Archiv für den Monat: Januar 2022

Unsinnliches zum Thema Sinnlichkeit

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Vorab: Forschungen zu ‚Musik und Gender‘ umfassen auch die Frage nach der Relevanz von Homosexualität für das Leben, Denken und Schaffen komponierender, musizierender und rezipierender Menschen. In der musikhistorischen Biographik hat dieser Aspekt seinen Raum bereits gefunden; in musikzentrierten Betrachtungen steht er jedoch oft im Schatten des Themas ‚Frau und Musik‘ oder der Suche nach queeren Perspektiven. Der vorliegende Sammelband setzt die Pole Musik und Homosexualität wechselweise zueinander in Beziehung und bringt Methoden benachbarter Disziplinen erkenntnisfördernd mit ein. Auf diese Weise entstehen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für die Themenfelder ‚Mensch und Werk‘ (Ethel Smyth, Karol Szymanowski, Peter Tschaikowsky, Richard Wagner), Gattungen (Kabarettchanson, Gay Musical, Filmmusik) oder Theoriebildungen. Anhand von ausgewählten Einzeldarstellungen kommen unterschiedliche Betrachtungsweisen des Wechselspiels von Musik und Homosexualität zur Geltung und regen zu weiterer Forschung an. Im bereits 2010 erschienenen dicken Lexikon „Musik und Gender“ von Annette Kreutziger Herr und Melanie Unseld wird „Homosexualität“ als bereits 1869 geprägter Begriff definiert, der das „Innenleben homosexueller Männer und Frauen biologisch und psychisch zu erklären“ versuchte. (Quelle Textem Verlag)

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1990 hatten erstmals die Queer Studies den Begriff auf die Musikwissenschaft angewendet, um die „die Gleichgeschlechtlichkeit einzuschreiben in die Musikforschung“.  1994 kam in den USA das Buch „Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology“ heraus, mit Essays zu schwul-lesbischen Perspektiven der Musikgeschichte.

In Deutschland wurde dieser Impuls aus den USA weitgehend ignoriert. Bis Michael Zywietz 2007 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Künste in Bremen wurde und damit Homosexualität zum Thema von Lehrveranstaltungen und Konferenzen machte.

Gemeinsam mit seiner Kollegin Kadja Grönke von der Universität Oldenburg hat er nun ein Buch vorgelegt, das die Arbeit fortsetzt, die sie mit dem 2018 erschienenen Buch »Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik« begonnen haben.

Der Tagungs-Band »Musik und Homosexualitäten« (gemeint mit diesem Plural sind wohl männliche und weibliche Homosexualität) vereint die Ergebnisse zweier Bremer Tagungen zu »Stand und Perspektiven musikwissen­schaftlicher Homosexualitätenforschung« (2017) und »Homosexualitäten und Manierismen« (2018).

Die Herausgeber sind der Meinung, dass „Homosexualität nicht als Seitenzweig, der in queeren Forschungen stillschweigend mitgemeint ist, sondern als „For­schungsschwerpunkt eigenen Rechts“ Berechtigung hat, zumal „Begriff­lichkeiten (noch) fehlen und Zweigeschlechtlichkeit die Gesellschaft prägt.“ Sie beklagen, dass „unser historisches Wissen über Sexualitäten in der Vergangenheit der Musikgeschichte“ gering ist und wollen „über Fachgrenzen hinaus“ einen sprudelnden Quell der Anregungen“ des Überdenkens traditioneller Positionen initiieren. Es geht um das „schwierige Ringen um eine wissenschaftliche, systematische und lexikalische Erfassung des Themas und um Korrekturen von „Vorurteilen und Klischees zum Thema Homosexualität“ inklusive einer „Genderisierung von Sprache“, was auch immer damit gemeint sein soll. (Beim Begriff „Gender“ stellen sich selbst eingefleischten Feministinnen zuweilen die Harre auf.)

Die „Mannigfaltigkeit der Untersuchungsansätze“ machen deutlich, wie heikel, disparat und vielschichtig das Thema ist. Ein erster Teil widmet sich der musikwissenschaftlichen „Homosexualitätenforschung“ also Methodenfragen und Fachgeschichte, der zweite Fallbeispielen und im dritten geht es um „Manierismus-Konzepte“, also jene „Schnittstelle von Künstlichkeit …und Homosexualität“.

Die Serie der 25 sehr unterschiedlichen Beiträge werden von Eva Rieger eröffnet, einer umstrittenen Autorin, die ihrer penetrant feministischen Positionen wegen zuweilen recht erfinderisch ist und mit Quellen und Fakten sehr frei umzugehen pflegt, wie von Ihren Kritikern immer wieder festgestellt wird.

Sie ist denn auch der Meinung, „dass Mann- oder Frausein … in starkem Masse kulturell konstruiert ist“ und beklagt, was wahrlich keine neue Einsicht ist, die Defizite des Umgangs mit Homosexuellen.  Die „Musikwissenschaft hat sich bis heute schwergetan mit dem Thema Homosexualität“. Wie wahr. Gleichgeschlechtliche Begehren müsse mit den „sozialen, kulturellen und theoretischen Aspekten des Themenkomplexes“ behandelt werden. Das versteht sich doch von selbst. Sie mahnt die „Entschlüsselung des Codes sexueller Subkulturen“ durch Überdenken traditioneller erkenntnistheoretischer Paradigmen an.  Was sie damit konkret meint, verrät sie allerdings nicht.

Dass sie ausgerechnet den Textilfetischisten und Männerfreund Richard Wagner, der ein Paradebeispiel von unbestechlichem Womanizer war, zum Kronzeugen für Genderfragen abstempelt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wer Wagner genau kennt, weiß es besser! (Eine differenzierte Arbeit über „Richard Wagner und die Homosexualität“, seinen erstaunlich fortschritt-lichen Umgang mit ihr trotz eigener Heterosexualität, an der nicht zu zweifeln ist, erscheint demnächst auf dem Büchermarkt.)

Eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität und Musik stehe in Deutschland noch aus. Aber das wissen wir doch nun schon seit Jahren. Und dann kommt Eva Rieger auf ihre immer wieder suadahaft vorgetragene Lieblingsthese zu sprechen: Wir leben „immer noch in einer Gesellschaft, die Frauen im Vergleich zu Männern politisch, symbolisch und ökonomisch benachteiligt und damit hegemoniale Strukturen aufrechterhält.“ Sie wettert einmal mehr gegen die „herrschenden Geschlechtarrangements in Westeuropa“ und fordert eine Sensibilisierung für „die Forschung zu lesbischen Strukturen“. „Doing gender“ ist auch ihr Losungswort, sie spricht über Queer-Theorie, erwähnt Michel Foucault und manche schwulen Komponist: innen, wettert gegen Vorurteile und das „Verwischen von Geschlechtergrenzen“, ja plädiert dafür,  „dass mehr Menschen, die sich bisher ausgegrenzt fühlen, von einer Musikkultur profitieren können, die anstelle des bisherigen Lächerlichmachens und der Ausgrenzung von gleichgeschlechtlich Liebenden von einer selbstverständlichen Zugehörigkeit aller Minderheiten in der Gesellschaft ausgehen.“ Gut gemeinte Worte sind das, aber doch Platitüden, die letztlich auf Schwarzweißmalerei gründen (der doch der Kampf angesagt werden soll) und im Vagen bleiben.

Wesentlich konkreter wird Martina Bick in ihrem Beitrag über Homosexualitäten in der Musiklexikographie und Musikbiographik mit ihren genauen Untersuchungen zu Franz Schubert, Peter Tschaikowski, Benjamin Britten, Hans Werner Henze und Aribert Reimann, aber auch Ethel Smythe, Wanda Landowska und Lina Ramann, um nur einige zu nennen, deren Homosexualität in den gängigen Nachschlagwerken bis in jüngste Vergangenheit oft verschleiert oder gar tabuisiert werden. Es geht ihr um heikle „persönliche und intime biografische Informationen“, die geeignet sind, „Hierarchisierungen, Diskriminierungen, Ausschlüsse und sogar Verfolgung von Individuen vorzunehmen.“

Kevin Clarke plädiert in seinem Vortrag – und das ist sein Dauerthema – für „Homosexualität als Thema in der Operettenforschung,“ beklagt das existierende Defizit in der Forschung und macht sich wie immer stark für homosexuelle Operettenkomponisten und -Librettisten, ja für die gewagte – nicht unumstrittene – These, dass Homosexualität ein zentrales Thema des Genres sei.

Dass Franz Schubert, seine Sexualität und seine Musik geradezu ein „lehrreiches wissenschaftsgeschichtliches Fallbeispiel“ darstellen, erläutert Hans-Joachim Hinrichsen lang und breit mit besonders detaillierten (mit vielen Notenbeispielen aufwartenden Ausführungen zum Lied, zu biographischen Verrückungen, fragwürdigen Schubert-Bildern und Schubert-Debatten.

Mit Hans Werner Henze und Aribert Reimann beschäftigt sich Kadja Grönke, die – den französischen „Philosophen, Theoretikers, Essayisten und Homosexuellen Roland Barthes“ mitbedenkend, auf „der Suche nach der zerbrechlichen Schönheit des Körpers“. Ihr Fazit. „bei allen Menschen, die bereit sind, eine gewisse Rauheit des Klanges als körperhaft zu rezipieren, kann Musik von Reimann, von Henze, aber eben auch von Ligeti eine sehr eigene Form der Ästhetik begründen.“ Ob diese in Verbindung „mit Eros oder gar mit Homosexualität gebracht wird, steht auf einem anderen Blatt,“ so die Autorin und sie zitiert aus Fontanes Effi Briest, dies zu untersuchen sei „ein weites Feld“. Ja was denn nun?

Einen besonders pikanten Fall von Homosexualität im europäischen Spätmittelalter, ein Fall von „Frömmigkeit und Sodomie“ rollt Michael Zywietz auf am Beispiel des Kapellmeisters am Hofe Karls V., Nicolas Gombert. Ein Exkurs zur drakonischen Gleichsetzung und Bestrafung von Sodomie (männlicher Homosexualität), Ehebruch, Blutschande und Bigamie, unter Berufung aufs Alte Testament (Genesis 19,5). Der Beitrag darf als ein Beispiel historischer Genderforschung betrachtet werden.

Jürgen Schaarwächter wendet sich einem weithin vergessenen, ja totgeschwiegenen Schweizer Homosexuellen zu, dem Komponisten Robert Oboussier, seinem Leben und Schaffen in bemühter Unauffälligkeit. Immerhin erfährt man in dem wortreichen Text: „Die Homosexualität hat in den 1940er- und 50er Jahren geblüht in Zürich.“ Wie interessant!

Der „Wahrnehmung der homosexuellen Musikerin Smaragda Eger-Berg“ widmet sich Anna Ricke. Ihr Beitrag ist überschrieben „Zwischen „geistig höchst stehende Lesbierin“ und „verelendeter Geschwitz“. Eine Studie über die „homophilen Kreise in Berlin und Wien,“ über „Erinnern und Vergessen, Gedächtnis und Gender“ mit dem Ziel, einen neuen „Blick auf diese Fragen nach weiblicher musikkultureller Teilhabe, nach homophilen Netzwerken in Wien und nach den diskursiven Zusammenhängen zischen Homosexualität und Künstlerinnenschaft“ zu werfen.

