Polgar die Lieder erarbeitet, und wir haben sie gemeinsam kennengelernt. Im Frühjahr 2023 konnte ich die Schweizer Musikhistorikerin Verena Naegele für das Projekt begeistern. Ihr verdanke ich die schönen Texte im Booklet und auf der Homepage. Vor allem hat sie Willys Leben und seine Liedkompositionen so sichtbar gemacht und in einen Kontext eingebettet. Die gemeinsame Recherche mit Verena in den Archiven war nicht nur spannend, sondern gibt auch ein interessantes Zeitbild ab.

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Mélanie Adami, Äneas Humm und Judith Polgar: «Vergessene Lieder, vergessene Liebe», Lieder von Müller, Dohnányi, Ries, Hildach und Gotze bei Prospero/ Foto Peggy Meese

Was waren die schönsten Momente während der Arbeit an diesem Projekt? Eine Idee hörbar zu machen und zum Leben zu erwecken, war unglaublich. Am letzten Aufnahmetag, nach dem letzten Lied «Ich habe gegraben», sind die Emotionen über mich hereingebrochen. Es hat mich tief berührt, wie eine musikalische Idee auf Papier 100 Jahre lang warten konnte, bis sie wieder mit Leben gefüllt und hörbar wurde.

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Haben Sie eine persönliche Lieblingskomposition auf der CD, und wenn ja, warum? «Ich habe gegraben» hat eine besondere Melancholie und wunderschöne Gesangslinien, die mich sehr berühren. Auch «Erkenntnis» liegt mir sehr am Herzen, aber eigentlich sind mir alle Lieder ans Herz gewachsen, und ich freue mich schon darauf, sie bald wieder singen zu dürfen.

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Wie würden Sie den musikalischen Stil und die Kompositionen Ihres Urgroßvaters beschreiben? Die Kompositionen sind sehr textnah. Wenn die Sterne aufgehen, spiegelt sich das auch in der Musik wider. Der kleine Mensch, der beschrieben wird, wird sichtbar, und man erkennt, wie groß er sein möchte. Drei Takte später schwebt man schwerelos im All. Alles ist sehr einfühlsam und detailliert.

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Wie hat dieses Projekt Ihre Sichtweise auf Ihre eigene künstlerische Arbeit und Ihren musikalischen Weg beeinflusst? Meine Herangehensweise an ein neues Stück hat sich definitiv verändert. Ich verbringe viel mehr Zeit am Klavier, um die Harmonien und die gesamte Komposition zu erfassen, anstatt nur meine Gesangslinie zu lernen. Was meinen musikalischen Weg betrifft, so kann ich das nicht genau sagen, da sich in den vier Jahren seit dem Lockdown ohnehin ein großes „Crescendo“ entwickelt hat. Ich bin musikalisch erwachsen geworden und viel selbstsicherer. Dieses Projekt hat definitiv einen großen Einfluss darauf gehabt.

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Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, die Lieder Ihres Urgroßvaters zu interpretieren und aufzuführen? Ich wollte die Musik meines Urgroßvaters so authentisch wie möglich interpretieren, was natürlich auch einen gewissen Druck erzeugt hat. Aber mir war klar, dass ich sie in einem Jahr oder in fünf Jahren vielleicht anders singen und verstehen werde. Es ist ein dynamischer Prozess, und ich hoffe sehr, dass auch andere Musikerinnen und Musiker diese Lieder für sich entdecken und interpretieren werden. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie das geschieht.

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Warum sind Ihnen die Lieder Ihres Urgroßvaters so wichtig, und was möchten Sie mit deren Aufführung erreichen? Da bin ich sehr pragmatisch – ich denke, diese Lieder haben mich aus einem bestimmten Grund gefunden. Sie sind nicht dazu bestimmt, im Kantonsarchiv zu verstauben oder nur gesammelt zu werden. Sie wollen wiederentdeckt werden, und ich habe diese Aufgabe angenommen. Wer weiß, vielleicht berühren sie jemanden. Vielleicht berührt die Geschichte jemanden und vielleicht bewegt es auch jemanden dazu, seinen eigenen Wurzeln nachzugehen oder noch schöner: Zeit mit den Großeltern und Eltern zu verbringen, ihnen Zeit schenken und sie einfach erzählen zu lassen.

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Hat die Entdeckung der Lieder Ihres Urgroßvaters Ihre Verbindung zu Ihrer Familiengeschichte verändert oder vertieft? Ja, auf jeden Fall. Wir wussten nur sehr wenig über Willy, aber jetzt hat er eine Geschichte bekommen, Gefühle, und Gründe, warum er zum Beispiel nach St. Gallen kam und dort lebte. Ohne ihn gäbe es mich gar nicht. Danke, Willy!

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Sehen Sie musikalische oder thematische Einflüsse Ihres Urgroßvaters in Ihrer eigenen Arbeit? Ja, ich glaube schon. Das Wienerische und Ungarische spüre ich in mir, genauso wie die Liebe zur Operette – ich darf bald die «Gräfin Mariza» singen – aber auch zur ernsten Musik. Vielleicht auch die philosophische oder spirituelle Denkweise. Es wäre fantastisch gewesen, mit ihm gemeinsam Musik zu machen.

 

Inwiefern fühlen Sie sich mit den melancholischen Themen und der spätromantischen Musiksprache Ihres Urgroßvaters verbunden? Planen Sie, die Lieder Ihres Urgroßvaters regelmäßig in Ihr Repertoire aufzunehmen? Damit fühle ich mich sehr verbunden. Und ja, ich werde einige davon bestimmt in mein regelmäßiges Repertoire aufnehmen. Aber nicht alle Lieder passen in jeden Liederabend. Mit Judit Polgar und Verena Naegele haben wir ein Liederprogramm zusammengestellt, das die Lieder meines Urgroßvaters in die Musikgeschichte einbettet. Es ist ergänzt durch Werke von Mahler, Lehár, Ries und Tischhauser.

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Wie haben Sie die Werke der Zeitgenossen ausgewählt, die auf der CD zu hören sind? Die CD erzählt auch eine Geschichte. Die Lieder von Franz Ries, die schon meine Ur-Ur-Großmutter gesungen hatte, führen uns zurück in die Zeit. Der wunderbare Bariton Äneas Humm und ich singen auch Lieder von Dohnányi, unter dem Willy Violine im Orchester spielte. Die drei Duette sind Funde aus Willys Notenarchiv – übrigens, mit Ausnahme der Lieder von Dohnányi, sind es alles Weltersteinspielungen. Es sollte eine Verbindung geben und eine Geschichte erzählen, die Willy in der Musikgeschichte verankert.

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Wie hat Ihr Publikum auf die Lieder Ihres Urgroßvaters reagiert? Die Reaktionen waren natürlich sehr schön, aber das hat auch viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, die ebenfalls mitschwingt. Jetzt bin ich gespannt, wie das Publikum und die Hörer auf die Lieder reagieren. Das Echo in den Medien war jedenfalls sehr interessiert und positiv, was mich – und hoffentlich auch Willy – freut. Ruth Wiedwald./ Fotos Peggy Meese

Auf Abwegen

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Was tun, wenn man als Tenor der Welt und darüber hinaus natürlich der Nachwelt seine Stimme vorstellen bzw. erhalten will? Zum hundertsten Mal La donna è mobile und Nessun dorma auf eine CD bannen? Gerade in letzter Zeit gab es eine Fülle solcher Aufnahmen, die auch auf Operalounge ihre Spuren hinterlassen haben. Da gebe es aber noch das Ausweichen auf Canzoni und Populäres aus dem spanischen und  südamerikanischen Raum, von dem die jüngste CD von Jesús Leȯn kündet. Oder aber man besinnt auch auf besonnte Kindheitserinnerungen als begeisterter Hörer und Jugenderinnerungen als Mitglied einer Band und wendet sich der Musik seiner Kindheit zu, so dokumentiert von Gregory Kunde.

Seine dritte CD nach einer mit populärer Musik, betitelt Respiro im Jahre 2012 und einer solchen mit Belcanto ebensolchen Titels im Jahre 2015 legt der Mexikaner Jesus Leon nun eine dritte mit Passione vor, auf der viele spanische bzw. südamerikanische und wenige italienische Canzonen zu finden sind. Die drei Tenöre sollen seine Vorbilder sein, und populärer als mit Besame mucho, dem absolut meistgespielten Titel in spanischer Sprache, kann man kaum beginnen, für den der Sänger ein süffig viriles Timbre einsetzt, zarte colpi di glottide kaum vermuten lässt und mit diesem ursprünglich aus einer Oper stammenden Titel einen angenehmen Einstand findet. Amaneci otra vez wird den Ohren schmeichelnd gesungen, wobei die Stimme von Orchesterwogen quasi umspült wird. Aus dem Rumbarepertoire stammt Amapola, die Mohnblume, von Nino Rota aus La Strada der folgende Titel, und verinnerlicht wird Te espero von Guzman dargeboten. Nicht zuletzt das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Toby Purser sorgt dafür, dass das unverzichtbare Granada rhythmisch straff und raffiniert dargeboten wird, ehe man zum unverzichtbaren Paolo Tosti mit A vucchella übergeht, dem Ergebnis einer Wette um das Vermögen, als aus den Abruzzi Stammender Neapolitanisches zustande zu bringen. Nicht die allseits bekannte, sondern eine von E.A. Mario stammende ist die hier zu hörende Santa Lucia, nach Argentinien zurück geht es mit Ay,Ay, Ay, über Mexikos „zweite Nationalhymne“ Cielito lindo schließlich zu Te quiero von Serrano, das Anlass für das Präsentieren einer strahlenden Höhe sein kann. Von zärtlicher Intimität ist Tostis Non t’amo più, hier im Vergleich zu italienischen Interpreten mit leichter Schärfe in der Stimme. Der italienische Teil fällt also etwas ab im Vergleich zum südamerikanischen, besonders im abschließenden Non ti scordar di me vermisst man die Dolcezza (Rubicon 1122).

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Sollte die CD Then and now einen neuen Karriereabschnitt für den amerikanischen Tenor Gregory Kunde einläuten, dann wäre es der dritte, wenn nicht der vierte, denn nach einer glänzenden Karriere mit Rossini einschließlich dessen Otello und einer akzeptablen mit Verdi und Co einschließlich ebenfalls des Otello wendet er sich nun der Musik zu, die er als Knabe aus der Jukebox vernahm und als Heranwachsender selbst ausübte. Fotos auf der CD-Hülle zeigen einen blonden Jungen, allerdings beim Grillen, aber auch einen nunmehr Siebzigjährigen im Aufnahmestudio, wo wahrscheinlich die neueste CD unter Mitwirkung  von Piano, Bass, Saxophon Trompete, Posaune und Schlagzeug entstand.

In eine schummerige Bar, ein Glas mit Hochprozentigem in der Hand, fühlt sich der Hörer versetzt, wenn ihm zu Ohren kommt, was der kleine Gregory als Hörer, der Halbwüchsige als Ausübender im „Then“ genoss und nun im „Now“ wieder aufleben lässt. Das ist Josef Myrows You make me feel so young, das eher baritonal als tenoral klingt, Gershwins Our love is here mit vorzüglicher Diktion, geschmeidig  vorgetragen, so wie auch Millers  For once in my live unagestrengt die Stimme in die Höhe klettern lässt. Kommunikativ und wie beiläufig gesungen klingt My kind of town, Atmosphäre schaffend, Time after time profitiert vom Einsatz des Saxophons, und Where or when fordert auch einmal zur Nachdenklichkeit auf. Insgesamt erfordern die Stücke nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hörers, sondern faszinieren auch durch die Beiläufigkeit, mit der sie dargeboten werden, gestatten sich hin und wieder das Abdriften in Frivolität oder Sentimentalität wie Can’t take my eyes off you. Die Instrumente umspielen die Stimme zärtlich in How do you keep the music playing, und I left my heart in San Francisco beweist, dass Heidelberg einen ernst zu nehmenden Rivalen hat. Schmusesängergeschmeidigkeit erfordert und erhält When i fell in love von Victor Young, die populäre Funny Valentine von Rodgers gefällt durch die Vermittlung einer Leichtigkeit des Seins, die uns gerade abgeht (Delos DE 3606). Ingrid Wanja        

Spyridon Samaras: „Tigra“

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Umfangreich und tiefgründig hat sich operalounge.de bereits mit dem griechischen Komponisten Spyridon Samaras, insbesondere mit seinem Opernschaffen, befasst. Nun ist bei Naxos noch der erste Akt seiner unvollendet gebliebenen Oper Tigra veröffentlicht worden, zusammen mit nach der Rückkehr des  Komponisten in sein durch zwei Balkankriege 1912/1913 von den Osmanen befreites Heimatland entstandenen Songs of Victory in griechischer Sprache und einem Konzertstück, einer Chitarrata.

