Festivals 2025

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Auch in diesem Jahr sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. Eine Auflistung alle Festival-Beiträge finden sie hier.

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Pacinis Amazilia bei Festival Il Belcanto Ritrovato im italienischen Fano (Apulien): Vor fast genau zweihundert Jahren, am 6. Juli 1825, wurde Giovanni Pacinis Oper Amazilia im Teatro San Carlo in Neapel mit einer wirklich bemerkenswerten Besetzung aufgeführt.

Nun, am 23. August 2025, wurde die Oper im Rahmen des jährlichen Festivals Il Bel Canto Ritrovato (IBR) im Teatro della Fortuna in Fano, Italien, zum ersten Mal in einer vollständigen modernen Aufführung wiederbelebt. Das IBR möchte das umfangreiche Erbe der italienischen Oper erkunden, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, einer Zeit, in der selbst das kleinste Dorf auf der italienischen Halbinsel wahrscheinlich ein Opernhaus hatte und das Operngeschäft seinen größten und intensivsten Höhepunkt erreichte.

Amazilia mit einem Libretto von Giovanni Schmidt, hat eine interessante und verworrene Geschichte, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe(dazu auch die beiden Artikel in operalounge.de, s. am Ende), und lag Pacini offensichtlich sehr am Herzen Pacini sehr am Herzen, da sie während der Flitterwochen des Komponisten mit seiner ersten Frau geschrieben wurde und er sein zweites Kind nach der Heldin benannte. Pacini, der während seiner langen Karriere fast 80 Opern schrieb, war 29 Jahre alt, als er Amazilia komponierte; es war seine 28. Oper.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Die beeindruckende Besetzung der Oper bei ihrer Uraufführung 1825 in Neapel im Rahmen der Geburtstags-Feierlichkeiten für die bourbonische Königin Maria Isabella umfasste den Tenor Giovanni David als Zadir, den Bass Luigi Lablache als Cabana und die Sopranistin Joséphine Fodor-Mainvielle als Amazilla selbst. Ihre Virtuosität macht eine Wiederaufführung der Oper heute schwierig, da nicht viele Sänger die Musik, die Pacini dem Original-Cast zu singen gab, bewältigen können.

Ursprünglich ein Einakter, wurde die Oper 1827 in Wien in einem erweiterten Format mit einer neu komponierten Ouvertüre und zwei neuen Gesangsnummern präsentiert und in zwei Akte unterteilt. Es war diese Fassung, die in Fano vom Bel Canto Ritrovato in einer neuen kritischen Ausgabe von Gianmarco Rossi aufgeführt wurde.

Die einfache Story, die in Florida spielt, handelt von der Rivalität zweier Stammesführer, Cabana und Zadir, um die Hand von Amazilia, einer indianischen Jungfrau, die zum Stamm von Cabana gehört. Die spanischen Konquistadoren schweben im Hintergrund und sorgen für einen Deus ex machina, um die Rivalität beizulegen und ein glückliches Ende herbeizuführen, nachdem Zadir einen Kampf gegen Cabana verloren hat und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll.

Da das Werk für die Geburtstagsfeier einer Königin mit spanischer Abstammung geschrieben wurde, diente das Lob der spanischen Weisheit und Friedensstiftung unter den Konquistadoren, so ungerechtfertigt es auch war, als nicht allzu subtile Art, der Königin ein Kompliment zu machen, und auch als Möglichkeit, die Geschichte an der berüchtigten neapolitanischen Zensur vorbeizuschmuggeln, die Monate zuvor ein ähnlich benanntes Pastiche verboten hatte

.In vielerlei Hinsicht ist Pacini der faszinierendste der weniger bekannten Opernkomponisten im Italien des 19. Jahrhunderts, weil er zu seiner Zeit so beliebt war und weil er so viel geschrieben hat; bei Pacini gibt es eine Menge Musik für Musikwissenschaftler und Opernhäuser zu entdecken, die mutig genug sind, etwas anderes zu versuchen, als immer wieder dieselben wenigen Titel zu recyceln. Die Musik von Amazilia bietet viele wunderbare Momente, und selbst manche eher formelhaften Passagen sind melodiös.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Konzertausschnitt/Foto Luigi Angelucci

Man könnte mit der völlig unbekannten Sinfonia beginnen, die Pacini für Wien schrieb, weil die Wiener erwarteten, dass eine Oper eine vollständige, formelle Ouvertüre haben sollte. (Donizetti musste derselben Tradition folgen.) Die Sinfonia in diesem Fall ist absichtlich rau und laut und voller Kesselpauken, vielleicht als Vorahnung der Welt der Indianerstämme, deren Konflikte die Grundlage der Geschichte bilden, aber sie ist gut aufgebaut und zweifellos eine Verbeugung vor dem symphonischen, „germanischen” Musikgeschmack der Österreicher. Einige der langsamen Stücke sind ebenfalls bestens komponiert und einprägsam, wie zum Beispiel Zadies eröffnende Cavatina „Come mai calmar le pene” und Amazilias wunderschöne „Ah! Non fia mai ver”.

Pacini wurde wegen seiner Kreativität und seiner Gewandtheit in dieser Form als „Maestro delle Cabalette” bekannt, und die Cabaletten in Amazilia sind immer eingängig und interessant aufgebaut, angefangen mit Cabanas „Paventi il perfido”. Zadirs „Io ti vidi, t’adorai” war so beliebt, dass Mauro Giuliani ein Thema und Variationen für Gitarre darauf komponierte. Und während wir Cabaletten normalerweise als schnelle Stücke betrachten, die im Kontrast zu den langsamen Cantabiles einer Cavatina oder einer Arie stehen, war Pacini seinen Komponistenkollegen um Jahre voraus,  als er die doppelt so schnelle Cabaletta „Parmi vederlo” schrieb, ein Jahrzehnt, bevor Donizetti eine langsame Cabaletta für das Finale  seiner Lucrezia Borgia komponierte. „Parmi vederlo” beginnt mit einem traurigen Adagio, gefolgt von einer teuflisch schwierigen schnellen Koloratur, die Amazillas Qualen wirkungsvoll zum Ausdruck bringt, als sie glaubt, dass Zadir auf den Scheiterhaufen kommen wird „Parmi vederlo” war so beliebt (und ungewöhnlich), dass es Sopranistinnen wie Giuditta Pasta und Giulia Grisi als „Aria di baule” diente, die es in verschiedene Opern einfügten, in denen sie auftraten. Selbst in unserer Zeit hat Beverly Sills es in ihre Aufführungen von Rossinis Assedio di Corinto aufgenommen; es ist in der kommerziellen Sills-Aufnahme der Oper erhalten geblieben, aber Pacini wird als Urheber nicht genannt…

In Amazilia gibt es keine großartigen Ensembles, wie sie Rossini in den 1810er und 1820er Jahren schrieb, aber das Trio für die drei Hauptdarsteller, das in der Zwei-Akt-Fassung als Finale des ersten Aktes dient, ist spannend und angemessen klimatisch. Das kleine finaletto, das die Oper beendet, ist jedoch etwas enttäuschend, ebenso wie das gesamte lieto fine mit seinem absurden Lob der spanischen Konquistadoren. Tatsächlich kann sich Amazilia nie ganz von ihrem ursprünglichen Zweck als Geburtstagsgeschenk für Königin Maria Isabella lösen. Am Ende hat man das Gefühl, dass der Komponist und sein Librettist eine willkürliche Frist für ihr Werk erreicht hatten und das Drama schnell beendeten, damit die Königsfamilie weiter essen und trinken konnte, wodurch die Oper ziemlich unerwartet und abrupt endet.

.Das IBR versammelte eine Gruppe talentierter junger Sänger für ihre einzige Aufführung. Amazilia selbst wurde von Paola Leoci gesungen, die sich durch ihre technische Meisterschaft und ihr engagiertes Einbringen in die Rolle auszeichnete. Leoci hatte gerade die weibliche Hauptrolle der Fanni in La cambiale di matrimonio beim Rossini-Festival gesungen. Sie passte die Soubretten-Stimme, die sie für Fanni in der leichten Komödie verwendet hatte, erfolgreich an die dramatischeren Anforderungen und die größere Beweglichkeit an, die für Amazilia erforderlich waren. Ihre atemberaubende Darbietung der teuflisch schwierigen Koloratur in „Parmi vederlo” konnte sich durchaus mit der von Sills aufgenommenen Version messen – und diesmal wussten wir, dass sie von Pacini stammte.

Pacinis „Amazilia“ bei Festival Il Belcanto Ritrovato 2025 in Fano/Schluss-Applaus/Foto Luigi Angelucci

Wenn die Rolle der Amazilia für jede Sängerin eine Herausforderung darstellt, dann ist die Tenorrolle des Zadir, die für Giovanni David geschrieben wurde, vielleicht noch schwieriger. Das IBR gab uns Manuel Amati, der die extrem hohen Töne sang und die schwierige Koloratur meisterte, für die David berühmt war, obwohl Amati eine eher kleine Stimme besitzt. Bass Giorgio Caoduro vervollständigte das Trio der Hauptdarsteller als Cabana. Auch seine Rolle ist extrem schwierig; der ursprüngliche Cabana, Luigi Lablache, war der berühmteste Bass in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Caoduro begann etwas zögerlich, da er sofort mit einer großen Arie mit einer technisch anspruchsvollen Cabaletta konfrontiert war, wurde aber im Laufe der Aufführung immer stärker und sicherer; er war sehr gut in seinem „Wiener” Duett mit Amazilia, „Tu sprezzar gli affetti miei”. Die Nebenrollen wurden von Mariano Orozco (Orozimbo), Naomi Umani (Mila) und Michele Albiati (Alvaro) wahrgenommen. Das Orchestra Sinfonica G. Rossini und der Chor des Teatro della Fortuna in Fano wurden von Enrico Lombardi geleitet. Lombardi hauchte Pacinis vergessener Musik neues Leben ein und zeigte uns einen Komponisten, der trotz seines Rufs, es mangele ihm an „Wissenschaft”, es verstand, interessante Orchesterwerke zu schreiben.