Natürlich darf auch die schon zu ihrer Zeit als Lesbe (sie selbst bezeichnete ihre sexuelle Identität als „sapphism“, so erfährt man) berühmte Ethel Smyth (Brahms nannte sie verächtlich die Schmeißfliege und wies zudem damit auf die Aussprache des Namens außerhalb des UK hin) nicht fehlen in diesem Zusammenhang. Angelika Silberbauer untersucht „strategische Entsexualisierung homoerotischer Narrative,“ um die Komponistin, die sich „gegen die Stereotype und das geläufige Weiblichkeitsideal ihrer Zeit“ gestellt habe. Den Opern der Ethel Smyth geht Cornelia Bartsch auf den homoerotischen Grund. „Homosexuelle Spuren im Oeuvre Hans-Werner Henzes“ ist das Thema Michael Kerstas. Seine These: auch in diesem Falle sei „die Forschung hin- und hergerissen zwischen Legitimierung und Pathologisierung“. Soso. Dabei hat doch Henze aus seiner Homosexualität kein Geheimnis gemacht, wie der Autor weiss, und wer die Opern Henzes kennt, weiss auch Bescheid. Übrigens habe die Musik Bachs Henze und seinen Lebensgefährten Fausto Moroni (der angeblich auch gut kochen konnte) verbunden, so erfährt man. Am Beispiel von Henzes Bassariden untersucht Antje Tumar den Zusammenhang von „Biographie und Werk“. Klaus Oehl widmet seine Ausführungen Henzes Klarinettenkonzert nach Genets Le Miracle de la Rose als „homosexuelles Schlüsselwerk“. Für schwule Henzefans dürfte dieser Band ein Fest sein.

Leonard Bernstein, der wohl renommierteste amerikanische Komponist, der immer wieder das Thema Homosexualität verarbeitete und sich auch selbst geoutet hat, darf natürlich auch nicht vergessen werden: „I have this pain“ ist der Beitrag von Markus Schneider überschrieben: „Beschädigte Identität in Leonard Bernsteins Oper A quiet Place“ ist sein Thema.

Noch weiter geht Jürgen Scharwächter. Er sprich von „Selbstinszenierung und exotistischen Prototypen“ am Beispiel des Komponisten (britischer Herkunft und parsischer Abstammung) Kaikhosru Srabji, den nur wenige Leser kennen dürften.

„Über das Künstlerpaar Benjamin Britten und Peter Pears“ schreibt Juana Zimmermann und referiert doch nur altbekannte Fakten, Tatsachen und Zusammenhänge zwischen erotischer Beziehung und Werk, wie sie zahlreichen Abhandlungen und Büchern, nicht zuletzt den hervorragenden Publikationen von Norbert Abels bekannt sind.  kommt dem Spohr-Schüler Hugo Staehle auf die Schlichte und glaubt, in dessen erster Sinfonie das „Manifest einer homoerotischen Beziehung“ zu erkennen, das dem Kasseler Dichter Jakob Hoffmeister gewidmet war. Die Freundschaft von Clement Harris und Siegfried Wager steht im Fokus eines Aufsatzes von Katharina Hottmann. Bernd Feuchtner schreibt anlässlich der Fehde des Frankfurter Säulenheiligen Th. W. Adornos mit Golo Mann brilliant und aufschlussreich über die Frage: „War Adorno homophob?“.  Golo Mann wird bescheinigt, er habe „ein verlorenes Leben gelebt.“ Grund sei die oft zu beobachtende „psychologische Fesselung“ der Produktivität „geistig begabter Homosexueller“ so Feuchtner. Das Fazit seiner 34-seitigen Ausführungen: „Die Homosexualität … spielt in Adornos Texten nur eine kleine Nebenrolle.“ Wieso dann diese langstieseligen Ausführungen, fragt sich wohl mancher Leser.

Der „ambivalenten Musik des Begehrens“ widmet sich Ulrich Wilker am Beispiel von Ravels L´heur espagnole. In ihre erkennt er “Heterosexualität als ‚comédie musicale‘. Ein Beispiel dafür, „wie manieristisch das Konzept Homosexualität“ sei.

(Anmerkung am Rande, In einem Interview in der taz meinte Michael Zywietz: „Als Merkmal der homosexuellen Musik wird vermutet, dass die Manieriertheit, also die Übersteigerung der Komposition, auf die Homosexualität der Komponist: innen hindeutet.“)

Dem pflichtet Kevin Clark auch in seinem zweiten Beitrag bei, in dem er anhand der Musicals den Manierismus als Maske der Homosexualität zu erkennen glaubt. Manierismus in Ken Russels Musikerfilmen geht Kadja Gröne nach, Dieter Ingenday widmet sich Manierismus (und Neo-Barock) in der lateinamerikanischen Literatur. Axel Duncker beleuchtet Arno Schmidts manieristische Schreibweise als Umgang mit Homosexualität in seinen Erzählungen. Und Gregor Schuhen rückt im Schlusskapitel schließlich dem „Dandy zwischen Hegemonieanspruch und Homosexualitätsverdacht“ zu Leib, insbesondere dem schwulen Dandy „als marginalisierte Figur „degenerierter Männlichkeit“.  Ein Beispiel, „wie Kunst und Männlichkeit spätestens seit dem ausgehenden 19 Jahrhundert unter ständiger Beobachtung stehen“, der Oscar Wilde-Prozess und die Eulenburg-Affäre seien beste Beispiele dafür.

Ein weites Feld also, das der 457-seitige Band beackert. Dröge Kost. Reichlich eitle, oftmals reichlich gespreizte akademische Schreibe und zur Schau gestellte Gelehrtheit herrschen vor. Sehr interessant, gewiss. Aber nicht alles, was da geschrieben wird, ist unbedingt wichtig und lesenswert. Leicht zu lesen ist das Buch jedenfalls nicht. Keine Bettlektüre für Jedermann bzw. jede Frau. Nur eingefleischte, um nicht zu sagen besessene Interessierte des besagten Zusammenhangs dürfte die geduldige Lektüre des Bandes wirklich Gewinn und Erkenntniszuwachs bescheren (Kadja Grönke und Michael Zywietz (Hg.): Musik und Homosexualitäten. Tagungsberichte Bremen 2017n und 2018; Textem Verlag, 457 S. ISBN 978-3-86485-259-6). Dieter David Scholz    

Gesänge aus der neuen Heimat

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Lieder im Exil ist der Untertitel dieses an Fundstücken reichen Recitals. Konkret handelt es sich dabei um Lieder aus dem Exil von (überwiegend nach Palästina) geflüchteten jüdischen Komponisten. Sie sind zum größten Teil in hebräischer Sprache geschrieben und werden hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentiert. Die stammt von der heute 95jährigen Dichterin Dagmar Nick (Tochter von Edmund Nick), die vier Jahre in Israel gelebt hat und im ausführlichen Booklet-Text auch wichtige historische Hintergrund-Informationen zu den Liedern gibt.

Als feste Bezugsgrößen sind Paul Dessau mit drei und Kurt Weill mit einem Titel in der Sammlung vertreten, doch in den anderen Fällen betritt der Hörer wohl Neuland. Weder Paul Ben-Haim noch Alexander Boskovich sind im Bewusstsein der Musikfreunde gespeichert, und Stefan Wolpe war jedenfalls mir auch nur namentlich ein Begriff. Und wenn man nach dem Hören mit dem Eindruck zurückbleibt, da bislang durchaus etwas verpasst zu haben, dann ist das auch das Verdienst der künstlerisch sehr eloquenten Interpreten, der Mezzosopranistin Constance Heller und des Pianisten Gerold Huber. Bei ihnen hat man in keinem Moment den Eindruck, dass sie lediglich eine Nische entdeckt haben oder einer Wiedergutmachungs-Pflicht nachkommen wollten, sie sind offenbar von der Qualität der Kompositionen überzeugt und überzeugen damit auch den Hörer.

Paul Ben-Haim (1897-1984), als Paul Frankenburger in München geboren, wo er an der Akademie der Tonkunst Komposition studierte, wanderte nach Verlust seiner Kapellmeisterstelle am Augsburger Stadttheater und anhaltenden antisemitischen Anfeindungen 1933 nach Palästina aus. Dort tauchte er in eine andere Kultur ein, lernte eine neue Sprache und erhielt einen neuen Namen: Ben-Haim (=Sohn des Lebens). Erst 1937 begann er wieder mit dem Komponieren, wobei er nach einer Synthese westlicher und östlicher Musikstile suchte. Sephardische, jemenitische, bucharische und persische Volksweisen liegen den 5 Melodien aus dem Nahen Osten (1941-45) zugrunde. Der Zyklus A Star fell down (1969/70) basiert auf drei Gedichten des mit 20 Jahren gefallenen israelischen Dichters Matti Katz. Den 23. Psalm Der gute Hirte („Der Herr ist mein Hirte“), den wir in Vertonungen von Schütz, Bach und Schubert kennen, vertonte er 1939 als Dank für das gerettete Leben „im Angesicht meiner Feinde“.

Wir begegnen ihm gleich noch einmal in der Version von Alexander Uriah Boskovich (1907-1964), der ihn aus demselben Grund zum Sujet wählte. Der aus Siebenbürgen stammende, in Wien und später in Paris bei Paul Dukas, Alfred Cortot und Nadia Boulanger ausgebildete Komponist leitete in seiner Heimatstadt Klausenburg (heute Cluj) das Opernhaus, gründete mit dem Goldmark-Orchester ein jüdisches Instrumental-Ensemble und kam 1938 nach Palästina, wo er als Lehrer am Konservatorium von Tel-Aviv unterrichtete. Sein Stil zeigt französische Einflüsse, aber speist sich wie bei Ben-Haim auch aus der jüdischen Volksmusik, die sich hier mit einem heimatlichen siebenbürgischen Idiom verbindet.

Dagmar Nick gibt in ihrem Textbeitrag einen kleinen historischen Leitfaden für die Lieder der ersten Pioniere, die vor allem aus den Ländern Osteuropas nach Palästina kamen und von zuhause die Volksweisen mitbrachten, die sie als Kinder gehört hatten. Diese Weisen waren Inspirationsquellen für viele Komponisten im Exil, auch wenn sie sich nicht in Palästina niederließen wie Dessau und Weill. Der Berliner Stefan Wolpe (1902-1972) hingegen, der auf Umwegen 1933 nach Palästina kam, hat das Leben der Pioniere noch selbst erlebt. Er zeigt sich in den zehn hier aufgenommenen Liedern als eine sehr komplexe Musikerpersönlichkeit, der einerseits seine Wurzeln in der Volksmusik suchte, andererseits schon seit den 20er Jahren an der Avantgarde teilhatte und sich – als zeitweiliger Schüler von Anton Webern – auch in der Zwölftonmusik versuchte.

Darüber hinaus war er ein politisch sehr engagierter und wacher Mensch, von seiner Gedankenwelt her Sozialist und Pazifist. Ein antikapitalistischer Furor zeigt sich in Auf ein Wandbild von Diego Rivera (aus: Sechs Lieder aus dem Hebräischen) und Wehe den Mächtigen auf einen Text des alttestamentarischen Propheten Micha. In Isaiah folgt er Jesajas Vision einer besseren Welt, eines neu geschaffenen Himmels, in dem Wolf und Lamm einträchtig miteinander leben und es kein Unheil und keine Zerstörung mehr geben wird. Seine Vertonung von Erich Kästners satirischer Fantasie von übermorgen, die dem Album den Titel gibt, entstand schon vor der Emigration kurz nach der Veröffentlichung des Gedichts im Jahre 1929. Das Thema Frieden wird in Albert Einsteins Rede Zum Frieden im Atomzeitalter in aktualisierter Form wieder aufgegriffen. Es gelingt Wolpe dabei, die Intensität des Textes durch die musikalische Ausgestaltung noch zu steigern.

Das Klavier spielt in Wolpes Liedern eine bedeutendere Rolle als in den übrigen Beiträgen des Albums, der Komponist hatte auch als Pianist einen guten Namen, der Kritiker Stuckenschmidt rühmte ihm gar „zyklopische Kraft“ nach. Daran dürfte sich auch Gerold Huber orientiert haben, der hier in mitreißender Weise in die Vollen geht. Und Constance Heller, deren klangvoller und geschmeidiger Mezzo schon vorher zu schöner Wirkung kam, gewinnt hier noch einiges an Ausdruckskraft und Farben hinzu (Solo musica SM 356). Ekkehard Pluta

Beeindruckende Rückschau

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Diese Edition ist in mehrfacher Hinsicht gewichtig. Sie dokumentiert die sehr erfolgreiche und (auch international) viel beachtete Zusammenarbeit des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) mit Mariss Jansons, seinem Chefdirigenten von 2003 bis 2019. Es war charakteristisch für diesen Dirigenten, dass er mit einigen, wenigen bedeutenden Orchestern zusammenarbeitete und diesen die Treue hielt. 2003 gab er, um sich ganz auf die Arbeit mit dem BRSO zu konzentrieren, die Leitung des Concertgebouw-Orchesters ab. Trotz fragiler Gesundheit schonte sich Jansons nur wenig. Sein Einsatz für die Musik war total und für ihn buchstäblich erschöpfend.