Spyridon Samaras, Benakis Museum Athen/Samara-Archive

Das Booklet befasst sich in griechischer und englischer Sprache mit der Geschichte der unvollendeten Partitur, die es dem Dirigenten Byron Fidetzis verdankt, dass sie überhaupt zur Aufführung gelangte, in italienischer Sprache, in der das Libretto vorlag, und mit bulgarischen Kräften, abgesehen vom abschließenden  Orchesterstück, das von Schülern einer Musikschule Korfus musiziert wird.   

Die Oper heißt Tigra, ein orientalischer Frauenname, und auf dem Cover räkelt sich eine schöne Odaliske mit Wasserpfeife auf einem Diwan. Im vorhandenen ersten Akt spielt diese Tigra nur eine recht untergeordnete Rolle, ist die Gefährtin des Tenors, der sich blitzschnell in die venezianische Maria, Gespielin aus vergangenen Kindheitstagen, verliebt, so dass der erste Akt und damit das vorhandene Material mit seinem einsamen Liebesgeständnis „Testimone m’è la notte odorosa“ endet. Nun kann der erfahrene Opernfreak natürlich vermuten, dass es mit viel Eifersucht und Ränken, in denen auch ein bisher nur kurz einmal aufgekreuzter Bariton eine Rolle spielt, weitergeht, mit Konflikten zwischen Christentum und Islam, denn besagte Tigra zeigte sich bereits widerspenstig beim Abendgebet.  Vielleicht ist ihre Rolle auch gar nicht so bedeutend, wie der Titel vermuten lässt, denn der Komponist äußerte, dass die Oper eigentlich Maria heißen müsste,  diesen Namen zu gebrauchen, er sich aber scheue. 

Samaras, der zunächst unter französischem Einfluss stand, in Paris auch Anerkennung fand, so soll ihn Gounod nach der Aufführung der Chitarrata begeistert umarmt haben, wandte sich bald Italien und dem italienischen Verismo zu, wovon Tigra mit mediterraner Daueraufgeregtheit und geschmeidigem Melodienfluss Zeugnis ablegt. Byron Fidetzis hat mit dem Sofia Amadeus Orchestra einen vollmundig begleitenden Klangkörper zur Verfügung, der Sofia Metropolian Golden Voices Mixed and Children’s Choir unter Sofia Bardarska lässt die frommen Gesänge wohltuend erklingen. Ein Auftritt bulgarischer Sänger ist selten ein enttäuschender, und so kann auch der Sopran Lenia Safiropoulou mit zarter Lieblichkeit, sanft aufblühend, rein und klar, erfreuen. Mit ebenmäßig koloriertem, geschmeidigem Mezzosopran macht Marissia Papalexiou auf mehr Tigra-Auftritte neugierig, Maria Vlachopoulou ist die herb mahnende Donna Palma, Angelo Simos‘ Tenor hat für den Adoaldo eine solide Mittellage angenehmen Timbres, solide scheint der im 1. Akt kaum auftretende Dionysios Sourbis die Baritonlage zu vertreten, in der sich der Brana beweg, recht grummelig ist der Old Sailor von Dimitri Kavrakos. Sehr schön musiziert werden die beiden Interludes.

Für die heroischen Gesänge auf Texte von Georgios Drosinis hat man mit dem Mezzosopran Vavara Tsambali eine angemessen vollmundige, weich und geschmeidig ihre Stimme einsetzende Interpretin gefunden und die Chitarrata ist an mitreißendem Schwung kaum zu überbieten (Naxos 8.574358.). Ingrid Wanja 

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Wie Ingrid Wanja oben anführt, haben wir uns bei operalounge.de viel um griechische Opern und namentlich um Spyros Samara gekümmert (namentlich seine Opern Rhea, La Biondinetta, La Mademoiselle de Belle-Isle/Naxos und La Martire). Er und sein Vorgänger Pavlos Carrer haben ganz entscheidend zur Installation von Oper in Griechenland beigetragen, im Zuge der Befreiung von den Osmanen zuerst auf den Inseln und dann auf dem Festland.

Niemand hat sich mehr Verdienste um die Wiederbelebung und Anerkennung von der Griechischen Oper in moderner Zeit verdient gemacht als der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis, der zahllose Opern ausgegraben, ediert, vervollständigt und aufgeführt hat. Die inzwischen leider eingegangene griechische Firma Lyra hatte viele seiner Werke herausgegeben (die weitgehend bei youtube zu hören sind), zahlreiche Konzerte und Aufführungen tragen seine Handschrift. Jüngst stellte er, wie bei youtube nachzusehen/-hören, Samaras´ Lionella vor (dazu später ein Artikel bei uns). Und als neueste Nachricht: Die Oper Medge wird demnächst nach der kürzlichen Uraufführung komplett bei youtube erscheinen.

Eines seiner Lieblingsprojekte war Samaras´ Tigra, unvollendet und zum damaligen Zeitpunkt vom Material her möglich ergänzt/ediert auf der Naxos-CD verfügbar. Fidetzis hatte bereits vorher einen Artikel zu seiner Entdeckung von Samaras´ Tigra verfasst, den wir nun (in unserer Übersetzung) nachstehend wiedergeben. Danke Maestro Fidetzis!  G. H.

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Foto von Samaras mit Widmung 1913/ Samaras Archive/Lyra

Byron Fidetzis: Wege zu Samaras Tigra. In der zweiten Hälfte des Jahres 1983 gab es zwei Ereignisse, die ich als Wiederbelebung von Samaras‘ Werk bezeichnen würde.
Das erste ereignete sich irgendwann zu Beginn des Herbstes im Haus des großen griechischen Komponisten George Sicilianos in der Lykavitos-Straße 1.
Ich erinnere mich, dass Sicilianos in seinem Arbeitszimmer saß und allgemein über griechische Komponisten sprach. Als wir auf das Thema Samaras und seine verlorenen Werke kamen, zeigte Sicilianos auf die Straße, die man von seinem Fenster aus sehen konnte, und sagte: „In dem Wohnblock, den du dort drüben sehen kannst, Byron, in der Alexandros-Soutsou-Straße, lebte Samaras‘ Witwe. Dort muss auch sein Archiv aufbewahrt worden sein. Wenn Sie den Hausmeister fragen, der jetzt in einem bestimmten Alter sein sollte, kann er Ihnen sicher einige Informationen geben.“
Ich ging zu dem Haus und fand den Hausmeister. Er sagte mir, dass die Person, die den Besitz von Samaras‘ Witwe geerbt hatte, ihre Nichte war, Nena Michelaki, die in der Spefsippos-Straße 4 in Kolonaki lebte.
Das als Kolonaki bekannte Viertel in Athen hat sich historisch gesehen als eine Art „Fundgrube“ für Werke der neugriechischen Literatur erwiesen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Dort gelang es mir, Werke von Komponisten wie Riadis, Lavragas, Varvoglis, Petridis, Lialios und Skalkotas auszugraben. 1983 waren auch die Werke von Samaras hier zu finden.
Die verstorbene Nena Michelaki war eine liebenswürdige Persönlichkeit des alten Athener Bürgertums. 
Samaras‘ Archiv war ziemlich umfangreich. Nicht so sehr in Bezug auf das musikalische Material, sondern eher in Bezug auf die Informationen, die es über das Glück dieser musikalischen Werke nach dem Tod ihres Schöpfers enthielt. Unter den wenigen Musikstücken befanden sich auch die handschriftlichen Kurzpartituren der Oper mit dem Titel „Tigra“ sowie das maschinengeschriebene Libretto von „Corriere della Sera“, das in einem Umschlag steckte. Nach einem kurzen Durchblättern kam mir plötzlich der Gedanke, dass dieses Werk eines Tages orchestriert werden könnte. Abgesehen von einigen erwarteten Auslassungen und Streichungen, die ich entdeckte, schien das meiste (zumindest für ein geschultes Auge) klar genug und im Großen und Ganzen ziemlich effektiv, um die Absichten des Schöpfers zu vermitteln. Ich behielt eine Fotokopie des Manuskripts und um sicherzustellen, dass ein so wertvolles Archiv nicht verloren geht, überzeugte ich Frau Michelaki, es zusammen mit Samaras‘ Schreibtisch im Benaki-Museum zu hinterlegen. Der Schlüssel für die Schreibtischschublade wurde versehentlich verlegt, aber als ich ihn Jahre später in einem kleinen Umschlag fand, gab ich ihn Irene Geroulanou, damit sie ihn wieder an seinen Platz zurücklegte.

Das zweite Ereignis, das 1983 stattfand und die jüngste Wiederbelebung von Samaras‘ Werken markierte, war die Zustimmung, die ich für einen bestimmten Vorschlag erhielt, den ich den damaligen Verantwortlichen des Korfu-Festivals unterbreitet hatte: K. Nikolakis – Mouhas und S. Bogdano sowie dem damaligen Direktor des Kulturministeriums, Herrn N. Zoroyiannidis. Sie alle stimmten schließlich einer Konzertaufführung von „Rhea“ während des Korfu-Festivals im September 1984 zu.

Somit stellt das Jahr 1983 aus zwei Gründen einen historischen Meilenstein für Samaras und seine Werke dar. Erstens, weil wir es geschafft haben, den Ariadnefaden zu finden, dem wir später folgen würden, um an die vollständigen Partituren der größten erhaltenen Werke des Komponisten zu gelangen. Zweitens, weil wir 1983 den Grundstein dafür legten, dass diese Werke später die Ohren und (was am wichtigsten ist) das Bewusstsein ihrer natürlichen Empfänger erreichen konnten: das Publikum.

Spyridon Samaras: Terrazzo negli appartamenti di Medgè, bozzetto di Carlo Ferrario per Medgè (1887) – Archivio Storico Ricordi ICON012212/Wikipedia

Eine Weile später – etwa 1987 – wandte ich mich an einen alten Freund meines Vaters (über die Hellenic Broadcasting Corporation), um Unterstützung bei der Orchestrierung von „Tigra“ zu erhalten. Es handelte sich um George Platon (1910–1993), den brillanten Pianisten, Komponisten und Musiker, mit dem ich bereits 1984 bei der Wiederaufnahme von „Rhea“ zusammengearbeitet hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte G. Platon bereits Josef Mastrekinis (1892–1903) Oper „Eleasar“ (1889) orchestriert, deren vollständige Partituren bei einem Brand zerstört worden waren. Die Klavier- und Gesangsnoten waren jedoch zusammen mit einigen von Totis Karalivanos aufgenommenen Auszügen gerettet worden. Platon, der sich als Komponist weigerte, sich harmonisch weiter als die Form von C. Franck zu entfernen, lehnte die Orchestrierung von „Tigra“ höflich ab. Er betrachtete es dennoch als ein überwiegend „modernes“ Werk. Daher erklärte er sich zumindest bereit, „Tigra“ neu zu lesen, indem er es klar und deutlich niederschrieb und gleichzeitig seine Interpretation aller unleserlichen Stellen lieferte. Platon füllte auch die wenigen fehlenden Teile der Harmonie aus den Takten aus, die Samaras harmonisch exponiert oder in Kurzschrift geschrieben hatte. Dies gelang ihm, indem er sich auf einen vergleichbaren (in der Regel früheren) musikalischen Übergang bezog. Er führte auch eine nicht poetische, aber äußerst nützliche Übersetzung des Librettos der Oper durch.

