Archiv für den Monat: Dezember 2023

Spurensuche

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Nach Jéliote, haute-contre de Rameau und Dumesny, haute-contre de Lully vollendet Reinoud Van Mechelen bei Alpha Classics seine haute-contre-Trilogie mit Legros, haute-contre de Gluck (ALPHA 554). Joseph Legros  (1739 – 93) sang an der Pariser Opéra, renommierte Komponisten wie Gossec, Grétry, J. C. Bach und Piccinni schrieben Partien für ihn. 1774 traf Gluck in Paris ein, was einen Wendepunkt in der Karriere des Sängers markierte. Er trat als Orphée und in beiden Iphigénie-Opern auf. Gerühmt wurde er für seine Musikalität, den enormen Tonumfang, die ungewöhnliche Virtuosität und die spektakulären Spitzentöne.

Van Mechelen wird bei dieser Einspielung, die im Dezember 2022 in Antwerpen entstand, wieder von seinem Ensemble a nocte temporis begleitet und macht mit für Legros komponierten Opern bekannt. Am Beginn steht Jean-Benjamin de La Borde mit drei Ausschnitten aus Thétis et Pelée. Das Orchester stimmt die muntere, von den Bläsern dominierte Ouverture an und gefällt mit musikantischem Schwung. Das Air „Que mon destin est déplorable“ wird dominiert von trauernden Tönen. Auch im zweiten Air, „Ciel! En voyant  ce temple redoutable“, wird das Schicksal beklagt, was dem Sänger Gelegenheit gibt, mit empfindsamem, schmerzlichem Ausdruck aufzuwarten.

Es folgt Pierre-Montan Berton, aus dessen Sylvie drei Szenen zu hören sind. In ihrer Anlage sind sie graziös, die erste vokal, orchestral die beiden anderen. Van Mechelen, der eben erst in der Berliner Staatsoper als Jason in Charpentiers Médée reüssierte, lässt einen hellen, silbrigen Tenor mit feinen Nuancen hören. Mit Jean-Claude Trial und dem sanften Air „Amour, si tu te plais“ aus La Fête de flore kommt ein weiterer unbekannter Komponist zu Wort, bevor mit Gluck, Gossec, Grétry. Piccinni und J. C. Bach die bekannten an der Reihe sind. Die Gluck-Abteilung ist überschrieben „Gluck arrive à Paris – 1774“ und wird eingeleitet  mit der Ouverture zu Iphigénie en Aulide, in welcher das Ensemble Gelegenheit hat, mit kontrastierenden Affekten zu brillieren. Das Air des Achille „J’obtiens l’objet que j’aime“ gehört zu den Glanzstücken in Van Mechelens Interpretation, ähnlich wie das Air „Accablé de regrets“, mit dem die Gruppe aus Orphée et Eurydice eröffnet wird. Im folgenden „Ballet des ombres heureuses“ wartet das Orchester mit wunderbar kantablem Spiel auf. Nach „Quel nouveau ciel“, welches der Solist mit berührender Zärtlichkeit anstimmt, darf natürlich auch das vokale Highlight der Partie nicht fehlen: „J’ai perdu mon Eurydice“, das durch sein forsches Tempo gar nicht sentimental daherkommt. Auch jedes Pathos ist diesem introvertierten Vortrag fremd. Mit dem Air des Pylade, „Quel langage accablant“ aus Iphigénie en Tauride endet die Anthologie in feinsinnig erfasster Stimmung.

Von Gossec erklingen zwei Airs des Titelhelden aus Alexis et Daphné – ersteres kontemplativ, das zweite lebhaft und auftrumpfend. Abwechslungsreich ist die Auswahl aus Grétrys Céphale et Procris mit zwei Airs und zwei Instrumentalstücken. Der Block zählt zu den Glanzlichtern des Albums. In dem Air des Titelhelden „Ô funeste amitié“ aus Piccinnis Atys sind dramatische Deklamation und energische Attacke gefordert, was der Solist beeindruckend erfüllt. Auch a nocte temporis darf noch einmal mit seinem kultivierten Spiel erfreuen – im Largo aus J. C. Bachs Amadis de Gaule. Und es gibt sogar einen Titel von Legros selbst – das Air „C’est ici que j’ai vu“ aus Hylas et Églé, welches in seinem lieblichen Melos in der Erinnerung das Bild eines schönen  Wesens heraufbeschwört.

Das Album ist in seiner Konzeption – ähnlich wie die Vorläufer dieser Trilogie – vorbildlich und lässt deutlich die Mitwirkung des Centre de musique baroque de Versailles erkennen (28. 12. 23) . Bernd Hoppe

Geschichte statt Musik

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Aufmerksam den genauen Titel des dickleibigen Buches von Michael Lemster in Augenschein nehmen sollte der Musikfreund, denn da heißt es, auch wenn die drei Musiker der Familie Mozart mit ihren Instrumenten auf dem Cover erscheinen: Die Mozarts- Geschichte einer Familie, und von der Musik des Salzburger Genies, dessen Wurzeln in Augsburg zu verorten sind, wird kaum die Rede sein. Wer also mit den Kompositionen Wolfgang Amadeus Mozarts  nicht vertraut ist, der wird kaum ein Interesse haben, dessen Familie näher kennen zu lernen, wem es aber vor allem um die Musik geht, der geht beim Lesen leer aus. Trotzdem dürfte das Werk seine Liebhaber finden, denn es befriedigt die Neugier eines jeden, der an Genealogie interessiert ist, nicht nur mit einem Stammbaum auf den letzten Seiten, der die Vorfahren Mozarts bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt und bis zum Aussterben der Familie , der direkten Nachfolger Mozarts bereits mit dessen zwei kinderlosen Söhnen, reicht, sondern auch mit einer detaillierten Darstellung der Lebenswege der Vorfahren, soweit diese bekannt sind. Da es dabei aus verständlichen Gründen an Material mangelt, gibt es umfangreiche Ausflüge in alle möglichen anderen Lebens- und Wissensbereiche, angefangen von der Historie der Stadt Augsburg und der Salzburgs, ausgeweitet auf die des gesamten Mitteleuropa. Der Numismatiker wird ebenso mit Wissen beglückt wie der Militärhistoriker, wenn vom Dreißigjährigen Krieg die Rede ist. Der Jurist wird ebenso belehrt über zivil- wie strafrechtliche Verfahren früherer Zeiten wie der an Mode einschließlich der Haartrachten Interessierte, und der Mediziner wird den Kopf schütteln über die irren Diagnosen und noch verrückteren Therapien, die zum frühen Ableben auch der im Zentrum des Buches stehenden Figur führen. Man wird vertraut gemacht mit den Verkehrswegen in mehreren Jahrhunderten und vielen Ländern, den Gefahren, die auf Reisen lauerten und den Verkehrsmitteln, deren Zustand jede Klage über die mangelnde Zuverlässigkeit heutiger Bahnen und Flugzeuge verstummen lässt. Vieles, wie die Ausführungen über die Fuggerei, ist durchaus von Interesse, wirkt aber doch, da die Mozarts nicht direkt betreffend, wie Füllmaterial. Auch die ausführliche Schilderung der Arbeit eines Buchbinders gehört dazu.

Stilistisch bewegt sich das Buch zwischen Roman und wissenschaftlicher Abhandlung, wechselt so auch zwischen Präsens und Imperfekt und versucht durch dessen direkte Ansprache den Leser bei der Stange zu halten. Es es setzt sich zum Ziel, durch eine Häufung von Substantiven (Todesarten im Dreißigjährigen Krieg) oder Adjektiven zu überwältigen, arbeitet dank unsicherer Quellenlage viel mit dem Konjunktiv, mit Fragesätzen, den Vokabeln „vermutlich“, „dürfte“, „wahrscheinlich“ oder „dabei muss uns die Phantasie helfen“. Ein Vertrauensverhältnis zum Leser zu schaffen ist bei so unsicherer Quellenlage natürlich oberstes Bestreben, und ein behäbig wirkendes Plaudern scheint dafür besonders geeignet zu sein, wozu auch die seitenlang durchgehende Verwendung des Namens „Wolferl“ gehört oder ein „Natürlich kann sich Constanze von öffentlicher Trauer nichts herunterbeißen.“ Auch das fast durchgehende „Wowi“ für den Mozart-Sohn wirkt zumindest auf Berliner Leser seltsam.

Interessant ist der Versuch des Autors, dem Vater Leopold Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ebenso wie er Salieri von dem allerdings längst ausgeräumten Verdacht befreit, am frühen Tod Mozarts Schuld zu sein. Auch wer noch immer glaubte, Mozart sei in einem Armengrab verscharrt worden, erfährt, dass eine Anordnung Josephs II. aufwändige Begräbnisse verboten hatte. Es geht also nicht um keinen, sondern nur um einen wieder verwendbaren Klappsarg. Andeutungen über Constanzes Untreue und „die bewusste Sache“ (Ein uneheliches Kind?) führen natürlich zu nichts, was man aber keineswegs bedauert. Man hätte eher ein Interesse an dem Verhältnis zu Da Ponte oder Schikaneder gehabt, die nur kurz erwähnt werden. Sympathisch und kenntnisreich erscheinen die gelungenen Versuche des Autors, die viel geschmähte Constanze zu rehabilitieren (Vollendung des Requiems), und so gibt es einiges auch für den Musikinteressierten, insgesamt jedoch eher Profit für den allgemein an Geschichte Interessierten zu entdecken.  

Am Schluss finden sich Anmerkungen, ein Verzeichnis weiterführender Literatur, ein Personenregister und ein Bildnachweis, wobei die sehr spärlich gesät sind.

Gewidmet ist das Werk „Allen liebenden Familien“, wobei im folgenden Text offen bleibt, ob der Autor die Mozarts zu diesen zählte, allerdings angenehm auffällt, dass nicht von der hochmütigen Warthe eines heutigen Besserwissers aus über von vielfältigen Zwängen bedrückte Menschen einer vergangenen Zeit ge- und damit verurteilt wird (2. Auflage 2020 Benevento Verlag München, Salzburg; ISBN 978 3 7109 0073 -0). Ingrid Wanja          

Grandioses Entertainment

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Bei kaum einem anderen musikalischen Werk unterscheiden sich Aufführungen und folglich auch Einspielungen so sehr voneinander wie bei der Vespro della Beata Vergine, der Marienvesper, von Claudio Monteverdi (1567-1643). Die Gründe dafür liegen in dem Stück selbst, dessen Geschichte noch immer nicht zweifelsfrei erforscht ist. Handelt es sich nun um eine in sich geschlossene Komposition oder um eine Sammlung unterschiedlicher Arbeiten? Auch mit der neuesten Aufnahme von Harmonia Mundi bleibt diese Frage letztlich unbeantwortet (HMM 902710.11). Bestritten wird sie vom Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon. Der 1984 geborene französische Dirigent sang schon als Kind im Chor der Petits Chanteurs von Versailles, ließ sich auf der Violine und am Klavier ausbilden und absolvierte schließlich ein Studium in Alter Musik, Musiktheorie, Chor- und Orchesterleitung am Pariser Konservatorium. Noch als Student hatte er 2006 Pygmalion gründet. Dieses Ensemble mit dem beziehungsreichen Namen besteht aus einem Chor und einer Instrumentalgruppe. Gepflegt wird schwerpunktmäßig barockes Repertoire, wobei es inzwischen auch Öffnungen hin zur Romantik gibt. Zum Einsatz kommen historisch-authentische Instrumente. Das Ensemble ist mit der Opéra national de Bordeaux verbunden. Es machte mit etlichen aufsehenerregende Produktionen – darunter die Matthäuspassion von Bach sowie Castor et Pollux von Rameau – von sich reden. Aufgenommen wurde die Vesper im Januar 2022 im Temple du Saint-Esprit in Paris, einem Sakralbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Wahl erwies sich als Glücksfall, denn der Klang ist superb, üppig und in sich gestaffelt. Es gibt einen leichten Nachhall, der aber nicht stört, weil er das Raumgefühl für die Hörer, die sich direkt dabei zu sein wähnen, verstärkt. Wenngleich unter studioähnlichen Bedingen produziert, wirkt das Werk viel unmittelbarer und lebendiger. Als Solisten sind Céline Scheen und Perrine Devillers (Sopran), Lucile Richardot (Mezzo-Sopran), Emiliano Gonzales Toro, Zachary Wilder und Antonin Rodespierre (Tenor) sowie Ètienne Bozalo, Nicolaus Brooymans und Renaud Brès (Bass) dabei. Sie gehen sicher und professionell mit den für sie gewiss nicht einfachen akustischen Verhältnissen um und bewahren sich zugleich ihre sängerische Individualität. Sie bleiben auch im Ensemble stets einzeln vernehmbar. Der Chor besteht aus achtunddreißig Sängern. Sechsundzwanzig Musiker bilden das Orchester.