Die äußerlich an Schallplattenkassetten früherer Jahre erinnernde Box hat schon rein physisch Gewicht mit ihren 2,6 KG. Die Discs sind in vier Kunststoff-Fächern untergebracht. Das zweisprachige 72-seitige Begleitheft mit vielen Fotos enthält ein Interview mit Jansons, Informationen, Textbeiträge, Würdigungen von Thomas Hampson und Simon Rattle sowie ausführliche Angaben zu den einzelnen Discs (Aufnahmedaten, Tracklisting etc.), die man sich leider auf den einzelnen Discs gespart hat. Die Box ist etwas unhandlich, der Zugriff zu ihrem Inhalt mindestens umständlich. Sie passt in keinen der üblichen Aufbewahrungsorte für moderne Tonträger, sondern am ehesten in ein Platten- oder Bücherregal. Das und die doch etwas altmodische Gestaltung schmälern indes nicht die Bedeutung des Inhalts. Denn in einer Zeit oft lieblos zusammen­geschusterter Sammlun­gen ist diese Edition ein Ausnahmefall.

Neben bereits erschienenen Aufnahmen enthält die Box neun Erstveröffentlichungen: Bruckners Messe Nr. 3, die Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 8 von Mahler, Mozarts Requiem, Arvo Pärts Berliner Messe, Poulencs Stabat mater sowie das Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester und die Symphonie Nr. 9 von Schostakowitsch. Erstmalig auf CD erschienen Jansons Interpretationen von Tschai­kowskys Ouvertüre Romeo und Julia und Strawinskys Feuervogel. Drei Probenmitschnitte von Mariss Jansons mit dem BRSO machen deutlich, wie genau und bis ins kleinste Detail Jansons probte, wie er mit den Musikerinnen und Musikern am Klang feilte – und nicht zuletzt, wie sehr diese Zusammenarbeit von Respekt, Verständnis und partner­schaftlichem Geist geprägt war.

Jansons kam 2003 mit 60 Jahren zu dem nur wenige Jahre jüngeren, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. 1949 gegründet, von seinen ersten Dirigenten Eugen Jochum und vor allem Rafael Kubelik entscheidend geprägt, spielte es da längst in der Spitzenliga der deutschen und europäischen Orchester. Gegenüber traditionellen Symphonieorchestern hat es – auch aufgrund seiner Funktion als „Klangkörper“ des Bayerischen Rundfunks – den Vorteil, stilistisch sehr vielseitig und erfahren zu sein. So gehörte die zeitgenössische Musik schon immer zu seinem festen Repertoirebestand.

Die vorliegende Edition lässt neben dem breiten Repertoire die Spezifität und die Besonderheiten des BRSO erfahren. Sie gibt zugleich Auskunft über die Schwerpunkte und Vorlieben von Mariss Jansons. Da sind zunächst die Werke, die gleichsam zum „eisernen“ Bestand eines jeden Orchesters gehören. Jedes Orchester will seinen Beethoven, Brahms, Bruckner und Mahler aufführen. Beethovens Symphonien sind in spannenden, klanglich sehr fein ausbalancierten Interpretationen zu erleben. Der volle, ja „luxuriöse“ Klang wurde nicht nur gelobt, Jansons Klangästhetik sogar als „angestaubt“ bezeichnet. Sicher folgt Jansons hier nicht dem Weg der historischen Aufführungspraxis eines Hogwood, Gardiner oder Norrington, sondern wandelt eher auf den Spuren der Traditionalisten. Warum auch nicht? Und das ist keinesfalls angestaubt. Man höre nur einmal exemplarisch die Erste Symphonie: Wie lebendig, ausdrucksvoll, spannend wird hier doch musiziert? Man versteht, wieso zeitgenössische Kritiker diese Musik als „ergreifend modern“ empfanden.

Jansons‘ Brahms ist zunächst einmal streng und diszipliniert – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie schwer sich der Komponist mit der symphonischen Form tat –, oft herb und introvertiert. Immer deutlich ist die Faktur und Struktur des Ganzen. Allerdings kommen Leidenschaft und Sinnlichkeit, die man doch auch in den Brahms-Symphonien findet, ein wenig zu kurz.

Von den neun Symphonien, die Anton Bruckner komponierte, liegen hier sechs vor; es fehlen nur die ersten beiden und die fünfte. Bruckner hatte Jansons zwar auch schon bei seinen Orchestern in Oslo und Pittsburgh dirigiert, doch die intensivsten Erfahrungen mit dieser Musik machte er erst beim Concert­gebouw Orkest in Amsterdam und dem BRSO. Noch 2014, als er mit den Münchnern die Neunte Symphonie einstudierte, meinte er, eine neue Stufe erreicht und das Gefühl gewonnen zu haben, sein Geist sei mit dieser Musik völlig eins. Tatsächlich wirken die Interpretationen der Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 7 noch wie Vorstufen zum späteren Bruckner. Am Ziel ist Jansons mit der Achten und noch mehr der Neunten. Dieses unvollendete Werk wird getragen, feierlich, aber eben auch drängend musiziert, jedoch nie zelebriert oder quasi sakral erhöht.

Bei Mahler neigte Jansons weder zu über-gefühlsmäßigen, sentimentalen, gar extrovertierten Darstellungen, noch zum peniblen, satztechnisch präzisen Ausführen der Partituren. Mahlers Symphonien waren für ihn keine Seelendramen oder Exzesse, bei allen Novitäten und Eigentümlichkeiten eher noch klassische Symphonien mit einer extrem breiten Palette an Klängen und Stimmungen, zart und aufrauschend, innehaltend und dreinfahrend, wo nötig hymnisch. Das ist fast immer klanglich sehr ausbalanciert, ungemein detailliert ohne sich im Detail zu verlieren, aber auch ergreifend. Als exemplarisch kann die Interpretation der Dritten gelten: Anhand einer Symphonie ist zu erfahren, was die Welt Mahler erzählte und was er wiederum der Welt mit seiner Musik erzählte. Das ist immer spannend, dramaturgisch raffiniert und mit großem Atem erzählt bis zum ungewöhnlich lange ausgehaltenen Schluss. Sehr beeindruckend auch die Vierte Symphonie mit Wunderhorn-Ton und Atmosphäre, faszinierend die Sechste, ohne jede (vordergründige) Tragik, spannend vom ersten bis zum letzten Takt, mit einem buchstäblich atemberaubend-drängenden und furiosen Finale.

Die Symphonien von Dmitri Schostakowitsch konnte Jansons so unvergleichlich und suggestiv wie kaum ein anderer interpretieren. Sicher kamen da die Erfahrungen mit Unfreiheit und Diktatur in der Sowjetunion zum Tragen, die der Komponist und auch Jansons in unterschiedlicher Weise machen mussten. Doch verstand Jansons die Symphonien nicht als agitatorisch-programmatische Werke, sondern immer als klassische Kompositionen. Seine Interpretationen zeigen verschiedene Facetten, auch Seelenzustände ihres Verfassers und wie raffiniert Schostakowitsch komponieren konnte. Jansons bringt das mit dem BRSO meisterhaft zur Geltung: in der vielleicht am meisten unterschätzten, teils irritierende Sechste Symphonie mit ihrer disparaten Struktur und dem grotesken Finale; in der Neunten, die als intelligente und witzige Parodie auf die meisten bedeutungsschweren Neunten Symphonien von Beethoven bis Mahler präsentiert wird; in der Fünften, die im Gegensatz zu den sowjetischen Zuschreibungen oder Deutungen so gar nichts von Jubel und Affirmation hat. Selbst die Siebte, „Leningrad“, kann man, wie Jansons zeigt, ganz ohne ihren programmatischen Charakter als Werk der absoluten Musik verstehen. Die Zehnte erscheint, wie in kaum einer anderen Interpretation, als wohl klassischste Schostakowitsch-Symphonie. Exemplarisch bewäh­ren sich Jansons Tugenden: Detailgenauigkeit, Klarheit, weite dyna­mische und agogische Spanne. Selbst da, wo die Phonstärken beachtlich sind, wird nie brutal oder vulgär musiziert. Schließlich fehlt diesen Interpretationen jedes Pathos und jede Larmoyanz.

Jansons hatte auch ein Faible für Richard Strauss – sicher wegen der überaus virtuosen Instrumentation und der Farben des Orchesters, der klanglichen Raffinesse, der Steigerungen und der Kontraste. Doch Jansons‘ Strauss ist anders, als wir ihn zumeist zu hören bekommen. Strauss lässt eben nicht nur die Muskeln spielen, neigt nicht nur sehr häufig zur Übertreibung, jagt die Musik nicht von einem Exzess zum nächsten. Gerade die Werke, die uns im Konzertsaal häufig zu überrollen drohen – die Alpensymphonie, Also sprach Zarathustra, Ein Heldenleben –, sind hier in ungewohnter klanglicher Beleuchtung zu hören. Man bewundert gleichermaßen Jansons Kunst der musikalischen Regie wie die atemberaubenden Fähigkeiten der Musiker/innen des Orchesters – auch bei der Herausarbeitung der Subtilitäten.

Russische Komponisten spielen eine, doch nicht entscheidende Rolle in der Edition: Tschaikowskys Symphonien Nr. 5 und Nr. 6 (frei von Klischee und falschem Gefühl), seine Oper Pique Dame, Strawinskys Ballettmusiken Petruschka, Feuervogel, Le Sacre du printemps und die spröde Psalmensymphonie. Die symphonischen Tänze von Rachmaninow erfahren eine Deutung als Spätwerk mit deutlich melancholischen Tönen.

Zu Jansons Repertoire gehörten einige klassische Werke geistlicher Musik. In dieser Edition wird der Bogen gespannt von Mozart und Haydn über Dvořák, Bruckner, Verdi bis zu Poulenc, Rihm und Pärt. Dabei machen die liturgisch geprägte Berliner Messe von Arvo Pärt, Wolfgang Rihms teils sehr expressive Requiem-Strophen (in denen die Verse zeitgenössischer Autoren zu den Texten der klassischen Totenmesse in Beziehung gesetzt werden), sowie Poulencs Stabat Mater (als starkes Zeugnis der Rückkehr des Komponisten zum katholischen Glauben) besonders gute Figur. In Verdis Messa da Requiem findet Jansons zwar die Balance zwischen Einfachheit und Erhabenheit, Ernst und Theatralik. Die Schönheit und der Affektgehalt dieser oft „weltlichen“ Totenmesse kommen gut zum Ausdruck – vokal wie instrumental. Leider entgehen die Solist*innen nicht der Gefahr opernhafter Darstellung. Das großdimensionierte, erzählende wie reflektierende War Requiem von Britten erfährt demgegenüber eine ideale Aufführung, auch dank der großartigen Solisten Mark Padmore und Christian Gerhaher.

Auf einer CD werden zwei Erneuerer der Musik aus zwei Epochen präsentiert: Berlioz mit der Symphonie fantastique, Varèse mit Ionisation; beide in klanglich ausgefeilter, raffinierter Inszenierung. Dvořáks Achte sowie die selten zu hörende Streicherserenade von Josef Súk sind der Tribut an die tschechische Musik. Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester wird exemplarisch aufgeführt. Hier erfüllt sich der Begriff der Gattung dank des virtuosen, spielfreudigen Orchesters und seiner brillanten Solisten wie selten sonst.