Spyridon Samaras: Ricca sala nel castello d’Orèbro, bozzetto di Carlo Ferrario per Flora Mirabilis (1886) – Archivio Storico Ricordi ICON012152/Wikipedia

Seitdem sind viele Jahre vergangen, in denen ich die meisten der als Partitur verfügbaren Werke des Komponisten aufgeführt habe: „Rhea“ 1984, „La Martyr“ 1990, „La Biondinetta“ 1995, „Mademoiselle de Belle-Isle“ 1995, „Epinikia“ 1987 usw. Durch diese praktische Verbindung mit einigen der bedeutendsten Opern aus Samaras‘ Ära („Cavaleria“, „Pagliacci“, „Manon Lescaut“, „La bohème“, „Tosca“, „Butterfly“ usw.) gelang es mir, mich mit dem Stil dieser Zeit vertraut zu machen, zumindest was die Orchestrierung betraf. Ich weiß nicht, warum, aber im Juli 2009 hatte ich dieses unkontrollierbare Verlangen, intensiv an „Tigra“ zu arbeiten, um es zu orchestrieren. Ich erinnere mich, dass ich am 15. Juli ein Konzert im Odeon des Herodes Atticus mit dem Athener Staatsorchester gab und dann gleich am nächsten Tag in die Region Argiraiika in Pilion aufbrach, wo ich mich auf „Tigra“ konzentrierte. Trotz der unvermeidlichen kleinen Unterbrechungen arbeitete ich ziemlich intensiv und schaffte es, einige Monate später, am 20. Dezember, die vollständigen Partituren der Oper vor mir zu haben.

Ich muss übrigens auch erwähnen, dass ich um das Jahr 2000 herum die Kopie, die Platon angefertigt hatte, meinem bulgarischen Kopistenkollegen gegeben hatte, der daraus eine Klavier-Gesangsausgabe erstellte, die für jede Form der Aufführung von unschätzbarem Wert ist. Nach einer gründlichen Überprüfung und einem ständigen Vergleich mit Samaras‘ Archiv wurde diese Klavier-Gesangsausgabe zur Grundlage, auf der Solisten und der Chor die Oper einstudierten. Die Übertragung der vollständigen Partituren und Orchesterstimmen in einen Computer wurde von einem jungen Komponisten namens Antonis Anestis durchgeführt. Antonis arbeitete unglaublich hart daran, diese anspruchsvolle und komplexe Aufgabe zu bewältigen, und ich denke, dass das Endergebnis die Mühe rechtfertigt, die wir beide in dieses Projekt gesteckt haben.

Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“ hatte auch in Deutschland nach der italienischen Uraufführung 1905/Genua Verbreitung, hier ein Theaterzettel zu einer Würzburger Aufführung als „Gabrielle von Belle-Isle“ in Deutsch/ Würzburger Theaterzettel

Ich habe die Uraufführung dieses Werkes dem Orchester meiner geliebten Heimatstadt anvertraut – dem Staatlichen Symphonieorchester Thessaloniki. Die Uraufführung fand am 29. April 2010 in der Athener Konzerthalle im Rahmen des sechsten Zyklus der Griechischen Musikfeste statt. Ich möchte diese Gelegenheit ergreifen, um all den Menschen zu danken, die hart daran gearbeitet haben, Samaras‘ Meisterwerk zum Leben zu erwecken – und auch für meinen Beitrag. Sie alle haben ihr Bestes gegeben, und dafür bin ich ihnen wirklich dankbar.
Diese Studie ist dem Andenken an Christos Dimitri Labrakis (1934–2009) gewidmet, einem großen Liebhaber und Förderer der griechischen Musik.

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Im Wesentlichen: „Tigra“ gehört als Werk zu Samaras‘ reifer Schaffensphase. Meiner Meinung nach verkörpert dieses Werk den Triumph eines großen Meisters des lyrischen Theaters und der Komposition. Dank der Recherchen von George Leotsakos können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es zwischen 1908 und 1911 geschrieben wurde. Stilistisch ist es seinem unmittelbaren Vorgänger mit dem Titel „Rhea“ (uraufgeführt 1908) sehr ähnlich. Die in diesen beiden Opern verwendete Musiksprache unterscheidet sich deutlich von der frühen Verismo-Sprache, die „Martire“ (1984) charakterisiert, und noch mehr von der typisch romantischen Sprache, die in „Flora Mirabilis“ (1886) zu finden ist. Nachdem Samaras nach und nach viele Elemente des modernen französischen lyrischen Dramas in eine einzige, sich stetig weiterentwickelnde Sprache (die sich durch einen romantischen Charakter und eine Ästhetik sowie eine Orientierung an der Verismo-Bewegung auszeichnet) integriert hatte, leitete er einen neuen Trend ein. Während er diesen neuen Trend entwickelte, assimilierte und vermischte er funktional viele griechische kirchliche und traditionelle (auch als demotisch bekannte) Teile. Dieser Trend sollte die ideologischen (wie auch technischen) Grundlagen für die Entstehung der Griechischen Nationalen Musikschule einläuten und legen. Die besondere Beziehung der Franzosen zum Orient – eine Beziehung, deren Überreste sich auch in der außergewöhnlichen Neigung zum musikalischen Orientalismus finden, der die Musik des 19. Jahrhunderts kennzeichnet – war für Samaras ein Anlass zum Nachdenken und eine Quelle intellektueller Anregungen. Ich bin sicher, dass dieser eigentümliche Orientalismus in der französischen Musik eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Samaras‘ kreativen Anfängen spielte – d. h. die Grundlagen, auf denen der Komponist sein Klanguniversum aufbaute.

Spyridon Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“: Der Bariton Antonio Paoli sang den Richelieu in der Uraufführung von 1905 in Genua/ OBA

Da seine Psyche sowohl auf der Insel Korfu während der Blütezeit der Ionischen Musikschule als auch im postrevolutionären Athen (einer Zeit, in der sich in Griechenland eine romantisch-wissenschaftliche nationale Ideologie herauszubilden begann) geprägt wurde, bewahrte Samaras die Vorstellung des „Griechischen“ als das wichtigste – und vor allem existenzielle – Element in seinem Werk. In diesem Sinne erinnert Samaras an Komponisten wie Händel oder Meyerbeer, die sich eine Reihe von Elementen aus verschiedenen europäischen Musikschulen aneigneten und diese kreativ verarbeiteten, um so allmählich ihren eigenen persönlichen Stil zu entwickeln. Für mich ist das vorherrschende französische Element in den Werken von Samaras in seiner harmonischen Sprache zu finden. Die ausgefeilte und bemerkenswert persönliche Harmonik des Komponisten ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen ihm und seinen italienischen Kollegen, mit denen er in ihrem eigenen Land konkurrierte, die er aber gleichzeitig als Basis für seine Karriere wählte. In seinen Werken finden wir eine Reihe innovativer Harmonien, selbst in denen, die er in seinen Anfängen komponierte. Doch selbst die kühnsten harmonischen Resonanzen, die wir in seinen früheren Opern finden, werden in seinen Werken eher dazu verwendet, seine harmonische Sprache „aufzupeppen“, als dass sie als Hauptbestandteil fungieren. Im Gegensatz dazu offenbart die innovative harmonische Sprache, die in „Rhea“ und „Tigra“ verwendet wird, einen Charakter, der durch verschiedene kühne Akzente bereichert wird, die dank ihrer systematischen Verwendung die funktionale Rolle der Definition von Samaras‘ reifem Stil übernehmen. Die Mischung dieser kühnen harmonischen Akzente mit einer Reihe von Kirchentonarten und einer Ganztonskala schafft oft die verführerische Atmosphäre eines umfassenderen musikalischen Orientalismus.

Auf diese Weise wird dieser orientalistische Stil nahtlos in die allgemeine Sprache integriert, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Eindruck entsteht, dass in der Harmonie ein Fremdkörper existiert. In beiden Werken, die seine kompositorische Reife ausmachen, schafft Samaras musikalisch Kontraste zwischen Ost (dem Orient) und West (dem Okzident), die alle im Namen der dramatischen Wirkung stehen. In „Rhea“ wird der Kontrast zwischen Ost und West beispielsweise auf einer oberflächlichen Ebene durch die Wahl der (typisch) griechischen Charakternamen im Gegensatz zu den westlichen Namen symbolisiert. Auf der theatralischen Ebene scheinen die Charaktere durch die Wahl ihrer Kleidung visuell kontrastiert zu werden. Die tieferen dramatischen Kontraste zwischen Wahrnehmungen oder Ideologien werden uns durch den Einsatz von Musik präsentiert. Samarastakes nutzt diese Gelegenheit voll aus und überträgt dem Publikum die Rolle, an seinen kreativen Ansätzen und innersten Gedanken zum Hauptthema seiner Epoche teilzuhaben: dem griechischen musikalischen Ausdruck. In ähnlicher Weise wird in „Tigra“ der Kontrast zwischen Ost und West auf allgemeinere Weise dargestellt, da das Herkunftsland der Heldin in der gleichnamigen Oper nie eindeutig definiert wird.

Samaras: Olympische Hymne aus „Rhea“/ Wikipedia

In diesem Fall besteht einer der tieferen Zwecke der Verwendung von Musik nicht darin, sich nur auf die musikalische Skizzierung einer bestimmten Figur zu konzentrieren, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. Vielmehr geht es darum, durch den Einsatz von Musik eine ferne und traumhafte Welt zu vermitteln: einen geliebten, aber für immer verlorenen Osten. Das rätselhafteste Element dieses undefinierbaren Ostens wird durch die Verwendung des typisch orthodoxen Hymnus mit dem Titel „Christos Anesti“ nachdrücklich hervorgehoben – wenn nicht sogar noch verstärkt. Die Verwendung dieser Hymne während des musikalischen und theatralischen Höhepunkts der Oper stellt eine morphologische Entdeckung dar, die durch ihre Positionierung im Zentrum des Aktes ein Gleichgewicht zwischen dem vorangehenden theatralisch bewegten Abschnitt voller Intensität und dem nachfolgenden statischen Abschnitt von geringerer Intensität und idyllischem Charakter, der die Oper abschließt, herstellt.

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Ein interessantes Element, das sich durch die Entwicklung von Samaras‘ Schaffenskraft zieht, ist der Einfluss der französischen Musikschule auf die Orchestrierungsfähigkeiten des Komponisten. Seine solide, sichere und konservative Herangehensweise an das Komponieren in Kombination mit seiner Art, Instrumentalklänge zu verwenden und zu organisieren, spiegelt eine klassisch klingende Ästhetik sowie die italienisch klingenden Standards von Xindas und Stancampiano wider. Darüber hinaus können wir auch die theoretischen Konzepte griechischer Komponisten wie Matzaros und Katakouzinos in Samaras‘ Werk erkennen. Dies deutet darauf hin, dass all diese Komponisten während der Studienzeit des jungen korfiotischen Komponisten am Athener Konservatorium eine führende Position in der Theorie und Praxis innehatten. Gleichzeitig scheint die praktische Erfahrung, die Samaras als Geiger durch die Teilnahme an verschiedenen Athener Orchestern in dieser Zeit sammelte, seine instrumentale Denkweise nicht (zumindest nicht in einem definitiven Sinne) bereichert zu haben.

Die Gründe dafür sind zum einen das begrenzte Repertoire dieser Orchester und zum anderen das fragwürdige Niveau ihrer professionellen Musikstandards. Ich glaube daher, dass sein unmittelbarer Kontakt mit der Französischen Musikschule und ihrem Orchestrierungsstil ebenfalls ein Schlüsselfaktor für die endgültige Gestaltung seines persönlichen Klanguniversums war. Ich denke, dass ein Hinweis auf die Art der Beziehung, die Komponisten zu Wagner haben – und mehr noch für Opernkomponisten aus Samaras‘ Zeit –, eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des wagnerschen Einflusses auf Samaras‘ eigenes kreatives Schaffen ist. Auf allgemeiner Ebene lässt sich dieser Einfluss in dem Kontakt erkennen, den der Komponist mit den vorherrschenden postwagnerischen Musik- und Theaterkonzepten hatte, in die er sich nach und nach und auf natürliche Weise vertiefte. Ein Beweis dafür ist die Verwendung des Leitmotivs und sein allmählicher Widerstand gegen die Verwendung von Strukturformen, die als autonom und nicht voneinander abhängig definiert sind (wie Arien und verschiedene phonetische Ensembles). Auch die erweiterte Bedeutung, die der Rolle und Größe eines Orchesters beigemessen wird, ist ein Beweis dafür. Es scheint jedoch, dass Wagner-Konzepte, die bereits einer „Filterung“ durch den französischen Geist unterzogen wurden (dem sie als Konzepte auch viel verdanken), Samaras und seine Arbeit nur auf einer sekundären Ebene beeinflussten, wenn es um spezifischere Elemente ging (wie die Erweiterung des harmonischen theoretischen Denkens sowie die Art der Orchestrierung).