.Die Inszenierung war leicht halbszenisch, d. h. sie war mehr als ein reines Konzert mit Sängern, die vorne auf der Bühne standen, aber weniger als eine szenische Aufführung ohne Kulissen und Kostüme. Tomasso Casadei sorgte für passende Hintergrundprojektionen der im Libretto beschriebenen Schauplätze, darunter Floridas „bergiges” Gelände, eine Beschreibung, die jeden, der schon einmal in Florida war, zum Schmunzeln bringen dürfte.

Festival Il Belcanto Ritrovato in Fano: Die Macher mit Hausherrn/Intendanten Rudolf Colm in der Mitte/Foto Luigi Angelucci

Es ist unwahrscheinlich, dass Amazilia jemals außerhalb eines Festivals aufgeführt wird, da es sich um ein Geburtstagsgeschenk für einen längst vergessenen Monarchen handelt, das Werk ein abruptes Ende hat und es schwierig ist, Sänger zu finden, die die Musik singen können. Dennoch enthält es viele musikalische Juwelen, und die Aufführung trug dazu bei, unser Verständnis für einen Komponisten zu vertiefen, der zu lange im Schatten stand. Chronologisch gesehen liegt die Oper in Pacinis Karriere zwischen Alessandro nelle Indie (die in Neapel häufiger aufgeführt wurde als alle Opern, die Rossini für diese Stadt schrieb) und seinem L’ultimo giorno di Pompei, einem noch größeren Erfolg. Als solche ist sie Teil eines Trios, das den ersten Teil von Pacinis sehr fruchtbarer Karriere krönt.

Die Aufführung wurde von Bongiovanni aufgezeichnet und soll in etwa einem Jahr erscheinen. Zum ersten Mal hat das IBR eine kritische Ausgabe seiner Hauptoper herausgebracht, die in diesem Fall von dem hervorragenden jungen Musikwissenschaftler Gianmarco Rossi erstellt wurde – ein wirklicher Beitrag zur Musikwissenschaft.

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Das IBR-Festival bestand nicht nur aus Amazilia. Es gab zahlreiche Konzerte und Vorträge rund um Pacini, aber die Konzerte umfassten auch faszinierende Musik von anderen Komponisten, die heute noch unbekannter sind als Pacini. Es gab ein Konzert mit Orchesterauszügen aus Opern, die an der Scala uraufgeführt wurden, aber von sizilianischen Komponisten geschrieben worden waren; mehrere davon waren Werke von PaciniIl barone di Dolsheim (1818), La vestale (1823) und I cavalieri di Valenza (1828). Giulias Arie mit Harfe „Io son rea, né imploro” aus La Vestale war äußerst schön, die beste von allen.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Nicola Vaccai (* 15. März 1790 in Tolentino bei Ancona; † 5. August 1848 in Pesaro) war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Aber es gab auch Stücke aus Mario Aspas I due Savoiardi (1838), Pietro Coppolas La festa della Rosa (1836) und Placido Mandanicis Il Buontempone di Porta Ticinese (1841). Coppola ist ein Komponist, der viel mehr Beachtung verdient; ein weiteres seiner Werke, Nina pazza per amore, war ein großer internationaler Erfolg und zu seiner Zeit ein größerer Kassenschlager als jede Oper von Rossini, während Mandanicis unwiderstehlicher Il Buontempone voller mitreißender Musik ist und Mailand auf einzigartige Weise feiert, so wie viele andere Opern untrennbar mit Rom, Venedig oder Neapel verbunden sind. Dieses Konzert wurde gekonnt begleitet vom Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman. Agiman war so begeistert von dem Trio aus Il Buontempone di Porta Ticinese, mit dem das Konzert endete, dass er selbst eine Zugabe (Encore) des gesamten Stücks forderte, noch bevor das Publikum dies tun konnte, und die drei talentierten Sänger der La Scala Accademia (Fan Zhou, Aldo Sartori und Sung Hwan Park) sangen es erneut. Das Publikum war begeistert.

Festival Il Belcanto Ritrovato 2025: Pietro Antonio Coppola (* 11. Dezember 1793 in Castrogiovanni; † 13. November 1877 in Catania)war einer der aufgeführten Komponisten/Wikipedia

Ein Open-Air-Konzert im Innenhof mit Blick auf das Haus von Nicola Vaccai feierte Werke von vier Komponisten aus Pesaro – natürlich Rossini, aber auch Vaccai und die fast völlig unbekannten Gioacchino Albertini und Vincenzo Federici. Weitere Werke von Pacini waren in einem Konzert zu hören, das seine Opern mit Passagen aus seinen künstlerischen Memoiren verband. Mit anderen Worten: Das IBR bot uns ein reichhaltiges Programm seines Hauptkomponisten Pacini, aber auch Kostproben anderer einst beliebter Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in Vergessenheit geraten sind, und erfüllte damit seine Mission, dieses reiche Erbe für das Vergnügen des heutigen Publikums zu erschließen. Das IBR, das nun bereits im vierten Jahr erfolgreich stattfindet, ist auch für den erfahrensten Opernliebhaber wieder eine lehrreiche Erfahrung. CDs mit den Werken des letzten Jahres, Luigi Rossis La casa disabitata und einem Konzert mit Auszügen von Vaccai, sind jetzt beim Label Bongiovanni erhältlich.

Abgesehen von der Figur in der Oper (und dem Namen von Pacinis Tochter) ist „Amazilia” der Name einer Kolibri-Gattung, die denselben Namensstamm hat wie die Heldin der Oper. Das IBR trägt mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen und künstlerischen Initiativen dazu bei, dass diese seltenen und farbenprächtigen Geschöpfe wieder fliegen können. Charles Jernigan/DeepL/G.H.

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Dazu auch bei operlounge.de: Pacinis Kinder sowie Die vergessene Oper: Pacinis Amazilia

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Salzburger Festspiele 2025: Counter-Gipfel. Noch nie gab es im Salzburger Festspielsommer eine derart hohe Beteiligung von Counter/Falsetisten wie in diesem Jahr. Schon in der Eröffnungsproduktion mit einem Barockwerk – Händels Giulio Cesare in Egitto -, mit dem der russische Regisseur Dmitri Tscherniakov sein Debüt in Salzburg gab, waren vier Vertreter dieser Stimmgattung besetzt. Ohne Zweifel führte sie der Franzose Christophe Dumaux als Titelheld an. Viele Jahre war er auf die Partie des Tolomeo abonniert, die er weltweit und bei allen großen internationalen Festivals gesungen hat. Für die Interpretation der Titelrolle hat er sich viel Zeit gelassen – mit dem Ergebnis einer bewundernswerten Vollkommenheit. Schon der Auftritt mit „Presti omai l´egizia terra“ war in seiner energischen Attacke fulminant, ähnlich rasant das Solo „Empio, dirò, tu sei“. Dazu kontrastierte das lieblich intonierte „Se in fiorito ameno prato“ mit imitierten Vogelstimmen zauberhaft und geradezu magische Wirkung hatte „Aure, deh, per pietà“ mit berückend schwebenden Tönen.

Ihm fast ebenbürtig der ukrainische Sänger Yuriy Minenko als Tolomeo, auch er eine Größe im internationalen Barock-Geschehen. Der Regisseur zeichnet ihn als fiesen, effeminierten Schurken und lässt ihn sein Entrée „L´ empio, sleale“ mit hysterischer Aggressivität vortragen. Aber Minenko kann später auch die Schönheit seines Timbres zeigen und mit einer kunstvollen Kadenz imponieren.

Salzburger Festspiele 2025: „Giulio Cesare“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Ein relativ neuer Name ist der italienische Sopranist  Federico Fiorio, der aber bereits an der Mailänder Scala aufgetreten ist und bei den jüngsten Festspielen Potsdam Sanssouci in Galuppis Didone abbandonata beeindruckte. Mir war sein Sesto bei aller zur Schau gestellten Virtuosität zu kindlich im Klang, ungeachtet der Tatsache, dass die Rolle einen Sänger mit jugendlicher Stimme verlangt. Wie alle Figuren in diesem unterirdischen Gefängnis ist auch er traumatisiert, allein die flatternden Hände bei „Svegliatevi nel core“ zeigen seinen pathologischen Zustand an. Später wird er eine Art Veitstanz aufführen und völlig die Kontrolle über seine Aktionen verlieren, was der Interpret mit bewundernswertem körperlichem Einsatz zeigt. Vierter Counter war der junge Amerikaner Jake Ingbar als Nireno mit auffallend klangvoller Stimme.

Gefeiert wurde Olga Kulchynska für ihre Cleopatra, mit der sie ein beachtliches Salzburg-Debüt gab. Optisch als billige Nutte eher abstoßend, gelang es ihr doch, die Gefühle für Cesare und ihre Ängste um sein Leben glaubhaft zu vermitteln. Die makellose Technik erlaubte ihr einen bravourösen Vortrag der fordernden Arien und auch die lyrischen Passagen gelangen ihr vortrefflich. Zwitschernd klang „Non disperar“, verführerisch „V´adoro, pupille“, tragisch umflort „Piangerò“ und gebührend bravourös „Da tempeste“. Einzig das recht anonyme Timbre versagt die Einordnung der Stimme in eine von Weltrang.

Gespalten. waren die Meinungen über die französische Mezzosopranistin Lucile Richardot als Cornelia. Ihre Stimme mit maskulinem, extrem gutturalem Klang verfärbte sie bis zur Hässlichkeit. Die Ausbrüche bis zum veristischen Schrei verfehlten zuweilen nicht ihre Wirkung, waren aber kaum noch in die Kategorie Gesang einzuordnen. Echte männlich-tiefe Töne brachten der moldawische Bariton Andrey Zhilikhovsky als Achilla und Robert Raso vom Young Singers Project als Curio ein. Ersterer trumpfte bei „Tu sei il cor“ mit energischer, ausladender Stimme auf, während Raso die Rezitative resolut formulierte.