Zu seinem 60-jährigen Bestehen spielte das BRSO Arnold Schönbergs Gurre-Lieder, eine wegen ihres großen Aufwands nur selten aufgeführte Komposition: episch, ganz im spätromantischen Ton, mit wunderbar aufrauschendem, opulenten Klang, schwelgerisch, aber nicht schwülstig. Wagner und Mahler wehen herüber. Jansons steuert die Aufführung klug disponiert und leidenschaftlich.

Die Edition enthält auch Rhapsodien von Chabrier, Gershwin, Enescu, Ravel, Liszt (eine Art klingender Musikethnologie), Szymanowskis orientalisch beeinflusste Symphonie Nr. 3, Entbehrliches aus russischer Feder (Alexander Tschaikowskys Symphonie für Orchester, Chor und Solobratsche und die populäre „Carmen“-Suite von Rodion Schtschedrin), Saint-Saens Orgelsymphonie und Poulencs eigenwilliges Konzert für Orgel, Streicher und Pauken, Mussorgsky/Ravels Bilder einer Ausstellung (mit viel Gespür für die klanglichen Besonderheiten), Respighis Pini di Roma sowie Werke von Sibelius (darunter die Zweite Symphonie). Von Haydns Symphonien, die Jansons sehr schätzte und bei Gastspielen oft aufs Programm setzte, sind die frühe Nr. 7 und die späte Nr. 88 vertreten. Mozartsche Symphonien fehlen dagegen völlig. Dafür gibt es Schumanns Erste (sehr animiert) und die Symphonien Nr. 3 und Nr. 8 C-Dur als Beispiele des ganz jungen und des reifen Schubert.

Insgesamt ist die Box ein Kompendium, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es ganz genießen zu können. Die Konzertmitschnitte sind ein schönes und eindrucksvolles Vermächtnis. Mariss Jansons bleibt als bescheidener, uneitler, der Sache der Musik dienender Dirigent, als Menschenfreund und Partner derer mit denen er arbeitete, in Erinnerung –nicht als Star oder Pultvirtuose. Er war ein unermüdlich an seinen Interpretationen feilender Künstler, dem Routine fremd war. Wie sein Mentor und Förderer Herbert von Karajan war er ein Klangtüftler – und hatte auch darin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einen idealen Partner: ein Orchester mit großartigen Musikern, vielseitig, flexibel, mit einer breiten Klang- und Ausdruckspalette. Darauf kann sein Nachfolger Simon Rattle, der Jansons sehr schätzte, aufbauen  (Mariss Jansons – The Edition, Solisten; BRSO,  70 Discs (57 CDs, 11 SACDs und2 DVDs; umfangreiches Begleitheft; BR Klassik 900200; alle Fotos ©Peter Meisel/BR). Helge Grünewald

Wiederentdeckt

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Zwischen Claudio Monteverdi (1567-1643) und Antonio Vivaldi (1678-1741) liegen nicht nur die berühmten Komponisten Arcangelo Corelli (1653-1713) und Alessandro Scarlatti (1660-1725) sondern auch der aus heutigen Sicht weniger bekannt Alessandro Stradella (1643-1682). Arcana – Outhere Music legt die Weltpremiere Aufnahme von Stradellas dreiaktigen Amare e fingere (1676) zu einem Libretto vermutlich geschrieben von Giovanni Filippo Apolloni vor. Da Angaben zu den Namen von Librettist und Komponist fehlen konnte dieses Werk nur durch stilistische Merkmale als eine Oper Stradellas identifiziert werden.

Amare e fingere enthält keine instrumentale Ouvertüre, die ersten zwei Akte beginnen schroff mit Rezitativen, die verwirrend sind wenn man die Inhaltsangabe nicht im Voraus gelesen hat. Der dritte Akt fängt direkt mit einem Duett für Sopran und Tenor an. Insgesamt gibt es zwei Quartetten (Coro a 4) neun Duetten (Aria a 2), kurze Arien für Solostimme mit spärlicher Instrumentierung und Rezitative. Deshalb klingt die Musik asketisch und eintönig, wofür der Komponist verantwortlich zu halten ist.

Dieses  wiederentdeckte Werk bereichert unser Verständnis von einer weitgehend vergessenen Zeit in der Operngeschichte, insbesondere in Rom, wo sie entstand, und in Siena, dem Ort der Uraufführung. Im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Zeitgenossen bleibt Stradella in Erinnerung dank den biographischen Berichten in Jacques Bonnets Histoire de la musique et de ses effets, depuis son origine jusqu’à présent, & en quoi consiste sa beauté (1715).

Andrea De Carlo leitet das Ensemble Mare Nostrum in einem Mitschnitt eines Konzerts vom November 2018 aus dem Kulturzentrum in Herne. Die italienischsprachige Besetzung bietet mehrere Vorteile, insbesondere die klare Textdeklamation sowie idiomatische Artikulation. Sie besteht aus dem raffinierten Bariton Mauro Borgioni (Artabano/Fileno), der samtigen Sopranistin Paola Valentina Molinari (Despina/Clori), der sanften Mezzosopranistin José Maria Lo Monaco (Oronta/Celia), dem charismatischen Tenor Luca Cervoni (Coraspe/Rosalbo), der entzückenden, leidenschaftlichen Altistin Chiara Brunello (Silvano) und der eleganten Sopranistin Silvia Frigato (Erinda).

Im Beiheft sind Einführungstexte sowie das Libretto in englischer, französischer und italienischer Sprache zu finden. Die Aufnahmequalität ist transparent, detailliert und frisch, mit einem Publikum, dass kaum zu bemerken ist. Alle Mitwirkenden haben eine gute Leistung erbracht in den Dienst eines Komponisten, dessen Musik meistens nur in musikwissenschaftlichen Kreisen bekannt ist. Diese Aufnahme (Nr. 7 in der Serie „The Stradella Project“) kann hoffentlich ein breiteres Publikum für seine Musik gewinnen (Alessandro Stradella: Amare e fingere mit  Mauro Borgioni, Paola Valentina Molinari, José Maria Lo Monaco, Luca Cervoni, Chiara Brunello, Silvia Frigato, Mare Nostrum, Andrea De Carlo; Arcana – Outhere Music 2 CDs A493/ 24. 01.2022). Daniel Floyd

Hinaus in die Nacht

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Der Bariton Benjamin Appel hat seine erste Winterreise auf CD vorgelegt. Sie wurde im Oktober 2021 in der Kirche des Heiligen Silas der Märtyrer in Kentish Town, London, aufgenommen und ist nun bei Alpha Classics erschienen (ALPHA 854). Im Juni wird der in Regensburg geborene Sänger vierzig. Das richtige Alter für den Liederzyklus, den er aber schon live gesungen hat. Ein Tonträger, den man kaufen und aufheben kann, ist im Vergleich zum flüchtigen Konzert beständig. Was darauf festgehalten ist, lässt sich nicht mehr korrigieren oder verändern wie die Darbietung beim nächsten Auftritt. Sie hängt einem Interpreten auch an, legt ihn auf eine gewissermaßen auf etwas fest. Bis zu einer neuen Einspielungen desselben Werkes. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen letzter Schüler Appl gewesen ist, stand erst im dreiundzwanzigsten Lebensjahr, als er seine 1948 seine erste Winterreise beim Rundfunk in Berlin aufnahm. Und die war so schlecht nicht. Nie dürfte er freier und natürlicher gesungen haben. Es sollten noch viele Winterreisen-Aufnahmen folgen. Firmen und Rundfunkanstalten meinten es gut mit ihm. Sein Intellekt, seine Bildung und eigene Forschungen versetzten ihn in die Lage, nach immer neuen Ansätzen suchen zu können. Appel dürfte er noch einiges mit auf den Weg gegeben haben.

Auch er hat das Werk nicht nur musikalisch studiert. Er hat sich auch viele inhaltliche Gedanken darüber gemacht. Schließlich will er sein Publikum, das ein anderes ist als zu Fischer-Dieskaus Zeiten erreichen mit Liedern, die vor fast zweihundert Jahren entstanden. Ein eigenen Beitrag im Booklet wirft interessante Frage auf: Dass die Winterreise mit dem Leiermann kein wirkliches Ende hat, empfindet Appl als „großes Geschenk“. Der Wanderer erhalte keine Antwort auf seine letzte Frage („Wunderlicher Alter / Soll ich mit dir gehen? / Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“). „So kann man sich ein Leben lang auf diese musikalische, intellektuelle und emotionale Reise des An-Sich-Selbst-Wachsens begeben, heute an dieser Wegmarke einen anderen Pfad einschlagen als beim letzten Mal. Andere Künstler werden vielleicht ganz andere Abzweigungen nehmen. Und keiner von uns wird jemals am Ziel ankommen.“ Dieses Werk behalte seine Faszination gerade durch diesen Irrgarten der Wege, so wie das Leben selbst.

Appl beginnt seinen Vortrag verhalten, fast verträumt. So, als wolle er, der Fremde, um keinen Preis der Welt schon wieder ausziehen, nachdem er gerade eingezogen ist. Er muss aber hinaus in die Nacht. Es bleib völlig unklar, wie die Geschichte ausgeht, wo die Reise endet, nachdem sich die Tür sacht geschlossen hat. Er singt nicht am Anfang schon das Ende mit. Die spruchwörtliche Hoffnung stirbt nicht einmal am Schluss, weil er ja auf den Leiermann trifft. Unmerklich stellt sich als stimmlicher Begleiter ein gewisser Sarkasmus ein, der nichts Gutes ahnen lässt. Die Grundstimmung aber versinkt nicht in Verbitterung und Ausweglosigkeit. Allgegenwärtig ist sogar Neugierde auf das zu spüren, was als nächstes kommt. Das Zusammenspiel mit dem Pianisten James Baillieu gelingt vorzüglich. Beide folgen einer feinsinnigen Dramaturgie. Baillieu ist nicht nur musikalischer Begleiter. Er ist selbst Interpret. Seine Akzente können einen gedanklichen Ausdruck vertiefen oder ihn sogar hinterfragen – und Stimmungen erzeugen, zu denen die menschliche Stimme nicht in der Lage ist. Benjamin Appl hat mit dieser Winterreise an Profil gewonnen. Er singt einheitlicher, nimmt sich alle Zeit, die es braucht, etwas erschöpfend auszuformen. Mitunter werden mutig Grenzen zum Sprechgesang gestreift. Jedes Wort ist zu verstehen. Dramatische Momente klingen nicht mehr ganz so angestrengt. Es bleibt immer noch Luft nach oben. Alles in allem ist diese Aufnahme eine willkommene Bereicherung der sehr umfangreichen Diskographie dieses Zyklus (30.01.22). Rüdiger Winter

Mit liebevoller Ironie

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Nicht abfinden mit dem Verlust der Musik zum Prolog zu Henry Purcells Oper Dido and Aeneas wollte man sich in der Opéra Comique in Paris und stellte 2008 dem Werk mit Ausschnitten aus Ted Hughes‘ Echo and Narcissus, Eliots The Waste Land und Yeats The Wind among the Reeds  ein eigenes Vorspiel voran, dargeboten von der Schauspielerin Fiona Shaw in kaum identifizierbarer Kostümierung, aber eindringlich in der Deklamation und umgeben von einer Schar frohgemuter kleiner Mädchen in Schuluniformen, die man bereits beim fröhlichen Treiben in ihren Umkleideräumen beobachten konnte. Die Vorstellung geht übergangslos weiter mit der eigentlichen Oper, deren Personal in Kostüme der Entstehungszeit prachtvoll gewandet ist, während der Chor, der seitwärts auf schmucklosen Bänken sitzt, unauffällig in Schwarz gekleidet ist. Im Hintergrund ist eine Renaissancefassade zu erblicken, durch Vorhänge entstehen immer wieder neue Räume, für die Jagdgesellschaft gibt es auch vom Bühnenhimmel hängendes Grün, geheimnisvoll und kaum erschlüsselbar bleibt das Treiben von drei männlichen Figuren hoch oben in der Luft, während auf dem Bühnenboden die Hexen ihre finsteren Pläne schmieden. Regie führte  Deborah Warner, Bühne und Kostüme stammen von Chloe Obolenski, und die Produktion wurde außer in Paris auch in Amsterdam und Wien gezeigt.