Samaras´ „Rhea“: Dimitria Theodossiou sang die Titelpartie in Athen 2004/filmora

Durch die Wahl des französischen musikalischen Weges macht sich der korfiotische Komponist die massive Anziehungskraft zu eigen, die in der wagnerianischen mythischen Figur der Einheit liegt, die darin besteht, klar definierte musikalische Parameter (wie Harmonie und Orchestrierung) auf die Logik eines ganzheitlichen dramatischen Konstrukts anzuwenden. In Übereinstimmung mit dem französischen Metrum ist diese Umarmung offensichtlich, aber qualitativ und niemals quantitativ. Diese metrische Umarmung beinhaltet auch eine kritische Haltung gegenüber dem Wagnerismus, zu einer Zeit, als allgemeine Reaktionen, die hauptsächlich aus Südeuropa kamen, auch neue ästhetische und künstlerische Bewegungen hervorriefen – die bekannteste davon war die Verismo-Bewegung.

Die Anziehungskraft, die von der Subtilität des französischen harmonischen theoretischen Denkens sowie von seinem delikaten Orchestrierungsstil in einer Zeit intensiver (und vielfältiger) Umwälzungen am europäischen Musikhorizont ausging, stellte für Samaras und seine hauptsächlich melodische Natur auch die „Gefahr“ dar, dass er genau diese Natur von sich ablehnen könnte. Sein Instinkt und seine italienische Erfahrung bewahrten ihn jedoch vor dieser „Gefahr“. In einem Interview, das er um 1910 einer Athener Zeitung gab (d. h. während der Kompositionsjahre von „Tigra“), stellte Samaras die Bedeutung der Melodie, wie sie von der zeitgenössischen französischen Musikschule vertreten wurde, nachdrücklich in Frage, indem er seine Ablehnung gegenüber dieser Art von ästhetischer Richtung betonte.

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Spyridon Samaras´“Mademoiselle de Belle-Isle“/ Szene der Aufführung in Athen 1997 mit Martha Araois und Angelos Simos/ youtube

An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Orchestrierung von „Tigra“ eingehen. Ich denke, dass die oben genannten Punkte die Affinität zwischen „Rhea“ und „Tigra“ verdeutlichen. Aufgrund dieser Affinität kam ich auf die Idee, mich bei der Orchestrierung von „Tigra“ auf die Orchestrierungskonzepte zu stützen, die in „Rheas“ Partitur allgegenwärtig sind, und dann auch Werke wie „Epinikia“, „Mademoiselle de Belle-isle“, „La biondinetta“ und „Kritikopoula“ als zusätzliche Inspiration zu berücksichtigen. Die von mir angewandte Instrumentenverteilung war die, die in „Rhea“ zu finden ist. Dabei habe ich mich eng an Samaras‘ Beispiel gehalten, mit einer Ausnahme. Ich habe mich entschieden, ein Kontrafagott speziell in der Prozessionsszene einzusetzen, während ich es aus Gründen der instrumentalen Ökonomie auch durchgehend verwendet habe. Soweit ich weiß, handelt es sich dabei um ein Instrument, das Samaras nie verwendet hat. Ein weiterer subtiler Unterschied zwischen meinem und Samaras‘ instrumentellem Ansatz (den er auch mit anderen Musikern seiner Zeit, insbesondere in Italien, teilte) bestand darin, dass ich die schnellen Übergänge bei den Ventil-Posaunen vermied. Wie wir aus „Rhea“ und der in „Lionella“ verwendeten Ungarischen Rhapsodie schließen können, scheint Samaras es vorgezogen zu haben, dass die Posaune mit Klappen gespielt wird.

Der Autor: der Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Um das Schlüsselproblem im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den Gesangs- und Instrumentalstimmen anzugehen, habe ich mich wieder so eng wie möglich an Samaras‘ Ansatz gehalten. Ich habe die Gesangsstimmen daher ohne instrumentale Unterstützung für sich allein stehen lassen. Ich habe dies so gehandhabt, es sei denn, die Dichte des Stücks erforderte das Gegenteil, um die Klangbalance zu erhalten. Darüber hinaus habe ich diese Strategie sowohl für die Gesangsparts der Protagonisten als auch für den Chor befolgt. Gemäß den kurzen Partituren habe ich es bewusst vermieden, die Pause der Chorstimmen während des Höhepunkts der Oper, wenn „Christos Anesti“ einsetzt, aus zwei Hauptgründen auszufüllen. 1) Obwohl der Komponist die Zeilen der betreffenden Metren vorgibt, lässt er sie dann leer, was meiner Meinung nach keineswegs zufällig war. 2) Ich glaube, dass Samaras das Geschehen auf der Bühne musikalisch (und in gewisser Weise rätselhaft) kommentieren wollte, indem er eine bekannte Hymne verwendete, ohne jedoch einen ihrer Texte zu verwenden.

Teile in den Partituren, die ich als Fehler erachtete, wurden korrigiert und in den beigefügten Anmerkungen des Herausgebers/Orchestrators ausführlich erläutert. Diese Fehler scheinen entweder aufgrund von Eile oder sogar aufgrund einer schlechten Handschrift entstanden zu sein, die das Löschen und die umfassende Korrektur von Fehlern erforderlich machte. Es liegt an zukünftigen Lesern – Interpreten von Samaras‘ Manuskript –, meine Entscheidungen zu überprüfen und weitere notwendige Überarbeitungen vorzunehmen. Byron Fidetzis/ DeepL/G. H. (Abbildung oben: Odalisque mauresque,  Georges Bretegnier, 1863 – 1892)/ Wikipedia commons. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.)

Hochbesetzte Schlangengrube

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Johann Adolf Hasse schrieb sein biblisches Oratorium Serpentes ignei in deserto für das berühmte Ospedale degli Incurabili in Venedig, wo es 1733 oder 35 uraufgeführt wurde. Das Werk fußt auf dem lateinischen Libretto von Bonaventura Bonomo und vermittelt die Botschaft, dass der Mensch nicht am göttlichen Wohlwollen zweifeln solle. Erzählt wird der Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten in das von Gott verheißene Land. Während der langen Durchquerung der Wüste beklagt sich das erschöpfte Volk und lehnt sich gegen Gott auf. Dieser schickt als Strafe giftige Schlangen, die vielen Menschen den Tod bringen. Moses bittet Gott um Vergebung, die gewährt wird. Eine eherne Schlange auf Moses´ Stange wird zum Symbol des Lebens und der Hoffnung.

Nach der Papierform hatte die Aufnahme das Zeug zu einer Sensation, denn nicht weniger als vier namhafte Countertenöre und ein Ausnahme-Sopranist sind in der Besetzung versammelt, ergänzt um einen gleichfalls renommierten Sopran. Sechs hohe Stimmen also und kein Tenor, kein Bass. Erato, derzeit neben Château de Versailles konkurrenzlos aktiv in der Einspielung von Werken Alter Musik, hat die Aufnahme im Juni des vergangenen Jahres in Paris produziert und eine Phalanx renommierter Interpreten des Genres verpflichtet (5021732399045). Weniger bekannt ist das Ensemble Les Accents, das unter seinem Gründer und Leiter Thibault Noally aber einen glänzenden Eindruck hinterlässt, die Musik in ihrer Bravour und belkantesken Lyrik mit frischem, unkonventionellem Zugriff interpretiert.

Der Beginn der Einspielung ist ernüchternd, denn der schwedische Counter David Hansen lässt es als Eliab in seiner vehementen Eingangsarie „Incerta vivendo“ zwar nicht an der gebotenen Virtuosität fehlen, irritiert aber mit enervierend heulenden Tönen. Die zentrale Partie des Moyses wird von Philippe Jaroussky wahrgenommen und auch er hat in seiner ersten Arie „Coelo turbido et irato“ Probleme, lässt eine unausgewogene Stimmführung hören. Besser gelingt ihm der finale Auftritt mit „Ara excelsa“, kann er doch in diesem ruhig-getragenen Stück seine Stimme unangestrengt und ausgewogen fließen lassen. Der Sopranist Bruno de Sà als Josue offeriert in „Spera, o cor“ Töne von mirakulöser Vollendung. Julia Lezhneva sorgt als Angelus für den ersten bravourösen Höhepunkt mit ihrer langen Arie „Caeli, audite“, welche zunächst und am Ende in getragenem Duktus erklingt, aber im Mittelteil ein furioses Koloraturfeuerwerk erfordert. Nicht weniger anspruchsvoll  ist die zweite Arie, „Aura beata“, mit schier endlosen Koloraturläufen, welche die Sopranistin in phänomenaler Manier absolviert und darüber hinaus mit jauchzendem Klang begeistert. Ihr fällt mit „Ecce conversus Israel“ der Exodus zu – ein Recitativo accompagnato, welches das Werk überraschend schlicht enden lassen würde, hätte der Dirigent nicht die Fugue aus der Introduzione angefügt.

Der Beginn der 2. CD markiert den Auftritt Nathanaels in Gestalt von Jakub Józef Orlinski, der die aufgewühlte Arie „Furit grando procellosa“ mit Entschlossenheit angeht, dessen larmoyantes Timbre jedoch nicht jedermanns Geschmack ist. Ihm folgt Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit der Partie des Eleazar. Er lässt zweifellos die schönste Counterstimme hören. Die Arie „Dolore pleni“ ist eine Perle der Komposition und in seiner Wiedergabe mit warmem, innigem Ton beglückend. Mit de Sà hat er ein Duett zu singen („Moesto corde“), welches zu den wunderbarsten Momenten der Aufnahme zählt, vereinen sich beide Stimmen doch in schönster Harmonie.

Das Ensemble mit seinem Dirigenten und einige der Solisten werden im Mai des kommenden Jahres das Werk in der Berliner Philharmonie aufführen – ein Fest für alle Freunde der Alten Musik. Bernd Hoppe

Ein Romantiker aus der Schweiz

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Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Das Lied von 1833 hat bis heute nichts von seiner Popularität eingebüßt. Und als sich Nena und Heino seiner annahmen, ist es sogar zum Schläger mutiert. Einst gehörte es zur Aussteuer singender Studenten und der Wandervogelbewegung. Kein Chor, der es nicht im Repertoire hat. Der Text stammt von Joseph von Eichendorff, die Musik von Friedrich Theodor Fröhlich. Er soll sich an einer viel älteren Vorlage unbestimmter Herkunft orientiert haben. Die Melodie ist eingängig. Einmal gehört, vergisst sie sich nicht wieder. Wer war dieser Fröhlich? Er wurde am 20. Februar 1803 im schweizerischen Brugg geboren und schied am 16. Oktober 1836 in Aarau freiwillig aus dem Leben. Lange verkannt, wird er heute „als der bedeutendste Schweizer Komponist der Frühromantik angesehen“, ist sich Johannes Vigfusson, Präsident der Internationalen Friedrich Theodor-Fröhlich-Gesellschaft sicher. Ein Beleg dafür ist auch die wachsende Zahl von Einspielungen. Eine Neuerscheinung als CD-Premiere ist bei Hänssler Classic herausgekommen. Es handelt sich um den Liederzyklus Johannes und Esther nach Versen von Wilhelm Müller, jenem Müller, der auch die Vorlagen zu Müllerin und Winterreise von Schubert dichtete. Ian Bostridge wird von Julius Drake begleitet (HC 23010).