Das zentrale Thema des diesjährigen Festspielprogramms, Machtkampf und Krieg, war deprimierend, doch angesichts der aktuellen Weltlage nachvollziehbar. Und natürlich war es auch in dieser Eröffnungsproduktion präsent. Wie stets fungierte Tcherniakov als sein eigener Bühnenbildner und hatte im Haus für Mozart einen unterirdischen Bunker auf die Bühne gestellt, in welchen die Protagonisten geflüchtet waren und dort in klaustrophobischer Enge eingepfercht sind. Ihre Machtkämpfe setzen sie dennoch fort. Der Einheitsschauplatz evozierte eine szenische Eintönigkeit. Elena Zaytsevsas moderne Kostüme bewegten sich im sattsam bekannten Spektrum von Business-Anzügen, Lederjacken, Hoodies und einem pinkfarbenen Girly-Outfit für Cleopatra mit Felljacke und langer Perücke. Befremdlich waren einige Ideen des Regisseurs, wie Tolomeos versuchte Vergewaltigung der Cornelia, die sich ihm angeekelt entzieht, aber darauf ihren eigenen Sohn Sesto sexuell bedrängt und damit eine inzestuöse Neigung offenbart. Auch die permanente Korrektur ihres Make-up´s während der Trauergesänge um den ermordeten Gatten schien unpassend. An Komik grenzten der schier endlos verblutende Achilla und Sesto, der am Ende den Verstand verliert und in einen Wahnsinnstanz verfällt. Vorhersehbar, dass Tschernjakov auch dem lieto fine nicht traute. Alle singen von Freude und Lust, doch eine ohrenbetäubende Explosion zeigt unmissverständlich an, dass die Wirklichkeit eine andere Sprache spricht.

Mit alarmierendem Sirenengeheul begann die Aufführung auch akustisch verstörend. Aber dann setzte die Musik ein, welche Emmanuelle Haim mit ihrem Concert d´Astrée in aggressiver Härte und schonungsloser Dramatik erklingen ließ. Da waren die weichen Streichertöne, die ziselierten Gambenakkorde und feinen Bläserpassagen der Bühnenmusik ein wunderbarer Kontrast zu den fiebrigen, harsch pulsierenden Passagen. Aus dem Orchestergraben sang der Bachchor Salzburg (Einstudierung: Michael Schneider) und sorgte gleichermaßen für dramatische Effekte (wie im Schlachtruf „Mora Cesare, mora“) und versöhnliche Harmonie (wie im Finale „Ritorni omai nel nostro core“) – wenn dies auch von der Regie nicht bedient wurde. Aber musikalisch war diese Festspieleröffnung verheißungsvoll (14. 8. 2025).

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Salzburger Festspiele 2025: „Drei Schwestern“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Die Besetzungsliste einer weiteren Neuproduktion, Peter Eötvös´ Oper Tri Sestri (Drei Schwestern) (Uraufführung am 13. März 1998 in der Opéra de Lyon) wies gleichfalls vier Counter auf, dazu als komischen Verfremdungseffekt den orgelnden polnischen Bass Aleksander Teliga in einer Travestie-Rolle – der Amme Anfisa. Das Trio der drei hohen Männerstimmen in den Titelrollen sorgte in Salzburg für eine Sensation. Der Sopranist Dennis Orellana als Irina sowie die Counter Cameron Shabazi als Mascha und Aryeh Nussbaum Cohen als Olga hatten den Abend schon im Prolog für sich entschieden, wo sie in schlichten weißen Kleidern (Kostüme: Emma Ryott) an ihr bisheriges Leben erinnern und von einem Neuanfang träumen. Wunderbar vereinten  sich die drei Stimmen zu einem harmonischen Zusammenklang, getragen von der sphärischen Musik des ungarischen Komponisten, die 1998 uraufgeführt wurde. Der französische Dirigent Maxime Pascal breitete sie mit dem Klangforum Wien atmosphärisch aus, gab auch ihren winselnden, lärmenden Passagen gebührenden Raum. Alphonse Cemin leitete ein unsichtbares Orchester hinter der Bühne.

An Tschechows Schauspiel Drei Schwestern mit seinen intimen Kammerspiel-Szenen, mit seiner Bühne voller Birken darf man bei der Vertonung und bei der Inszenierung von Evgeny Titov nicht denken. Sie fügt sich ganz ein in das aktuelle Thema der Festspiele, zeigt eine apokalyptische Trümmerlandschaft aus geborstenem Beton und zerstörten Eisenbahnschienen im Nebel (Bühne: Rufus Didwiszus). Die Akteure müssen über riesige Gesteinsbrocken balancieren, wobei der vierte Counter, Kangmin Justin Kim in der Rolle der hysterischen und extravagant gewandeten Natascha, Andrejs Frau, dem Bruder der Schwestern, durch seine geradezu artistische Gewandtheit besonderes Aufsehen erregte. Die Hoffnung, welche Eötvös´ Musik auch innewohnt, atmet die Szenerie nicht. Der Krieg ist allgegenwärtig, wenn Soldaten mit den Utensilien des Kriegers die Bühne stürmen und Brände aufflammen. Die zugemauerten Arkaden der Felsenreitschule suggerieren zudem eine bedrückende Eingeschlossenheit.

Im Unterschied zum Schauspiel haben der Komponist und sein Librettist Claus H. Henneberg die Oper in drei Sequenzen aufgeteilt, in denen Irina, Mascha und Andrej aus ihren individuellen Blickwinkeln erzählen. Den Anfang macht Irina, die jüngste der Schwestern, der die Oboe zugeordnet ist und die von Baron Tusenbach (Mikolaj Trabka mit obertonreichem Bariton) geliebt wird. Orellana verlieh ihr einen feinen, träumerischen Sopranklang. Auch der Stabshauptmann Soljony (Anthony Robin Schneider mit sonorem Bass) liebt Irina, was zum Duell mit dem Baron führt, in dem dieser sein Leben verliert.

Die zweite Sequenz ist Andrej vorbehalten, der sich in Selbstvorwürfen quält. Seine Frau Natascha hat ein Verhältnis mit Protopopow (Henry Diaz), was der Choreograf Otto Pichler in einer Liebesszene pantomimisch umgesetzt hat. Der südafrikanischer Bariton Jacques Imbrallo zeigt sich als Andrej schonungslos nackt, so die Sinnlosigkeit seiner Existenz darstellend. Die Sequenz III ist Mascha vorbehalten, der die Klarinette gehört und die von dem Batteriekommandanten Werschinin (Ivan Ludlow mit potentem Bariton und starker Aura ) fasziniert ist. Der Abschied von ihm wegen seiner privaten Probleme ist für Mascha schmerzlich. Shahbazi bestach durch seine elegante, attraktive Erscheinung und die sinnliche, dunkel timbrierte Stimme. Der Bass Andrei Valentiy gab Maschas Ehemann Kulygin als skurrile Figur. An Irinas Namenstag erscheint er mit roter Clownsnase und langen Eselsohren, um ihr ein Geschenk zu machen. Valentiy formte daraus ein Kabinettstück und imponierte darüber hinaus mit seiner prachtvoll sonoren Stimme. Der dritten Schwester, Olga, ist keine Sequenz gewidmet, wohl aber ein Instrument – die Flöte.

Zwei Zeichen der Hoffnung setzte der Regisseur am Ende dennoch gegen Tristesse, Verzweiflung und Apokalypse.  Irina malt auf eine weiße Mauer mit Kohle einen Tunnel als möglichen Ausweg und  das Alte Mütterchen (Eva Christine Just) steigt aus ihrem Krankenbett, um von der vierstöckigen Schokoladentorte zu kosten. Selten gab es für eine zeitgenössische Oper solch euphorischen Jubel wie in der Felsenreitschule am 12. 8. 2025.

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Salzburger Festspiele 2025: „Maria Stuarda“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Für die Vielseitigkeit des diesjährigen Festspielprogramms stand auch die Inszenierung von Donizettis Maria Stuarda. Die 1835 uraufgeführte Tragedia lirica zeigte Regisseur Ulrich Rasche im Großen Festspielhaus als Machtkampf der beiden Königinnen Elisabetta und Maria. Jeder ist ein eigenes Reich zugeordnet, welches sie nie verlassen und auch in ihrem Duett die Trennung beibehalten werden. Rasche als sein eigener Bühnenbildner hat dafür zwei riesige drehbare Scheiben installiert, die auch kippen können und von unten illuminiert werden. Von oben senkt sich eine dritte Scheibe herab, welche als Leuchtkörper dient und zudem für die Projektion von Filmaufnahmen der Titelheldin (Video: Florian Hetz) genutzt wird. Umgeben werden die beiden Herrscherinnen von ihren Höflingen (Tänzer der Salzburg Experimental Academy), die sich in der Choreografie von Paul Blackman bewegen – zumeist gegen die Drehrichtung der Scheibe – oder im Gleichschritt marschieren, gegen Ende halbnackt und zunehmend gekrümmt erscheinen. Auch die beiden Regentinnen sind in ständiger Bewegung, um sich gegen die Drehung der Scheiben zu behaupten. Irgendwann ähnelt Elisabetta in ihrer gebeugten, gebrechlichen Haltung, sich mühsam vorwärts schleppend, gar einer Mutter Courage. Kate Lindsey, in Salzburg ein häufig gesehener Gast, gab sie mit strengem, stark gutturalem Mezzo, dem gelegentlich ein heulendem  Beiklang eigen war. In der Erscheinung imponierte die herrscherliche, stolze, hochmütige Aura, im Ausdruck ihre Energie und Entschlossenheit. Von Sara Schwartz zumeist in Schwarz gekleidet, ist sie ein starker Kontrast zu Maria ganz in Weiß. Lisette Oropesa, kürzlich bei ihrem Rollendebüt am Teatro Real in Madrid gefeiert, war eine empfindsame schottische Königin mit weichem, lyrischem Koloratursopran. Die Auftrittskavatine „Guarda: su´ prati appare“ besaß Süße und Leuchtkraft, die Cabaletta „O nube“ Verve und strahlende Spitzentöne. Tief empfunden war ihre Preghiera vor dem Tod auf dem Schafott, bei der sie in einem transparenten hautfarbenen Hosenanzug aus glitzerndem Stoff auftreten muss – ein absurder Einfall der Kostümbildnerin. Auch Antonello Manacordas forsche Leitung der Wiener Philharmoniker wurde gelegentlich zum Problem, wenn das auftrumpfende Orchester den Sängerinnen alle Reserven abverlangte. Mit seinem robusten Latino-Tenor hatte Bekhzod Davronov als Roberto keine Mühe, sich gegen die Wiener Musiker durchzusetzen. Zur Optik als jugendlicher Beau korrespondierten seine strahlenden Spitzentöne und die Italianità seines Vortrags. Der russische Bass Aleksei Kulagin gab den Talbot mit ausladender, körniger Stimme, Thomas Lehman den Cecil mit solidem Bariton. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Alan Woodbridge) sang aus dem Off, was gelegentlich zu Koordinationsproblemen mit dem Orchester führte. Das Publikum am 11. 8. 2025, mit der Interpretation von Belcanto-Opern in Salzburg nicht eben verwöhnt, feierte die Sänger ausnahmslos euphorisch.