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Wie bei Harmonia Mundi nicht anders zu erwarten, ist die Ausstattung der Box gediegen ausgefallen. Für das Cover bediente sich die Firma bei der namhaften französischen Malerin Fabienne Verdier und ihrem Gemälde „Air atmosphère“, das sich zu Vergleichszwecken im Booklet maßstabgerecht in seiner originalen Ausführung findet. Durch diese Illustration wird mit dem Werk eine Dimension assoziiert, die sich durchaus einstellen kann. Wer sich darauf einlässt, den zieht es – ähnlich der Darstellung – für die nächsten gut anderthalb Stunden tatsächlich wie in einen Wirbel hinein. Die Neuerscheinung hat Sogwirkung. Trotz ihrer Eingängigkeit ist die Marienvesper nichts für nebenbei. Wie formulierte es einmal ein Kritiker? Bei Raphaël Pichon sollte man unbedingt die Augen geschlossen halten. Es kann aber auch nicht verkehrt sein, hin und wieder einen Blick in den Text zu werfen, der im umfangreichen Wortteil auch in deutscher Übersetzung geboten wird, typographisch so angeordnet, dass es ein Leichtes ist, dem Inhalt zu folgen – in seiner Gottesfürchtigkeit, die keinen Widerspruch zu den Wonnen des Lebens darstellen muss. In der Marienvesper wird auch die Liebe gefeiert, nämlich dann, wenn beispielsweise im Concerto „Nigra sum“ die Rede davon ist, dass der König die braune Schönheit liebt und sie mit folgenden Worten in sein Schlafgemach führt: „Steh auf, meine Freundin und komm her!“

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Claudio Monteverdi gemalt von Bernardo Strozzi um 1630 / Wikipedia

Die Werkgeschichte legt im Booklet der Musikwissenschaftler und Monteverdi-Kenner Denis Morrier ausführlich dar. Danach hat im September 1610, also zwanzig Jahre nach Monteverdis Ankunft in Mantua, wo er von 1590 bis 1612 wirkte, der Drucker Ricciardo Amadino in Venedig eine einzige Sammlung veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass der Komponist bei den Gonzagas, der Herrscherfamilie des Herzogtums in der Lombardei, auch im sakralen Bereich tätig war. Diese Edition enthalte zwei Zyklen von liturgischen Werken, die sich stilistisch unterscheiden und auch verschiedenen Zwecken dienten: „Eine polyfone Messe da cappella für sechs Stimmen (die Missa in illo tempore) und vierzehn Kompositionen für die Vesper, deren heute üblicher Titel Vespro della Beata Vergine nur im (einzigen) Stimmbuch des Generalbasses“ erscheine. Während mehrere Aufführungen der Missa dokumentiert seien, gebe es keine entsprechenden Zeugnisse für die Vesper. Einige Forscher würden die Auffassung vertreten, dieses Werk sei für die Hochzeit des Kronprinzen Francesco Gonzaga geschrieben, die im Jahr 1608 stattfand. „Andere verweisen auf die ein Jahr später erfolgte Taufe von dessen Tochter Maria und den Zusammenhang zwischen ihrem Vornamen und der Adressatin der Sammlung.“ Vor etwa vierzig Jahren entwickelten Morrier zufolge die Musikforscher Graham Dixon und Paola Bessuti die Idee, wonach die Stücke nicht für einen der sieben der Seligen Jungfrau Maria gewidmeten Festtage des liturgischen Kalenders bestimmt gewesen sind, sondern vielmehr für die der heiligen Barbara, der christlichen Jungfrau und Märtyrerin. Keine dieser Hypothesen sei jemals bestätigt worden. Eine weitere, die wahrscheinlicher sei, bringt Morrier in seinem (dreisprachigen!) Booklet-Text vor: „Die Uneinheitlichkeit des Vespro bezüglich Stil, Form und Modi lässt bezweifeln, dass seine fünf Psalmen, der Hymnus Ave Maris Stella und die beiden Versionen des Magnificat (einmal mit, einmal ohne konzertante Instrumente) einen kohärenten Zyklus bilden könnten, der für eine bestimmte Vesper gedacht war. Es könnte also eher zutreffen, dass Monteverdi einfach in Gestalt eines ,Werks‘ mit dem Titel Vespro della Beata Vergine eine Anthologie separater, für unterschiedliche Zwecke komponierter Stücke für die Vesper drucken ließ, aus denen die Musiker der ,Kapellen oder fürstlichen Gemächer‘ (wie auf dem Titelblatt zu lesen ist) frei die jeweils passenden Werke auswählen konnten, je nach den Gegebenheiten des liturgischen Kalenders und den Kräften, die für den Einsatz zur Verfügung standen.“

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Und weiter ist zu erfahren, dass Monteverdis Sammlung von 1610 mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Detailgenauigkeit gedruckt wurde. Sie besteht aus sieben separaten Bänden, über die sich alle Vokal- und Instrumentalstimmen verteilen. Die Ausarbeitung der Stimmhefte lassen auf eine bestimmte räumliche Aufstellung der ausführenden Musiker schließen – Doppelchor um eine einzelne Orgel herum. Nach Morrier folgt sie genau den architektonischen Charakteristika der Kirche Santa Barbara in Mantua. Auch gehe aus ihnen hervor, dass die Stücke wohl für ein Ensemble aus solistischen Sängern und Instrumentalisten gedacht waren. Dafür spreche die Virtuosität der Gesangs- und Instrumentalpartien, insbesondere im Dixit Dominus, dem Laetatus sum und dem Laudate Pueri, dem Monteverdi übrigens die Überschrift „für acht Solostimmen mit Orgel“ gegeben habe. Die Vokalstimmen seien alle mit einer Widmung an Papst Paul V. geborener Camillo Borghese, (1552-1621) versehen. Auch wenn die Hommage nach Rom ziele und die Edition venezianisch sei, bleibe die Sammlung inhaltlich mit Mantua verbunden, was etwa der Rückgriff auf die berühmte Toccata bestätigt, die L’Orfeo einleitet. Morrier: „Diese Fanfare – ein veritables akustisches Wahrzeichen der Gonzaga – eröffnete Monteverdis erste Oper bei der Uraufführung in Mantua im Jahr 1607.“

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Raphaël Pichon dirigiert die neue Aufnahme / Wikipedia

Der Dirigent Raphaël Pichon selbst kommt im Booklet ebenfalls zu Wort – und zwar in einem Dialog mit Jean-Clement Guez, dem Rektor der Kathedrale Saint-André von Bordeaux, wo Aufführungen der Marienvesper mit – wie es heißt – spezieller Gestaltung von Raum und Licht stattfanden. „Die Partitur ist überaus fein ausgearbeitet, sie ist wie ein Uhrwerk und zeugt von höchster Meisterschaft im Umgang mit Harmonik und Form, aber auch von theologischem Sachverstand“, sagt er. Dabei lasse sie uns Interpreten unbedingt auch Freiräume. „Dank der Vorarbeit der Pioniere der Barockmusik haben wir gelernt, die Partitur, die nach den damaligen Regeln geschrieben wurde, ,geschmeidig‘ zu machen. Aber es bleiben Fragen, die wir aufgrund von maßgeblichen künstlerischen Entscheidungen über die Interpretation beantworten müssen.“ Das Werk könne zum Beispiel mit einfach besetzten Instrumenten gespielt werden oder in einer mehr funkelnden, chormäßigen und wuchtigeren Version. Übrigens gebe Monteverdi eine gewisse Anzahl obligater Instrumente an, doch es fänden sich immer noch sehr viele Stellen, wo nichts vorgeschrieben sei. Wie unterstütze man also die Stimmen und wie gebe man ihnen mit welchen Instrumenten Farbe? In dem Dialog spricht der Dirigent auch von Zweifeln hinsichtlich der Einheitlichkeit des Klangs. Zweifel, die sich beim hören als spannungsgeladenes Erlebnis mitteilen (Abbildung oben: Fresco von Andrea Mantegna im Castello di San Giorgio zu Mantua/Camera degli Sposi/Wikipedia). Rüdiger Winter

Sehnsucht nach Ferne

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Im Werk von Carl Loewe werden auch exotische Themen angeschlagen – vornehmlich in den Balladen, die im Zentrum seines Schaffens stehen. Opus 111 widmete sich einen Papagei. Dieser aus Südamerika stammende Vogel, dessen Haltung einst dem Adel vorbehalten war, zog zu Loewes Zeit als beliebtes Haustier auch in bürgerlichen Kreisen ein. Wer mit den Balladen etwas näher vertraut ist, kennt auch den nach Europa verschleppten Mohrenfürsten aus den vertonten Gedichten von Ferdinand Freiligrath, der als junger Dichter in Amsterdam die einst in ganz Europa beliebten Völkerschauen miterlebte. Inzwischen zu Recht verpönt, befriedigten sie bei guten Einnahmen das wachsende Interesse an unbekannten Erdteilen. Die alte Welt nahm von der neuen Welt Besitz. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln verließen im 19. Jahrhundert etwa 52 Millionen Menschen Europa, 32 Million davon in Richtung USA. Dabei stellten Deutsche zwischen 1850 und 1890 die zahlenmäßig größte Gruppe. Loewe, der gern reiste, dürfte diese Entwicklungen in seiner Wahlheimatstadt Stettin genau verfolgt haben. Schließlich hatte er es nicht weit bis zur Ostsee.

1854, auf einem Höhepunkt der Auswanderung, entstanden seine Vier Phantasien op. 137 für Klavier. Ihre Themen sind der Abschied des Auswanderers, die Meerfahrt, die Prärie und seine neue Heimat. Loewe versetzt sich musikalisch bildhaft in die Situation. Zu hören ist Aufbruchstimmung, in die sich auch Wehmut, Trennungsschmerz und Zweifel mischen. Am Ende aber, so scheint es, ist der Auswanderer auch deshalb gut an seinem fernen Ziel angekommen, weil er die Lieder aus der alten Heimat, die ihm Vertrauen und Halt geben, mitgenommen hat. Die Komposition prägt mit fast siebenunddreißig Minuten die neue CD seiner kompletten Klaviermusik bei Toccata Classics (TOCC 0690). Außerdem sind die Tondichtung für das Pianoforte Der barmherzige Bruder, die Grande Sonate Èlegique – die so genannte Liebessonate – sowie drei für das Klavier feinsinnig transkribierte Lieder – Sehnsucht, Die schlanke Wasserlilie und Stille Liebe – durch die Pianisten Linda Nicholson, die die gesamte Edition bestreitet, im Angebot. Damit ist die Sammlung bei Vol. 3 angelangt. Bei der Einspielung handelt es sich wiederum um eine Übernahme vom WDR, wo auch die Aufnahme erfolgte. Wie schon bei der Vol. 2 (TOCC 0489) kommt ein Piano Erard, Paris 1839, zum Einsatz, bei Vol. 1 (TOCC 0278) war es ein Instrument der Londoner Klavierbauer-Brüder Collard & Collard von 1850. Die Engländerin Nicolson spielt ihr breit angelegtes Repertoire, das vom Barock bis zu Frühklassik reicht, am liebsten auf Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Sie legt Wert auf Authentizität.

Wenn also eine deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eigene Aufnahmen einem Label in England zur Verfügung stellt, was ist das? Im besten Fall kulturelle Globalisierung. Im schlimmsten Fall hat sich für Carl Loewes Klaviermusik in seinem Heimatland keine Firma gefunden. Wie dem auch sei, Toccata Classics mit Sitz in London hat ein gutes Werk für den Komponisten getan, der immer noch zu sehr auf seine Balladen festgelegt wird, was sich aber langsam aber sicher ändert. Das Programm der zweiten CD enthält vier Stücke – Der Frühling, Eine Tondichtung in Sonatenform, die Biblischen Bilder, die Grande Sonate Brillante Es-Dur sowie die Abendfantasie. Die erste CD bot die Zigeuner-Sonate, die Tondichtung Mazeppa, die Große Sonate in E-Dur und die Alpenfantasie. Loewes Klaviermusik sprudelt über vor musikalischen Einfällen. Ein Gedanke jagt den anderen, so dass mitunter der Eindruck entsteht, Ausführung und Ausformung der einzelnen Themen kämen zu kurz. Das gilt auch für die großen Sonaten. Es spricht ein starker musikalischer Mitteilungsdrang aus dieser Klaviermusik. Sie prägt sich deshalb rasch ein und kann durchaus auch mal nebenbei gehört werden.

Es stellt sich manche Ähnlichkeit mit den Balladen ein. So würde es einen nicht wundern, wenn bei den Biblischen Bildern plötzlich ein Sänger hinzuträte. Für Mazeppa braucht Loewe keine zehn Minuten. Er wurde durch die literarische Vorlage von Lord Byron inspiriert, die 1819 erschienen war – gut zehn Jahre bevor sich Loewe an seine Komposition machte. Liszt kam mit seiner sinfonischen Dichtung, die auf ein Gedicht von Victor Hugo zurückgeht, mehr als zwanzig Jahre danach. Tschaikowski beschäftigte sich mit dem Stoff noch viel später. Seine Oper, die einem Gedicht von Puschkin folgt, wurde 1884 uraufgeführt. Mazeppa, längst zum Hetman, also zum Führer des Kosakenheeres aufgestiegen, ist in die Jahre gekommen und liebt eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte. Im Gegensatz zu Tschaikowski wenden sich Liszt und Loewe der legendenumwobenen, rasanten Vorgeschichte zu, die auch Maler zu dramatischen Gemälden inspirierte. Mazeppa war als Page an den Hof des polnischen Königs Johann Kasimir gekommen, der auch über ukrainische Provinzen gebot. Er genoss das Vertrauen des Königs, wurde mit vielen Missionen betraut, schließlich aber hart bestraft, als er in sehr vertraulichem Umgang mit der Gattin eines einflussreichen Magnaten überrascht wurde. Dieser soll ihn nackt auf den Rücken seines eigenen Pferdes gebunden haben, das fortan durch die Steppe raste. Nach wenigen Tagen stirbt das Pferd, Mazeppa aber wird völlig entkräftet von Kosaken gerettet, zu deren Heerführer er aufstieg. Ähnlich Liszt, der dazu ein großes Orchester zur Verfügung hatte, schildert Loewe ausschließlich den verhängnisvollen Ritt.

Das Klavier rast, dem Pferde gleich. Selbst dann, wenn sich die Musik dem Helden, seinen Gedanken, Nöten und Ängsten zuwendet, ist der Hintergrund von Unrast erfüllt. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Dramatik und Bildhaftigkeit Loewe aus seinem Instrument herausholen kann – auch hier ganz der Geschichtenerzähler. Mit der Toccata-Edition ist wieder ein Schritt getan, der Veröffentlichung aller gedruckten Werke Loewes auf Tonträgern näher zu kommen. Rüdiger Winter

Mit süffigem Sound

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In der Gestaltung dramatischer Belcanto-Partien Donizettis  (Lucia, Maria Stuarda, Anna Bolena) hat Diana Damrau, offenbar an die Grenze ihrer stimmlichen Möglichkeiten gelangt, eine Pause eingelegt und sich dem „leichten Genre“ zugewandt. Davon zeugte schon das Doppelalbum von 2022 „My Christmas“. Nun bringt ihre Stammfirma ERATO eine neue Platte mit der deutschen Sopranistin heraus, die den schlichten Titel Operette trägt (vielleicht in Anlehnung an Noel Cowards Stück?) und von Januar bis Juli 2023 in München und Salzburg aufgenommen wurde (5054197827983). Einen besonderen Akzent setzt der Untertitel des Albums WIEN . BERLIN . PARIS, denn er steht für die fantastische Reise der Sängerin in die Welt der Operette des 19. Jahrhunderts mit diesen drei wichtigen Stationen. In der Programmfolge sind die Titel, welche für die Metropolen stehen, allerdings vermischt, was freilich eine reizvolle Abwechslung mit sich bringt.