Der schweizerische Komponist Friedrich Theodor Fröhlich (1803-1836) schied freiwillig aus dem Leben / Wikipedia

Vigfusson hat einen Text mit biographischen Angaben für das Booklet beigesteuert. Bereits im Kindesalter habe Fröhlich eine starke Begabung für Musik gezeigt, nach dem Besuch des Gymnasiums in Zürich 1822 in Basel und 1823 in Berlin ein Jurastudium begonnen, das ihn aber nicht zu fesseln vermochte. „In Berlin knüpfte er Kontakte zu den Musikpädagogen Carl Friedrich Zelter, Bernhard Klein und Ludwig Berger. Diese Begegnungen bestätigten ihn darin, sich ganz der Musik zu widmen.“ Nach einer durch Krankheit bedingten Rückkehr und zweijährigem Aufenthalt in Brugg sei der Dreiundzwanzigjährige 1826 wieder nach Berlin gegangen, diesmal mit einem Stipendium der Aargauer Kantonsregierung, um dort seine Studien der Komposition fortzusetzen. In Berlin folgte nach Angaben von Vigfusson eine reiche Schaffensperiode. Zahlreiche Lieder und Chöre, drei Streichquartette, unter anderem auch eine Ouvertüre und eine Sinfonie seien entstanden. Einige seiner Liedersammlungen wurden in deutschen Verlagen veröffentlicht. Dennoch habe es ihm nicht recht gelingen wollen, sich in Berlin eine unabhängige Existenz als Musiker aufzubauen. Vigfusson: „Voller Hoffnung auf einen fruchtbaren Boden für seine kompositorische und musikpädagogische Arbeit kehrte er 1830 in die Schweiz zurück. In Aarau erhielt er an der Kantonsschule eine Teilzeitstelle als Musiklehrer. Daneben leitete er Chöre und ein Liebhaberorchester und erteilte Privatunterricht. Neben dem ermüdenden Brotberuf widmete er die spärliche Freizeit dem Komponieren, und es entstanden hochbedeutende Werke, die bei Rezensenten begeisterten Anklang fanden. Künstlerische Vereinsamung und die mangelnde Beachtung durch Verleger und Publikum nährten aber in ihm eine zunehmende Mut- und Hoffnungslosigkeit.“ Zusätzliche finanzielle Sorgen und private Probleme hätten schließlich dazu geführt, dass er sich das Leben nahm. Die große Anzahl handschriftlicher Kompositionen seien in privater Verwahrung rasch in Vergessenheit geraten, doch mehrheitlich erhalten geblieben.

Der Zyklus Johannes und Esther, der von Müller mit der Bemerkung „Im Frühling zu lesen“ versehen wurde, ist 1821 erstmals im Druck erschienen – und zwar in einem Sammelband gemeinsam mit Müllerin und Winterreise. Nicht vertont wurde das abschließende Gedicht An Johannes, weshalb es auch im Booklet weggelassen wurde. Gelesen hätte man es schon gern. „Die neun dazwischenstehenden Gedichte sind Johannes in den Mund gelegt. Sie handeln von den inneren Nöten, die eine (damals unerlaubte) interkonfessionelle Liebesbeziehung zwischen einem Christen und einer Jüdin verursachte“, so Vigfusson. Das angespannte Verhältnis der Religionen hätte Müller seit seiner Kindheit in Dessau beschäftigt, wo sein Elternhaus gegenüber einer Synagoge gestanden habe. Es sei aber nicht mit Sicherheit bekannt, ob er in Johannes und Esther auch eigene Erlebnisse oder die eines Jugendfreundes verarbeitet habe. Für beides gebe es Hinweise.

Leider lässt die Interpretation durch den englischen Tenor Ian Bostridge nicht erkennen, warum er sich ausgerechnet dieses Werkes angenommen hat. Es gibt auch im Booklet keinen Hinweis darauf. Er ist für seine enge künstlerische Bindung an deutschsprachiges Liedgut bekannt. Wilhelm Müller ist ihm in den Vertonungen durch Schubert bestens vertraut. Der Musikwissenschaftler in ihm befindet sich stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen. So war der Weg in die Schweiz zu Fröhlich wohl nicht weit. Ich hätte mir eine schlichtere Darbietung gewünscht, die auch den Text und damit die spannende Geschichte deutlicher hervortreten lässt. Rüdiger Winter

Ersteinspielung

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Zwischen 65 und 70 Opern hat Gaetano Donizetti in nur einmal fünfzig Lebensjahren komponiert, so dass es dem in jedem Herbst stattfindenden Festival in seiner Heimatstadt Bergamo immer wieder gelingt, ein noch völlig unbekanntes Werk vor dem erstaunten Publikum zu präsentieren, so auch 2022, genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung an der Mailänder Scala, die Semiseria Chiara e Serafina, die allerdings  einer der schlimmsten Misserfolge für das Opernhaus wie für den Komponisten war und somit für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwand (s. den Bericht von Rolf Fath zur Aufführung in Bergamo 2022). Schuld daran trug der für seine Langsamkeit berüchtigte Librettist Felice Romano, der so säumig war, dass der Komponist nur elf Tage zum Komponieren hatte, nur wenige Proben stattfinden  und die Sänger Änderungswünsche nicht mehr durchsetzen konnten, entsprechend lustlos bei der Sache waren. Erst 1830 gab es wieder Donizetti in Mailand, Anna Bolena, allerdings im Teatro Carcano, und 1833 öffnete die Scala wieder ihre Pforten für den Komponisten für dessen Lucrezia Borgia.

Chiara e Serafina ist nicht etwa die erste eindeutige Lesbenoper, sondern es geht um zwei Schwestern auf Maiorca, die Jahre lang voneinander getrennt leben, weil Chiara mit dem Vater von Seeräubern entführt wurde, während Serafina vom Todfeind ihres Vaters zur Ehe gezwungen werden soll, obwohl sie einen anderen, Rosario, liebt. Entscheidend für den Sieg des Guten und der Guten ist die Wandlung im Charakter des Seeräubers Picaro zum Retter in höchster Not und mit viel Handlung in den unterirdischen Gängen zwischen Meeresstrand und Burg, und auch der männliche Part des niederen Paars, Don Meschino, ist einer der Strippenzieher, die für das happy end verantwortlich sind.

Abgesehen von dieser Partie, die dem gestandenen Bariton Pietro Spagnoli anvertraut ist, sind sämtliche Rollen mit Mitgliedern der Accademia Teatro alla Scala besetzt, auch der Chor entstammt der verdienstvollen Institution, während das Orchester Gli Originali sind, deren Namen verrät, dass unter Sesto Quatrini auf Originalinstrumenten aus der Entstehungszeit gespielt wird.

Weniger durch einprägsame Arien und Duette als durch mitreißende Ensembleszenen und rasante Finali überzeugt das Frühwerk (Donizetti komponierte es als Fünfundzwanziger ), aber es braucht auf jeden Fall auch gestandene Solosänger, die in dem bewährten Belcantobariton Spagnoli natürlich einen wichtigen Bezugspunkt fanden, der den Insiemi viel Halt verleiht. International geht es wie überall sonst auch an der Accademia zu, mit zwar auch italienischen, aber dazu drei asiatischen Solisten und einer Sängerin aus dem slawischen Sprachraum.

Der Bass Matias Moncada singt mit samtweicher Stimme den Don Alvaro, Vater der Schwestern, dazu noch die kurze Partie des Bösen, Don Fernando. Schon recht üppiges Material hat Sung-Hwan Damien Park für den Picaro, ihn könnte man sich auch als Malatesta vorstellen. Einen geschmeidigen Tenor leichter Emission setzt Hyun-Seo Davide Park für den von Serafina geliebten Don Ramiro ein, dessen  empfindsame Seite erfolgreich herauskehrend. Serafina ist Fan Zhou mit pikant-frischem Sopran, der auch einmal kindlich wirken kann. Die Schwester Chiara wird von Greta Doveri mit klarer, Zärtlichkeit verströmender Sopranstimme gesungen, wozu im Vergleich die Lisetta von Valentina Pluzhnikova typische Mezzoqualitäten aufweist.

Im ersten Augenblick bedauert man beim Erhalt der beiden CDs, dass man nicht die auch verfügbare DVD in Händen hält, ist aber, wenn man Fotos aus der Produktion angeschaut hat, dankbar dafür, dass man die  melodienselige Oper ohne die karikierende Optik genießen kann. Für das Publikum war das sicherlich eine vergnügliche Vorstellung und für die jungen Solisten eine wertvolle Erfahrung (Naxos 8.660552-53). Ingrid Wanja 

Heiter bis stürmisch

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Die Tragédie en musique Les Boréades ist Jean-Philippe Rameaus letzte Oper und eine seiner bedeutendsten. Nicht umsonst haben renommierte Alte-Musik-Dirigenten wie John Eliot Gardiner und William Christie das Werk in ihrer künstlerischen Arbeit favorisiert. Nun legt Erato (2173237273) eine Neuaufnahme mit dem ungarischen Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi und dem Purcell Choir vor, die im September 2023 in Budapest entstand. Es ist die Premiere für den Klangkörper bei diesem Label und eine exquisite Besetzung soll der Einspielung zum Erfolg verhelfen. Angeführt wird sie von der französischen Star-Sopranistin Sabine Devieilhe in der Partie der Alphise, Königin von Baktrien, die sich mit ihrem Geliebten Abaris dem Nordwindgott Borée und dessen Söhnen widersetzt. Ihr erstes, ausgedehntes Air, „Un horizon serein“, ist von introvertiertem Duktus, verlangt dennoch hohe stimmliche Kunstfertigkeit.

Wie ein Vogel jubiliert Devieilhe, lässt feinste  Schwingungen und raffinierte Modulationen hören. Abaris ist der Haute-contre Reinoud Van Mechelen – ein Spezialist für dieses Fach. Er tritt zu Beginn des 2. Aktes mit  dem Air „Charmes trop dangereux“ auf und besticht mit seiner exemplarischen Artikulation und individuellen Stimme. Heldischen Anstrich hat seine Air „Fuyez, reprenez vos  chaînes“ im 4. Akt. Mit Alphise hat er Ende des 3. Aktes das dramatische Duo „Borée en fureur“ zu singen, bei dem Donnerblech und Windmaschine eine furiose Gewitterstimmung heraufbeschwören. Diese nimmt die Suite des vents zu Beginn des 4. Aktes auf – ein hinreißendes Tongemälde von plastischer Imagination. Einen zweiten Tenor gibt es mit Benedikt Krist Jánsson in der Partie des boreadischen Prinzen Calisis, den Alphise auf Geheiß von Borée ehelichen soll. Ihm fällt das erste Air des Werkes zu, „Cette troupe amable“, das der isländische Sänger kultiviert vorträgt. Herrlich sein Air „Écoutez l´Amour“, in welchem der Purcell Choir prächtig assistiert. Die sich fast überschlagenden Koloraturen in Jouissons de nos beaux ans geraten dagegen etwas angestrengt. Mit dem Bariton Tassis Christoyannis als Hoheprieser Adamas ist die erste tiefe Stimme zu hören – in reifer, etwas grober Verfassung. Er gibt auch den Apollon und kann in dessen Air „Délices des mortels“ mit weicheren Tönen aufwarten.

Ein zweiter Bariton ist Philippe Estéphe als Borilée, der in seinem Air „Nos peuples“ mit gepflegtem Gesang erfreut. Das Bariton-Trio komplettiert Thomas Dolié als Borée, der in seinem kurzen Air „Venez punir son injustice“ im 5. Akt grimmige Töne hören lässt. Die Besetzung komplettiert Gwendoline Blondeel als Alphises Vertraute Sémire, Une Nymphe, L´Amour und Polymnie mit einem Sopran, der im Niveau der Devieilhe nicht nachsteht.