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Salzburger Festspiele 2025: „Hotel Metamorphosis“/Szene/Foto Monika Rittrershaus/SF

Traditionell wurde eine Produktion von den Pfingstfestspielen Salzburg in das Sommerprogramm übernommen – in diesem Jahr Barrie Koskys schon im Juni gefeiertes Vivaldi-Pasticcio Hotel Metamorphosis. Michael Levine hatte die Geschichte in einem Hotelzimmer mit Doppelbett und variierenden Gemälden verortet, welche mythologische Szenen zeigen: Pygmalion und seine Statue, Arachne und Minerva, Myrrha, Echo und Narcissus, Orpheus und Eurydice. Die Geschichten stammen aus Ovids Metamorphosen, deren berühmteste die von Orpheus ist, den Angela Winkler im schwarzen Hosenanzug (Kostüme: Klaus Bruns) mit ihrer bekannt manierierten kindlichen Stimme sprach und dabei einige Konzentrationsprobleme offenbarte. Auch Pfingst-Prinzipalin Cecila Bartoli als Eurydice (im roten Kleid) und Arachne (im bunten Hosenanzug und Turban) brauchte eine Zeit, um ihre Form zu finden. Bei „Quell`augellin che canta“ aus La Silvia entzückte sie mit den imitierten, kichernden und gackernden Vogelstimmen, bei „Dite, oimè“ aus La fida ninfa beeindruckten der schmerzliche Ausdruck und die souveräne hohe Lage. Am Ende tritt sie noch einmal als Eurydice auf, nun im schwarzen Kleid, und imponierte mit langen Bögen bei „Sposa… son disprezzata“ aus Giacomellis Il Bajazet und „Gelido in ogni vena“ aus Il Farnace, bei dem die Stimme wie erfroren klirrte. Auch Philippe Jaroussky, ein Veteran in der Counter-Szene, offenbarte als Pygmalion und Narcissus stimmliche Defizite.  Überzeugend war aber der träumerische Klang in „Tu dormi in tante pene“ aus Tito Manlio.

Zum Star der Aufführung avancierte die französisch-italienische Mezzosopranistin Lea Desandre als Statua,  Myrrha und Echo. Als Myrrha brillierte sie mit der Bravour-Nummer „Agitata da due venti“ aus La Griselda (früher selbst ein Ganzstück der Bartoli), wozu das lyrisch gesponnene „Non ti lusinghi la crudeltade“ aus Tito Manlio ein schöner Kontrast war. Berührend auch die Arie „Sonno, se pur sei sonno“ aus dieser Oper, die Myrrha nach ihrer Verwandlung in einen Baum singt. Überwältigend schließlich Desandre als Echo mit der Arie „Zeffiretti che sussurrate“ aus Ercole sul Termodonte mit dem reizend imitierten Vogelzwitschern. Die Besetzung komplettierte die russisch-schweizerische Merzzosopranistin Nadezhda Karyazina als Minerva, Nutrice und Juno. Als Minerva begann sie mit wimmernder Fistelstimme, als Nutrice trumpfte sie mit „Nel ,profondo cieco mondo“ aus Orlando furioso energisch auf und als Juno berührte sie mit „Ho nel petto un cor si forte“ aus Il Giustino.

Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) hatte in mehreren Szenen Gelegenheit für klangvolle Auftritte („Dell´ aura al sussurrar“ aus Dorilla in Tempe oder mit dem finalen  „Sileant zephyri“).

Optisch wurde die Aufführung entscheidend geprägt von Otto Pichlers choreografierten Tanzszenen, die an seine Arbeiten in den Musicals an der Berliner Komischen Oper erinnerten. Vor allem zu Beginn des 2. Aktes mussten die Tänzer in bunten Röckchen und mit Blütenkränzen im Haar zur Sinfonia aus Dorilla in Tempe hopsen und kreischen. Im Finale sorgten sie beim Concerto grosso auf das „La Follia“-Thema von Geminiani immerhin für eine strengere Form. Exzellent war das orchestrale Niveau, das Gianluca Capuano mit Les Musiciens du Prince – Monaco bot. Ein reiches Farbspektrum schloss flirrende, harsche und klirrende Töne ein. Zu hören waren zärtliche, sinnliche und dramatisch explosive Momente, welche das Seelenleben der Protagonisten plastisch widerspiegelten. Das Publikum im Haus für Mozart am 13. 8. 2025 feierte die Interpreten anhaltend. Bernd Hoppe

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Quietschekuh und Rumpelkammer: Bayreuther Festspiele 2025 –  Die Meistersinger von Nürnberg unter Daniele Gatti und Tristan und Isolde unter Semyon Bychkov. Die rot-grün-bunte aufblasbare Kuh, deren durchgebogener Rücken und das nach oben gestreckter Euter die Nürnberger Festwiese überspannen, schwebt unantastbar über Jubel und Frohsinn, Schunkelei und Gruppentanz. Zwar hatte Beckmesser ihr kurzfristig die Luft rausgelassen, was zum Abbruch der Fröhlichkeit geführt hätte, doch Allkümmerer Sachs erkennt rechtzeitig die Notlage und verbindet Stecker und Kabel wieder. Das wäre auch zu schade gewesen. Das Bild wird in Erinnerung bleiben: eine Festwiese in quietschbunter 70er Jahre Optik als Mischung aus Volksfest und Vereinsabend, Musikantenstadl, Schlagerparade, Bauerntheater und Faschingssitzung mit zwei Merkel-Doubles, blond geschneckerlte Schlagerfuzzis, viel Volk in zünftigen Lederhosen und Dirndln. Und ganz viele Zipfelmützen, die an diesem Abend nie fehlen, als rote Vorgartenzwergmützen, fahle Narren- oder verzierte Faschingskappen.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Wie als Warnung wurde Regisseur Matthias Davids als Musicalregisseur angekündigt. Tatsächlich hat er seit 30 Jahren landauf landab an unterschiedlichsten Häusern gelegentlich Opern und Operetten, doch vor allem Musicals inszeniert. Und ich erinnere mich auch mal Gershwins Crazy for you von ihm gesehen zu haben. Gelernt hat er daraus ein Gefühl für Timing, die Mischung aus sentimentalen und leidenschaftlichen, aus kleinen und großen Szenen. Langweilig darf es nie sein. Das alles passt zu den Meistersingern, die Davids bewusst als Gegenentwurf zu Barrie Koskys und Katherina Wagners Geschichtsstunden und der jahrzehntelange Öde bei Wolfgang Wagners als – und das will bei den Längen der Schusterstube etwas bedeuten – nie langweiliges komödiantisches Entertainment bringt. Das war vielen zu leicht, zu heiter, zu oberflächlich. „Das Ganze war halt eine Farce und weiter nichts“, würde die lebenskluge Marschallin aus der anderen großen deutschen Musikkomödie sagen, die die Gefühlslage der Beteiligten erkannt hat. Oberflächlich ist Davids nie. Und die Bilder von Andrew Edwards bleiben in Erinnerung. Die sehr schmalen und sehr hohen, umsichtig mit einem Warnhinweis versehenen Stufen, die zu einem Kirchlein führen, aus dem anfangs die Kirchgänger strömen, angetan entweder in Trachten der Dürer- und Wagner-Zeit oder gar im modetrendigen Männerwickelrock. Auf der Fläche daneben treffen sich Eva und Stolzing erstmals. Er hat ein Herzchen aus Papierfliegern auf den Boden gelegt und flattert mit zwei Papierflügeln wie ein verliebter Teenager-Engel. Anschließend schwenkt die Handlung in das Innere eines Versammlungsraums. Im zweien Akt dann die bunt illuminierte, mittelalterliche Gasse mit den wie im Erzgebirge gedrechselten Häusern von Sachs und Pogner, samt Bäumchen von der Märklin-Eisenbahn und einer zum Bücherschrank umfunktionierten Telefonzelle. Am Ende des Aktes bricht ein Pandämonium aus, die Bäume scheinen sich zu biegen, die Häuser rücken auseinander, die Dächer heben sich, eine wütende Prügelei beginnt, die zwischenzeitlich zwischen den Hauptbeteiligten im Boxring geführt wird. Und schließlich diese Festwiese, die aus der krähwinkelschen Enge in die Weitläufigkeit der gegenwärtigen Unterhaltungsbranche führt. Ähnlich bunt – und stillos würde manch einer meinen – hat Susanne Hubrich die Kostüme zusammengesucht als habe ganz Nürnberg im Second-Hand-Laden gewühlt, doch auch mit viel Sinn für aparte Kombinationen und Details bis hin zu dem Harlekins-Wams und den roten Socken des Sachs und seinen guten Maßschuhen, die er im dritten Akt trägt, oder den wechselnden Outfits des Beckmesser. Davids hat die Figuren eindringlich gezeichnet. Herrscht anfangs noch ein gestelzter Vorzeigeton mit demonstrativen und jedes Wort untermalenden Gesten, so gewinnen die Figuren langsam an Leben und Individualität, vor allem Stolzing und Eva wirken wie Zeitgenossen. Eva wird am Ende zur treibenden Kraft, schält sich aus der Festwiesendeko, in der sie wie ein aufgerüschter Hauptgewinn vorgeführt wird, verabschiedet sich von der Amme, gibt dem Vater die Preiskette, ergreift ihren Junker, der nach seiner Ablehnung der Meisterwürde von Sachs ausgiebig belehrt wurde und nun etwas hilflos herumsteht, und flieht ihm aus dem Treiben.