Der Stoff stammt aus Vergils Epos um den dem Trojanischen Krieg entkommenden Sohn der Venus, der von den Göttern den Auftrag zur Gründung eines neuen Reichs im heutigen Italien erhalten hat und Station in Karthago bei der Königin Dido macht. Typisch englisch ist die „Anreicherung“ der Geschichte durch das Auftreten von Hexen, so dass nicht Merkur den säumigen Aeneas zum Aufbruch mahnt, sondern ein als griechischer Gott verkleideter Bote der Hexen, was dem Werk auch inhaltlich den Hauch des ganz Besonderen unter der Vielzahl der Vertonungen des Stoffes verleiht.

William Christie und Les Arts Florissants sind die Garanten für eine schillernde, dabei straff-energische Orchesterleistung, die auch in den Zwischenspielen pures Hörvergnügen bereitet. Malena Ernman ist die von Anfang an tragisch umflorte Dido mit warmer Mezzostimme von schönstem Ebenmaß. Berührend ist ihr Leben und Werk beschließendes „When I am laid in earth“. Auch darstellerisch ist sie mit ausdrucksstarkem Mienenspiel ein Gewinn für die Produktion. Als Gefährtin Belinda kann Judith van Wanroij mit einem feinen Sopran aufwarten, als Second Woman ist Lina Markeby vokal noch eine Spur zarter. Vollmundig und mit viel akustischem wie mimischem Nachdruck gibt Hilary Summers die böse Hexe, quäkend äußert sich Marc Mauillon als Spirit, gewandt in Gesang und Darstellung zeigt sich Damian Whiteley als Sailor, während die beiden „Unterhexen“ eher durch grotesken Tanz als durch vokalen Einsatz beeindrucken können (Blu-Ray Naxos NBD0140V; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de ). Ingrid Wanja      

Entführung aus dem Waschsalon

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Müssen unsere Kinder und Enkel in dem Glauben aufwachsen, Aida sei eine Putzfrau, Scarpia ein SS-Scherge, Otello der Leiter eines Asylantenheims? Und müssen sie die Opernhelden für rechte Deppen und armselige Abhängige halten, weil il Moro sich am fazzoletto festkrallt, statt das Handy Desdemonas nach Verdächtigem zu überprüfen, Susanna auf eine Teilnahme an der Me-too-Bewegung verzichtet, Tristan und Isolde sich einen Schuss setzen müssen, um im Liebesrausch zu versinken? Wird es nie mehr eine wunderbare Renaissanceorgie wie in Ponnelles  Rigoletto, einen Sonnenaufgang auf dem Castel San Angelo mit Kabaivanska, Domingo, Miles, nie mehr einen Lohengrin geben, dem weder das Image eines Demagogen noch das eines Impotenten anhaftet? Wenn selbst im traditionsverhafteten Italien „moderne“ Inszenierungen auftauchen wie nun der Rigoletto vom Maggio Musicale Fiorentino aus dem Jahre 2021, muss man wohl davon ausgehen und sich doppelt ärgern, weil es einen solchen im Milieu amerikanischer Gangster bereits vor Jahren gab.

Die Aufführung fand im Februar ohne Saalpublikum und mit Maskenträgern auf der Bühne und im Orchestergraben statt. Eine zweite Serie gab es im Oktober mit Publikum und Umbesetzungen in den drei Hauptpartien. „Follow your dreams“ lädt eine Inschrift auf grauem Mauerwerk ein, hinter dem Gangsterboss Duca seine Orgien feiert, im ersten Akt ein Maskenball, im Hintergrund ein Renaissancegemälde, immerhin. Gilda haust in einem Souterrain-Waschsalon mit acht riesigen Waschmaschinen, Bügelbrettern, Leute laufen vor den Fenstern auf und ab, so wie später Züge hinter der Luxus-Bar von Sparafucile hin- und herfahren. Es wird ein ungeheurer Aufwand mit einer so üppigen wie trostlosen Szene (Gianluca Falaschi) getrieben, und es wird reichlich mit Pistolen herumgefuchtelt, der Duca führt sich damit auch gleich einmal  bei Giovanna ein. Dem Übernaturalistischen steht dann am Schluss unverhofft und reichlich unpassend Metaphysisches entgegen, wenn sich die Seele Gildas aus dem sterbenden Körper löst und dem ewigen Licht entgegen schreitet. Damit ist Regisseur Davide Livermore, dem auch schon La Traviata anvertraut war und der Il Trovatore inszenieren wird, die Verbindung von Brutalorealismus, so reichlich Blut zwischen den Beinen der entjungferten Gilda,  mit Pseudoreligiösem nicht gelungen, hinterlässt er beim Zuschauer einen faden Geschmack.

Mit Luca Salsi wurde für die Produktion der Sänger gewonnen, der im Moment das Maß aller Dinge zu sein scheint, quasi der Ersatz von Nucci und Bruson, wenn nicht gar noch von Cappuccilli in einer Person, durchaus mit einem machtvollen, farbigen Bariton begabt, aber leider in dieser Aufnahme eher dem Verismo als kultiviertem Verdi-Gesang huldigend. Sowohl in „Pari siamo“ wie in „Cortigiani, vil razza“ geht er sogar in Sprechgesang über, erst im „Piangi“ staunt man über weitausgreifende, schöne Bögen und ein feines Legato. Bereits auch an der Scala hat die Albanerin Enkeleda Kamani die Gilda gesungen, kühl und ebenmäßig klingt „Caro nome“ mit sicherer Höhe, ein wunderschönes Pianissimo weiß der Sopran im „Tutte le feste“ anzubieten und insgesamt ist ihre Gilda eine durchaus berührende. Nie ohne Pulle oder Pistole tritt der Duca von Javier Camarena auf, dem rüden Gehabe steht ein kultivierter tenore di grazia leichter Emission, strahlender Höhe und generöser Phrasierung entgegen. Die Maddalena von Caterina Piva ist zweifellos bella, wenn nicht gar bellissima, die Stimme aber flach und im Quartett wenig präsent. Schlank geführt wird der schöne Bass von Alessio Cacciamani, der den Sparafucile gibt. Machtvoll setzt sich der Monterone von Roman Lyulkin in Szene und trägt erstaunlicherweise ein Kostüm aus der Verdi-Zeit. Riccardo Frizza ist der erfahrene Kapellmeister in bester Verdi-Tradition mit Brio und Generosità und damit ein Gewinn für eine Produktion, die optisch zu sehr in Richtung „modern sein ohne Rücksicht auf Verluste“ schielt (Dynamic  57921/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de). Ingrid Wanja         

William Cochran

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Die Bayerische Staatsoper trauert um William Cochran. Eine kluge und eindringliche Stimme ist verstummt: Der große Tenor William Cochran, 1943 in Columbus (Ohio) geboren, starb am 16. Januar 2022 im Alter von 78 Jahren. Er war nach seinen Anfängen in den USA vorwiegend in Europa tätig und hier an allen bedeutenden Opernhäusern zu Gast, nicht nur mit den großen romantischen Partien seines Fachs – von Max in Der Freischütz über die Heldentenorrollen in den Musikdramen von Richard Wagner und Richard Strauss bis zu den anspruchsvollsten Aufgaben im modernen Musiktheater (wieTom Rakewell in The Rake’s Progress oder Desportes in Die Soldaten, den er auch auf Schallplatte aufgezeichnet hat).

Während er an der Oper Frankfurt seine künstlerische Basis hatte, mit vielen wegweisenden Produktionen, war er auch an der Bayerischen Staatsoper über einen langen Zeitraum immer wieder zu Gast, beispielsweise als Laca (Jenůfa), Svatopluk Čech (Die Ausflüge des Herrn Brouček), Kurfürst (Der Prinz von Homburg) und in der Titelpartie von Siegfried. Zuletzt ist er als Aegisth in Elektra bei den Münchner Opernfestspielen 2001 im Nationaltheater aufgetreten. Wir trauern um einen Künstler, der die Opernwelt mit Stimme, Geist und Herz bereichert hat.

Geboren in Kansas City; studierte Theologie, Anthropologie, Geschichte, Musik, Sprachen an der Wesleyan University, danach Gesang am Curtis Institut of Music in Philadelphia und an der Music Academy of the West in Santa Barbara. Nach erfolgreicher Teilnahme an mehreren Wettbewerben Anfängerengagement an der Metropolitan Opera New York. In Deutschland war er mehrere Jahre an der Frankfurter Oper engagiert und gastierte u.a. in Berlin, Zürich, München, Genf, Wien, Brüssel, London, Paris. Sein Repertoire umfaßt sowohl die großen Heldentenor-Rollen von Wagner als auch Herodes (Salome), Palestrina, Max (Der Freischütz) sowie Charakterrollen in Werken zeitgenössischer Komponisten (Nono, Zimmermann, Strawinsky, Berg, Janácek, Henze, Schönberg). Partien an der Bayerischen Staatsoper: Laca (Jenufa, 1968), Svatopluk Cech (Die Ausflüge des Herrn Brouèek), Kurfürst (Der Prinz von Homburg), Siegfried, Aegisth (Elektra). (Quelle + Foto Bayerische Staatsoper)

Neapolitanisches

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Ihr neues Album mit zwei CDs bei ERATO hat Christina Pluhar Alla napoletana genannt (0190296603617). Die Hommage an die Stadt am Vesuv, die im 17. und 18. Jahrhundert eine europäische Hauptstadt der Musik war, enthält Tarantellas, Cantatas, Arias und canzone napoletane. Die Aufnahmen entstanden im März 2021 in Paris während der Pandemie und sind ein Zeugnis des unbedingten Willens aller Künstler, gemeinsam zu musizieren.

Natürlich ist das von Pluhar gegründete Ensemble L’ARPEGGIATA mit am Werk, dazu eine Reihe von Gesangssolisten, von denen man vor allem den Countertenor Valer Sabadus kennt und sein schmeichelndes Timbre sofort heraushört. Er singt von Pietro Andrea Ziani die Canzone „Dormite o pupille“ mit betörend schwebenden Tönen und ist auch in einigen Ensembles von Cristoforo Caresana zu hören: „La Tarantella“, „La Veglia“  und „La Pastorale“. Ein Kabinettstück bietet er gemeinsam mit der Sopranistin Céline Scheen in Pietro Antonio Giramos „Chi vidde più lieto“, in dem gekichert, gestöhnt, gehaucht und geseufzt wird. Später sind sie noch in Luigi Rossis „Che più far degg’io“ zu hören, das in seinem lamentierenden Duktus in eine ganz andere Welt führt. Auch der Sopranist Bruno de Sá hat sich längst in der Elite der Alte-Musik-Interpreten etabliert. Er stellt sich mit Giovanni Legrenzis Canzone „Con cent’occhi“ vor und meistert dabei die extreme Tessitura souverän. In Sigismondo d’Indias „Sfere fermate“ spielt er gekonnt mit den Tönen und klettert gleichfalls in denkbar höchste Regionen. Auch die Mezzosopranistin Luciana Mancini ist keine Unbekannte. Von Pietro Antonio Giramo interpretiert sie die kapriziöse Canzone „La Pazza“ mit reichem Farb- und Ausdrucksspektrum, von Cristoforo Caresana „Basti, sospenda il ballo“.  Dagegen sind der Altus Vincenzo Capezzuto, die Tenöre Alessandro Giangrande und Zachary Wilder sowie der Bassist Joao Fernandes hierzulande weniger prominent, können sich aber neben den etablierten Künstlern souverän behaupten.