Den Auftakt macht Manons „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ aus Der Favorit von Robert Stolz – ein durch die legendären Interpretationen von Hilde Gueden und Anneliese Rothenberger bekannter Titel. Damrau hält sich im Vergleich dazu achtbar – weniger damenhaft-glamourös, mehr jugendlich-kokett. Auch der folgende Titel, „Schlösser, die im Monde liegen“, aus Paul Linckes Frau Luna ist populär, beispielsweise in der Gestaltung durch Lucia Popp. Auch hier setzt Damrau auf einen kessen Soubrettenton.

Mehrere Nummern stammen aus Werken von Franz Lehár, von denen eine sogar selten zu hören ist: „War es auch nichts als ein Traum“ aus Eva. Hier schwelgt die Solistin im Walzerrausch, lässt in der exponierten Lage freilich forcierte Töne hören. Dagegen sind „Warum hast du mich wachgeküsst?“ aus Friedericke, das in seiner melancholischen Stimmung einer der gelungensten Titel ist,  „Liebe, du Himmel auf Erden“ aus Paganini und „Hör’ ich Cymbalklänge“ aus Zigeunerliebe beliebte und immer wieder gehörte Schlager. Letztere Nummer entspricht in ihrer rasanten Anlage dem Temperament der Sängerin besonders, sie jauchzt und sprüht mit Schwung und Esprit.  Mit verführerischem Raffinement singt sie „Liebe, ich sehn` mich nach dir“ aus Kálmáns Die Faschingsfee, allerdings auch hier mit gestresster Höhe. Sehr gelungen ist das Solo der Titelheldin aus Millöckers Die Dubarry („Ich schenk mein Herz“).  Bemerkenswert der Ausschnitt aus Paul Abrahams Ball im Savoy, „In meinen weißen Armen“, bei dem Damrau ein erstaunlicher weillscher Tonfall gelingt, was ein Ausblick auf künftige Aktivitäten der Sängerin (analog zu Teresa Stratas) sein könnte. Der letzte Beitrag der Programmfolge, „Ich bin eine Frau“ aus Oscar Straus` Manon, ist in seiner auftrumpfenden Diven-Allüre ein stimmiger Ausklang.

Wirkliche Raritäten bieten die französischen Beiträge. Den Anfang macht „Ça fait tourner la tête“ aus Andalousie von Francis Lopez mit frechem Aplomb, gefolgt von „Rossignol, tout comme autrefois“ aus Monsieur Beaucaire von André Messager. Von diesem Komponisten gibt es später noch einen zweiten Titel: „J’ai deux amants“ aus L’Amour masqué. Ein weiterer französischer Beitrag, Aspasies „Mon cher Phi-Phi“, stammt von Henri Christiné aus dessen Operette Phi-Phi und ist ein flottes Couplet, dessen Wirkung sich die Sängerin mit prononcierten Akzenten nicht entgehen lässt.

In illustrer Gesellschaft befindet sich die Sopranistin bei den Titeln von Johann Strauss II (Das Lied der Liebe), Robert Stolz (Im weißen Rössl) und Richard Heuberger (Der Opernball), wo sich der Tenor Jonas Kaufmann zu ihr gesellt. Im „Flirt-Duett“ von J. Strauss II werfen sich die Sopranistin und der Tenor charmant die Bälle zu, im Opernball-Duett bieten sie eine atmosphärische Szene wie aus einer Live-Aufführung.

Bei „Wo die wilde Rose erblüht“ aus Das Spitzentuch der Königin von Johann Strauss II hat Diana Damrau Partnerschaft in der Sopranistin Elke Kottmair und der Mezzosopranistin Emily Sierra. Sie stimmt den walzerseligen Titel sehr atmosphärisch an und wird von ihren Kolleginnen bestens unterstützt. Das Münchner Rundfunkorchester, das mit süffigem Sound zur Reise einlädt, ist der Sängerin ein fabelhafter Partner. Dirigent  Ernst Theis setzt gekonnt eigene Akzente. Bernd Hoppe

Tanzvisionär

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Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest gibt der HENSCHEL Verlag einen prachtvollen Band über das Stuttgarter Ballett und seinen Intendanten John Cranko heraus (ISBN 978-3- 89487-842-9), der für alle Ballettfreunde der Höhepunkt auf dem Gabentisch sein dürfte. Auf fast 300 Seiten und zahlreichen Fotos (vorwiegend in Schwarz/Weiß) beleuchten die Autorinnen Julia Lutzeyer, Petra Olschowski, Angela Reinhard und Vivien Arnold Leben und Werk des Jahrhundert-Choreografen, der durch den tragischen Tod 1973 viel zu früh aus seinem Schaffen gerissen wurde.

Im ersten Kapitel (Vermächtns: Was bleibt von John Cranko?) widmet sich Angela Reinhard seinem künstlerische Erbe. Sie spricht von „Verklärung“ wenn die Rede auf den Choreografen kommt, der in Stuttgart noch heute hymnisch verehrt wird. Sie nennt natürlich die drei großen Handlungsballette (Romeo und Julia, 1962; Onegin, 1965; Der Widerspenstigen Zähmung, 1969), die zu Klassikern geworden sind und immer wieder in Neubesetzungen einstudiert wurden. Reinhard geht auf die technischen Besonderheiten im choreografischen Vokabular Crankos ein, hebt seine Repertoirepolitik hervor. Er lud berühmte Kollegen ein, ihre Arbeiten in Stuttgart zu zeigen, und förderte junge Nachwuchskräfte. Und sie beschreibt das so persönliche Verhältnis, das der Choreograf zu seinen Tänzern hatte. Davon ist im nächsten Kapitel vielfach zu lesen.

Es beinhaltet die Erinnerungen seiner Weggefährten – Tänzer, Ausstatter, Fotografen, Journalisten, Freunde… Da ist natürlich vor allem Marcia Haydée zu nennen, seine Assoluta, die in seinen drei Hauptwerken jeweils die zentrale weibliche Rolle kreierte, 1976 Direktorin der Compagnie wurde und 1987 mit Dornröschen ihr Debüt als Choreografin gab. Sie nennt Cranko „mein Glück im Leben“. Von einem „Menschenformer“ spricht Richard Cragun, der als Erster Solist wesentlichen Anteil am „Ballettwunder Stuttgart“ (so die amerikanische Presse) hatte. Nicht zu vergessen die andere Startänzerin des Ensembles und weltweit als „die deutsche Ballerina“ apostrophiert: Birgit Keil. Sie dankt Cranko, dass er auch in „sehr kritischen Phasen“ an sie geglaubt hat. Zu den wichtigen Mitgliedern der Compagnie zählen Egon Madsen und Ray Barra, für die Cranko viele Rollen schuf. Mit „Es war dieser Blick“ und „John suchte eine Familie“ sind ihre Beiträge sehr privat. Zwei in Stuttgart engagierte Tänzer wurden später gleichfalls bedeutende Ballett-Intendanten: Jirí Kylián und Jon Neumeier. Ersterer resümiert mit „Kreativ, lustig, wunderbar“ das Wesen Crankos denkbar kurz, doch treffend, der zweite empfindet die Zeit mit ihm als „besonders aufregend“. Nicht fehlen darf Jürgen Rose, dem Cranko die Ausstattung vieler seiner Ballette übertrug. Er nennt diese Schöpfungen „zeitlos gültig“ und zitiert Cranko mit „Wir hatten noch viel vor“, was angesichts seines tragischen Endes besonders schmerzlich klingt. Berührend ist der Beitrag von Georgette Tsinguirides, Solotänzerin und später Choreologin, nach deren Notaten die Ballette noch heute einstudiert werden. Er soll hier am Schluss stehen, denn darin wird Crankos Ausspruch „Wir dürfen kein Museum sein.“ zitiert, der für die kreative Zukunft des Stuttgarter Balletts steht.

Es folgt das letzte Interview, welches der Choreograf im Mai 1973 dem Journalisten Hartmut Regitz gab. Es ist ein wertvoller und aussagestarker Beitrag, gibt er doc darin Auskunft über Crankos Beziehung zu Gustav Mahler (dessen 10. Sinfonie er für seine vorletzte Arbeit, Spuren im Todesjahr 1973, nutzte), seine Russland-Erfahrungen und Zukunftspläne. Eine Biografie und das Werkverzeichnis sind nützliche  Nachschlagehilfen und runden den Inhalt ab. Bernd Hoppe

Nicht überflüssig

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Mindestens zwei Gründe gibt es, die Ankunft einer weiteren Tosca auf dem eigentlich übersättigten Markt willkommen zu heißen. Der erste ist das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Carlo Montanaro, der zweite die Sängerin der Titelpartie, Melody Moore. Mit harten Scarpia-Akzenten, drängend, zügig und feine Details ausmalend beginnt das Orchester , um später viele intime Momente zu Wort kommen , die bedrückende Stimmung der meisten Szenen sich dem Hörer mitteilen zu lassen. Eine Atmosphäre des Lauernden, des Bedrückten liegt über vielen Szenen, so der des Salva condotto, und das Vorspiel zum dritten Akt ist bei aller auch hörbaren Poesie ein einziges banges Warten.

Wahrlich kein Star, zumindest nicht in Europa, ist die Sopranistin Melody Moore, die immerhin bereits auf drei Puccini-Einspielungen stolz sein kann mit Butterfly, Mimi und Giorgetta. Für Tosca steht ihr ein breiter Farbfächer einer weich und erotisch klingenden Stimme zur Verfügung, die Mittellage (sie singt auch Amneris) ist hochpräsent, Verletzbarkeit wie auffahrender Stolz werden gleich eindrucksvoll vermittelt, fein hingetupfte Töne wechseln sich mit stolz auffahrenden ab, und für „è l‘ Attavanti“ hat der Sopran einen bewegenden schmerzlichen Klang. Einzig die manchmal zu verwaschene Diktion stört den Gesamteindruck ein wenig, und stellenweise ist die Höhe nicht so präsent, wie sie es sein sollte. Voller Melancholie wird „Vissi d’arte“ gesungen, ein banges Zittern ist im „Ti straziano ancora“, und insgesamt vermittelt der Sopran den Eindruck einer wissenden Stimme, die sich aus dem Geist der Musik heraus vernehmen lässt.

Mit virilem, metallisch klingendem Tenor ist Stefan Pop ein Cavaradossi, bei dem weniger der sensible Künstler als der aufbegehrende Revolutionär zum Ausdruck kommt, sein Squillo ist beachtlich, seine größten Pluspunkte kann er mit „la vita mi costasse“ und dem „Vittoria“ erringen, aber auch im „Recondita armonia“ gefällt das diminuendo am Schluss, während „E lucevan le stelle“ mit schöner Klarinettenvorbereitung mehr Agogik vertragen hätte. Insgesamt geht es dem Tenor eher um die Ausstellung einer potenten Stimme als um feinsinnige Interpretation.

Zwischen bärbeißig und süffig bewegt sich der Bariton von Lester Lynch, der damit dem Scarpia und dessen Zwielichtigkeit gerecht wird. Im zweiten Akt könnte man sich noch mehr Facetten in der Gestaltung der Figur vorstellen, allerdings werden der Triumph im „nel pozzo del giardino“, das Schmeichelnde im „è vino di Spagna“, das tückisch Zärtliche in  „grazia ad un cadavere“ schön herausgearbeitet.

Kevin Short ist ein sonorer Angelotti, und auch alle anderen rollendeckend, und der Rundfunkchor Berlin und der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin tragen das Ihre zum Gelingen von Konzert und Aufnahme bei (Pentatone PTC 5187 055). Ingrid Wanja 

Maria Callas zum 100.

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Und noch mehr Bücher über sie. Hatten wir nicht gerade beteuert, dass über Maria Callas, die Vielbesprochene und Vielausgebeutete, alles gesagt ist? Offenbar nicht, denn allein in diesem, ihrem 100sten Geburtsjahr erschienen erwartungsgemäß mindesten vier neue Bücher, die – so unsere Korrespondenten – von herausragend bis mehr als lässlich zu lesen sind. Diese nachstehend.

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Aber die eigentlichen Schätze finden sich – so meine Meinung – doch bei den Älteren, in der Vergangenheit. Nichts geht für mich über John Ardoins profunde und ungeschlagene Biographie (Maria Callas und ihr Vermächtnis; deutsch mit Verspätung bei Noack-Hübner 1979; ISBN-13 :-978-3884530146) mit seinen immer noch gültigen Einschätzungen, inzwischen auch als Hörbuch (Callas: The Voice the Story; Highbridge & Co, 1997) – für mich das Ultimative über die Sängerin Callas. Als Hörbuch ebenfalls verfügbar (Maria Callas in her own words (Highbridge Audio 1997; SBN-13978-1565112292). Ebenfalls von Ardoin The Callas Legacy (Scribner 1977; ISBN ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0684152974). Gefolgt von dem Bild-/Biographie-Band Callas von John Ardoin und Gerald Fitzgerald (Thames & Hudson Ltd; 1. Edition, 1974). Auch die Biographie von Nadia Stancioff (Maria Callas Remembered; Da Capo Press Edition/ April 2000; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0306809675), der langjährigen loyalen Freundin und Begleiterin,  hat vieles für sich und keine Kolportagen wie nachstehendes Werk von Eva Gesine Bauer. Die beiden wunderbaren, in der alten Edition sehr großformatigen Bildbände von Schirmer & Mosel sind im optischen Bereich unerreicht (ah, die wunderbaren Scala-Fotos!!!). Auch Callas at Juilliard: The Masterclasses von John Ardon (Amadeus Press 2002; ISBN ‏ 0815412282) sagt vieles, auch Kritisches über ihren gegenstandlosen Versuch zu unterrichten. Die Biographie von Stelios Galliopoulos (Maria Callas: Sacred Monster; Forth Estate Press 1988; deutsch bei S. Fischer 2002;  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3100244130) bringt viele Details und gehört zu meinen immer wieder aufgesuchten Standardwerken.

Jürgen Kestings – im deutschen Lesebereich als ultimativ geltendes Buch über die Callas ist mir zu akademisch und nicht sinnlich genug, eher ein Bericht von der Intensivstation, aber dies und seine Radio-Dauersendung über die Künstlerin haben sich einen festen Platz im deutschen Fanbewusstsein erobert (inzwischen als Taschenbuch bei List ISBN-13 ‏ : ‎ 978-354860260).