Bayreuth 2025: „Die Meistersinger von Nürnberg“/Szene/©Enrico Nawrath press

Auch Sachs selbst hat neben allen besserwisserischen Lehrer-Lämpel-Zügen grüblerisch selbstquälerische und durchaus selbstironische Momente. Wie Georg Zeppenfeld diese Entwicklung darstellerisch zeigt, ist großartig. Nicht weniger bewundernswert die, man muss schon sagen, vokale Bravour, mit der er trotz des etwas sehr beiläufigen Flieder-Monologs die Partie trägt und bis zu den Schlusssequenzen mit seinem klaren, hohen Bass und auch in der vierten Aufführung nie nachlassender Kraft (11. August) meisterlich durchleuchtet, auch wenn man sich eine opulentere, profundere Stimme vorstellen könnte. Zeppenfeld führt eine großartige Besetzung an, die es in dieser fabelhaften Geschlossenheit auf dem Grünen Hügel auch nicht alle Jahrzehnte gibt. Sachsens Sparringpartner ist Beckmesser, mit dem er nach dem Schlussgesang die endlosen Diskussionen weiterführen wird. Michael Nagy ist darstellerisch ebenso großartig, wobei ich es interessanter gefunden hatte, wenn die Regie auf einige klamaukige Züge verzichtet hätte und den aparten Sänger mit seinem schönen Kavaliersbariton als echten Konkurrenten zum favorisierten Ritter aufgebaut hätte. Der Ritter ist ein Dutt tragender Teddy im blauen Anzug. Michael Spyres singt den Stolzing mit edelzartem, groß aufblühendem Ton, goldenen Timbre, in jeder Lage speziellem Klang und endlosem Atem, schön phrasiert und textdeutlich und einer heldenhaften Leichtigkeit, wie wenn er nach „Parnass und Paradies“ noch Rossinis Koloraturen versprühen könnte. Da ist alles zwingend erfasst. Nach dem sehr guten, doch keineswegs überrumpelnden Wagner-Debüt mit dem Lohengrin im Vorjahr in Straßburg hat Spyres mit Stolzing seine ideale Wagner-Partie gefunden. Im Frühjahr geht es an der Met mit dem Tristan weiter. Dort hat Christina Nilsson kürzlich die Aida gesungen. Mit kühl gestähltem, fast schon dramatischem Sopran ist die junge Schwedin eine auffallende Eva, die sich in den Szenen mit Sachs im zweiten und dritten Akt nicht unterbuttern lässt, die Pep hat und das Quintett mit ruhigem Strahl und sattem Klang anführt. Ausgezeichnet der bestechend artikulierende, in der Höhe etwas verunsicherte und mit einem großen Spieltenor singende Matthias Stier als David. Christa Mayers schuf mit der Magdalene eine pralle Figur, unter den allesamt individuell gezeichneten Meistern fielen Daniel Jenz als Balthasar Zorn, Matthew Newlin als kettenrauchender Ulrich Eisslinger, Patrick Zielke als Hans Foltz und Jordan Shanahan als gemütlicher Kothner auf. Ein schwarzer Fleck: der eigentlich schön, doch klein, völlig unidiomatisch und unverständlich klingende Pogner des Jongmin Park. Und Daniele Gatti? Ihm eilt die Regie zur Hilfe, lässt über den betulichen und langsamen Anfang hinweghören, bis sein ausziseliertes Musizieren und die Sicherheit, mit der er Orchester und den etwas kleiner als früher besetzten Chor führt und steigert, im dritten Akt an Überzeugungskraft gewinnt. Am Ende grenzenloser Jubel, einige Buhs für den Dirigenten.

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Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Rätselhaft, dunkel, raunend tags zuvor die zweite von fünf Aufführungen von Tristan und Isolde (10. August). Die Inszenierung des isländische Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson, der mit Inszenierungen der Edda und Orestie, aber auch von Lohengrin 2014 in Augsburg und Parsifal 2023 in Hannover aufgefallen ist und prädestiniert für geheimnisvolle Urstoffe scheint, hatte im Vorjahr die kurzlebige Tristan-Inszenierung Roland Schwabs aus dem Jahr 2022 abgelöst. Isolde, die bald ihren Bräutigam Marke treffen wird, schleppt im wahrsten Sinn des Wortes einen immensen Ballast an Erinnerungen mit sich, der in Form des gewaltigen weißen Reifrocks, welcher sich wie eine Insel um sie herum ausdehnt und wallt, alles andere auf der nur wegen der herunterhängen Taue als Schiff erkenntlichen Bühne in den Hintergrund treten lässt. Ein Riss im Boden steht für den Riss in der Welt und die unerfüllte Sehnsucht der Liebenden. Das weiße Gewand, das Isolde wie einen Engel erscheinen lässt, ist bereits über und über beschrieben, und immer noch kritzelt die Tagebuchschreiberin Isolde weiter, ruft sich die zurückliegende Begegnung mit Tristan in Erinnerung, bei der sich beide ineinander verliebten: „Vergeltung“, „Rache“, „Tantris“ usw. Da braucht es keinen Liebestrank mehr, damit beide bei der Überfahrt von Irland nach Cornwall, wohin Tristan die Braut Isolde führen soll, neuerlich entflammen. Im undurchschaubaren Hantieren mit Liebes- und Todestrank ist es unwichtig, zu welchem Trank sie greifen. Um die beiden war es bereits geschehen, so das Regieteam im Programmheft, sobald Isolde sagt, „Er sah mir in die Augen“.

Ganz entfliehen können sie dem Ballast, der Vergangenheit und ihrer Geschichte nicht, wenn man die Anhäufung von Gegenständen, die ab dem Erscheinen Markes am Ende des ersten Aktes fortan das vom litauischen Bühnenbildner Vytautas Narbutas voll geräumte Schiffsinnere bestimmen, als eine solche Last nimmt. Es ist ein Lager oder Speicher, durch den dicke Röhren und Leitungen führen, angefüllt mit dem kulturgeschichtlichen Treibsand aus mehreren Jahrhunderten, Kruscht und Krempel, die wahllos und schwer zu erkennen durcheinanderliegen, Karyatiden, ein Röhrenradio, ein alter Globus, Büsten und Amphoren, Bilder, vielleicht eines von Caspar David Friedrich, das Ziffernblatt einer Comtoise, die Statue eines Kriegers. Das Vergangene lässt sich nicht wegräumen und bestimmt bis zu Tristans Fieberfantasien die Handlung. Im zweiten Akt verspielen sich Tristan und Isolde ein wenig mit dem Zeugs. Tristan erbittet von Isolde den tödlichen Schwertstoß, dem sie ihm einst verweigerte. Indem er schließlich selbstmörderisch zum Todestrank greift, entgeht er Melots Hieb. Im dritten wird Tristan auf einem der Stühle sterbend zusammenbrechen, die anderen, ohnehin zu Stichwortgebern reduziert, sinken auf den Lagern zusammen. Arnarssons Inszenierung lässt den Betrachter ratlos und verwirrt zurück.

Bayreuth 2025: „Tristan und Isdolde“/Szene/©Enrico Nawrath press

Es ist der große Abend des Semyon Bychkov, der die „Handlung in drei Aufzügen“ mit dem in Bestform spielenden Festspielorchester mit ausgepichter Klangdelikatesse aufdröselt, so detailverliebt, dass man scheinbar nie gehörte Details neu beachtet, dabei bei durchaus ausladenden Tempi von großer Spannung und Intensität bereits in der sich sehrend ballenden und steigernden Einleitung mit dem berühmten Tristan-Akkord. Sensibel leuchtet er, wie in der Einleitung zum dritten Akt, Farben und Nuancen vorimpressionistisch aus und gibt den zartesten Pianissimi Gehalt, kreiert zu Beginn des zweiten Aktes ein sensuelles Fluidum, in dem sich Camilla Nylunds schöner Sopran ebenso edel entfaltet wie im bemerkenswert sicher gesteigerten Liebestod, den Isolde mit dem Gifttrank herbeiführt; nur aus Liebe stirbt man eben doch nicht. Ihrem durch und durch lyrischen Sopran mag es im ersten Akt etwas an hochdramatischem Fundament fehlen, was vor allem neben dem brünstig lauten Andreas Schager auffällt, doch im zweiten Akt ist besticht sie durch einen ruhigen und sicheren Strahl und ein feines Piano bei verinnerlichtem Ausdruck und Gestaltung. Schagers Tristan ist bis zu den letzten „Isolde“-Rufen ein kämpfender, mit voller Kraft und ungeniertem Ausdruck singender und sich verausgabender Held, der sich nur selten leisere, dann ins Sprechen abgleitende Töne gestattet und sich lieber auf die pure Kraft seines robusten und metallisch schwingenden Tenors verlässt. Wirklich zusammen passen die beiden Stimmen nicht. Ekaterina Gubanova macht als Brangäne durch ihre gute Höhe bei merklich blassem Mezzosopran auf sich aufmerksam, Jordan Shanahan ist ein sympathischer Diener seines Herrn, Günther Groissböck gibt den Marke mit überzeugender Gestaltung und Ausdruck und einem bedenklich festgefahrenen Bass. Festspielwürdig der feinstimmige junge Seemann von Matthew Newlin und der Hirte des Daniel Jens, weniger der Melot des Alexander Grassauer. Rolf Fath

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Bad Wildbad: Otello mit Happy End beim 36. Rossini in Wildbad-Festival. Geballtes Programm. In zehn Tage hat Rossini in Wildbad diesmal alle Aufführungen und Konzerte gepackt. Das hat durchaus Reiz für anreisende Liebhaber, die nach der Eröffnung mit der Petite Messe Solennelle auf dem Baumwipfelpfad an verlängerten Wochenenden vormittags und abends La Cenerentola, die einzige aktuelle szenische Neuinszenierung, oder den Einakter L’inganno felice genießen können. Oder die Klavieroper Un avvertimento ai gelosi des legendären Rossini-Tenors und Gesangslehrers Manuel Garcia, von dessen Gelegenheitsstücken für seine Gesangsschüler das Festival bereits einige aufgeführt hat. Alle drei im Königlichen Kurtheater. Dennoch wirkt das diesjährige Angebot sparsam und ausgedünnt. Die große Rarität, die Grand opéra Pierre de Médicis des Józef Michał Ksawery Poniatowski (1816–1873), fand als einmalige konzertante Aufführung statt. Der in Rom geborene Großneffe des letzten polnischen Königs war als Sänger, Komponist und Diplomat ein Kosmopolit. Er lernte Rossini in Paris kennen, wo er sich 1853 niederließ, ab 1873 das Théâtre Italien leitet und seine Oper Pierre de Médicis (1860) in der Opéra Le Peletier zur Uraufführung brachte.