Vashegyi breitet die Komposition in ihrem Reichtum und der Vielfarbigkeit hinreißend aus, findet perfekt die Balance zwischen den lieblichen Divertissements und bedrohlichen Gewitterszenen. Prächtigen Umriss empfängt die Ouverture in ihrem Bläserglanz. Man höre, wie fein ziseliert das zauberhafte Motiv in der Contredanse pour la Suite de Borilée et de Calisis am Ende des 1. Aktes ist, wie delikat die Première et deuxième Gavotte pour les Nymphes ertönt, wie jauchzend sich das Rigaudon im 2. Akt aufschwingt. Zauberhafte Tänze pour l´Amour et le Plaisir beenden die Tragédie in heiterer Stimmung. Bernd Hoppe

Schöne Tradition

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Alles andere als politisch oder sonst wie korrekt ist Ermanno Wolf-Ferraris Einakter Il Segreto di Susanna, den er selbst als Intermezzo bezeichnete, der aber nun von Oehms als Komische Oper auf den Marktgebracht wurde und zwar als Mitschnitt eines Opernabends vor zwei Jahren, als daneben noch Mascagnis Zanetto als Kontrastprogramm von der Berliner Operngruppe aufgeführt wurde. Einiges Empörungspotential hat das Stück, da am Ende nicht die Gräfin Susanna vom Laster des Rauchens befreit wird, sondern ganz im Gegenteil ihr Gatte, der Graf Gil, ihm ebenfalls verfällt und das Ganze mit einem an Verdis Falstaff erinnernden  „Tutto è fumo“ gefeiert wird, nachdem schon zuvor Beethovens Fünfte und Debussys Siesta haltender Faun zitiert wurden. Ein stummer Diener geistert neben dem Ehepaar durch das Stück, der aber natürlich auf der CD keine Spur hinterlässt. Das Operchen wurde 1909 in München in deutscher Sprache uraufgeführt und verschwand nie völlig von den Spielplänen.

Seit zwölf Jahren erfreut die Berliner Operngruppe unter ihrem Dirigenten Felix Krieger das Berliner Publikum mit der Aufführung noch nie oder selten erlebten italienischen Opern, so Verdis I Masnadieri oder Stiffelio, Puccinis La Villi und Edgar, Bellinis Beatrice di Tenda, Donizettis Dalinda oder Mascagnis Iris, und von den beiden letzteren gibt es, ebenfalls von Oehms, CDs.

Kontinuierlich an Quantität, d.h. Zahl der Mitwirkenden, wie an Qualität gewachsen ist der Klangkörper, weil inzwischen fast ausschließlich aus Berufsmusikern bestehend, die es als eine Ehre ansehen, an den einmal im Jahr und einmalig stattfindenden Aufführungen teilzunehmen. Auch der Chor, der allerdings in diesem Werk nichts zu tun hat, hat eine ähnliche Entwicklung durchlaufen.

Das Orchester beginnt rasant und hat im Verlauf der knappen Stunde viele intensiv  genutzte Möglichkeiten, zahlreiche Facetten von Übermut,  Charme, Ironie,  Duftigkeit und Rasanz der Partitur auszuloten. Nie hat der Hörer wie sonst so oft den Eindruck, Leichtigkeit sei ein schwer zu vollbringendes Werk, sondern unter Felix Krieger, gewinnen die Musiker die Fähigkeit, sie als selbstverständlich erscheinen zu lassen. Sinfonia und Interludio erweisen sich als  kleine Kostbarkeiten. Auch die Gesangssolisten sind höchst erfreulich. Der italienische Tenor Omar Montanari, an Rossini und Donizetti geschult, verfügt über recht dunkle, gar nicht anämisch wirkende Stimmfarben, die Stimme hält auch dem Wutausbruch über den vermeidlichen Ehebruch stand, und die Diktion ist beispielhaft, was man leider von der der russischen Sopranistin Lidia Fridman nicht behaupten kann, die aber  mit einer frischen, in der Höhe aufblühenden Stimme, in der sich der Charme der optischen Erscheinung zu spiegeln scheint, den Ohren schmeicheln kann.

Man kann nur hoffen, dass es auch 2025 wieder eine Aufführung der Berliner Operngruppe und danach eine daran erinnernde CD geben wird (Oehms Classics 0C992). Ingrid Wanja         

Giuseppe Morino

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Der italienische Tenor Giuseppe Morino starb am 28. 10. 2024 im Alter von 74 Jahren.  Morino wurde am 18. August 1950 geboren und gab 1981 sein Debüt in Gounods „Faust“ beim Festival des Deux Mondes in Spoleto. Sechs Jahre später debütierte der Tenor beim Rossini Opera Festival als Pilade in „Ermione“. Er wurde für seine Arbeit im Belcanto-Repertoire anerkannt und trat an vielen der großen italienischen Häuser auf, darunter am Teatro alla Scala, am Teatro Regio di Torino und an der Arena di Verona.

Morino widmete sich der Aufführung selten gespielter Werke wie „La Favorita“, „Il Giuramento“, „Gianni di Parigi“, „La Cecchina“, „Maria di Rohan“ und „Lakmé“. Er sang auch bekanntere Werke wie „Il Pirata“, „Lucrezia Borgia“, „Lucia di Lammermoor“, „I Capuleti e i Montecchi“, „Alceste“ und „La Clemenza di Tito“.

Er hinterließ mehrere Aufnahmen, darunter eine Solo-Studioaufnahme mit dem Titel „The King of Bel Canto“.

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Das englische Gramophone schrieb zu seiner CD-Aufnahme mit dem etwas präpotenten Titel „King of Belcanto“ die nachstehenden interessanten Beobachtungen zu Morinos Stimme: Ich mag den Titel dieser Aufnahme, „King Of Belcanto“, nicht, aber ich mag Giuseppe Morino (mit einigen Einschränkungen). In dieser späten Renaissance der Praxis im Stil des frühen 19. Jahrhunderts gab es mehrere bemerkenswerte Tenöre, die jüngsten darunter Chris Merritt, Rockwell Blake und Raul Gimenez. Von diesen finde ich, dass die Bewunderung für die Technik der ersten beiden (obwohl sie in Italien sehr erfolgreich sind) nicht zu einer Vorliebe für ihre Stimmen oder einer positiven Reaktion auf ihren Stil führt; Gimenez, mit einem wärmeren und selteneren Klang, hat eine persönlichere Ausstrahlung, auch wenn er objektiv weniger brillant ist als die anderen. Morino scheint das zu haben, was wir uns schon immer gewünscht haben: die Stimme eines italienischen lyrischen Tenors, die sich über den besonders anspruchsvollen oberen Tonumfang dieses Repertoires erstreckt und dabei immer noch süß und ungezwungen klingt.

Sein erster Vorzug ist die wohlklingende Qualität seines Tons, sein zweiter sein außergewöhnlicher Erfolg bei den hohen Tönen, C und höher. Es gibt hier zahlreiche Beispiele, wobei das hohe C von „Salut, demeure“ und das Cis von „A te, o cara“ nur die Vorbereitung für die stratosphärischen Höhen von Il pirata und Semiramide sind. Mit dieser Oper feierte Morino 1986 beim Valle d’Itria Festival seinen ersten großen Erfolg in Italien. Die Wiederherstellung von „Ah, dov’e il cimento“ im ersten Akt, das äußerst schwierig ist und normalerweise ausgelassen wird, war eine der Besonderheiten dieser Oper. Er überzeugte die erfahrensten italienischen Kritiker sowohl bei dieser Aufführung als auch bei der Wiederaufnahme von Donizettis Maria di Rohan im Jahr 1988 davon, dass es sich hier um einen Tenor handelte, der sich in der Geschichte der Vokalkunst auskannte und in der Lage war, den Klang und wahrscheinlich auch den Stil der ursprünglichen Sänger authentisch wiederzugeben. Nicht, dass sein Stil besonders dekorativ wäre oder dem modernen Geschmack als übermäßig selbstgefällig gelten könnte: Seine „Una furtiva lagrima“ zum Beispiel ist viel „direkter“ als die von Caruso aus dem Jahr 1904, und obwohl er die Arie aus Pecheurs de perles mit dem diskreditierten hohen Zusatz beendet, tut er dies unauffällig und erzielt eine so schöne Wirkung, wie ich sie je gehört habe. Wie so viele seiner Landsleute aspiriert er seine Läufe viel zu oft (in meinen Augen unerträglich in der Semiramide), und ein weiterer Fehler ist, dass seine „e“-Laute (wie in „vedo“) dazu neigen, nach hinten in den Rachen zu wandern. Quelle Gramophone/DeepL

 

 

Glucks „Iphigénie en Aulide“

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Es war damals ein Paukenschlag. Ausdruck von künstlerischem Selbstbewusstsein. Eine Wegmarke. Von jetzt an sollte alles etwas anders auf der Musikbühne zugehen. Christoph Willibald Gluck hatte mit der Pariser Operndirektion einen Vertrag über sechs Opern abgeschlossen. Den Auftakt machte Iphigénie en Aulide. Francois-Louis Gand Le Blanc du Roullet hatte dazu die seit hundert Jahren auf der französischen Bühne bewunderten Alexandriner der Iphigénie von Racine, der seinerseits von Euripides inspiriert wurde, in ein Libretto gefasst. Da die Sänger trotz sechsmonatiger Probenzeit ungenügend vorbereitet schienen, ließ Gluck sogar die Generalprobe verschieben und König und Königin samt Hof ausladen. Doch als die Oper am 19. April 1774 endlich über die die Bühne ging und das Publikum erlebte, wie der Text durch die Musik unterstützt wurde, wie Worte und Gesten und Akzente im Sinn der „Tragédie-Opéra“ Gewicht erhielten und Klytämnestra, Agamemnon, Kalchas und Iphigenie in ihren menschlichen Leidenschaften und ihrer Maßlosigkeit gezeigt wurden, war die Bewunderung groß. Auch wenn er sich vom Vorbild Rameaus verabschiedete, hatte der 60jährige Gluck durch virtuose Arien und Ballette dem französischen Geschmack Tribut gezollt.

Die Alpha Classics-Aufnahme (2 CD 1073) des ohnehin selten eingespielten Werkes – die première mondiale legte Gardiner erst 1990 vor – verdient besondere Beachtung durch die Wahl des Orchesters, dessen Geschichte fast so alt wie die von Glucks Oper ist. 1784 gründete der Offizier und Musikliebhaber Claude-François-Marie Rigoley, Comte d’Ogny, das Orchester Le Concert de la Loge, für das er beispielsweise Haydns Pariser Sinfonien in Auftrag gab. 2015 ließ der Geiger Julien Chauvin Le Concert de la Loge wiederaufleben, ohne sich speziell der Musik des Barock zu verschreiben.

Die im Oktober 2022 im nordfranzösischen Soissons entstandene Aufnahme zeigt im durchsichtigen und leichten Klang, in den sprechenden Tempi, im fein abgestimmten Spiel der Streicher und Holzbläser die besondere Affinität zur Musik der Reformzeit. Der in der Ouverture angeschlagene Ton des knapp 40köpigen Orchesters schmiegt sich dem Text geschmeidig an, so dass der hier auffallend leicht, doch etwas rau und später in seiner Szene am Ende des 2. Aktes hinreichend schmerzgebeugt wirkende Bariton Tassis Christoyannis die Vorgeschichte vom Gebot der Diana, wonach Iphigenie als Preis für die ruhmreiche Heimkehr der Griechen geopfert werden müsse, als Agamemnon tatsächlich „erzählen“ kann. Der anschließende Dialog mit Kalchas, der davor warnt, den Zorn der Göttin herauszufordern, gerät in der Abfolge kurzer Arien, Rezitative und eines Duetts zu einem erregten Disput zweier klugen Männer, wobei der Bariton Jean Sébastian Bou fast ein wenig zu elegant für den Seher wirkt.  Die Choreinwürfe der knapp zwei Dutzend Sänger von Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles sind demzufolge Kommentare zufällig anwesender Zuschauer.

Ähnlich empfinde ich auch Iphigénie und ihre Mutter Clytemnestre, die wie Schwestern klingen. Die Clytemnestre der Stéphanie d’Oustrac wirkt, möglicherweise auch ein wenig ungünstig aufgenommen, wie hinter Nebelschwaden, gräulich uninteressant, bleibt zwar verquollen, gewinnt aber in den leidenschaftlichen Einwürfen an Farbe und Gewicht, während Judith van Wanroijs recht reife Iphigénie der Anlage der Partie entsprechend nobel verhalten und blässlich bleibt, aber im dritten Akt mit großer Sensibilität gesungen wird.