Absolut nicht zu vergessen ist The Unknown Callas: The Greek Years von Nicholas Petsalis-Diomidis (Hal Leonard Corporation; Illustrated Edition, neu herausgegeben 2001; ISBN-13 – ‎978-3100244130). Dies ist ein besonders spannendes Buch über die Callas, weil die zum Teil beklemmend zu lesenden Details über die italienische und schlimmer noch deutsche Besatzung Athens mehr als deutlich geschildert wird. Hunger-Leichen lagen in den Straßen, und die deutschen Besetzer schossen bei der geringsten Gelegenheit (danach kam der Widerstand und schoss ebenfalls) – kein Ruhmesblatt für uns hier. Die Callas und ihre Mutter sowie Schwester hatten jeweils italienische und dann deutsche Liebhaber, die sie vor dem Schlimmsten schützten. Und sie studierte Tiefland und Leonore mit ihrem Freund ein. Das reich illustrierte Buch, voll mit Zeitzeugen-Aussagen (Mireille Flery, Zoe Vlachopoulou, Constantin Stellakis)

und hervorragend recherchiert, ist absolut habens- und lesenswert. Und ein Exkurs in deutsch-griechischer Geschichte.

Aber ganz eigentlich und ungeschlagen ist der auf seine Weise bewegende Film Maria über Callas (Regie: Tom Volf, Studiocanal 2021) mit sensationellen und bislang unbekannten Live-Rollen-Aufnahmen.

Natürlich gibt es noch unendlich viele Bücher über die Seelige. Mein Freund Sergio Segalini hatte ein gutes, schmales verfasst und Attila Csampais inzwischen zum beklagenswerten Taschenbuch mutierte Bild-Biographe erwähnt Rolf Fath, und dazu nun. G. H.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“: La Divina wird sie genannt, „Die Göttliche“. Sie galt als „Primadonna asso­luta“ und war schon zu Lebzeiten ein Mythos. Maria Callas war eine hollywood­reife Diva, deren glamouröse Er­scheinung, deren gesellschaftliche Skandale und de­ren künstlerischen Erfolge Publikum und Presse (nicht nur die Regenbogen­presse) auf der ganzen Welt in Atem hielten. Maria Callas ist schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden.

Jürgen Kesting, einer der führenden Callas-Biographen (Maria Callas 1990) schreibt in seinem Geleitwort zu Helge Klausers vorzüglichem Callas-Buch  („Maria Callas. Eine Chronik“) zurecht: „Die meisten Versuche, ,,the woman behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehrichtsammlung von Fakten und Fakes hinausgekommen“.

Wie sagte John F. Kennedy: „Der Mythos ist der große Feind der Wahrheit.“  Indeed: „Mythos Maria Callas: Uber keine zweite Musikerpersönlichkeit der letzten einhundert Jahre wurden so viele Bücher in so vielen unterschiedlichen Sprachen geschrieben. Neben den einschlägigen Biographien füllen auch viele Romane, Novellen und sogar Theaterstücke die Regale. Weder Caruso noch Karajan, weder Elvis noch Madonna können es in publizistischer Hinsicht mit ihr aufnehmen. Sie ist die absolute Primadonna in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.“ So schreibt der renommierte Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen in seinem Callas-Buch.

Er unterscheidet in seinem Buch zwischen „Kunst und Mythos“ der Maria Callas und nimmt das sängerische Jahrhundertphänomen einmal mit wissen­schaftlicher Präzision genauer unter die Lupe genom­men. Mit wissenschaftl­icher Genauigkeit, und nicht eingetrübt durch irgend­welche Emotionen trennt er zwischen Le­ben, Kunst und Mythos, Callas heute und Callas morgen, stellt ihre wichtigen biografischen Stationen (New York, Athen, Italien und den Rest der Opernwelt) dar, beschreibt präzise ihre Stimme, ihre Interpretationen und Aufnahmen, schließlich sortiert er noch die unter­schied­lichen Aspekte des Mythos: Liebe, Märchen, Diva, Medien und Opfer.  Jacobshagen zieht eine Summe, er bilanziert und stellt fest:

„Allzu bereitwillig wurden in der Vergangenheit tradierte Fehlurteile und Gerüchte über die Sängerin fortgeschrieben und aufgebauscht. In vielen Fällen eröffnet ein quellenkritischer, musik- und geschichtswissenschaftlicher Blick andere Perspektiven. Die immense Überlieferung macht zugleich eine zeitge­mäße Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Callas-Mythos unumgäng­lich. In seiner eigentümlichen Formulierungskraft hat Günter Grass einmal beklagt, dass in der postmodernen Gesellschaft ‚jeder Scheißhaufen ein Mythos genannt‘ werde. Für unser Thema ließe sich in Anlehnung an diese Metapher die konsequente Entsorgung abwegiger Callas-Fabeln fordern. Neue Untersuchung­en und Forschungsansitze aus den Kultur-, Musik- und Medien­wissenschaften, der Psychologie und Soziologie, der Staranalyse, den Celebrity Studies und der Fanforschung tragen zur Erhellung vieler Fragen bei. Noch wichtiger als die Klärung biographischer Details und Legenden bleibt die Würdigung ihrer einzigartigen künstlerischen Leistungen.“  

Jacobshagen löst diesen Anspruch faszinierend und respektgebietend ein und kommt zu dem Schluss: „Die herausragende Sängerin des 20. Jahrhunderts war Maria Callas nicht wegen der Schönheit, sondern wegen der Expressivität und Unver­wechselbarkeit ihrer Stimme. … Ingeborg Bachmann schrieb über Callas, sie habe mit ihrem Gesang ‚auf der Rasierklinge gelebt’. Erst durch sie, so scheint es, wurde auch der Operngesang zu einer existentiellen Erfahrung.“ Und er betont zurecht, dass „der künstlerische Einfluss von Maria Callas auf die Musik und das Musikleben der Gegenwart“ nach wie vor immens sei.

Über die Stimme der am 2. Dezember 1923 geborenen Maria Callas gehen die Meinungen weit auseinander. Eigentlich hatte sie drei Stimmen. Die drei Register – eine herb-getönte, dramatische Bruststimme, eine dunkel timbrierte, fast animalische, dämonische Mittellage und eine brillante Höhe bis zum dreigestrichenen Es waren je für sich beeindruckend, wenn auch nicht restlos ausgeglichen. Aber mit ihrer vielschichtigen Stimme konnte sie eine irritierende und oftmals schockierende Vielfalt von Klängen und Stimmfarben erzeugen und damit Seelisches zum Klingen bringen wie nur wenige andere Sängerinnen.

Tatsächlich war die Bedingungs­losigkeit, die Intensität, die Ernsthaftigkeit und Kompromiss­losigkeit ihres Singens, aber auch die ihres schauspielerischen Instinkts, und ihrer perfekten Beherrschung der Rolle der Primadonna hat das Publikum, trotz ihrer stimmlichen An­fecht­barkeit, schlichtweg hin­gerissen und überwältigt, denn sie hat mit ganzer Seele gesungen. Das war das Geheimnis der Callas. Das, was die Italiener „Canto espressivo“ nennen.

Sie hat die Sehnsüchte und Bedürfnisse des Publikums erfüllt, und sie hat den von ihr dargestellten Figuren der Vergangenheit eine Stimme unserer modernen Zeit gegeben. Vor allem den Belcantopartien, die sie fürs 20. Jahrhundert wieder entdeckt hat.

Die Karriere der Callas war vergleichsweise kurz. Nur 15 Jahre stand sie erfolgreich auf der Bühne. Sie hat sich durch ihren schonungslosen Einsatz regelrecht verbrannt. Singen war für sie mehr als Beruf und Big Business, auch wenn sie der teuerste Opernstar ihrer Zeit war. Maria Callas hat sich mit den Figuren, die sie darstellte, total identifiziert. Sie war ungewöhnlich fleißig. Sie hatte ein sehr breites Repertoire. Sie sang italienisches Fach, Französisches Fach, sie sang Wagner, Belcanto, Rossini und Spontini. Sie hatte das Leben lieben gelernt, daher hatte sie Raubbau an ihrer Stimme betrieben. Die Begeg­nung mit dem glamourösen Milliardär Onassis, durch die sie zur berühmtesten Frau der Welt wurde, hat ihr schließlich das Genick gebrochen, seelisch wie stimmlich. Ihr erster Mann, Meneghini, war nichts als Vaterersatz und ein skrupelloser Manager gewesen. Onassis war ihre große Liebe. Onassis versprach Maria Callas die Heirat. Sie wollte endlich ein ganz „normales“ Leben als Frau führen. Doch dann hat Onassis schließlich das Interesse an Maria Callas ver­loren und heiratete die ehemalige First Lady der USA, Jacqueline Kennedy. Darüber kam Maria Callas nicht hinweg. Sie war eine gebrochene Frau. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Das war ihr Ende. Darüber berichtet die Yellow Press genüsslich. Es war der Bodensatz, aus dem sich die Callas-Mythen und Legen­den speisten und speisen, bis heute.  Daran beteiligt sich Jacobshagen erfreulicherweise nicht.

Jacobshagen versteht es, diese durch Boulevardpresse, Klatsch und Sensations­gier verzerrte Sicht auf die Sängerin Maria Callas wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen und einzuordnen.

Die Callas, so Jacobshagen, sei ihrer Zeit weit voraus gewesen. „Sie leitete eine Repertoirewende des musikalischen Theaters und einen Paradigmenwechsel der Gesangsästhetik ein, den man als ‚Belcanto turn‘ bezeichnen könnte. Diese Wende ist heute noch längst nicht Geschichte. Im Gegenteil: Sie ist aktueller denn je.“

Last but not least: Jacobshagen nennt Zahlen und Fakten des bis heute andauern­den Medien­rummels, der Mythisierung und der Vermarktung der Callas dreht. Sorgfältige Anmer­kungen, Literaturverzeichnis und Register verstehen sich bei Jacobshagen von selbst. Er hat den Überblick über die vielseitige Auseinander­setzung mit dem Phänomen Callas behalten und eindrucksvoll eine Summe gezogen (Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“ Reclam 366 S.) Dieter David Scholz..

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Sonderausgabe von Attila Csampais Callas: Eine solche Gewichtsabnahme um mehr als 20% hätte der Diva gefallen. Äußerlich abgespeckt vom coffee table book zum immer noch großformatigen, aber handlicheren Buch hat die Hommage, die rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Callas am 2. Dezember wieder aufgelegt wurde, nichts von ihrer gediegenen Machart und Schönheit verloren, für die der Schirmer/Mosel Verlag steht („Callas – Gesichter eines Mediums“. 248 Seiten, 165 Duotone-Tafeln, 4 Farbtafeln; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3829609821). Unverändert blickt sie uns auf Cecil Beatons Halbporträt aus dem Jahr 1956 im schwarzen Pullover und den das Gesicht einrahmenden aufgestützten Armen entgegen. Eine Sphinx. Ganz klar. Die Rätsel werden auch durch diese Sonderausgabe des erstmals 1993 erschienen Buches nicht gelöst, mit dem Attila Csampai seinerzeit den angelsächsischen Publikationen mit einer deutschen Veröffentlichung entgegentrat. Entsprechend des Untertitels „Gesichter eines Mediums“ zeigt der nahezu unverändert übertragene Band, der wieder durch Ingeborg Bachmanns „Hommage à Maria Callas“ eingeleitet wird („Es ist schwer oder sehr leicht, Größe anzuerkennen“), worauf Csampais Liebeserklärung-Essay „Augenblicke der Ewigkeit“ folgt, die vielen Gesichter der Callas privat und ihren Bühnenrollen, angefangen von den Familienbildern und Fotos mit Freunden in Griechenland über die ersten Proben und Auftritte, die zunehmend in Schönheit schwelgenden kunstvollen Rollenporträts bis zu den letzten Bühnenauftritten und dem wehmütigen Blick, mit dem sie aus ihrer Pariser Wohnung auf die Avenue Mandel schaut. Der Unterschied gegenüber der ursprünglichen Ausgabe findet sich im sog. Anhang, der auf die dreizehn Seiten mit der wertvolle Auflistung der Bühnenauftritte verzichtet und die aus unzähligen Live- und Studioaufnahmen bestehende und heute sicherlich überholte Diskographie, die Dieter Fuoss auf acht Seiten erstellt hatte, durch einen Hinweis auf die Warner Classics Gesamtedition der Callas-Audioaufnahmen (2014/2017) ersetzt, die ihrerseits inzwischen von einer noch umfangreicheren Studio-Edition „La Divina – Maria Callas in all her roles“ abgelöst wurde. Rolf Fath.

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Helge Klausener: Maria Callas. Eine Chronik: Tag für Tag – Jahr für Jahr. La Divina wird sie genannt, „Die Göttliche“. Sie galt als „Primadonna assoluta“. Sie war zu Lebzeiten schon ein Mythos und sie war eine hollywoodreife Diva, deren glamouröse Er­scheinung, deren gesellschaftliche Skandale und   deren künstlerischen Erfolge Publikum und Presse auf der ganzen Welt in Atem hielten.

Ihr Leben rieb sich zwischen den Polen Kunst und Liebe auf. Ihre filmreife und roman­hafte Vita ist eine bewegende Geschichte von Triumphen, Exzessen und Tragödien. Auch 100 Jahre nach ihrer Geburt am 2. Dezember 1923 bleibt Maria Callas eine der größten Opern-Diven schlechthin.

Maria Callas fasziniert nach wie vor als überragende Künstlerin, aber auch als Stilikone und mit ihrer Persönlichkeit. Dramatischer Gestus und musikalische Authentizität sind die unverwechselbaren Merkmale ihrer Interpretationen. Ebenso einzigartig ist der außergewöhnliche Tonumfang ihrer Stimme, ihr einzigartiges Timbre ist berührend. All dies verbindet sich zu einer Aura, mit der Maria Callas viele Protagonistinnen der Oper verkörperte und sie zum Inbegriff der Primadonna wurde.

Über die Stimme der Callas gehen die Meinungen weit auseinander. Eigentlich hatte sie drei Stimmen. Die drei Register – eine herb-getönte, dramatische Bruststimme, eine dunkel tim­brierte, fast animalische, dämonische Mittellage und eine brillante Höhe bis zum dreige­strichenen Es – waren je für sich beeindruckend, wenn auch nicht restlos ausgeglichen. Aber mit ihrer vielschichtigen Stimme konnte sie eine irritierende und oftmals schockierende Vielfalt von Klängen und Stimmfarben erzeugen und damit Seelisches zum Klingen bringen wie nur wenige andere Sängerinnen.