„Baritenor“ Manuel Garcia Vater als Rossinis Otello von 1816/Wikipedia

Auch die die zweite Rarität, Rossinis Otello in einer bislang in modernen Zeit nicht aufgeführten Fassung aus Rom von 1820 mit Happy End, erlebte nur eine konzertante Aufführung. Unvergessen die Aufführung des Otello beim 20. Rossini in Wildbad-Festival im Juli 2008 mit Jessica Pratt und Michael Spyres (Naxos 8.660275-76), die beide vom Enztal aus ihre Karriere starteten. Nun übernahm Francesco Meli, der sich Ende 2024 in Venedig erstmals an Verdis Otello getraut hatte, die Titelrolle; versierte Rossini-Tenöre würden den Weg andersrum wählen. Meli leitet übrigens das Opernstudio des Teatro San Carlo in seiner Geburtsstadt Genua, von dem die Produktion von Un avvertimento ai gelosi stammt. Diana Haller, die hier schon von Tancredi bis Isolier vielfach reüssiert hat und mittlerweile auch Sopran-Partien (Elettra) singt, ist erstmals die Desdemona. Die verbindende Konstante wäre Antonino Fogliani gewesen, der offenbar in vorletzter Minute durch Nicola Pascoli ersetzt werden musste, der sich im Vorjahr bei Michele Carafas Masaniello mit der heiklen Akustik der schmalen und langgestreckten Trinkhalle vertraut gemacht hatte.

Otello war nach Elisabetta, regina d’Inghilterra die zweite der neun ernsten Opern, die Rossini für das Teatro San Carlo in Neapel schrieb. Er war 23 Jahre alt, als ihn Domenico Barbaja 1815 zum musikalischen Leiter der beiden Königlichen Theater Neapels, des Teatro San Carlo und des Teatro des Fondo, ernannte mit der Auflage jedes Jahr zwei Opern zu schreiben. Für das San Carlo, das am prächtigsten ausgestattete Theater Italiens, schuf er fortan seine experimentierfreudigsten Seria-Opern. Der Vertrag erlaubte Rossini auch umfangreich für andere Theater zu arbeiten. Als er nach Il Barbiere di Siviglia in Rom nach Neapel zurückkehrte, hatte ein Feuer das Teatro San Carlo Opfer zerstört, weshalb der unliebsame – „Ich erinnere mich nicht, mich jemals so abgemüht zu haben“, schrieb er nach Hause –und vielfach verschobene Otello am 4. Dezember 1816 im kleineren Teatro del Fondo uraufgeführt wurde. Das Libretto des Francesco Berio di Salsa wurde so lange belächelt, bis man feststellte, dass sich der literarisch gebildete Marchese nicht direkt auf Shakespeare bezogen hatte und in den 1970 Jahren zeitgenössische Shakespeare-Adaptionen von Jean-François Ducis (1792) und Giovanni Carlo Baron Cosenza (1813) als Quellen ausgemacht wurden. Der dritte Akt mit dem Lied des Gondoliere, der Canzone des Desdemona und dem gegen den Sturm ankämpfenden einzigen Duett, das Desdemona und Otello haben, entspricht dagegen Shakespeares Drama.

Davon entfernte sich Rossini in seiner für die Karnevalssaison 1819/20 bestimmten Fassung mit Lieto fine, also einem Happy End, für das Teatro Argentina in Rom, die am 26. Dezember 1819 ihre erste Aufführung erlebte. In dieser Fassung versucht Desdemona Otello von Jagos Intrige zu überzeugen, der aus Rache für ihre Zurückweisung Otellos Eifersucht angefeuert habe. Zögernd lässt Otello seinen Dolch fallen. Der Doge kommt. Otello erfährt, dass der Nebenbuhler Rodrigo das gemeinsame Duell, mit dem der zweite Akt geendet hatte, überlebt hat und Jago seine Intrige zugegeben hat. Der Bösewicht wird zum Tod verdammt. Elmiro akzeptiert Otello als Schwiegersohn.

Rossinis römischer „Otello“ von 1819 in Bad Wildbad 2025/Foto Magdalena Kiwior

Das Festival nennt es eine moderne Premiere. Das Label Opera Rara hat bei seiner Otello-Einspielung 1998 diese Fassung als Anhang berücksichtigt, beim Festival della Valle d’Itria in Martina Franca war im Jahr darauf eine seltsame Mischfassung mit diesem Finale zu hören. Doch Rossini in Wildbad kann tatsächlich die Moderne Erstaufführung der vollständigen Fassung für Rom für sich beanspruchen. Die Änderungen, für die Rossini bereits vorhandene Stücke anpasste, sind umfangreicher als es zunächst den Anschein haben mag und rücken das Paar Desdemona und Otello stärker in den Mittelpunkt: Statt ihres Duetts mit Emilia, mit dem Desdemona im ersten Akt quasi als scheues Mädchen eingeführt wird, erhält sie nun eine Kavatine mit Chor (Quanto è grato all’alma mia), die aus der Elisabetta stammt und einer ersten Sopranistin würdig ist. Für das entfallene Duett wird Emilia zu Beginn des zweiten Aktes durch die Arie entschädigt, welche die Vertraute Isaura in Tancredi gesungen hatte (Tu che i miseri conforti).

Die junge Mezzosopranistin Verena Kronbichler polierte das lähmende Füllsel zum vokalem Juwel auf. Rodrigos hochvirtuoses, brillantes Showstück fällt dagegen weg. Neu ist vor seiner Begegnung mit Jago eine Szene des Otello, die aus Cimarosas Penelope stammt (Smarrita quest’alma). Im dritten Akt verzichtet Rossini auf das hübsche Lied des Gondoliere mit seinen Dante-Versen und lässt die Liebenden nach Desdemonas Weidenlied und ihrem Gebet im Duett aus Armida (Amor! Possente nome) mit dem hymnischen Schlussteil Cara per te quest’anima wieder zueinanderfinden. Ein kurzer Rundgesang aus Ricciardo e Zoraide besiegelt das glückliche Ende (Or più dolci intorno al core). Die kleinen Partien des Lucio und Gondoliere entfallen, der Chor ist ein reiner Männerchor. Gianmarco Rossini, hat, wie er in seinem Revisionsbericht darlegt, weit mehr Quellen aufgetan als sie bei der Herausgabe der Kritischen Edition der Fondazione Rossini berücksichtigt wurden.

Dieser Otello ist nicht den umfassenden Mosè in Egitto und Maometto-Überarbeitungen für Paris vergleichbar, dennoch ist er ein neues Stück, das Nicola Pascoli mit Begeisterung und Temperament in die Trinkhalle stemmte, wobei ihm das ungestüm aufspielende Orchester der Krakauer Szymanowski-Philharmonie mit Leidenschaft folgte. Auch wenn manche Feinheiten der Lautstärke zum Opfer fielen, gelang es dem Orchester auf die zahlreichen instrumentalen Solomomente hinzuweisen, gelegentlich fehlende Innenspannung und Dichte ersetzte Pascoli durch effektvoll gesteigerte Finali, in denen der Chor der Szymanowski-Philharmonie durch fabelhafte Tenöre auffiel. Die Besetzung war gediegen. Francesco Meli, der Otellos Sieg Vincemmo, o prodi gleich mit der Kraft und dem bronzenen Edelmetall eines Verdischen Esultate verkündete, tat sich nicht leicht, seinem schweren und etwas angedickten Ton die nötige Geschmeidigkeit und Eleganz zu geben oder ein schönes Piano zu singen und setzte durchgehend auf einen massiven und einförmigen Ausdruck. Meli, den man kaum noch mit dem Belcanto-Repertoire und den Rossini-Partien der Anfängerjahre, die er vor rund 15 Jahren langsam hinter sich gelassen hat, in Verbindung bringt, wird diesen neuerlichen Versuch mit Rossini vermutlich so schnell nicht wiederholen, doch Respekt, wie er sich die Partie, mit der er gegen Ende merklich zu kämpfen hatte, zu eigen machte und aus den Rezitativen alles rausholt.

Souverän und triumphierend, wie eine Königin der Trinkhalle, sang Diana Haller mit einer von den runden Tiefen bis zu den aufblitzenden Höhen durchgehend schön verblendeten Stimme eine leidenschaftlich glühende Desdemona, die heftig und selbstbewusst mit manchmal etwas harschem Tonsatz für ihre Liebe kämpft und dabei seelenvolle Töne für das Weidenlied und das Gebet findet. Juan de Dios Mateos war mit seinem leichten hohen, doch auch etwas unruhigen Tenor ein eher larmoyanter denn kämpferischer Rodrigo, der chinesische Tenor Anle Gou gab dem Jago hell durchdringende Spitzentöne, als Elmiro bestach der souveräne Nathanaël Tavernier durch wohltuende Bassautorität in den Ensembles.  Rolf Fath

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Österreich – Graz: Die 40. Styriarte mit dem Motto Raum & Klang. Die steirischen Festspiele feierten in diesem Jahr ein stattliches Jubiläum, wenn auch überschattet durch die jüngsten erschreckenden Ereignisse in der Stadt. Im  Eröffnungskonzert am 20. 6. 2025 in der Helmut List Halle gedachte man dann auch mit einer Schweigeminute der Opfer. In einer Fotoausstellung im Foyer wurden 40 Bilder gezeigt, welche an die beteiligten Künstler erinnerten, vor allem natürlich an Nikolaus Harnoncourt, den Pionier des Unternehmens. Es war eine treffliche Idee, das Programm mit Johann Sebastian Bachs Partita in d, BWV 1004 für Violine solo zu beginnen – mit Thomas Zehetmair als Interpret, der dieses Werk schon beim 1. Konzert der Styriarte 1985 im Schloss Eggenberg gespielt hatte. Er fungierte dann auch als inspirierender Dirigent des Styriarte Festspiel-Orchesters bei Mozarts Sinfonia concertante in Es, KV 364 und der Sinfonie Nr. 41 in C. KV 551 „Jupiter“.