Immer aufregend und ein herausragender Sänger: Cyrill Dubois, der auf der neuen Aufnahme von „Iphigénie en Aulide“ den Achille singt/©Jean-Baptiste-Millot/Alpha

Mir gefällt der gesteigerte Konversationston der Aufnahme, das sinnstiftende Pathos, manchmal etwas steif, aber größtenteils mit ausdrucksvoller, plastischer und sinnerfüllender Diktion, etwa der immer am Rande der Erschöpfung agierende Cyrill Dubois, der als jugendlicher, ungestümer, sich vor Aufregung stimmlich fast verhaspelnder Achille zu Iphigénie stürmt und seine kleine Air „Cruelle, non, jamais votre insensible coeur“ mit viel Zärtlichkeit und Empfindung singgestaltet. Auf jeden Fall erreicht Julien Chauvin einen durchgehend dramatischen Fluss. Er entspricht auch ansonsten Glucks Anmerkungen, die verlangen „schnelle Tempi und einen einheitlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Unterbrechungen Effekte und nicht die Norm sind. Die vorliegende Aufnahme hat versucht, dem Geist und so weit möglich dem Buchstaben der von Gluck erdachten stilistischen Revolution in der französischen Oper treu zu bleiben“. Die Aufnahme verzichtet übrigens auf den erst im Jahr nach der Uraufführung hinzugefügten Deus ex machina-Auftritt der Diana und überlässt die Zeilen der Göttin „Votre zèle des Dieux a fléchi la colère“ dem Kalchas.  Rolf Fath

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Dazu ein kleiner Überblick über Vohandenes angesichts dieser für mich (wegen Chauvin aber malgré der Damen) doch bedeutenden Neuerscheinung bei Alpha. Die Aulidische Iphigenie tritt ja gerne – für mich zu absolutem Unrecht – hinter ihrer Tauridischen Schwester zurück, auch im Bereich der Dokumentationen. Wenngleich sie öfter gespielt wird als angenommen, namentlich in deutschen Gauen. In Erinnerung bleibt da die gruseligen deutschprachige Bearbeitung (!) in Salzburg 1962 mit der bizarren Verwirrung der Partien, als Inge Borkh und Christa Ludwig die jeweils falschen Partien sangen (zuletzt nun orfeo). Da rettet auch Karl Böhm nichts. Der Berliner Rias gab die Oper mit Martha Musial und Johanna Blatter unter Arthur Heger und dem ganz jungen Fidi 1951 (Walhall und andere). 1992 brachte die Berliner Staatsoper eine Produktion auf die Bühne, die man bei youtube nachhören kann (Schreier; Hajóssyová, Lang, Vogel, Büchner) und die ich optisch recht gruselig, aber natürlich repertoiremäßig verdienstvoll in Erinnerung habe.

Gundula Janowitz sang dier Clytemnèstre in Wien 1987/Foto Michaael Poehn/Wiener Staatsoper

Deutsch ist auch die straffdirigierte Wagnersche Version, die es bei Oehms unter Christoph Spering mit einer phlegmatischen Camilla Nylund auf die CD brachte (wir hatten dazu einen Artikel in operalounge.de). Vergessen möchte ich die vorausgehende trübe Aufnahme bei Ariola mit einer bizarren  Anna Moffo neben einer uninspirierten Trudeliese Schmidt unter Kurt Eichhorn (die Ariola hatte wirklich fatale Casting-Vorstellungen, wenngleich die Moffo die Partie bereits bei der RAI in den frühen Sechzigern gesungen hatte, sie musste nur umlernen).  In München rettet nur Arleen Auger als Diana das Niveau. 2009 spielte die Römische Oper die Wagner-Fassung in Französisch (?) noch einmal (Ekaterina Gubanova machte keinen Splash als Mutter neben Krassimira Stoyanovas sehr reifer, recht anämischer Iphigenie, alles unter Ricardo Mutis schwerer Hand/Radio).

Maßgeblich war lange Jahre die Gardiner-Erst-Einspielung des Originals bei Erato (1990, damals ein Wagnis im Rahmen der vielen französischen Ersteinspielungen der Firma), mit einer nachdrucklosen Anne Sophie von Otter als Mama und Lynn Dawson frisch und jung als Iphigenie, alles nicht unrecht, aber doch eher allgemein. Und langweilig-höflich. Aber es blieb bis zur gegenwärtig besprochenen Rousset-Aufnahme auf dem Platten-Markt dabei.

Unter Sammlern kursiert ein bemerkenswertes Dokument von Gundula Janowitz als außerordentlich engagierte Clytemnèstre, die ich damit noch 1987 in Wien an der Staatsoper erlebt habe – stehplatz-stehend, staunend und bewegt. Die Janowitz hatte man so rasend, so temperamentvoll noch nie erlebt, und nach schlechten Erfahrungen mit dem Wien Publikum ihrer letzten Jahre traute sie dem frenetischen Beifall erst nicht. Mit Joanna Borowska und Bernd Weikl unter einem rasanten Charles Mackerras war dies ein fulminanter Abend.

Véronique Gens singt in der radio-dokumentierten Aufnahme aus Aix 2011 eine solide Iphigenie, Frau Otter hatte wohl das Monopol auf die Mutter, Mark Minkowski macht einen flotten Job, damals galt die Aufführung als maßstäblich. Aix gab in diesem Jahr (2024) die Oper erneut, Emmanuelle Haïms Leitung hielt die Musik durchsichtig und schwungvoll, Véronique Gens ist inzwischen ins Mutterfach umgestiegen und hätte einen Schluck Pastis (oder zwei) mehr vertragen können, Corinna Winters als ihre Tochter ist angenehm, aber nicht aufregend. Vorher hatte Mark Minkowski sich in Amsterdam 2012 für das Werk stark gemacht (Radio), immerhin mit Mireille Delunsch und Yann Beurron als Liebespaar sehr gut besetzt. La Gens war 2009 in der jugendlichen Rolle 2009 in Brüssel zu hören, damals unter Christoph Rousset (Radio).

Die unvergleichliche, einmalige und sensationelle Jane Rhodes/Publicityfoto/Hei

Und Ricardo Muti hatte die Oper schon 2002 in Rom mit der damals entzückenden Genia Kühmeier neben der viril-robusten Daniella Barcellona gegeben (Radio). 2002 dirigierte Kenneth Montgomery sehr gewinnbringend die Aulidische in Amsterdam mit der hoffnungsvollen Robin Redmon in der Titelpartie (Radio). Paris erlebte die Oper zuletzt 2022 unter Julien Chauvin mit Judith Wanroij, Stéphanie D´Oustrac, Cyrill Dubois und Tassis Christoyannis (das klingt doch vertraut, nicht wahr?). Auch damals waren die Meinungen über die Damen schmallippig

Aber nicht vergessen sollte man die eigentliche Pioniertat, in Aix 1963, nicht, diese sogar televisionär in strengem, ruckelndem Schwarz-Weiss festgehalten: Jane Rhodes als energische, recht notenfreie Iphigenie, dazu alles was in Frankreich damals opernmäßige Füße hatte, von Gabriel Bacquier über Michel Sénéchal zu Christiane Gayrod, alles unter Pierre Dervaux, und der konnte Drama! Allein schon die Rhodes ist das Reinhören wert, selbst wenn Puristen sich sicher mit Schauder abwenden. Ich mag mich irren, aber ich denke, dies war die erste Aufführung der Oper in Frankreich nach dem Krieg, zumindest urteilten die überraschten Kritiker so  13. 11. 24). G. H.

Vielseitig

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Tenor-Recitals mit Arien aus italienischen Opern beginnen oder enden meistens mit Nessun dorma. Die neue CD von Saimir Pirgu gehört zu den letzteren und bietet davor auf seiner neuen CD, die sehr anspruchsvoll Saimir betitelt ist,  einen bunten Strauß nicht nur der gängigsten und beliebtesten Arien von Puccini, sondern, schließlich sind nicht weniger als sechs Sprachen vertreten, auch Französisches, Russisches, Spanisches, Deutsches und wohl auch Albanisches. Auf seiner ersten CD vor einigen Jahren hatte der Sänger sich noch auf Belcanto und Verdis Duca und Alfredo beschränkt und dabei dem Hörer eine schöne lyrische Stimme präsentiert, jetzt streift er mit Des Grieux und Andrea Chenier bereits den tenore eroico, vor allem in seiner Auffassung von deren Arien, die in einem kraftvollen, stellenweise aber auch leicht angestrengt wirkenden Gesangsstil, mit bemerkenswertem Squillo und hörbar schwächer ausgeprägter tiefer Lage den Hörer zwischen Faszination und Irritation schwanken lassen. Des Grieux Arie aus dem dritten Akt wird mit einer fürchterlichen Lache verunziert, das Bestreben, den Hörer zu überwältigen, ist allzu hörbar. Die Figur  begegnet dem Hörer auch später noch, so wie auch Cavaradossi, Kalaf und Andrea Chénier je zwei über die CD verstreute Auftritte haben. Des Sängers Des Grieux lässt in Donna non vidi mai zwar nicht vokale Kraft, aber jeden Anflug von Melancholie, die Tenorstimmen und nicht nur diesen so gut ansteht, vermissen, Cavaradossis E lucevan le stelle erfreut wohl durch ein dunkelgefärbtes Timbre, hat aber nicht die erwünschte Zartheit für die belle forme, mit äußerst stählernem Ton wird la vita beschworen, und bereits in Recondita armonia scheint der Tenor unter Dauerdruck zu stehen, quasi a squarciagola zu singen.

Aus Andrea Chénier gibt es Un di all’azzuro spazio, für das man sich anstelle der Daueraufgeregtheit mehr Nuancen wünscht, wo auch wieder die Höhe frappiert, und auch die letzte Arie, Come un bel di, wünscht man sich verinnerlichter. Natürlich darf Giordanos Amor ti vieta nicht fehlen und profitiert von den reichen Stimmfarben. Von Puccini sind noch der Roberto aus Le Villi mit zu viel Bewusstsein für das Ausstellen vor Kraft, der Luigi,  der mit Hai ben ragione dem Sänger gut in der Stimme  liegt, der Pinkerton mit zu lautem Fiorito asil und natürlich Kalaf mit einem Non piangere, das die arme Liù in dieser Lautstärke eher verängstigen als trösten dürfte, vertreten. Da hätte man sich mehr Zartheit und Zärtlichkeit gewünscht.

Für Maurizios L’anima ho stanca nimmt der Tenor die Angebote zu einer feinen Agogik an, kann die Höhe schön decken, lässt aber in der Tiefe die Stimme an Qualität verlieren, verdienstreich ist die Vorstellung von Leoncavallos Chatterton, die ein schönes Plädoyer für diese zu Unrecht vergessene Oper ist.

Aus dem französischen Repertoire stammt die Blumenarie des Don José mit zwar gelungener Fermate auf dem Spitzenton, aber insgeamt doch zu hart, zu kantig dargeboten, Berlioz‘ Fausts Nature immense gibt sich als gelungener Kraftakt, und Wagners Lohengrin ergeht sich zwar bei abrupten Übergängen auch in lobenswerten Pianissimi, die jedoch eher fahl, weniger ätherisch klingen, dem Lenski ist die Stimme mittlerweile entwachsen.

Seine Vorzüge ausspielen kann der Tenor im Zarzuela-Stück No puede ser, wohl eine albanische Oper ist Skenderbeu und damit ein Stück Heimat für den Sänger, der vom Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Antonino Fogliani kompetent begleitet wird (Opus arte  CD9052D). Ingrid Wanja           

Rundum gelungen

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Das winzige Quäntchen Unzufriedenheit, das das vollkommene, hundertprozentige Opernglück trübt, ist die Tatsache, dass Don Ottavios zweite Arie, Il mio tesoro intanto, zwar im viersprachigen (!) Libretto des Booklets, aber weder auf der Chateau de Versailles-DVD noch der -BLu-ray von Mozarts Don Giovanni zu finden ist . Nicht das Palais Garnier, schon gar nicht die Opéra Bastille oder die Opéra Comique bescheren ansonsten eine makellose Aufführung des drama giocoso im Schloss von Versailles, sondern die dort ansässige Opéra Royal mit dem dazu gehörigen Orchester, dem Chor und dem Ballett. Das Theater wurde unter Louis XV. in einem Seitenflügel des Schlosses eingerichtet und führt regelmäßig in einem im Wesentlichen gleich bleibendem Bühnenbild, nicht unähnlich dem Palladio-Opernhaus in Vicenza, vor allem Werke auf, die nicht nach der Einweihung  des Saals entstanden sind.