Die Karriere der Callas war vergleichsweise kurz. Nur 15 Jahre stand sie erfolgreich auf der Bühne.  Sie hat sich durch ihren schonungslosen Einsatz regelrecht verbrannt. Singen war für sie mehr als Beruf und Big Business, auch wenn sie der teuerste Opernstar ihrer Zeit war. Maria Callas hat sich mit den Figuren, die sie darstellte, total identifiziert. Und sie hat sich nicht geschont. Sie war ungewöhnlich fleißig. Sie hatte ein sehr breites Repertoire. Sie sang italienisches Fach, Französisches Fach, sie sang Wagner, Belcanto, Rossini und Spontini. Sie hatte Raubbau an ihrer Stimme betrieben. Die Begegnung mit dem Milliardär Onassis, durch die sie zur berühmtesten Frau der Welt wurde, hat ihr schließlich das Genick gebrochen, seelisch wie stimmlich. Ihr erster Mann, Meneghini, war nichts als Vaterersatz und ein skrupel­loser Manager gewesen. Onassis war ihre große Liebe. Onassis versprach Maria Callas die Heirat. Sie wollte endlich ein ganz normales Leben als Frau führen. Doch dann hat Onassis schließlich das Interesse an Maria Callas verloren und heiratete die ehemalige First Lady der USA, Jacqueline Kennedy. Darüber kam Maria Callas nicht hinweg. Sie war eine gebrochene Frau. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr.

Das Geheimnis der Callas und ihrer immensen Wirkung jenseits der Skandale und Bildzei­tungs­­sensationen, die natürlich auch zum Mythos Callas gehörten, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.  Sie hat ein­mal gesagt: „Die Cal­las hat nicht Rollen gesungen, sondern auf der Rasierklinge gelebt“. Diese Bedingungs­losigkeit, die Intensität, die Ernsthaftigkeit und Kompromisslosigkeit ihres Singens, aber auch die ihres schauspielerischen Instinkts, und ihrer perfekten Beherrschung der Rolle der Primadonna hat das Publikum – trotz ihrer stimmlichen An­fecht­barkeit – schlichtweg hin­gerissen und überwältigt, denn sie hat mit ganzer Seele gesungen. Das, was die Italiener „Canto espressivo“ nennen. Sie hat die Sehnsüchte und Bedürfnisse des Publikums erfüllt, und sie hat den von ihr dargestellten Figuren der Vergangenheit eine Stimme unserer modernen Zeit gegeben. Vor allem den Belcantopartien, die sie fürs 20. Jahrhundert wieder entdeckt hat.

Ihre Skandale und Erfolge haben jahrelang die Schlagzeilen der internationalen Medien, nicht nur der Regenbogenpresse beherrscht. Sie ist dabei selbst zu einer der tragisch-romantischen Heldinnen geworden, die sie auf der Bühne unnach­ahmlich verkörperte. Maria Callas ist ein Mythos geworden, der bereits zu ihren Lebzeiten entstand.  Über den Mythos habe John F. Kennedy einmal gesagt, so zitiert ihn Klausener, er sei „der große Feind der Wahrheit.“  Man kann dies als Motto seines Buches verstehen.

Klausner hat aus gegebenem Anlass eines der bemerkenswertesten Callas-Bücher geschrieben. Er ist inzwischen pensioniert.  Er hat an der Universität Mainz Spanisch, Italienisch, Philo­sophie und Betriebswirtschaft studiert, arbeitete als Diplom-Übersetzer, bei der Bundesagentur für Arbeit, und in diversen Berufen in Italien. Musikwissen­schaftler ist er nicht, auch kein Stimmen- oder Sänger­spezialist. Er ist „nicht vom Fach“ wie er bekennt. „In meinem beruflichen Leben habe ich mit Gesang, Oper, Musik nichts zu tun gehabt.“ Vielleicht deshalb ist ihm gelungen, was so viele Bücher über La Divina vermissen lassen: die Sachlichkeit eines Archivars, der über Jahre gesammelt und geordnet hat

Jürgen Kesting, selbst einer der führenden Calls-Biographen (Maria Callas 1990) schreibt denn auch zurecht in seinem Geleitwort: „Die meisten Versuche, ,,the woman behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehricht­samm-lung von Fakten und Fakes hinausgekommen. … Dem Faszinosum der Sängerin, die Lanfranco Rasponi in seinen Gesprächen mit ,,The Last Prima Donnas“ als ,,The One and the Only“ führt – diesem mythisierten Wesen spürt Helge Klause­ner auf den 440 Seiten einer Akte nach, die sich an eine Maxime des ,,Spiegel“-Günders Rudolf Augstein hält: ,,Sagen, was ist.“

Das Buch von Klausener ist das Ergebnis akribischer Archiv­arbei­ten und Re­cher­chen: eine respektgebietende Sammlung von biographischen Daten, von Erinne­rungen und von Dokumenten (Zeitungs- und Magazin-Artikel, Rund­funksendungen, Erinnerungen von Kolle­ginnen und Kollegen) über die Ausbil­dung der Callas, über ihre ersten Aufführungen und Konzerte, über den Beginn ihrer Karriere, über den Aufstieg zur Primadonna und über ihre ruhmreichen Jahre bis zum Ende ihrer Karriere.

Die Sammlung von Fakten „wird kontrastiert oder auch konterkariert durch Berichte oder Kritiken, durch die sich ihr künstlerischer Weg erschließt. Es finden sich lange (und nicht geschönt zitierte) Passagen aus Kritiken nach wichtigen Premieren und Gastspielen, aus denen nicht zuletzt die Parameter abzulesen sind, nach denen sie beurteilt wurde. … Weiters finden sich Auszüge aus den wichtigsten Essays und Würdigungen bedeutender Connaisseurs, aus Erinnerungen von Dirigenten“ und aus legendären Callas Debatten. (Jürgen Kesting)

Chronologisch geordnet reiht Klausener nichts als Fakten aneinander, die die Konturen des Callas-Bildes deutlicher denn je erscheinen lassen. Wie gesagt: Dies ist keine Callas-Biografie. Es ist eher eine Aufführungs- und Rezeptions­geschichte der vielleicht bedeutendsten Sängerin des vergangenen Jahrhunderts. Gleichzeitig ist es der Versuch, die durch Boulevardpresse, Klatsch und Sensationsgier verzerrte Sicht auf die Sängerin Maria Callas wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen und biographische Fakten zu korrigieren.

Klausener ist bescheiden in seinem Anspruch an sich selbst. Er wolle mit seinem Callas-Buch nicht weniger, aber auch nicht mehr als „eine Chronik ihrer Lebensdaten mit all ihren Aufführungen und Schallplatteneinspielungen in bislang nicht vorliegender Ausführlichkeit und Präzision liefern; ihre Kolle­ginnen und Kollegen, ihre Kritiker, ihre Freunde und Gegner sollten zu Wort kommen. So, stellte ich mir vor, würde aus den Zeugnissen ihrer Zeit ein realitätsnahes und für heutige Leser authentisches Bild der Künstlerin Maria Callas entstehen. … So kann dieses Buch … einen Überblick über die inter­natio­nale Rezeption von Maria Callas geben, und es kann, unterfüttert mit gesi­cher­ten Daten und Fakten, auf meine persönliche Wertung als ,,Autor“ verzichten.“ Chapeau! Das nennt man Understatement.

Register, Quellenverzeichnis, ausführliche Anmerkungen und ein imponierendes Verzeichnis der Erinnerungen, Würdigungen und Porträts der Callas in TV und Radio sind angehängt und vervollständigen dieses vergleichslose Buch. Es herrscht wahrlich kein Mangel an Callas-Büchern. Aber dieses ist konkurrenzlos und wichtig (Helge Klausener: Maria Callas. Eine Chronik: Tag für Tag – Jahr für Jahr, Hollitzer Verlag Wien 2023. 476 S.; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3990940648). Dieter David Scholz

 

Maria und Maria und Maria: Maria Callas heißt das Buch von Eva Gesine Baur im Beck Verlag, und darunter kann man sich viel vorstellen: einen Roman, eine Biographie, eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Stimme der Leidenschaft ist das Werk untertitelt, und nun erwartet man ein Buch, dass sich mit der Sängerin Maria Callas auseinandersetzt. Eine Biographie liest man in der untersten Zeile, und wieder ist offen, um was es sich bei den immerhin mehr als 500 Seiten umfassenden Werk handelt. Für eine wissenschaftliche Abhandlung sprechen die mehr als fünfzig Seiten Anhang, bestehend aus vierzig Seiten Quellennachweisen, einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und einem Personenregister. Auf einen fiktionalen Text hingegen weisen die Überschriften für die einzelnen Kapitel hin wie Die umschwärmte Verschmähte, denen wiederum drei oder mehr Untertitel folgen wie Omero Lengrini wird entbunden und stirbt, Callas ist noch immer nicht schwanger und zeigt sich in  knappen Bikinis. Dabei fällt auf, dass fortlaufend und in schöner Konsequenz mit Gegensätzen gearbeitet wird, ja dass die Verfasserin das Objekt ihrer Betrachtungen als eine Art Doppelperson, zerfallend in eine Maria und eine Callas, sieht. Sehnt sich Maria nach Liebe und Mutterschaft, so strebt Callas nach Ruhm und Reichtum und vor allem nach künstlerischer Bestätigung, nach Vollkommenheit und die beiden Komponenten   dieses Gegensatzpaars werden in schöner, manchmal auch penetrant wirkender Konsequenz durch das gesamte Buch hindurch begleitet, zu jedem Ereignis, zu jeder neu auftretenden Persönlichkeit werden nacheinander Maria und Callas oder umgekehrt Callas und Maria quasi befragt, wobei vieles belegt ist, wie die Anmerkungen beweisen, vieles aber auch Spekulation zu sein scheint, auf jeden Fall viele Seiten damit gefüllt werden können, ohne dass es immer zu einem bedeutenden Erkenntnisgewinn kommt. Das extremste Beispiel dafür ist der angebliche Sohn von Callas und Onassis, den sie sich, so wollten Gerüchte wissen, vor dem Geburtstermin aus dem Leib schneiden ließ, um dem Erzeuger des Kindes nicht mit dickem Bauch entgegentreten zu müssen. Diese Geschichte wird erst erzählt, damit sie dann ebenso ausführlich widerlegt werden kann. Spektakuläre Gegensätze wie Ausnahmetalent in Kittelschürze oder Musikstudentin auf Abwegen sind besonders beliebt und immer eindrucksvoll.

Vor Eva Gesine Baur hatte bereits Pasolini erkannt, dass in Callas‘ Brust zwei Seelen wohnten: die einer antiken Tragödin und die einer modernen Frau, aber das ist eine andere Art der Gegenüberstellung als die von der Verfasserin praktizierte.

Dem Fiktionalen nähert sich die Autorin besonders dann, wenn sie vorgibt, die Gedanken von Callas zu kennen, Spekulationen sind dem Romanautoren durchaus erlaubt, ja erwünscht, auch Pauschalurteile wie die, dass Jackie, die Schwester, nach Geld, Maria aber nach Ruhm strebte. Und auch gewagte Thesen wie die, dass zur antiken Tragödie auch Vernunft gehört, erwecken das Erstaunen des Lesers.

Nicht wirklich sattelfest ist die Verfasserin, was Opernpartien, Opernarien und Opernsänger angeht. So war Benvenuto Franci nicht Dirigent (Das war sein Sohn Carlo.), sondern Bariton, will Amonasro Radames nicht „vernichtet sehen“, sondern zur Flucht animieren, ist Elena aus den Vespri nicht Königs-, sondern Herzogstochter, Imogen nicht Königin, hat Alfredo nur eine und nicht zwei große Arien, ruft Tosca nicht im 3. , sondern im 1. Akt dreimal „Mario“, singt Aida nicht im 1., sondern im 3. Akt „Oh patria“, können di Stefano und Björling nicht gemeinsam im Trovatore aufgetreten sein, ist Butterfly im zweiten und nicht im dritten Akt voller Freude, Norma hat nur zwei und nicht vier Akte, ist Verdis Jago kein Tenor. Das mögen Kleinigkeiten sein, sie zerstören aber das Vertrauen des Lesers in die Teile des Textes, die er nicht kontrollieren kann, weil ihm die Kenntnisse dazu fehlen.

Weite Teile des Buches gelten dem Berichten über Ereignisse, politische oder künstlerische, von denen irgendwann bekannt wird, dass Callas davon keine Kenntnis nahm, seien es Erfolge der Beatles oder seien es Unruhen in ihrer griechischen Heimat. Sie geschehen lediglich zeitgleich mit dem, was von Callas berichtet wird. So wird das Buch gespeist von einfühlsamen Betrachtungen über Karriere und Leben der Callas, aber auch von zum Verständnis ihrer Seelenlage oder ihres Handelns nicht notwendigen Abschweifungen oder Wiederholungen.

Außer Maria Callas ziehen am Auge des Lesers, und das macht einen beträchtlichen Wert des Buches aus, Persönlichkeiten wie Visconti und Zeffirelli, Toscanini und Serafin, di Stefano und Simionato, Gorlinski und Legge, Onassis und …vorbei. Und die Autorin hätte noch mehr über nur am Rande gestreifte Ereignisse erfahren können, so von Fiorenza Cossotto, dass Zeffirelli nie mehr ein Wort mit ihr sprach, nachdem sie ihre Töne länger als Callas‘ Norma gehalten hatte, und Raina Kabaivanska hätte ihr davon berichten können, dass Callas sie nach den misslungenen Vespri in Turin mit nach Paris nehmen wollte, um sie zu einem Star zu machen. Was diese dann auch ohne Nachhilfe wurde.