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Schloss Eggenberg war am nächsten Abend auch der Schauplatz für die diesjährige Opernproduktion – Antonio Draghis Ballettoper Gl´incantesimi disciolti, die 1673 im Schloss Eggenberg anlässlich der Hochzeit von Kaiser Leopold I. mit Erzherzogin Claudia Felizitas von Tirol  aufgeführt wurde. Draghi war Hofkomponist des Kaisers und verarbeitete im Stück auch die Intrigen, welche sich im Vorfeld der Vermählung am Wiener Hof ereignet hatten und den Bund fast verhindert hätten. In der von ihm erdachten Geschichte verlieben sich das Glück und der Gute Wille, werden aber durch den missgünstigen Neid sowie Selbstsucht und Lüge verhext und kommen erst durch die Zuneigung und den zur Vernunft geläuterten Neid zum glücklichen Ende.

Im prachtvollen Planetensaal des Schlosses hatte Dramaturg Thomas Höft eine deutsche Fassung unter dem Titel Das verwunschene Glück erstellt – eine freie Übersetzung des originalen Aufgelöste Zaubereien. Sein szenisches Arrangement wurde dominiert durch Lilli Hartmanns fast lebensgroße Handpuppen, die den allegorischen Figuren zugeordnet waren und entfernt am Arcimboldos Gemälde mit den Köpfen aus Früchten und Gemüse erinnerten. Geführt wurden sie von den Sängern und vier Tänzerinnen, die in der Choreografie von Mareike Franz pantomimische Episoden ausführten, zuweilen an den Ausdruckstanz der 1930er Jahre erinnerten und mit hüpfenden, zappelnden, hopsenden Figuren auch banales Vokabular auszuführen hatten. Die Optik war durch diese verschiedenen Elemente etwas überladen, zumal in diesem mit Gemälden reich dekorierten Saal – hier wäre eine Reduzierung vorteilhafter gewesen.

Die Aufführung hatte ihre Meriten durch das farbenreiche musikalische Klangbild, welches Michael Hell als Dirigent am Cembalo mit dem Ensemble Ärt House 17 verantwortete. Da die originale Partitur nur in Teilen erhalten ist und die bei der Uraufführung gespielten Ballettmusiken gänzlich verloren sind, hat Hell Instrumentalmusiken von zeitgenössischen Komponisten eingefügt. Diese Intermezzi von Biber (eine Sinfonia), Schmelzer (eine Gigue) und Rittler (eine Ciaconna) bringen rhythmisch prägnante Momente, Trompetengeschmetter und festlichen Fanfarenglanz ein, bedeuten zweifellos eine Bereicherung des musikalischen Kosmos.

Styriarte 2025: Antonio Draghis Oper “ Gl´incantesimi disciolti“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Auf recht unterschiedlichem Niveau singt die Besetzung. Dominiert wird sie von den beiden Sopranen. Die junge Johanna Rosa Falkinger erfreut als Glück mit klangvoller, leuchtender Stimme, während die gestandene Sophie Daneman als Lüge noch immer mit souveränem Vortrag und makellosen Koloraturen besticht. Reizvoll dunkel timbriert ist der Mezzo von Anna Manske als Neid, der sich später in die Vernunft wandelt. Kraftvoll-energisch trumpft Julian Habermann als Zuneigung auf, während die beiden Veteranen der Gesangsszene – Markus Schäfer als Selbstsucht und Dietrich Henschel als Guter Rat – mit überreifen, teils verquollenen oder matten Stimmen Wünsche offen lassen. Das Publikum applaudierte begeistert, dankbar für diese Wiederentdeckung einer barocken Preziose. Bernd Hoppe

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Potsdam-Sanssouci: Grand Tour bei den Musikfestspielen.  Alljährlich bieten die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci ein attraktives Programm unter einem originellen Motto. Diesmal lautet es vom 13. bis 29. Juni Grand Tour und widmet sich dem Reisen in die Musikmetropolen von London über Paris und Wien bis Venedig. Gleich das Eröffnungskonzert am 13. 6. in der Friedenskirche mit dem Thema Dr. Burneys Reiseführer erinnerte an den britischen Organisten und Komponisten Charles Burney, der zwei ausgedehnte Reisen auf den Kontinent unternahm, um das Musikleben der einzelnen Länder kennenzulernen. Der zweite Ausflug 1772 führte ihn auch nach Berlin und Potsdam.

Das Konzert mit dem polnischen, auf Alte Musik spezialisierten Ensemble (oh!) ORKIESTRA unter Leitung seiner Gründerin Martyna Pastuszka offerierte ein anspruchsvolles und abwechslungsreiches Programm, das die einzelnen Reise-Etappen nachzeichnete. Der Auftakt mit der Ouvertüre zu Carl Heinrich Grauns Oper Catone in Utica     führte nach Berlin, wo dieser Komponist das Musikleben. der deutschen Hauptstadt maßstäblich bestimmte. Mit seiner Oper Cleopatra e Cesare wurde das Opernhaus Unter den Linden, das Friedrich II. hatte erbauen lassen,  1742 festlich eröffnet. Die Ouvertüre dazu erklang im 2. Teil und weckte lebendige Erinnerungen an die Aufführung unter René Jacobs in der Staatsoper 1992, welche die beliebten Barocktage des Hauses eröffnete. Beide Titel Grauns demonstrierten den musikantischen Schwung des Orchesters und dessen exzellentes spielerisches Niveau. Auch das Flötenkonzert G-Dur von Johann Joachim Quantz, den Burney in Berlin getroffen hatte, war ein Verweis auf die preußische Metropole. Die namhafte Flötistin Laura Quesada brillierte mit ihrem virtuosen Vortrag – heiter-beschwingt im Allegro assai, träumerisch-empfindsam im Arioso e mesto und brillant im Presto.

Vokalsolist des Abends war der renommierte Countertenor Max Emanuel Cencic, der eine reich gefüllte Pralinenschachtel öffnete und eine Preziose nach der anderen servierte. Der Beginn mit der Arie „Sol da te“ aus Antonio Vivaldis Orlando furioso führte nach Venedig, wo das Werk 1727 uraufgeführt wurde. Die Nummer ist ein Dialog zwischen Instrument und Stimme. Laura Quesada an der Traversflöte war dem Sänger eine inspirierende Partnerin. Der Counter ließ eine runde und warme Stimme von hoher Kultur hören. Imponierend waren die großen Atemreserven, die ihm lange Bögen ermöglichten. Noch eindrucksvoller war sein zweiter Beitrag – die berühmte Arie „Va tacito“ des Giulio Cesare aus Händels gleichnamiger Oper, womit die Reise zurück nach London führte. Hier war der Hornist Bart Aerbeydt der kompetente Partner im musikalischen Dialog. Cencic fühlte sich in diesem höher notierten Stück hörbar heimisch, sang mit Aplomb und Verve und variierte das Da capo spannungsreich. Ein Werk Händels, Flavio. Re de´Langobardi, 1723 in London uraufgeführt, markierte auch den virtuosen Schlusspunkt des offiziellen Programms. Cencic hatte es 2023 bei seinem Festival Bayreuth Baroque inszeniert und selbst die Partie des Guido, von Senesino kreiert, gesungen. In dessen Arie „Rompo i lacci“ setzte Cencic energische Akzente, imponierte mit stupenden Koloraturgirlanden und schoss im Da capo effektvolle Raketentöne ab. Das Orchester sorgte mit seiner Affekt betonten Begleitung für große Wirkung, hatte darüber hinaus in zwei Stücken Gelegenheit, Abstecher nach Wien und Prag zu unternehmen. Für ersteren diente die Sinfonia G-Dur von Karl (oder Joseph?) Kohaut – beschwingt im Allegro assai, elegisch-sanft im Andante und hurtig eilend im Presto. In Böhmen war Josef Myslivecek einst gefeiert, bis der Erfolg ausblieb und er in Italien Karriere machte. Seine Sinfonie G-Dur ist anfangs von pastoraler Stimmung, findet aber im Prestissimo zu einem ausgelassenen Finale.

Zwei Arien von Johann Adolf Hasse, mit dessen Werk sich der Sänger seit langem beschäftigt, hatten nach Neapel und Dresden geführt. Tigrane wurde 1729 am Teatro San Bartolomeo von Napoli uraufgeführt. „Solca il mar“ des Titelhelden ist eine Gleichnis-Arie, welche die Gefahren des tobenden Meeres beschreibt. Entsprechend stürmisch ist der Gesangsduktus, entsprechend halsbrecherisch sind die Koloraturen. Nicht weniger glanzvoll meisterte der Solist die Arie des Aminta „Siam navi all´onde algenti“ aus L´Olimpiade, die 1756 am Dresdner Hoftheater zur Premiere kam. Nicht fehlen in der Auswahl durfte Nicola Antonio Porpora. Der große Konkurrent Händels in London brachte 1733 seine Arianna in Nasso heraus – vier Wochen vor der Arianna in Creta seines Rivalen. Cencic beeindruckte mit der getragenen Arie des Teseo „Nume che reggi il mare“. Effektvoller waren freilich die beiden Zugaben aus Händels Poro – „Vedrai con tuo periglio“ und „Senza procelle ancora si perde“. Den Titelhelden der Oper hatte bei der Uraufführung in London 1731 der berühmte Kastrat Senesino gesungen. Entsprechend hoch sind die virtuosen Ansprüche der beiden Arien und Cencic konnte damit seinen Auftritt glanzvoll krönen.