Das Programm reißt die Grenzen zwischen Kunst- und Volksmusik, zwischen profanen und geistlichen Kompositionen auf. Viele Elemente der Musik stammen aus der commedia dell’arte, bemerkenswert ist die Vermischung von italienischem und neapolitanischem Dialekt. Zu erwähnen sind auch die humoristischen Lautmalereien, wie man sie in den Tarantellas „Lo Guarracino“ und „A la fiera de Mast’André“ findet. Erstere interpretiert der Altus Vincenzo Capezzuto mit androgyner Stimme und eröffnet damit das Programm. Die Komposition ist von ausgelassener Stimmung und ein lustvoller Einstieg. Später singt er noch das träumerische  „Dicitencelle vuje!“ von Rodolfo Falvo, wo die Individualität  zwischen männlicher und weiblicher Stimme noch mehr verschwimmt, wie es auch bei dem Volkslied „Raziella“ aus dem 18. Jahrhundert zu vernehmen ist. In der zweiten Tatarantella ist der Tenor Alessandro Giangrande zu hören. Sein Vortrag ist so plastisch, dass man sich beinahe auf einem Markt glaubt, wo der Verkäufer für seine Produkte wirbt. Von den insgesamt acht mitwirkenden Sängern sind sechs bei „La Tarantella“ von Cristoforo Caresana vertreten – eine übermütige Komposition aus dem Jahre 1675 in stampfendem, mitreißendem Rhythmus. Ähnlich überwältigend sind die Cantata a 6 voci „La Veglia“, mir der die zweite CD übermütig beginnt, und das siebenstimmige „Gioca al ombre“ . Sonore tiefe Töne als willkommenen Kontrast zu den hohen Stimmen bringt der Bassist Joao Fernandes mit „Dormi o ninno“ und „Il Pazzo“ ein. In letzterem werden die Grenzen des Gesangs aufgehoben zugunsten lautmalerischer Geräusche. Capezzuto setzt den Schlusspunkt mit dem populären Volkslied „Fenesta che lucive“, das in seiner Melancholie nichts daran ändern kann, dass dieses Album ein Stimmungsaufheller und Heilmittel gegen alle Depressionen ist. Bernd Hoppe

Eheliche Liebe zum Vierten

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Im selben Jahr als Giovanni Simone Mayrs L’amor conjugale (1805), eine dramma sentimentale in einem Akt, einen Erfolg in Padua (Teatro Nuovo) feierte, erlitt die Urfassung von Ludwig van Beethovens Leonore eine missglückte Uraufführung im Theater an der Wien. Mayr, der heute vor allem als Lehrer Gaetano Donizettis bekannt ist, vertonte ein Libretto von Gaetano Rossi nach dem Textbuch der Léonore, ou L’amour conjugal (1798) von Jean Nicolas Bouilly.

Mayr und Beethovens unterschiedliche Kompositionsstille und Handlungsstränge zeigen, wie das gleiche Thema ganz anders konzipiert und realisiert wurde. Deswegen lohnt es sich L’amor conjugale kennenzulernen, obwohl sie keineswegs mit Beethovens Oper gleichzusetzen ist.

Die Handlung von Mayrs Oper spielt in einem Gefängnis in Polen. Der Gefängniswärter Peters (Rocco in Beethovens Oper) hat einen Helfer namens Malvino (Fidelio bei Beethoven), in Wirklichkeit Zeliska (Leonore bei Beethoven), die ihren inhaftierten Ehemann, Amorveno (Florestan bei Beethoven), befreien will. Peters Tochter, Floreska (Marzelline bei Beethoven), hat sich in Malvino verliebt. Malvino/Zeliska begleitet Peters in dem unterirdischen Gewölbe, wo sie ihren Ehemann erkennt. Moroski (Don Pizarro bei Beethoven) kommt maskiert mit der Absicht, Amorveno zu morden, aber Malvino/Zeliska rettet ihn. Ardelao (Don Fernando bei Beethoven) befreit das wiedervereinte Ehepaar.

Nach dem Mitschnitt der Oper vom Rossini-Festival in Wildbad 2004 unter Christopher Franklin bei Naxos nun Opera Fuoco unter der Leitung von David Stern hat diese selten gespielte Oper im April 2021 im Opéra de Massy aufgenommen. Die Sängerbesetzung ist überzeugend, insbesondere Chantal Santon-Jeffery als Zeliska/Malvino; sie klingt zärtlich mit Amorveno, sympathisch mit Peters und kühn gegen Moroski. Natalie Pérez als Floreska wirkt liebevoll und verlockend in ihrer Sehnsucht nach einer Ehe mit Malvino, die nicht zustande kommt; am Ende ist sie überraschenderweise bereit, die Tatsache, dass ihr Verlobter eigentlich eine schon verheiratete Frau ist, zu akzeptieren. Andrés Agudelo hat eine Stimme, die das Gefühl von tiefen Schmerz aber auch von Entschlossenheit sich nie dem Schicksal zu ergeben. Olivier Gourdy ist versöhnlich und väterlich als Peters. Adrien Fournaison klingt böse und rachsüchtig als Moroski. Für Fidelio-Kenner klingt der Hochtenor Bastien Rimondi als Ardelao, im Vergleich zu Don Fernandos Bassstimme, irritierenderweise jünger als die anderen Protagonisten.

Diese Aufnahme wirft ein neues Licht auf den aufführungsreichen Fidelio, der immer noch stark beim Publikum beliebt ist. Neben Leonora ossia L’amor conjugale (1804) von Ferdinando Paër, der auch der gleiche Stoff zu Grunde wie Fidelio liegt, gilt L’amor conjugale als Teil eines Quartetts von fast gleichzeitig entstandenen Opern, die über das selbe Thema verbunden sind. Denn Jean-Pierre Gaxeaux´ Oper Léonor von 1798, die in der Videoaufzeichnung von Opéra Lafayette bei Naxos operalounge.de besprochen wurde, geht diesen dreien nur geringfügig voraus.

Das Beiheft enthält das vollständige Libretto in Italienisch mit Englisch und Französisch Übersetzungen sowie mit kurzen Kommentaren auf Englisch, Französisch und Deutsch. Leider ist die Verpackung eine Katastrophe: ein Pappschuber mit dem Textheft festgeklebt in der Mitte und zwei beidseitig offene Hüllen, die die CDs ausfallen lassen. Hochwertige Musik verdient eine bessere Präsentation (Giovanni Simone Mayr: L‘Amor conjugale mit Chantal Santon-Jeffery, Andrés Agudelo, Natalie Pérez, Olivier Gourdy, Adrien Fournaison, Bastien Rimondi, Opera Fuoco, David Stern; Aparté 2 CDs AP267). Daniel Floyd

 

Nichts für Kinder

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Keineswegs mit Kindern sollte man die Produktion der Bayerischen Staatsoper von Hans Abrahamsens Oper The Snow Queen besuchen, denn wenn das Stück selbst noch als Märchen durchgehen könnte, so ist die Inszenierung von Andreas Kriegenburg von 2020 eher einer Revolutionierung der Behandlung psychisch Kranker gewidmet, denn dem armen Kay, dem durch einen Splitter aus dem Spiegel des Teufels jegliche Beziehungsfähigkeit abhanden gekommen ist, wird zu Beginn eine abstoßende, sicherlich nicht förderliche Behandlung durch Massen von Krankenschwestern und Ärzten zuteil, während am Schluss fröhliches Treiben an der gleichen Stätte auch ihn mit einbezieht, ihn sogar als Erwachsenen wieder beziehungsfähig gemacht hat. Ein inniger Kuss, der Gerda auf den Mund gedrückt wird, beweist es. Das geschieht natürlich der erwachsenen Gerda, von der es wie von Kay gleich zwei gibt, eine Schauspielerin und eine Sängerin, dazu noch ein Kinderpaar, so dass zweitweise anstelle der vorgesehenen zwei gleich sechs Personen auf der Bühne versammelt sind. Den Mund öffnen dürfen nur die Sänger, die Schauspieler, insbesondere von dem des Kai muss das gesagt werden, stieren nur bedeutungsschwanger vor sich hin. So kalt wie das Ambiente (Bühne Harald B. Thor )auch durch ständigen Schneefall wirkt, so kühl erscheint die aus einer Art Zirpen erwachsende Musik, in der man Eis klirren, Schlittenglocken läuten, Schneestürme sich entwickeln hört, ein Zustand ständigen Schwebens erreicht wird, die mal atonal, mal tonal erscheint und die die Sänger nicht vor unzumutbare Aufgaben stellt. Winter und Kälte sind Themen, die den Komponisten stets besonders interessiert haben. An der guten Singbarkeit der Oper hat wohl auch die Initiatorin des Werks, die Sopranistin Barbara Hannigan, die die Gerda sowohl in der Uraufführung mit dänischem wie in der deutschen Erstaufführung mit englischem Libretto sang, ihren Anteil.

Liest man das Interview mit dem Regisseur im Booklet der Video-Aufnahme, wird man folgendermaßen belehrt: „Wir erleben Kay und Gerda in drei Lebensstufen, in drei Stufen des Zusammengehörens: als Kinder, als junge Liebende du als das reife Paar…..Anfang fünfzig. Kays weibliche Stimme ist quasi die Wesensgestalt, die Gerda jetzt, nach Eintreten des Traums, sieht und dank derer es für sie leichter geworden ist zu verstehen, dass dieses zarte Wesen, diese fragile Stimme, nicht stark genug war für die Tristesse des Alltags“. Da kommt man einmal mehr nicht um das Fazit herum, dass das Bühnengeschehen und seine Erläuterung im Programmheft weit auseinander klaffen, man eine Midlife-Crisis-Oper nicht vermutet hätte.  Immerhin ist das alles recht unterhaltsam, wenn auch über weite Strecken hinweg rätselhaft bleibend, warum sind Prinz und Prinzessin Glatzköpfe in Nachtwäsche (Kostüme Andrea Schraad) , warum dient der Schauspieler-Kay als Rentierkörper, und bereits der Schöpfer der Oper selbst muss sich fragen lassen, warum das Räubermädchen unterschlagen,  die Schneekönigin mit einem Bass besetzt wird.

Dirigent Cornelius Meister nimmt sich der Partitur mit liebevoller Sorgfalt an, arbeitet viele Einzelschönheiten heraus, sorgt für eine angenehme Ausgewogenheit zwischen Orchestergraben und Bühne. Barbara Hannigan ist überaus intensiv als Gerda, die Partie ist ihr auf die Stimmbänder komponiert, sie klingt durchweg angenehm und manch schöner Schwellton ist ihr vergönnt. Ihr Schauspieler-Ebenbild ist Anna Ressel mit viel Liebreiz, das Kind Sophie Veronik hat sogar ein Kleid aus dem gleichen Stoff wie die erwachsenen Gerdas. Leider viel weniger zu singen hat der Kay von Rachael Wilson, die eine sehr feine, kostbar klingende Mezzostimme hat. Schauspieler Thomas Gräßle guckt bedeutsam leer, muss sich auch oft seine Lagerstätte mit den beiden anderen Kays teilen (das Kind Kay ist Louis Veronik, also der Bruder der kleinen Gerda-Darstellerin). Der bewährte Peter Rose verleiht Statur und Stimme nicht nur der Schneekönigin, sondern auch dem Rentier. Katarina Dalayman ist Grandmother, Old Lady und Finn Woman, als welche sie auch zeigen kann, wie intakt die Stimme ist. Munter krähen Kevin Conners und Owen Willetts als eben diese Vögel. Caroline Wettergreen und Dean Power müssen sich hässlich machen und haben auch nicht viel zu singen. Ein zwielichtiges, Patienten beängstigendes Bild bietet der Chor als Klinikpersonal und anderes. Es wäre interessant, das Stück auch in einer anderen Inszenierung zu sehen, in Straßburg gab es bereits eine solche (Bluray disc BSOrec LC96744). Ingrid Wanja   

Aufregend, tiefgründig, exemplarisch

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Kent Nagano dürfte der Dirigent sein, der mit der Musik wie mit der Persönlichkeit des Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992) am besten vertraut ist. Früh entdeckte er dessen Musik für sich. 1982 lebte er ein Jahr im Haushalt des Komponisten in Paris, an der Einstudierung der Oper Saint François d‘Assise in der Pariser Opéra Garnier 1983 hatte er einen wichtigen Anteil. Nagano hat sämtliche Orchesterwerke des Franzosen dirigiert und die Franziskus-Oper in Lyon und München zur Aufführung gebracht. Messiaen, so äußerte er selbst einmal, habe ihm „die Tür zu seiner Musik geöffnet“. So ist Nagano gleichsam prädestiniert, uns die Tür zur Musik Messiaens zu öffnen. Was hier mit der Aufführung dreier zentraler Werke geschieht.