Leider spricht das Buch zwar von vielen Fotos, es sind aber nicht viele davon in dem Band zu finden. Es ist eine reiche Materialsammlung, informiert sehr ausführlich, wenn auch natürlich nicht mit dem Wahrheitsgehalt eines Dokuments, über den Menschen Maria Callas und lässt denjenigen Leser etwas enttäuscht zurück, der gern mehr über die Besonderheit der Kunst der Ausnahmesängerin  erfahren hätte (Eva Gesine Baur Maria Callas; C.H.Beck Verlag 2023; 510 Seiten; ISBN 978 3 406 79142 0, 2023). Ingrid Wanja 

Francese all´Italiana

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„Favorita del Re“ oder vielmehr „La Maitresse du Roi“  in der französischen und damit ursprünglichen Fassung lautet der Schreckensruf von Fernand, als er erfährt, dass die für keusch gehaltene geliebte Leonor bereits ein aktives Liebesleben hinter sich hat. Jedes Jahr im Herbst wird in Bergamo, der Geburtstag von Gaetano Donizetti, ein ihm gewidmetes Festival veranstaltet, in dem 2022 Valentina Carrasco darüber nachdachte, in welcher Epoche die bittere Erkenntnis von der Nichtjungfräulichkeit der Braut eine Tragödie auslösen könnte. Zwar ist das Personal der Oper historisch nachweisbar, hatte König Alfons XI. tatsächlich eine Geliebte mit Namen Leonora di Guzman, die allerdings nicht jung verstarb, sondern ihm ein knappes Dutzend Kinder gebar.

Die Regisseurin unterstellt der Zeit noch vor der Reconquista mehr Freizügigkeit als der Entstehungszeit der Oper und versetzt deswegen die Handlung in die Lebenszeit Donizettis, womit allerdings noch lange nicht die Frage geklärt ist, wie es einem Novizen gelingen kann, als Feldherr zu brillieren und die Spanien besetzt haltenden Mauren zu besiegen. Als weiterer Stolperstein erwies sich das für eine französische Oper unverzichtbare Ballett, dem Dirigent Riccardo Frizza zwar zumindest teilweise musikalische Qualitäten bescheinigt, das jedoch eigentlich nichts mit der Handlung zu tun hat, außer sie zu unterbrechen.

Die Regie in Bergamo lässt zur Ballettmusik in dieser Version der Favorite eine Gruppe älterer Damen ihren Betten entsteigen und sich einer ausgedehnten Morgentoilette einschließlich Zähneputzen widmen, womit auch die Frage nach dem Sinn von vielen verhüllten Kästen, die in den beiden ersten Akten die Bühne zustellten, beantwortet wird (Bühne Carles Berger und Peter van Pret). Die sich zeitweise in Tüllröcke (Ballett!) hüllenden Damen aus der  Bevölkerung von Bergamo sollen die abgelegten Geliebten des Königs sein und rücken diesem auch einmal bedrohlich auf den Leib. Das Ballett dürfte Anlass für die größte Verlegenheit der Regie gewesen sein, denn ansonsten nimmt die Handlung, abgesehen davon, dass die Kostüme mit Hosenträgern und Kummerbund für die Herren (Silvia Aymonino) nicht ins 14. Jahrhundert passen, mit vielem Schreiten für das Personal ihren Lauf  und stört die Sänger nicht bei ihrer eigentlichen Beschäftigung, dem Singen.

Das allerdings gibt durchaus Anlass zur Freude. Annalisa Stroppa hat einen auch für Rossini bestens geeigneten Mezzosopran mit einheitlicher Färbung für den gesamten Stimmumfang, klar konturiert und von schlankem Ebenmaß. „Oh mon Fernand“ klingt schön und die Herzen berührend, für die Cabaletta steht der attraktiven Sängerin das notwendige vokale Feuer zur Verfügung. Ein optisch höchst attraktiver Alphonse XI ist Florian Sempey, der seinen lyrischen Bariton sehr unter Druck setzt, manchmal recht dumpf klingt, aber die Gewähr für eine idiomatische Verkörperung der Partie bietet. Ebenso attraktiv, dazu balsamisch Glaubensgewissheit verkündend, ist Evgeny Stavinsky als Balthazar, der sich nur im Presto auch einmal hohl anhört. Erfüllen diese Drei optisch alle Anforderungen an heutige Opernsänger, so fällt Javier Camarena in dieser Hinsicht doch etwas aus dem Rahmen, kann es sich jedoch leisten, weil er schließlich Tenor und dazu noch einer der spektakulärsten für dieses Fach ist. Sein Fernand verfügt über eine strahlende Höhe, ein beachtliches Falsettone für die allerextremsten Töne, eine solide Mittellage und singt ein wunderschönes, inniges „ Ange si pur“.  Edoardo Milletti als Don Gaspar und Caterina Di Tonno als Inés sorgen zusätzlich neben dem Chor aus Bergamo und dem Coro dell‘ Accademia Teatro alla Scala und dem Orchestra Donizetti Opera unter Riccardo Frizza dafür, dass sich man doch eher in einer italienischen als einer französischen Oper wähnt und darüber ganz und gar nicht böse ist.

Dem Genueser Label Dynamic ist es einmal mehr zu verdanken, dass man am italienischen Opernleben teilnehmen kann, nicht nachvollziehen allerdings kann man, dass diese Produktion den Abbiati Prize 2022 in Italien gewonnen hat (Dynamic 57992). Ingrid Wanja      

Urfasssung

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Muss es denn noch eine Cavalleria Rusticana sein und dazu noch mit einem Orchester, das bisher nicht gerade als Spezialist für den italienischen Verismo aufgefallen ist? Muss es nicht, aber kann es gern, wenn es sich um die Urfasssung der Partitur des jungen Pietro Mascagni handelt, so wie er seinen Einakter hoffnungsvoll der Kommission, die über den Gewinner des vom Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno zum zweiten Mal veranstalteten Wettbewerbs entscheiden sollte, vorgelegt hatte. Als Sieger stand der Komponist aus Livorno schnell fest, auch weil sein Konkurrent Leoncavallo keinen Ein-, sondern einen Zweiakter eingereicht hatte, aber die Proben erwiesen sich als schwierig, da der Chor des Teatro Costanzi in Rom Schwierigkeiten mit seiner umfangreichen und anspruchsvollen Partie hatte und Sopran und Tenor mit der Tessitura nicht zurechtkamen, eine Transposition um einen halben oder sogar ganzen Ton für Teile ihrer Rolle forderten. Mascagni kam den Forderungen nach, auch wenn es ihm, so berichtet er in einem Briefwechsel, schwer fiel, die geänderten Bruchstücke wieder sinnvoll in die Partitur einzubetten, er verkürzte das Auftrittslied des Baritons um eine der vorgesehenen drei Strophen, so dass am Ende mehr als zehn Prozent der Oper dem Rotstift zum Opfer fielen. Da die dritte Strophe von Alfios Arie eigentlich zum Verständnis des formalen Aufbaus des Stücks notwendig ist, war der Verzicht auf sie auch der für Mascagni schmerzlichste. Cavalleria Rusticana fällt auch durch die Besetzung aller drei Frauenpartien mit einer tiefen Frauenstimme auf. Zwar haben auch viele Soprane, darunter Callas, die Partie gesungen, aber die großen, unvergesslichen Santuzzas waren Mezzosoprane wie Simionato oder Cossotto. Auf der nun vorliegenden CD ist die Partie einem lyrischen Sopran anvertraut, nachdem die Transpositionen rückgängig gemacht worden sind. Außerdem ist das Auftrittslied des Alfio wieder dreistrophig, was eindeutig einen Gewinn darstellt.

Der Balthasar Neumann Choir und das gleichnamige Orchestra unter Thomas Hengelbrock geben sich im November 2022 in Baden Baden  eher sanft melodisch als scharf akzentuierend, das Orchester gewinnt an Gewicht nach Turiddus Preislied, das sehr aus der Ferne erklingt, filigran zeichnet das Zwischenspiel die herrschende Stimmung nach.

Die Santuzza von Carolina López Moreno singt mit zartem, apartem, hellem Sopran, sehr delikat, auch spritzig, sanft verhauchend im „io son dannata“. Insgesamt ist sie verletzlicher, aber auch unbedeutender als Person, der man die leidenschaftliche sizilianische Bäuerin nicht recht abnimmt. Sie mag an Höhe gegenüber den traditionellen Santuzzas gewinnen, nicht aber an Glaubwürdigkeit, zumindest was die inzwischen entstandenen Hörgewohnheiten betrifft. Giorgio Berrugi ist ein italienischer Tenor mit dem entsprechend passenden Timbre, das er aber auch für den Siegmund einsetzt.  Einen schlanken, zunächst gar nicht bärbeißigen Alfio singt Domen Križaj, geht auch mal im Chor unter, steigert sich aber im Verlauf des Geschehens zu dunkel tönender Tragik. Auch einmal eine gute Santuzza war Elisabetta Fiorillo, die nun als Mamma Lucia wesentlich zur angemessenen dichten akustischen Atmosphäre beiträgt und nicht nur Stimmreste anzubieten hat. Eva Zaȉcik tändelt als verführerische Lola durch die Musik.

Was einmal als Ergebnis des Unvermögens der ausführenden Kräfte dem jungen Mascagni Kopfzerbrechen bereitete, scheint doch, insbesondere die Stimmlage der Santuzza betreffend, die bessere, zumindest die lieb gewordene Lösung für den unsterblichen Einakter zu sein (Prosp0088). Ingrid Wanja        

Sohn der Stadt

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Das Schicksal  nicht allzu mutwillig herausfordern wollte wohl Dirigent Federico Maria Sardelli, als er 2022 bei der Aufführung von Jean-Baptiste Lullys pastorale heroique Acis et Galatée beim Maggio Musicale Fiorentino nur zu Beginn und zum Schluss mit dem zu Lebzeiten des Komponisten üblichen Dirigierstock hantierte, solange das Auge der Kamera auf ihm ruhte. Dem Komponisten war bei seiner letzten Amtshandlung die Spitze desselben in den Fuß eingedrungen, was zu Wundfieber und zum Tod von Lully geführt hatte. In der Sala Zubin Mehta beginnt das Werk  in der Regie von Benjamin Lazar als eine Art immer wieder von Tänzchen oder auch einmal einem Blinde-Kuh-Spiel unterbrochenes Picknick, eine riesige Videowand täuscht eine Lichtung im Wald  (Adelin Caron), zwei Gemälde  intimere Räume vor, und die Kostüme von Alain Blanchot wirken gewollt improvisiert. Insgesamt wird keinerlei Virtuosität vorgetäuscht, sondern eher der Eindruck erweckt, Amateure hätten sich mit einer ihre Möglichkeiten übersteigenden Aufführung etwas übernommen. Das hat alles einigen Charme, ermüdet mit der Zeit aber doch durch seine wohl gewollte Unbeholfenheit.

Das Werk beginnt mit der für die  Zeit  typischen Lobpreisung Ludwigs XIV., d.h. eher des Dauphin, der die Uraufführung als Gast aristokratischer Gastgeber auf Chateau d‘Anet, 80 Kilometer von Paris entfernt, erlebte. Erst nach einigen Aufführungen in der Provinz gelangte die Oper nach Paris, wo sie mit allem Bühnenzauber, dessen man damals fähig war, aufgeführt wurde. Auf diesen nun verzichtet man in Florenz bewusst, allerdings leider auch auf eine, was die Sänger betrifft, durchgehend zufriedenstellende Besetzung. Dabei handelt es sich schließlich um die italienische Erstaufführung eines Werks von Jeanbattista Lulli, der ein Sohn der Stadt war. Ganz anders und dem Anlass entsprechend verhält es sich mit dem Orchestra e Coro del Maggio Musicale, denen der Dirigent feierliche Pracht wie graziöse Detailverliebtheit entlocken kann. Die vier professionellen Tänzer Caroline Ducrest, Robert Le Nuz, Alberto Arcos und Gudrun Skamletz  heben sich unter Leitung der Letzteren nicht sonderlich von den tanzenden Sängern ab, was bei der immensen Bedeutung, die das Ballett hat, recht ärgerlich ist.

Insgesamt schlägt sich das weibliche Personal besser als vor allem die hohen Männerstimmen. Der haute-contre Jean-Francois Lombard hat für den Acis recht wenig vokale Substanz, gibt aber immerhin einen liebenswerten, seine Naivität glaubwürdig vermittelnden Hirten. Seinen Kollegen Teléme verkörpert Sebastian Monti mit Schwierigkeiten beim Registerausgleich, der sich stärker noch beim Apollon bemerkbar macht. Außerdem singt er den Priester der Juno. Erfreulich gut schlagen sich die dunkleren Stimmen, so der Polipheme von Luigi De Donato mit markantem Bass oder der Neptune mit götterwürdiger Präsenz von Guido Loconsolo. Eine zarte, aber zu virtuosem Einsatz fähige Sopranstimme hat Valeria La Grotta für Diane, Zweite Najade und Scylla, mehr Glanz und Fülle besitzt der Sopran von Francesca Lombardi Mazzulli, die zutreffend L’Abbondanza, dazu Aminte und Erste Najade singt. Der unangefochtene Star der Aufführung, und das nicht nur wegen ihres langen Solos am Schluss, ist Elena Harsány als Galatée mit lyrischem Feuer und anmutigem Spiel. Das war hoch professionell und stimmte versöhnlich gegenüber mancher Unzulänglichkeit im Geamtablauf (Dynamic 57971). Ingrid Wanja   

Betörend

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Fast immer wird in Einspielungen der Liederzyklus Les Nuits d’été von Hector Berlioz mit Maurice Ravels Shéhérazade kombiniert. Viele Aufnahmen auf dem Markt zeugen von dieser Praxis und so muss sich Marie-Nicole Lemieux mit ihrer Neuaufnahme bei ERATO dem Vergleich mit einer Vielzahl von Konkurrenzversionen stellen. Aber diese Platte, eingespielt im Mai 2021 und Juli 2022 in Monte-Carlo (5054 197659409), weist einen Trumpf auf, denn sie präsentiert als zusätzliches Werk die Mélodies persanes op. 26 von Camille Saint-Saëns, welche auf Tonträgern kaum  anzutreffen sind. Die Neuedition des Palazzetto Bru Zane ist sogar eine Erstaufnahme, denn hier ist Saint-Saëns’  Orchestration der Lieder nach Texten von Armand Renaud, die er ursprünglich für Gesang und Klavier schrieb, zu hören. Außerdem wurden die ursprüngliche Reihenfolge der Titel wieder hergestellt und zwei Zwischenspiele aus der sinfonischen Ode Nuit persane eingefügt. Das begleitende Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo unter Kazuki Yamada malt diese atmosphärisch aus und ist der Garant für ein authentisches Klangidiom. „La Brise“ erinnert in ihrem sinnlichen Rhythmus an Bizets Carmen-Figur und Lemieux kann hier mit lockenden Tönen bezaubern. „La Splendeur vide“ ist von ähnlicher Stimmung, nur hintergründig-verhaltender und lässt den Alt der Sängerin schimmern und schweben. „La Solitaire“ erinnert in seinem spanischen Duktus an eine Zarzuela und gibt der Interpretin Gelegenheit für einen temperamentvollen Auftritt. „Sabre en main“ wirkt dramatischer und verlangt beinahe nach maskuliner Energie für ein martialisches Marsch-Thema. Wie bei Berlioz findet sich auch bei Saint-Saëns ein Stück mit dem Titel „Au cimetière“, aber natürlich mit anderem Text. Die Komposition ist von verhaltener Diskretion, erlaubt der Interpretin fein getupfte Passagen von nobler Zurückhaltung. Den Abschluss bildet „Tournoiement“ – ein Songe d’opium von fiebriger Nervosität.