Was als erstes nicht nur überzeugt, sondern gerade entzückt ist die Optik, insbesondere die Kostüme von Christian Lacroix, höchst geschmackvoll, vielleicht ein wenig zu prächtig bunt für das Landvolk, aber ganz sicherlich in ihrer stilsicheren Eleganz den Sängern die Gewissheit verschaffend, durchgehend bella figura zu machen, was sich nicht selten auch auf eine optimale gesangliche Leistung auswirken kann. Die Regie von Marshall Pynkoski beschränkt sich auf sinnvolle Arrangements im Stil der commedia dell‘arte, wobei die Mitwirkung der Choreographin Jeanette Lajeunesse Zingg auch die tumultartigen Szenen wie den Schluss des ersten Akts zu choreographischen Kunstwerken werden lässt, was auch für das Auftischen des Mahls oder für die Prügelszene gilt. Dabei führt das Einhalten einer Etikette der Eleganz keineswegs dazu, den Zuschauer weniger am Schicksal der Figuren teilnehmen zu lassen, im Gegenteil, was auch das Herein- und Hinaustragen von Requisiten bei offenem Vorhang nicht tut, ein angenehmer Schwebezustand zwischen Realität und Illusion bleibt stets erhalten. Am Schluss dröhnt eine mächtige Lache Don Giovannis, der gerade zuvor in wild geschwenkten roten Tüchern den Flammentod erlitten hatte, durch den Saal, das gerade verklungene Sextett Lügen strafend.

Wie die optische, so ist auch die akustische Seite der Aufführung  (fast) ausnahmslos Freude spendend.  Gaétan Jarry kann bereits mit der Sinfonia eine nie nachlassende Spannung und Gespanntheit aufbauen, stilsicher ist Steve Bergeron als pianiste accompagnateur,  zu einer quirligen Einheit schmelzen Chorsänger und Balletttänzer  zusammen.

Nicht wie ein spanischer Grande in der Blüte seiner Jahre, sondern eher wie ein Cowboy mittleren Alters mit Rauschebart wirkt leider Robert Gleadow, eigentlich ein erfahrener Mozartsänger und doch hier auch akustisch recht grobschlächtig wirkend und als Einziger nicht ideal den Vorstellungen von der Partie entsprechend,  an einen Ruggero Raimondi darf man gar nicht denken, auch wenn das Wissen um die Bedeutung der Rezitative imponiert. Das ist aber der einzige Fast-Ausfall.  Überaus gewandt in Spiel wie Gesang zeigt sich Riccardo Novaro als Leporello, der die Registerarie nicht nur singt, sondern auch nicht nur bei „porta la gonella“ spielt. Angsteinjagend ist Nicolas Certenais als Komtur mit tatsächlich Grabesstimme. Elegant und geschmeidig in jeder Hinsicht ist Jean-Gabriel Saint Martin als ungewöhnlich charmanter Masetto. Zum Glück nicht als blässlichen Schwächling stellt Enguerrand de Hys den Don Ottavio dar, der auch akustisch gar nicht anämisch trocken, sondern in Dalla sua pace variationsverliebt und höhensicher ist.  Durchweg optisch höchst attraktiv, wobei die Kostüme hilfreich sind, zeigen sich die drei Damen. Die Donna Anna von Florie Valiquette macht viel aus den Rezitativen, erreicht jede Höhe mit Leichtigkeit und ist sicher in den Koloraturen. Ab und zu eine leichte Schärfe wirkt nicht wie ein Makel, sondern ist der intensiven Interpretation geschuldet. Etwas runder und wärmer klingt der Sopran von Arianna Vendittelli in schlanker Farbigkeit. Die Zerlina von Éléonore Pancrazi singt ihre zweite Arie mit schönen Verzierungen, ist mehr als eine Soubrette, ohne auf deren Charme zu verzichten, wozu allerdings nicht gehört, dass sie Geld von Don Giovanni nimmt.  Aber irgendwie muss sich die Regie schließlich profilieren.

Es gibt nicht nur das umfangreiche Booklet mit vielen Informationen und Fotos, sondern auch gleich außer der Blu ray eine DVD, so dass man sich davon überzeugen kann, ob die neuere Technik tatsächlich Vorteile bringt (CVS 115/ 13. 11. 24). Ingrid Wanja

Sportliches

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Wieder einmal hat das Label Château de Versailles sein angestammtes (französisches) Repertoire verlassen und sich einem italienischen Komponisten gewidmet. Gegenstand ist die Opera seria L´Olimpiade von Domenico Cimarosa. Kein Geringerer als der Barockspezialist Christophe Rousset steht an der Spitze seines Orchesters Les Talens Lyriques. Das Ergebnis ist nicht weniger als sensationell zu nennen. Der Klang evoziert rasante Sprints und mirakulöse Sprünge bei der Olympiade, wie man es zuletzt in Paris erlebt hatte. Schon die Sinfonia fegt wie ein Sturmwind vorüber und bis zum Schluss erlebt man spannungsreiches, farbiges Musizieren von eminentem Drive und überschäumender Verve.

Metastasios verworrenes, mehr als fünfzigmal vertontes  Libretto erzählt vom Brauch der antiken Olympiade, nach dem der Sieger der Wettkämpfe die Tochter des amtierenden Herrschers heiraten darf. Hier ist es der Athener Megacle, der Aristea, Tochter des  Clistene, König von Sikyon, liebt. Megacles Freund Licida liebt die Kreterin Argene, verliebt sich jedoch gleichfalls in den Siegerpreis Aristea. Nach vielen Verwirrungen wird am Ende mit einem Chor des Volkes das lieto fine gefeiert.

Die Besetzung ist exzeptionell und weist keine Schwachstellen auf. Vielleicht ist die Sopranistin Rocío Pérez an die Spitze zu setzen, die die halsbrecherische Partie der Aristea mit Bravour meistert. Bereits der Auftritt „Tu di saper procura“ erfordert geradezu artistische Koloraturläufe und ausgedehnte Töne in höchsten Regionen. Auch die in „Mi sento, oh Dio!“ geforderte Bravour ist enorm. Die Sängerin lässt hier die staccati in extremer Tessitura glitzern. Ihre Landsfrau Maite Beaumont ist dagegen eine gestandene Größe im barocken und Belcanto-Repertoire. Mit der Interpretation des Megacle beweist sie ihren noch immer unangefochtenen Ausnahmerang. Sogleich ihr Entree, „Superbo di me stesso“, lässt in seinem vehementen Zugriff aufmerken. Mit nobler Kultur wartet sie am Ende der Oper in der Arie „Nel lascarti“ auf. Im kantablen Duett mit Aristea „Ne´ giorni tuoi felici“ harmonieren die Stimmen beider Sängerinnen perfekt. Auch die Schweizer Sopranistin Marie Lys hat bereits einen Namen in der Opernwelt, ihre Argene nimmt schon in ihrer getragenen Eingangskavatine „O care selve“ mit delikaten Tönen und feiner Linie für sich ein. In der erregten Arie des 2. Aktes „Spiegar non posso“ zeichnet sie mit vehementer Tongebung plastisch eine dramatische Situation. Die französische Mezzosopranistin Mathilde Ortscheidt gibt dem Licida prägnante Kontur, berührt in ihrer Eingangskavatine Mentre dorrmimit innig warmer Tongebung. In der Arie des 2. Aktes „Torbida il ciel“ wird dagegen flexible Stimmführung gefordert, womit die Interpretin keine Probleme hat.

Zwei Tenöre komplettieren die Besetzung – der Kanadier Josh Lovell als König Clistene und der Brite Alex Banfield als Licidas Erzieher Aminta. Ihm fällt mit „Siam navi all´onde algenti“ die erste Arie des Werkes zu, die er in ihrem stürmischen Duktus mit entschlossener Attacke angeht und damit für einen gelungenen vokalen Auftakt sorgt. Auch „In un cor“ zu Beginn des 2. Aktes gelingt ihm vorzüglich. Ersterer führt sich mit der energischen Arie „Del destin non vi lagnate“ ein, die er nachdrücklich vorträgt. Mit sublimen lyrischen Valeurs wartet er bei „Non so donde viene“ im 2. Akt auf. In der Scène dernière vereinen sich alle sechs Interpreten zu einem stürmischen Abgesang und demonstrieren noch einmal den hohen Rang dieser Aufnahme, die im Dezember 2023 in Paris entstand und auf zwei CDs veröffentlicht wurde (CVS143/ 12. 11. 24). Bernd Hoppe

Uraufführung

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Mit gleich zwei Uraufführungen eigener Werke beschenkte der von 2008 bis 2022 in Freiburg wirkende Dirigent und Komponist Fabrice Bollon das dortige Publikum, inzwischen ist er seit 2022 Generalmusikdirektor der Staatskapelle Halle ist. Nach Oskar und die Dame in Rosa, der Geschichte eines krebskranken Jungen,  folgte 2021 The Folly, eine Oper, in deren Mittelpunkt der Reformator Erasmus von Rotterdam und seine Auseinandersetzungen mit Martin Luther und Ulrich von Hutten stehen, dazu kommt eine allegorische Figur, Stutitia, die Verkörperung der Torheit, die immer mal wieder triumphieren kann.  Im Zentrum des fünfaktigen Stücks steht im dritten Akt die Auseinandersetzung zwischen dem jede Art von Gewalt ablehnenden, zögerlichen Erasmus mit dem entschlosseneren Martin Luther, die in deutscher Sprache geführt wird, während neben dem Lateinischen für die drei unterschiedlichen Päpste, dem Baseldütsch für die Auseinandersetzung mit der Haushälterin Margarethe Büsslin, auch die englische und die niederländische Sprache Einzug in das Libretto von Clemens Bechtel gehalten haben.

Ebenso vielfältig ist die Instrumentierung mit einem klassischen Orchester und dazu Elektro-Violine, ebensolchem  Cello, Keyboard, das Einbauen von U-Musik und elektronischen Klängen. Die Erzdiözese Freiburg förderte übrigens das Projekt.

The Folly gibt es als Doppel-CD, aber viel mehr hätte man von einer DVD gehabt, denn egal ob Niederländisch oder Basler Deutsch, man kann dem Geschehen nur mit Mühe einigermaßen folgen, wird allerdings von einer sehr ausführlichen Inhaltsangabe  im Bemühen darum unterstützt und von einer Trackliste, mit deren Hilfe man erst einmal überhaupt die einzelnen Figuren identifizieren kann. Auch die vielen Fotos von der Uraufführung in Freiburg sind eine Hilfe beim Erfassen des Werks.  

Für ein relativ kleines Dreispartentheater wie Freiburg ist die Besetzung geradezu erstaunlich gut und auch das Philharmonische Orchester Freiburg, Chor und Extra- sowie Kinderchor unter der Leitung des Komponisten leisten Erstaunliches an, Präzision, Klangfülle und Straffheit. Den Erasmus singt Michael Borth mit so geschmeidigem wie sonorem Bariton,  Roberto Gionfriddo ist mit kraftvoll eiferndem Tenor Martin Luther, Ulrich von Hutten ist dem mit Nachdruck differenzierendem Mezzosopran von Inga Schäfer anvertraut und muss sich nur, was Kraft betrifft, gegenüber dem Erasmus geschlagen geben. Ihr „Deutschland muss frei  sein“ bleibt in Erinnerung. Vollmundig nimmt sich Anja Jung der Haushälterin Büsslin an, während John Carpenter einen würdig klingenden Petrus singt. Zvi Emanuel-Marials Countertenor wird desto präsenter, je höher er steigen darf. Einen feinen Sopran hat Agostina Migoni für die Mother, Stavros-Christos Nikolaou ist der sonore Priest, auch alle anderen enttäuschen keineswegs und legen Zeugnis ab für die hohe Qualität, die an einem Provinztheater erreicht werden kann (Naxos 8.660545-46). Ingrid Wanja