In seinem sehr lesenswerten Beitrag „weist Kent Nagno auf die enge Verbindung von Religion und Musik bei Messiaen hin: „Fast alle von Messiaens Werken haben biblische Inhalte oder nehmen theologische Gedanken auf: die Bedeutung der Dreifaltigkeit, die Geburt und die Verklärung Jesu Christi, seine Unsterblichkeit. Aus dem Glauben nahm er die Energie und Kraft, eine schier unerschöpfliche Vielfalt von Werken zu komponieren. Während er komponierte oder improvisierte, reflektierte er nicht nur über die Schöpfung. Es war sein Weg, mit Gott in Verbindung zu treten. In der Musik kann man Gott erfahren. Musik hat eine unvergleichlich spirituelle Kraft, vielleicht die größte unter den Künsten. Sie baut die Brücke in die Transzendenz.“

Den Liederzyklus  Poèmes pour Mi komponierte Messiaen 1936 auf eigene Texte und zunächst in einer Fassung für Sopran und Klavier. 1937 kam er mit Marcelle Bunlet und dem Komponisten am Klavier zur Uraufführung. Im selben Jahr instrumentierte Messiaen den Klavierpart. Die Erstaufführung dieser Fassung fand ebenfalls mit Marcelle Bunlet und dem Conservatoire-Orchester unter Leitung von Roger Désormière in der Pariser Salle Gaveau statt. Gewidmet ist das Werk der ersten Frau des Komponisten, der Geigerin und Komponistin Claire Delbos (1906-1959), deren Kosename „Mi“ (auch die Bezeichnung für den Ton D) war.

Die neun Lieder haben beachtliche literarische Qualitäten. Außerdem beweist Messiaen hier sein Geschick, das individuelle Erleben der Liebe und irdischen Glücks mit einer Transzendierung und dem Jenseits in Verbindung zu bringen. Danksagung, Landschaft, Das Haus, Entsetzen, Die Gattin, Deine Stimme, Die beiden Krieger, Das Halsband, Erhörtes Gebet – diese Titel machen schon deutlich, dass Messiaen ganz unterschiedliche Themen behandelt und dafür den jeweils passenden Ausdruck findet. Und mal wird die Liebe, mal die Geliebte beschworen, mal ein Ort, mal ein Zustand. Immer freilich ist das religiöse Moment anwesend, explizit oder implizit.

Kent Nagano/ Foto Peter Meisel/BRSO

Die Poèmes pour Mi erfordern einen dramatischen Sopran, eine große, flexible Stimme, die freilich auch zu größter Zurückhaltung fähig sein muss. Und sie muss sich immer im Orchester behaupten können, selbst in den besonders leisen Passagen. Jenny Daviet bewältigt ihren Part sehr gut, sing immer nuanciert, ausdrucksvoll, interessant. Nur manchmal klingt ihre Stimme etwas forciert, ja scharf. Das Orchester begleitet und stützt sie hervorragend ein.

Die Chronochromie komponierte Olivier Messiaen 1959/60 für eine sehr große Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, Kleine Klarinette, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, 4 Hörner, Piccolotrompete, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Schlagwerk mit Glockenspiel, Xylophon, Marimba, Glocken, 3 Gongs, Hängendem Becken, Chinesisches Becken, Tamtam sowie Streicher. Der Titel leitet sich aus dem Griechischen her: Chronos (= Zeit) und Chroma (= Farbe) gehen eine Beziehung oder Verbindung ein. Die Farbe verändert sich im Lauf der Zeit. Messiaen führte den Begriff „Chronochromie“ in die Musik ein. In seinem gleichnamigen Werk ist das eine spezielle Form der Harmonie in Strophen, Antistrophen und Epoden, die aus dem griechischen Drama abgeleitet ist. In den sieben Teilen der Komposition, die mehr oder minder ineinander übergehen, findet sich ein wahres Hör-Kaleidoskop, vor greift Messiaen auf ungewöhnliches Material zurück, das er nach Art eines „objet trouvé“ außerhalb der Kunst, in der Alltagswelt gefunden hat. Das sind die Stimmen von verschiedenen Vogelarten, der Klang von Wasserfällen in den Alpen, windstoßartige Figuren, Gesten oder felsiges Gebirge in Form von grandiosen. Das 1960 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Werk hat dank Kent Naganos Interpretation nichts von seiner vielleicht auch irritierenden Faszination verloren. Das BRSO stürzt sich gleichsam mit voller Verve auf diesen Klassiker, der viel zu selten im Konzertsaal zu hören ist. Der Hörgenuss läßt sich vielleicht noch steigern, wenn man (allerdings nach dem ersten Hören!) gute Erläuterungen liest und so erfährt, was es mit diesem komplexen Werk eigentlich auf sich hat.

Das Hauptwerk der Box bildet La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, ein Auftrag der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon aus dem Jahre 1965. Die bat Messiaen um ein großes Werk für Chor und Orchester. Der Komponist entschied sich für ein Oratorium über die „Verklärung unseres Herrn Jesus Christus“, an dem er dann länger als geplant arbeitete. In seiner endgültigen Form kam das Werk am 7. Juni 1969 in Paris zur Uraufführung – mit dem Orchestre de Paris unter Leitung von Serge Baudo. Solistisch prominente Rollen spielten die Pianistin Yvonne Loriod (die zweite Frau des Komponisten) und der Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Die Komposition ist streng symmetrisch gebaut. Sie besteht aus zwei Teilen zu je sieben Sätzen. Zwischen Rezitationen aus den biblischen Evangelien (Teile I, IV, VIII, XI) finden sich meditierende Sätze (II, III, V, VI, IX, X, XII, XIII). Die Teile werden abgeschlossen durch Choräle (VII, XIV).

In der vorliegenden Aufnahme, einem Konzertmitschnitt vom Juni 2017, sind Pierre-Laurent Aimard (Klavier) und Lionel Cottet (Violoncello), weitere fünf Orchestersolisten, Moon Yung Oh (Tenor), Matthias Ettmayr (Bass) sowie Chor und Symphonieorchester Orchester des Bayerischen Rundfunks in Bestform zu erleben. Der Chor singt immer ausdrucksvoll, subtil, bewährt sich in den zum Teil gregorianischen Gesängen nachempfundenen Passagen. Alle Solisten sind sehr präsent, das Orchester bringt die klanglichen Facetten, die Eigenwilligkeiten und Valeurs dieses meditativen Werkes suggestiv zur Geltung. Das Oratorium ist zwar sehr groß besetzt, doch werden die instrumentalen und vokalen Kräfte sehr ökonomisch und oft sehr subtil eingesetzt. Man wird als Hörer nie überfahren, sondern staunt über den differenzierten Klang, die Farben und die Schönheit dieser Musik. Hier erfüllt sich, was Kent Nagano äußerte: dass die Musik eine Brücke zur Transzendenz bauen kann. Das tut sie oft mit Klängen wie aus dem Jenseits (Olivier Messiaen: La Transfiguration de Notre Seigneur; Pierre-Laurent Aimard, Jenny Daviet, Chor des Bayerischen Rundfunks, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Kent Nagano; BR-KLASSIK 900203)! Helge Grünewald

Niksa Bareza

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Die Oper Graz und die Grazer Philharmoniker trauern um ihren ehemaligen Chefdirigenten Nikša Bareza, der am 17. Jänner 2022 im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Nikša Bareza kam am 31. März 1936 in Split zur Welt und hat seine Studien u. a. bei Milan Sachs und Hermann Scherchen in Zagreb und Salzburg absolviert. Er war von 1965 bis 1974 Chefdirigent am Kroatischen Nationaltheater Zagreb, und wirkte in den siebziger Jahren als Gastdirigent am Kirow-Theater in St. Petersburg, am Bolschoi-Theater in Moskau und am Opernhaus Zürich. Sein Debut an der Oper Graz gab er am 28. September 1975 mit einer Neuproduktion von Alexander Borodins „Fürst Igor“. In Graz folgten „Eugen Onegin“, „Turandot“ und Antonín Dvořáks „Der Jakobiner“, und von 1981 bis 1990 bekleidete er die Position des Chefdirigenten des Grazer Philharmonischen Orchesters und der Grazer Oper. Hier reichte die stilistische Bandbreite der von ihm einstudierten Neuproduktionen von Monteverdi („L’Orfeo“ im Landhaushof) und Johann Joseph Fux („Angelica vincitrice di Alcina“ im Jänner 1985 anlässlich der Wiederöffnung der Grazer Oper) über Mozart (u. a. „Die Hochzeit des Figaro“, „Idomeneo“) hin zu Donizettis „Viva la Mamma“, umfasst Verdi („I Lombardi alla prima crociata“, „Simon Boccanegra“, „Rigoletto“, „La forza del destino“, „Don Carlo“) und Puccini („Manon Lescaut“) ebenso wie Boitos „Mefistofele“, Brittens „Ein Sommernachtstraum“, Mussorgskis „Boris Godunow“, Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, Strauss’ „Arabella“ und Tschaikowskis „Pique Dame“. Als Wagner-Dirigent hat er in Graz Christian Pöppelreiters Inszenierungen von „Das Liebesverbot“ und „Der Ring des Nibelungen“ geleitet; diese Aufführungen wurden auch vom ORF gesendet. Später hat er als Gast 1992 eine Neuproduktion von Leoš Janáčeks „Katja Kabanowa“ dirigiert. Nach seiner Grazer Tätigkeit wirkte er u. a. als Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz und der Oper Chemnitz (2001 bis 2007). Seine internationalen Verpflichtungen führten ihn mit rund achtzig Vorstellungen an die Wiener Staatsoper, nach Italien (u. a. Teatro Bellini in Catania, Teatro alla Scala in Mailand, Teatro Massimo in Palermo, Teatro Verdi in Triest), Deutschland (u. a. Bayerische Staatsoper München, Hamburgische Staatsoper, Deutsche Staatsoper Unter den Linden), nach Oslo, Mexiko und zuletzt mit „Nikola Subić-Zrinjski“ von Ivan Zajc ans Kroatische Nationaltheater Zagreb.

Il Teatro Lirico Giuseppe Verdi di Trieste apprende la triste notizia che il Maestro Nikša Baresa è mancato ieri lunedì 17 gennaio e si unisce al cordoglio di tutto il mondo della musica e della cultura per la perdita di un raffinato artista e un’instancabile ricercatore e studioso. Persona di sensibile gentilezza, poneva attenta cura a ogni dettaglio della partitura, indagandone in profondità le origini per ciascuno strumento e ogni voce. Aveva esordito a Trieste nel 1979 con Mazepa di Pëtr Il’ič Čajkovskij di cui aveva diretto anche Evgenij Onegin nel 1996. Al Teatro Verdi di Trieste ha diretto in particolare titoli del Novecento ed era considerato interprete di riferimento; fra questi ricordiamo Lady Macbeth del Distretto di Mcensk di Dmitrij Dmitrievič Šostakovič nel 1987, Il Campiello di Ermanno Wolf-Ferrari nel ’92, La Voix Humaine di Francis Poulenc e Cavalleria Rusticana di Pietro Mascagni nel 1993; importanti i suoi concerti con musiche di Luigi Pizzetti, Felix Mendelssohn, Jean Sibelius, Maurice Ravel. Grande successo di pubblico e di critica aveva riscosso la sua direzione di Tannhäuser di Richard Wagner nel 2010. Sul podio del Teatro Verdi era recentemente ritornato nel 2019 con i titoli pucciniani Madama Butterfly e Turandot a cui si era dedicato con particolare passione.