Zu Beginn der CD erklingt der Berlioz-Zyklus mit seinen sechs Titeln. Der erste, „Villanelle“, ist von pulsierendem Rhythmus und Lemieux kann mit ihrer sinnlichen Stimme einen starken Auftakt bieten. Es folgt der melancholische Gesang „Le Spectre de la rose“, in welchem der Altistin betörende Momente mit schwebenden, flirrenden Klängen gelingen. „Sur les lagunes“ ist von schwermütigem Gestus, die Solistin setzt hier prägnante Akzente und lässt faszinierend dunkle Töne hören. Vom Ausdruck der Sehnsucht getragen ist „Absence“ und auch für „Au cimetière“ findet Lemieux delikate Stimmungen. Den Zyklus beschließt „L’Île inconnue“ mit ihrem schwelgerischen Melos, von der Solistin mit weitem dynamischem Radius erfasst.

Zum Schluss der CD sind die drei Stücke von Ravel auf Texte von Tristan Klingsor zu hören. Geheimnisvoll ertönt Asie, gestattet der Sängerin, die ganze Spanne ihrer stimmlichen Möglichkeiten auszureizen – von intimen Bekenntnissen bis zu dramatischen Ausbrüchen, bei denen dann auch ein greller Spitzenton zu hören ist. „La Flûte enchantée“ beginnt geheimnisvoll flirrend und steigert sich zu schwelgerischem, fremdartigem Melos. „L’Indifférent“ lässt an Debussys Klangidiom denken und bietet der Altistin zum Schluss nochmals Gelegenheit, ihre Ausnahmestimme bewundern zu lassen. Bernd Hoppe

Louise Bertins „Fausto“

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Mit Spannung erwartet ging in Paris Louise Bertins Oper Fausto von 1831 über die konzertanten Bretter des Pariser Théâtre Champs-Elysées am 20. Juni 2023, ein Projekt des Palazetto Bru Zane für seine CD-Veröffentlichung in der Reihe der Romantischen französischen Oper. Beim zehnten Festival Palazzetto Bru Zane präsentierten das auf alte Musik spezialisierte Ensemble Les Talens Lyriques und sein Dirigent Christophe Rousset eine historisch orientierte Aufführung mit Naturtrompeten und -Hörnern. Wie dieser Fausto mit modernem Instrumenten  klingt, kann man im Januar 2024 am Aalto-Theater in Essen hören.

Nach Esmeralda aus Montpellier (bei Accord) und Le Loup-garou (aus Albuquerque) ist dies nun bereits die dritte Oper der Komponistin, die ausgegraben wurde. Aber braucht die Welt nun noch eine derselben Komponistin? Angesichts der vielen, vielen Kenntnis-Lücken im französischen Repertoire der Zeit? Zumal der musikalische Eindruck mich zumindest „nicht vom Hocker“ reißt und sich in der Assoziation viele andere Werke der Epoche positiver und vor allem auch musikalisch interessanter hervordrängen… Und dieses „nur“ weil sie von einer Frau komponiert wurde? Manchmal schüttelt der Sammler doch den Kopf über die Programm-Auswahl des Palazzetto…

Nachstehend eine Einschätzung zum Werk von Charles Jernigan und einige Pressestimmen zur Uraufführung 1831.  Danach ein Blick auf die Aufnahme aus dem Umfeld der Pariser Aufführung.

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Zu Louise Bertins „Fausto“: Die Komponistin/ Wikipedia

Die Karriere der Komponistin Louise Bertin spielte sich in erster Linie auf der Opernbühne ab. Als die Romantik in der Musik zur vollen Entfaltung kam, leuchtete ihr Stern am Pariser Musikhimmel wie ein Meteor. Einige Monate nach den Huit Scènes de Faust von Berlioz ließ Louise Bertin sich ebenfalls von Goethe inspirierten und komponierte eine Oper für das Théâtre-Italien in Paris. Es gab nur drei Aufführungen. Die Uraufführung blieb fast unbemerkt (trotz einer sehr positiven Kritik) und die Oper wurde nicht wiederaufgenommen. Obwohl die Oper mit einem Tenor (Domenico Donzelli) in der Titelrolle uraufgeführt wurde, hat sich der Palazzetto Bru Zane entschieden, die Originalfassung dieser Oper zur Uraufführung zu bringen, aus deren Manuskript hervorgeht, dass die Rolle des Faust von einer Frau (Rosmunda Pisaroni) gesungen werden sollte.

Goethes Faust, Erster und Zweiter Teil, inspirierte im neunzehnten Jahrhundert mehrere Komponisten: Berlioz, Gounod, Schumann, Listz und Boito, um nur einige zu nennen. Die erste Faust-Oper auf der Grundlage von Goethes großem Versdrama stammt jedoch von einer Französin, Louise Bertin. Und sie komponierte sie nach einem italienischen Text. (Quelle Palazzetto/ G. H.)

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Louise Bertins Oper „Fausto“: Für Rosamunde Pisaroni war die Uraufführung 1831 gedacht, sie wurde krank und durch den Tenor Donzelli ersetzt; der Palazzetto Bru Zane folgt mit Konzert 2023 und Aufnahme der Intention der Erstfassung/ Opera Rara

Und nun Charles Jernigan zu Louise Bertins Fausto : Was für eine interessante Komponistin ist Louise Bertin (1805-77)! In ihrer Kindheit verkrüppelt, wahrscheinlich durch Kinderlähmung oder einen Unfall in der Kindheit, schlug sie nicht den traditionellen Weg einer Frau ihres Alters ein – Heirat und Kinder. Sie wurde weder in großem Reichtum noch in der Aristokratie geboren, war aber dennoch das Kind intelligenter Eltern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Pariser Kunstwelt sehr gut vernetzt waren und sich um ihre Tochter kümmerten, indem sie ihr Möglichkeiten des Selbstausdrucks und der Selbstverwirklichung boten, die für eine Frau zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sicherlich ungewöhnlich waren. Ausgebildet von Fétis und Anton Reicha, den wohl besten Musiklehrern der damaligen Zeit in Paris, begann Bertin schon früh eine Karriere als Komponistin und schrieb 1825, als sie 20 Jahre alt war, ihre erste Oper (Guy Mannering nach Walter Scott). Sie wurde privat aufgeführt, aber ihr erstes professionell produziertes Werk – an der Opéra-Comique – war 1827 der Einakter Le loup-garou, mit einem Libretto von keinem Geringeren als Eugène Scribe. (Es wurde im September 2022 von der Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, und im November von der Gothic Opera in London wiederaufgenommen).  1829 begann sie mit der Arbeit an einer Oper auf der Grundlage von Goethes Faust, der kurz zuvor in der französischen Übersetzung von Gerard Nerval erschienen war. Fausto wurde 1831 in Paris am Thèâtre-Italien ohne großen Erfolg uraufgeführt.  Nichtsdestotrotz begann Bertin mit der Arbeit an einer vierten Oper, die sich als ihr Hauptwerk entpuppte: La Esmeralda, eine große Oper mit einem Libretto von Victor Hugo selbst, das auf seinem eigenen großen Roman Notre-Dame de Paris basiert.  La Esmeralda wurde 1838 an der Opéra uraufgeführt und erlebte 2008 ihre moderne Premiere in Montpellier (eine Aufführung, die bei Accord aufgezeichnet wurde und auf youtube verfügbar ist).

Und dann Schweigen. Weder Fausto noch La Esmeralda hatten großen Erfolg, und die Kritiker fragten sich, ob Bertins Talent ihr den Zugang zu den drei großen Pariser Opernbühnen ihrer Zeit verschafft hatte – der Comique, der Italienischen und der Opéra – oder ob ihre Opern aufgrund ihrer familiären Beziehungen und ihrer Freundschaft mit bedeutenden Künstlern der Zeit, darunter Berlioz und Hugo, produziert wurden. Wurde sie kritisiert und sogar verspottet, weil sie eine Frau (und behindert) war, die es wagte, sich in der fast ausschließlich männlichen Welt der Opernkomposition durchzusetzen? Oder war sie eine Amateurin, die sich in einem Bereich bewegte, der ihre Fähigkeiten überstieg?

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Zu Louise Bertins „Fausto“: der originale „Norma“-Cast mit Domenico Donzelli (der in der Uraufführung 1831 die Titelpartie/ Fausto sang), Giuditta Pasta und Guilia Grisi/ zeitgen. Illustration/ Wiki

Fausto ist in vielerlei Hinsicht ein Unikat.  Zunächst einmal war es, soweit ich weiß, die erste Oper, die auf Goethes Faust basierte. (Louis Spohrs Singspiel Faust von 1816 basierte auf den mittelalterlichen Legenden, nicht auf Goethes 1808 entstandenem Versdrama Faust, Teil. Eins.) Gerard de Nervals französische Prosaübersetzung von Faust, Erster Teil, erschien 1828-29; fast gleichzeitig komponierte Berlioz seine Huit Scènes de Faust, sein erstes veröffentlichtes Werk, das schließlich 1845 zum Kernstück seiner „dramatischen Legende“ La damnation de Faust werden sollte. Bertin scheint fast zur gleichen Zeit mit der Arbeit an Fausto begonnen zu haben und plante dessen Aufführung am Thèâtre-Italien im Jahr 1830, die jedoch um ein Jahr verschoben wurde. Zum Vergleich mit anderen, berühmteren Faust-Opern: Gounods Faust wurde erst 1859 uraufgeführt, Boitos Mefistofele neun Jahre später, 1868, also 37 Jahre nach Fausto.

Fausto ist auch insofern einzigartig, als es sich um eine Oper eines französischen Komponisten zu einem italienischen Libretto auf ein damals in Frankreich unbekanntes deutsches Werk handelt. Bertin hatte sie für das Thèâtre-Italien bestimmt, das Werke in italienischer Sprache und im Belcanto-Stil der damaligen Zeit aufführte. Rossini selbst war eng mit diesem Theater verbunden und wurde im Oktober 1831 dessen Direktor. Der Text von Fausto wurde zunächst von Bertin selbst auf Französisch verfasst und von Luigi Balocchi, dem Hauslibrettisten der Italiener, ins Italienische übersetzt.  In einer weiteren Verbeugung vor den italienischen Formaten komponierte Bertin ihr Werk als Opera semi-seria, die Elemente der Komödie in ein ansonsten ernstes Werk einbrachte.

Bertins Werk ist natürlich auch deshalb ungewöhnlich, weil sie eine Frau war. Sie war nicht die erste französische Frau, die eine Oper schrieb, aber 1831 war dies sicherlich ungewöhnlich, ein Novum, das alle zeitgenössischen Kritiker bemerkten, die sie nicht beim Namen nannten, sondern als „demoiselle“ bezeichneten.

Zu Louise Bertins „Fausto“: Henriette Méric-Lalande sang die Margarita (hier in Bellinis „Straniera“)/ BNF Gallica

Interessant ist, dass bei den verschobenen Aufführungen der Oper 1830 die Hauptrolle des Fausto mit einer Sängerin in Travestie besetzt wurde, vielleicht eine weitere Verbeugung vor der italienischen Operntradition. Offenbar sollte Rosmunda Pisaroni den Mezzo-Fausto spielen, aber als die Premiere um ein Jahr verschoben wurde, stand sie nicht mehr zur Verfügung und Bertin schrieb die Rolle für Domenico Donzelli, einen Tenor, um.  Für die moderne Wiederaufnahme beschlossen Palazzetto Bru Zane, zur ursprünglichen Partitur zurückzukehren und die Rolle des Fausto mit der Mezzosopranistin Karine Deshayes zu besetzen. Vermutlich war dies das erste Mal, dass die Originalfassung zu hören war.

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Das Libretto: Opernbesucher, die die Partitur heute hören, werden wahrscheinlich Bertins Libretto, wenn nicht ihre Musik, mit dem bekannten Text von Gounods Faust vergleichen, und sie werden sie überraschend ähnlich finden. Wie Gounods Librettisten Barbier und Carré etwa dreißig Jahre später konzentriert sich Bertin auf Faustos Pakt mit dem Teufel, um seine Jugend wiederzuerlangen, weil er sich zu Margarita hingezogen fühlt, einer attraktiven jungen Frau, die zu einer Waise geworden ist; auf ihre aufkeimende Beziehung und Mefistofele’s Werben um die matronenhafte Catarina (Marthe bei Gounod), um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, während Fausto Margherita umwirbt; Margheritas Scham, als sie von den Dorfbewohnern verspottet wird; die Entdeckung ihrer Verführung durch ihren Bruder Valentino und seine Ermordung durch Fausto mit Hilfe von Mefistofele; ihre Schwangerschaft und ihre Inhaftierung wegen Kindermordes; und ihre Erlösung, die sich gerade dann ankündigt, als Fausto verdammt wird.

Mit anderen Worten: Bertin reduziert Goethes vielschichtigen ersten Teil auf ein überschaubares Opernszenario, das den Erwartungen der Opernbühne seiner Zeit entspricht. Gounods Librettisten wurden lange Zeit dafür kritisiert, Goethes philosophische Ideen auf ein romantisches Opernmelodram zu reduzieren, aber Bertin verstand die Notwendigkeit, die Geschichte an die Formen anzupassen, die das Publikum auf dem Theater erwartete. Ihr Szenario erwies sich als haltbar.

Zu Bertins „Fausto“: Gèrard de Nerval (eigentlich Gérard Labrunie; 22. Mai 1808 in Paris; † 26. Januar 1855 ebenda) hatte 1826 Goethes „Faust“ ins Französische übersetzt/ Gravure von 1830/ Wikipedia

Könnte Bertins Libretto eine Vorlage für Gounods Librettisten Michel Carré gewesen sein, der ein populäres Theaterstück schrieb, das zur Grundlage für das Libretto wurde, das er und Jules Barbier für Gounod verfassten?  Die Ähnlichkeiten werden besonders deutlich, wenn man Fausto mit dem Libretto der ersten Fassung von Faust aus dem Jahr 1859 vergleicht, die Palazzetto Bru Zane 2018 aufgenommen hat und die am 14. Juni desselben Jahres im Théâtre des Champs-Élysées konzertant aufgeführt wurde. Diese erste Fassung, die Gounod für das Théâtre Lyrique schrieb, verwendet umfangreiche gesprochene Dialoge und füllt die Charaktere von Wagner und Dame Marthe aus; sie enthält auch ein gutes Stück mehr Komik als die revidierte Fassung mit begleiteten Rezitativen, an die wir gewöhnt sind – so wie Bertins Oper Semi-Seria viel von der Laune und sogar Komik bewahrt hatte, die in Goethes Mephistopheles zu finden ist.

Es gibt Unterschiede. In Fausto wird Margarita dem alten Fausto gleich zu Beginn vorgestellt, als sie ihn um Hilfe bei der Beschaffung eines Heilmittels für ihre kranke Gefährtin/Vormundin Catarina bittet, und nicht wie bei Gounod durch eine verlockende magische Vision von Méphistophélès.  Sie wird von den Nachbarn und den Frauen des Dorfes in einer Szene auf einem öffentlichen Platz verspottet und nicht von unsichtbaren Teufeln in der Kathedrale. Außerdem endet der erste Akt mit einer Szene, in der eine Hexe den Trank zubereitet, der Fausto verjüngt, anstatt dass Méphistophélès die Verwandlung einfach selbst vornimmt.

Kannten Carré oder Gounod das Libretto-Szenario von Bertin? Gounod hatte in den 1830er Jahren bei Anton Reicha studiert, der auch Bertins Lehrer gewesen war, und wurde von Berlioz beeinflusst, der Bertin nahe stand. Ob Bertins Fausto das Libretto von Gounod beeinflusst hat oder ob alle Librettisten bei der Bearbeitung von Goethes Stück für die Opernbühne nach einem ähnlichen Schema vorgegangen sind.

Es ist erwähnenswert, dass Bertins Libretto viel stärker auf Ensembles setzt als die Norm. Einzelne Arien, die mit einer zum Applaus einladenden Kadenz enden, werden vermieden, so dass wir ein Werk vorfinden, das kontinuierlicher oder durchkomponierter ist als die meisten Opern dieser Zeit. Obwohl wir Arien, Duette, Trios usw. unterscheiden können, scheint es nicht Bertins Absicht gewesen zu sein, einzelne Nummern, wie sie in der Belcanto-Oper üblich sind, zu komponieren.

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Die Musik: Das erste, was an der Musik überrascht, ist, dass sie nicht wie die italienische oder französische Opernmusik dieser Zeit klingt. Es ist eine viel symphonischere, orchestrale Partitur, als wir es 1831 gewohnt sind, und sicherlich germanischer, als man es in einer Oper der Belcanto-Komponisten finden würde.  Tatsächlich gibt es in dieser noch von Rossini dominierten Epoche nur ein einziges Stück, das nach ihm klingt, nämlich Valentinos Tenorarie „Ah! Mi batte il cor nel petto“ im dritten Akt.  Der musikalische Fluss der Oper wird eher durch kurze melodische Phrasen als durch lange, ohrwurmartige Kantilenen erzeugt, und die Orchestrierung ist „dick“, wie Alan Jackson es in einer Rezension der Donizetti-Gesellschaft ausdrückt. Die Musik klingt nicht nach Bellini, dessen La sonambula und Norma im selben Jahr (1831) entstanden, und auch nicht nach Meyerbeers bahnbrechendem Robert le diable, das ebenfalls aus dem Jahr 1831 stammt. Die zeitgenössischen Kritiken (die auf der Website des Palazzetto Bru Zane zusammengestellt sind) sind zwar gemischt, verweisen aber eindeutig auf die Neuartigkeit von Bertins Stil. In der Gazette nationale vom 8. März 1831 heißt es: „… zahlreiche Stücke, die … ein Gütesiegel echter Originalität haben“.  Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Komposition „souvent“ gehört werden muss, um sie voll zu würdigen.  Man könnte erwarten, dass das Journal des debats, das sich im Besitz von Bertins Vater befand, sich wohlwollend äußern würde, und das tut es auch. Es bietet eine ausführliche Rezension der Oper, in der auch die Geschichte detailliert erzählt wird, da 1831 nicht viele Franzosen mit Goethes Werk vertraut waren. In mehreren Rezensionen wird darauf hingewiesen, dass das neue Werk vom Publikum mit großem Beifall bedacht wurde. Charles Jernigan

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Zu Bertins „Fausto“: Konzert in Paris 2023 ( Karina Gauvin, Karine Deshayes, Christophe Rousset, Ante Jerkunica/ Foto Nico Schaumbourg/Palazzetto)

Gegenüber der  öffentlichen Aufführung im Juni 23 in Paris durch die Solisten und Les Talens Lyrique unter der Leitung von Christophe Rousset hat die neue CD beim Palazzetto deutlich gewonnen. Rousset ist ein Meister dieses Fachs nach langen Jahren im Barock. Seine Orchesterbehandlung ist durchsichtig und differenziert, kann aber die langen Strecken von Langeweile nicht verdecken. Man ahnt, warum dieses Werk kein Erfolg wurde. Zum Orchester (etwa 45 Spieler) gehörten eine Harfe, drei Posaunen und mehrere Hörner. Sie machen auch mal einen teuflischen Lärm!

Die Entscheidung, Bertins ursprüngliche Idee aufzugreifen und Fausto mit einem Mezzosopran zu besetzen, war richtig und interessant, aber ich würde das Werk gerne auch mit einem Tenor hören.  Karine Deshayes, die regelmäßig mit dem Palazzetto Bru Zane auftritt, wird in der Titelrolle im Laufe der Aufnahme (die beim Hören mit Kopfhörern deutliche digitale Löcher aufweist, es wurde doch recht viel korrigiert…) immer besser, mir vielleicht im Timbre zu reif, zu „fruchtig“ für eine Hosenrolle. .  Das Gleiche kann man von Karina Gauvin, einer Barockspezialistin, nicht sagen, die mir zu allgemein bleibt – leider versteht man selbst von diesen francophonen Damen nicht genug Text, was vielleicht auch kein wirklicher Verlust ist. Nico Darmanin, der Tenor Valentino, besitzt ein schönes Timbre und meistert seine Koloraturen mit Belcanto-Bravour hervorragend. Ante Herkunja brilliert als Teufel – eine ganze Höllenpracht! Marie Gautrot (Catarina), Diana Axentil (Una strega/Marta) und Thibault de Damas (Wagner) sind in kleineren Partien erfreulich, und der flämische Rundfunkchor leistete seinen erfreulichen Beitrag wie stets. Booklet und Beiträge (nur in französich und englisch, wobei die drei deuschsprachigen Länder Europas einen starken Markt abgeben und ich diese „nur“ zwei sprachen diskriminierend finde) sind informativ wie stets. G.H.

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Zu Bertins „Fausto“: Auch Mephisto wurde von einer Frau gegeben, hier in Schwerin 1979 Wolf-Dieter Lingk und Lore Tappe/ Foto Staatstheater Schwerin (auch das Theater Magdeburg folgte jüngst dem nach)

Pressestimmen zur Uraufführung: Gazette nationale, 8 mars 1831 [Fausto de Louise Bertin]: Es war ein sehr außergewöhnliches Spektakel, das das Interesse der Liebhaber stark erregte, dass eine junge Person es wagte, eine große musikalische Komposition zwischen die Meisterwerke des Italienischen Theaters zu stellen; ihr Versuch war erfolgreich; ihre Partitur bot zahlreiche Stücke von unbestreitbarem Wert, die einen echten Stempel der Originalität tragen. Diese Komposition gehört zu denjenigen, die oft gehört werden müssen, um würdig geschätzt zu werden.

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JOURNAL DE PARIS, 11 MARS 1831 [FAUSTO DE LOUISE BERTIN]: Es gibt Umstände, in denen die reine Wahrheit eine sehr harte Sache ist; in denen der gute Glaube, seine Gedanken zu äußern, eine so strenge Tugend ist, dass im Ausdruck die naive Einfalt hart klingt, die ruhige Diskussion wie eine bösartige Kritik und die unparteiische Darstellung wie ein feindseliger Bericht. Diese Überlegungen stellte ich an, nachdem ich die Musik von Fausto gehört hatte, die übrigens von einem Teil des Publikums, das der Uraufführung beiwohnte, mit großem Beifall bedacht wurde. Dieser Umstand ist an sich ziemlich gleichgültig und man kann es niemandem verübeln, wenn er guten Willen zeigt, denn gute Herzen sind so selten! In diesen feierlichen Tagen der Uraufführung muss man mit dem Lob von Freunden und dem Tadel von Rivalen rechnen und sich darauf einigen, dass die Wahrheit selten in diesen entgegengesetzten Reihen zu finden ist. Was mich betrifft, so schien es mir, dass Töne, die teils von Blasinstrumenten, teils von Streichinstrumenten erzeugt wurden, mit einer gewissen Unregelmäßigkeit aufeinander folgten; dass die Akzente, die der Komponist den Figuren in den Mund legte, eine große Affinität zur Arbeit des Orchesters hatten; und dass das gesamte Werk eine ziemlich unzusammenhängende Mischung aus seltenen Gesangsphrasen, Modulationen ohne bestimmten Zweck, zufällig zusammengewürfelten Rhythmen darstellte, alles beherrscht von einem allgemeinen Gefühl der jungen Unerfahrenheit. Diese Darstellung mag von Strenge geprägt sein; dies ist jedoch die Wirkung, die die zahlreichen, in Arien, Duette, Trios, Quartette, Chöre usw. usw. verteilten Takte, die in der Masse die drei Akte von Fausto bilden, auf den uninteressierten Hörer haben. Ich habe vor, mich in einem späteren Artikel einer etwas ernsthafteren Prüfung dieser Opera semiseria zu widmen. Ich möchte mich hier darauf beschränken zu sagen, dass sie einem Fräulein zugeschrieben wird und dass, wenn man diese Komposition nur unter dem Gesichtspunkt der Mittel und des Ergebnisses betrachtet, genug Überraschung entsteht, um sie zu einer Art Ruhm zu machen. Das Unternehmen war kühn und verdient mehr als nur Ermutigung. Die junge Muse kann ihre Stirn mit einem Kranz schmücken, den nur sie unter ihren Gefährtinnen tragen wird. Bevor dieser Kranz am Abend verwelkt, wird Miss ***, wie ich hoffe, einen anderen Kranz flechten und einige Unsterbliche darunter mischen können. […]

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Zu Bertins „Fausto“ Und auch für die Kids gibts den Faust als Frau (und japanische EMO)/ OBE

JOURNAL DES DÉBATS, 4 AVRIL 1831 [FAUSTO DE LOUISE BERTIN]: Die Saison unseres Italienischen Theaters endete mit dem Monat März. Der Direktor dieses Unternehmens gewährt den Amateuren eine Verlängerung um einen Monat; der Abschluss wird erst in den ersten Tagen des Mai stattfinden. Frau Meric-Lalande und Santini werden nach London berufen. Donzelli wird ein Engagement in Livorno erfüllen. Die Abreise dieser drei Virtuosen stoppt die Aufführungen von Fausto; die schönen Dinge, die diese Oper enthält, wurden von den Kennern geschätzt. Das Publikum, das eine besondere Vorliebe für Musik hat, die mit flinken Strichen und glänzenden Rouladen geschmückt ist, machte alle Zugeständnisse, die die Seltsamkeit des Themas und die dramatische Wahrheit erforderten. Fausto hatte vollen Erfolg, obwohl ihm das sicherste Mittel zum Erfolg fehlte. Das Unternehmen war kühn: Es ist selten, dass ein Autor zu Beginn seines Schaffens einen Weg einschlägt, der dem üblichen entgegengesetzt ist. Es ist ärgerlich, dass der Erfolg von Fausto auf diese Weise unterbrochen wurde und die Kämpfer sich trennten, als noch viele Lanzen zu brechen waren. Meyerbeers Crociato war nicht glücklicher: Dieser tapfere Ritter blieb in seinem Lauf stehen und sah sich gezwungen, den Umständen nachzugeben. Wenn die Handänderungssteuer Millionen in die Registrierungskasse spült, bringt sie die Opern in Unordnung und ruiniert die Autoren. Die drei Schauspieler, die Fausto, Mefistofele und Margarita darstellten, werden in einigen Tagen in einer einzigen Reihe in vierhundert Lieues Entfernung aufgestellt. Zwar könnte Mefistofele durch einen Trick seines Handwerks Fausto und Margarita zu Hilfe rufen; die Teufel haben lange Arme: Mefistofele müsste nur die seinen ausbreiten, und die beiden Flüchtigen würden bald wieder in die richtige Entfernung gebracht, um ein Trio zu singen. Aber die Zeit der Wunder ist vorbei; der Teufel hat gekündigt; er muss sich, wie wir, den Anordnungen der Theaterdirektoren beugen.

Bei der letzten Aufführung von Fausto wurden viele Nachlässigkeiten in der Aufführung bemerkt. Den Schauspielern fehlte in mehreren Szenen das Gedächtnis, die Chöre liefen schief und selbst das Orchester ist trotz des seltenen Talents und des ganzen Eifers seines Dirigenten nicht vor Vorwürfen gefeit. Trotz dieser Abweichungen wurde der so originelle Chor der Zauberer, das Trio, das Duett im zweiten Akt, die Arie der Margarita mit dem Oboensolo stark beklatscht, und Frau Méric-Lalande sprach mit ihrer gewohnten Verve die schöne Gefängnisszene.

Eine Frau, die es unternimmt, eine Oper wie Fausto zu vertonen, und die dies auf diese Weise tut, hat eine glänzende Zukunft vor sich, wenn sie, wie ich gerne glaube, ein besonderes Studium der Partituren der großen Meister betreiben will, um das zu erwerben, was ihr an Erfahrung auf der Bühne und im Orchester fehlt. (Quelle Palazzetto Bru Zane)

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Foto oben: die Schaupielerin Sarah Bernhardt als Hamlet – sie machte daraus eine notorische Berühmtheit/ Wikipedia. .Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hierG. H.

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