Die Wiener Staatsoper trauert um Niksa Bareza, der am Montag, 17. Jänner 2022 im Alter von 85 Jahren in Zagreb verstorben ist.Sein Debüt im Haus am Ring gab der langjährige Chefdirigent der Oper Graz 1973 mit Un ballo in maschera. Niksa Bareza war der Wiener Staatsoper über viele Jahre verbunden und dirigierte hier bis 1991 an insgesamt 71 Abenden Vorstellungen von L’elisir d’amore, La traviata, Cavalleria rusticana/Pagliacci, Il trovatore, Die verkaufte Braut, Tosca, Il barbiere di Siviglia, Madama Butterfly, Rigoletto, Aida und La bohème.

Die Theater Chemnitz trauern um ihren ehemaligen Generalmusikdirektor Niksa Bareza, der am 17. Januar 2022 im Alter von 85 Jahren in Zagreb verstorben ist. Niksa Bareza wurde am 31. März 1936 in Split geboren und absolvierte seine Studien u. a. bei Milan Sachs und Hermann Scherchen an der Musikakademie in Zagreb und am Mozarteum in Salzburg. Er war von 1965 bis 1974 Chefdirigent am Kroatischen Nationaltheater Zagreb, anschließend Gastdirigent am Mariinski-Theater St. Petersburg (1972 bis 1975), Dirigent am Opernhaus Zürich (1978 bis 1981) und Chefdirigent der Grazer Philharmoniker und der Grazer Oper (1981 bis 1990). Von 2001 bis 2007 war Niksa Bareza als Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie und der Oper Chemnitz tätig. Hier dirigierte er vor allem Werke von Richard Wagner („Der fliegende Holländer“ 2002, „Tristan und Isolde“ 2004, „Lohengrin“ 2006) und Richard Strauss („Elektra“ 2002, „Der Rosenkavalier“ 2003, „Arabella“ 2005, „Ariadne auf Naxos“ 2006).
Seine internationalen Verpflichtungen führten ihn anschließend erneut an die Wiener Staatsoper, nach Italien, Deutschland, nach Oslo, Mexiko und zuletzt mit „Nikola Subić-Zrinjski“ von Ivan Zajc ans Kroatische Nationaltheater Zagreb. Die Theater Chemnitz werden ihrem früheren Generalmusikdirektor ein ehrendes Andenken bewahren.

Dazu auch ein Interview von Sebastian Strauss, das er mit dem verstorbenen Dirigenten Niksa Bereza für operalounge.de führte.l

Grosse künstlerische Tat

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Wahrlich nicht als Opernkomponist in die Musikgeschichte eingegangen ist der belgische Komponist César Franck, und doch hat er, nachdem zwei Jugendwerke keinen Erfolg hatten, in seinen letzten Lebensjahren noch einmal sein Interesse für die Gattung entdeckt und zwei Opern in Angriff genommen, Hulda, die fertiggestellt, aber zu Lebzeiten Francks nicht aufgeführt wurde, und Ghiselle, die unvollendet blieb.  Erst mehr als drei Jahre nach dem Tod Francks wurde 1894 in Monte Carlo eine arg verstümmelte Fassung aufgeführt, die wenig später wieder vom Spielplan abgesetzt wurde, nicht besser erging es den Aufführungen in Den Haag und Toulouse. Zuletzt gab das kleine Theater Freiberg die Oper, wie Rolf Fath in operalounge.de berichtete (Die vergessene Oper 131).

Das Libretto in französischer Sprache stammt von Charles Jean Grandmougin, der sich auf das Drama Halte-Hulda des Norwegers Björnsterne Björnson stützte, der wiederum sich von archaischen nordischen Sagen inspirieren ließ. Als Norweger, dessen Land bis 1814 unter dänischer Herrschaft stand, musste ihn die Geschichte von der Isländerin Hulda, die in die Fremde verschleppt wird, zwangsverheiratet werden soll, doch die Liebe im feindlichen Land findet, betrogen wird und furchtbare Rache nimmt, bevor sie sich ins Meer stürzt, besonders interessieren.  Aber auch César Franck, ansonsten für seine Friedfertigkeit und Menschenfreundlichkeit bekannt, erlebte als Pariser Hass und Gewalt in den Jahren 1870/71 mit deutscher Besetzung und Pariser Kommune und reagierte darauf offensichtlich mit einer Hinwendung von der friedfertigen Orgel zum blutrünstigen Schauerdrama. So verwundert es auch nicht, dass Franck und sein Librettist das Drama in eine besonders von Gewalt geprägte Zeit, nämlich in das 11. Jahrhundert, als die nordischen Länder und Stämme christianisiert wurden, verlegten. Huldas Mutter betet bereits zu einem Gott, Hulda, die gnadenlose Rächerin, zu den alten heidnischen Göttern.

Es ist wahrlich großartig, dass ein nicht allzu großes Haus wie das Freiburger Theater, dazu noch allen drei Sparten dienend, sich des anspruchsvollen Werks mit ebenso anspruchsvollen und vielen Rollen angenommen hat und dass das Label Naxos daraus eine Erstaufführung auf drei CDs gemacht hat. Weder Chor noch Orchester, denen die in der Nachfolge Wagners entstandene Musik in der Form der Grand Opera mit obligatorischer Balletteinlage unendlich viel abverlangt, lassen den Schluss zu, hier habe man die Bewältigungslatte zu hoch gelegt. Die Vorspiele, insbesondere das zum 5. Akt, sind so prachtvoll üppig wie tragikumflort und unheilsschwanger, und das Philharmonische Orchester Freiburg unter Fabrice Bollon wird der Musik aufs schönste gerecht, zeichnet filigranhaft die Detailschönheiten nach und deckt die Sänger nie zu. Ein Glücksfall ist es, dass man wegen der vielen Nebengeräusche während der Aufführungen auf der Bühne separat davon im Konzerthaus konzertante Aufführungen zur Grundlage der drei CDs machte. So fehlt zum vollkommenen Opernglück eigentlich nur ein Libretto anstelle der doch recht knappen Inhaltsangabe im ansonsten informationsreichen Booklet.

Lang ist die Liste der Gesangssolisten und damit eine weitere Herausforderung für das Theater Freiburg. Allein die fünf Brüder und der Vater des früh verblichenen Gudleik ( Juan Orozco), weil vom Nebenbuhler gemeuchelt, erfordern eine Besetzung mit je zwei Tenören ( Roberto Gionfriddo, Junbum Lee), zwei Baritonen (Seonghwan Koo und John Carpenter) und zwei Bässen  (sehr gewichtig Jin Seok Lee und Jongsoo Yang). Selbst die kurze Partie des Herolds ist mit einer sonoren Baritonstimme, der von Mateo Penaloza Cecconi, ansprechend besetzt. Die namenlose und zu frühem Tod verdammte Mutter Huldas wird von Anja Jung mit dunkel-schwerem Alt bedacht, der sechsfachen  Mutter Gudrun verleiht Katerina Hebelkova eine mütterlich klingende Mezzostimme. Einen zarten Mädchensopran setzt Katharina Ruckgaber für die Thordis ein. Irina Jae Eun Park ist die nur für kurze Zeit glücklichere Nebenbuhlerin Swanhilde, für die sie einen schönen lyrischen, leicht melancholisch angehauchten Sopran aufzuweisen hat, Joshua Kohl ist der heiß umworbene Eiolf, der sich in den Duetten mit seinen beiden Damen mit schwärmerischem Tenor-Wohllaut zu behaupten weiß. Die fast ausschließlich ihren Rachegelüsten, weniger der Liebe lebende Hulda wird schattierungsreich auch die Sehnsucht nach Liebe hörbar machend von Meagan Miller gesungen, warm und geschmeidig, eindrucksvoll das Rache-Septett anführend, auch in der großen Schlussszene dem Schöngesang verpflichtet bleibend und nachvollziehbar machend, dass sie auch die Isolde singt (2 CD Naxos 8.660480-82). Ingrid Wanja    

Erstfassung

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Für Polen mag es ein denkwürdiges Ereignis sein, die ursprüngliche, die Vilnius-Fassung von Moniuszkos Meisterwerk Halka aus dem Jahre 1848, der konkurrenzlosen polnischen Nationaloper, zu erleben, der Mittel- oder West-, gar Südeuropäer dürfte recht unbeeindruckt davon bleiben. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu eine Schwemme von Halka-Aufführungen in den „sozialistischen Bruderländern“, begünstigt auch durch die sozialkritische Handlung, inzwischen ist Halka zwischen Frankfurt Oder und Lissabon eine eher selten anzutreffende Oper. Wer aber die gängige spätere Warschauer Fassung von 1858 kennt, dem wird auffallen, wie viel kürzer (allein anstelle der vier nur zwei Akte), straffer und die Handlung konsequent vorantreibender die Urfassung ist, dass Folkloristisches, gar Tänze der Landbevölkerung, oder die Bravourarie des Tenors und sonstige lyrische Momente fehlen, und der Verfasser des sehr informationsreichen Booklets meint, es würden einfach alle den Polen so teuren Hits aus dem Werk nicht anzutreffen sein. Diese trugen natürlich dazu bei, dass die traurige Geschichte vom verführten Bauernmädchen, das von seinem adligen Liebhaber verlassen wird und den Tod in den Fluten sucht, nachdem sein Kind bereits verhungert ist, an tragischer Konsequenz durch visuelle und akustische Opulenz etwas verlor, während die stringente Urfassung im Revolutionsjahr  1848 von besonderer Brisanz war, das Stück auch nur in privatem Kreis im Hause Müller, der Schwiegereltern des Komponisten, konzertant aufgeführt werden konnte. Erst 1854 fand die erste szenische Aufführung der zweiaktigen Fassung im Wilnaer Theater statt. Dem polnischen Publikum, das seine opulente Warschauer Fassung liebt, wird man die karge Vilnius Version kaum schmackhaft machen können, aber der unvoreingenommene Neuhörer könnte durchaus Geschmack finden an der ohne Schnörkel und musikalischen Putz auskommenden tragischen Geschichte in ihr angemessener Vertonung, dazu noch mit einem vorzüglichen Orchester, der Capella Cracoviensis unter Jan Tomasz  Adamus, auf historischen Instrumenten.

Diese beginnen rasant und feurig, unterstreichen den harten, frischen Charakter der Urfassung voll musikalischen Elans und finden zu fast kammermusikalischem Klang in der Begleitung der Solisten. Ein Glücksfall ist auch die Halka von Natalia Rubiś, die einen klaren, reinen Sopran mit feinem Vibrato für die Titelpartie einsetzen kann. Der Sopran zeigt manchmal Anklänge an eine Naturstimme, klingt im 2. Akt wie entrückt und voller Melancholie, ehe in der Schlussszene Schärfe als Gestaltungsmittel eingesetzt , Wahnsinn hörbar gemacht wird. Auch der zweite Sopran, Michalina Bienkiewicz, mit dem sich die standesgemäße Braut des ungetreuen Liebhabers, Zofia, zu Wort meldet, besticht durch filigrane Zartheit, feine Koloraturen und Wärme. Recht dumpf und verhangen und im Duett weniger präsent als der Sopran zeigt sich der Bariton von Sebastian Szumski, der den Adelsspross Janusz singt. Den treuen Jontek, der Halka nicht vom Selbstmord zurückhalten kann, gibt Przemyslaw Borys mit dunkel getöntem, recht metallisch klingendem Tenor. Angemessen füllen die beiden Bässe PrzemysƗaw Józef BaƗka und Marek Opaska die Väterrollen aus. Der Chor weiß Mitleid und erzwungenen Jubel gleich ausdrucksstark zu Gehör zu bringen. Zum Nachdenken regt die Frage an, warum Halka, die nicht wie ledige Mütter der damaligen Zeit aus der Gesellschaft verstoßen, sondern von ihr bemitleidet wird, keinen Ausweg als den des Freitods sieht. Da dürfte eine der vermuteten Quellen für das Libretto, in dem Halka von Visionen heimgesucht wird, von vornherein als gefährdet erscheint, sich manifestieren (2CD DHM 19439900842). Ingrid Wanja