Das Eröffnungskonzert, dessen Mitwirkenden vom Publikum in der ausverkauften Friedenskirche begeistert gefeiert wurden, war ein stimmungsvoller Auftakt auf zwei Wochen Festspiele, die noch manche Rarität offerieren.

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Prinzipalin und Dirigentin Dortothée Oberlinger in Potsdam 2025/Foto Stefan Gloede

Liebeswahnsinn: Immer wieder bewundert man den Spürsinn und die Entdeckerfreude der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci mit ihrer Künstlerischen Leiterin Dorothee Oberlinger. In diesem Sommer wartete man mit einer besonderen Rarität auf – einem Werk des 1654 geborenen Komponisten Agostino Steffani, der in Hannover als Hofkapellmeister wirkte. Im Schlossopernhaus der Stadt wurde 1691 sein Orlando generoso uraufgeführt, der nun in der Pflanzenhalle der Orangerie als die diesjährige szenische Produktion der Festspiele erklang. Das Libretto von Ortensio Mauro fußt auf Ariostos Epos Orlando furioso und erzählt von Paaren, die sich nicht finden können. Da sind Ruggiero und Bradamante, deren Heirat der mächtige Magier Atlante verhindern will, sowie die chinesische Prinzessin Angelica, Tochter des Galafro, und ihr heimlicher Geliebter Medoro. In sie ist hoffnungslos auch Orlando verliebt, was den Titelhelden zunehmend in den Wahnsinn treibt. Das Stück ist voll von den in Barock-Opern üblichen Verwirrungen und Verstrickungen, was das Verständnis der Handlung nicht eben erleichtert.

Die deutsch-britische Regisseurin Jean Renshaw hat das Geschehen in die Gegenwart verlegt, jedes historische Kolorit und jeden exotischen Zauber vermieden. Dafür sind Smartphones und moderne Schusswaffen im Einsatz. Die spartanische, stimmungsarme Bühne des Ausstatters Alfred Peter zeigt zwischen zwei weißen Wänden mit je einer Tür, welche mit In und Out gekennzeichnet sind, einen Tisch, der zum Schauplatz brutaler Attacken wird. Dafür ist neben Galafro vor allem Brunello (Martin Dvorák) zuständig – ein Tänzer, der mit seiner Partnerin Melissa (Katharina Weidenhofer) auch für die Choreografie voller bizarrer  Körperverrenkungen zuständig war. Für diese tänzerischen Intermezzi dienten andere Kompositionen Steffanis – die Sonate da camera à 3  und Auszüge aus seiner Oper Niobe, regina di Tebe, welche 2010 an der Covent Garden Opera London eine glanzvolle Aufführung erlebte.

Steffanis „Orlando generoso“ in Potsdam 2025/Szene/Foto Stefan Gloede

Dorothee Oberlinger hat mit ihrer musikalischen Assistentin Olga Watts und der Regisseurin das Aufführungsmaterial für die gespielte Fassung erstellt. Sie dirigiert ihr ENSEMBLE 1700, das hinter der Spielfläche postiert ist und Steffanis vielfarbige Musik mit ihren herrlichen Duetten, den klagenden Arien und der reizvollen Instrumentation zum Klingen bringt. Tänzerisch beschwingt und mit federndem Rhythmus sind die Intermezzi besondere Höhepunkte der Aufführung.

Die exemplarische Besetzung verleiht der Produktion einen Ausnahmerang. Die Sänger in Uniformen, Business-Anzügen oder Abendkleidern, zunehmend verschmutzt oder blutverschmiert, agieren mit gespannter Intensität und bis an die Grenze gehender körperlicher Verausgabung. Mehr als die Regie tragen sie den über dreistündigen Abend mit ihrem darstellerischen Einsatz und dem expressiven Gesang. Der renommierte Countertenor Terry Wey als Titelheld konnte schon in dessen Auftrittsarie „In quest´alma“ den seelischen Konflikt der Figur plastisch umreißen und zudem mit bravourösen Koloraturgirlanden brillieren. Furios seine „Furien“-Arie, die vom Orchester mit spannenden Affekten begleitet wird, von starker Wirkung sein letztes, auftrumpfendes Duett mit Angelica, welches das Orchester mit stampfendem Rhythmus untermalt. Kontrastreich dazu gab er den zahlreichen Lamenti der Partie innige Empfindung und eine wunderbar schwebende Gesangslinie. In der Parade der Counter hinterließ auch der Däne Morten Grove Frandsen als Ruggiero einen glänzenden Eindruck. Die klangvolle Stimme harmonierte perfekt in den Duetten mit Bradamante und Angelica, bewältigte auch die vehemente „Gelosia“-Arie souverän. Der spanische Counter Gabriel Díaz als Galafro sang den Tyrannen mit gebührend reifer Stimme. Am Ende, wenn Bradamante und Ruggiero sich getrennt haben und seine Tochter mit Medoro fortgegangen ist, bleibt er verwirrt und allein zurück – eine zeitgemäße Deutung des lieto fine, die auch nicht der festlichen Musik mit dem Schlusschor „Amanti fortunati“ und der beschwingten Chaconne en rondeau entspricht.

Agostino Steffani/Gemälde von Ludovico Kapper/Wikipedia

Die exzellente Sopran-Riege wurde angeführt von der Französin Hélène Walter als Angelica, deren obertonreiche, innige Stimme die Figur eindrücklich profilierte. Ihr dramatisches Vermögen gestattete ihr auch beeindruckend extrovertierte Momente. Nicht nach stand ihr Shira Patchornik aus Israel als Bradamante mit exzessivem Engagement und totalem stimmlichem Einsatz. Fulminant ihre Attacke in der Arie „Troppo rapido“, berührend die Empfindsamkeit in „S´hò perduto ogni mio bene“. Von androgyner Erscheinung und ebensolchem Mezzo-Timbre war Natalia Kowalek eine ideale Interpretin für die Partie en travestie des Medoro. Auch ihre Arien  bewegten sich in extremen Gefühlszuständen und wurden mit entsprechend leidenschaftlichem, erregtem, rasendem Ausdruck sowie reicher Farbpalette interpretiert. Imponierende bassprofunde Töne brachte Sreten Manojlovic als zynischer Atlante ein. Sein gewaltiges stimmliches Potential gab den  Arien „Non voglio cedere“ und „Ombre del cieco abisso“ grandiose Wirkung. Am Ende der 2. Vorstellung am 24. 6. 2025 (nach der Premiere am Vorabend) feierte das Publikum das Ensemble anhaltend – dankbar für die Wiederentdeckung einer Rarität und beglückt über das musikalische Niveau. 

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Noch eine Sternstunde: Auch die zweite Opernproduktion im diesjährigen Festspielprogramm widmete sich mit Baldassare Galuppis Didone abbandonata einer Rarität. Der Stoff um das Liebespaar Dido und Aeneas ist mit dem Libretto von Metastasio (nach Vergils Aeneis) viele Male vertont worden, darunter von Porpora, Vinci, Hasse und Jomelli. Die bekanntester Version ist jene von Henry Purcell, die allerdings auf einem Libretto von Nahum Tate fußt. Metastasio schrieb seinen Text 1724 und bearbeitete ihn für den spanischen Hof in Madrid 1752 auf Bitten des Kastratenstars Farinelli neu. Auch Galuppi, dessen Urfassung 1740 in Modena ihre Premiere erlebte, stellte eine Neuvertonung vor, die am 28. 6. 2025 im Nikolaisaal in konzertanter Form als Version Madrid 1752 erklang.

Baldassare Galuppi/Wikipedia

Das Ensemble NEREYDAS musizierte unter seinem Gründer Ulises Illàn mit hinreißendem Elan, hoher musikantischer Kultur und reichem Farbspektrum. Markante  orchestrale Höhepunkte waren die einleitende dreiteilige Sinfonia mit dem lebhaften Presto, dem kantablen Andante und dem beschwingten Non tanto allegro, die pompöse Marcia und die stürmische Sinfonia im 3. Akt, die gleich einer battaglia vorüber fegt sowie die stürmische Sinfonia per l´incendio mit dem effektvollen Einsatz von Donnerblech und Windmaschine.

Wieder war eine exemplarische Besetzung zu erleben, die keine Schwachstelle aufwies und einige spektakuläre Interpreten offerierte. Deren Sensation war für mich der amerikanischen Tenor Joshua Sanders als maurischer König Iarba – eine veritable Idomeneo-Stimme mit kultiviertem Vortrag und vielfarbiger Klangpalette. Die furiose, vom Orchester vehement begleitete Arie im 1. Akt „Non ho pace“ zeigte seine auftrumpfende Attacke, wie auch die Arie „Fosca nube“ im 2. Akt einen fulminanten Schwung. Höhepunkt seiner Interpretation war die triumphale, von Trompeten begleitete Arie „Cadrà fra poco in cenere“ am Schluss, welche brausende Meereswogen. und tobende Stürme suggeriert. Und der Sänger erschien sogar ganz am Ende noch einmal als Meeresgott Nettuno, der mit seiner Arie „Tacete, o mie procelle“ die Oper feierlich beschließt.

Den bravourösesten Auftritt hatte der Sopranist Federico Fiorio als Enea zu absolvieren. Er ist kein Unbekannter in Potsdam, hatte er doch schon im Vorjahr in der Aufführung von Grauns Adriano (der gerade als CD erschienen ist) mitgewirkt. Bei Purcell ist die Rolle einem Bariton anvertraut, was eine männlichere Wirkung  evoziert, als das einer hohen, hellen Sopranstimme möglich ist. Aber die technischen Fertigkeiten des Sängers und sein bis in die Extremhöhe gerundeter Klang nötigten Bewunderung ab. Auf das Schönste entfaltete sich die Stimme in der klagenden Arie „Tormento il più crudele“ und Atem beraubend in der Aria di bravura „A trionfar mi chiama“. Pompös eingeleitet mit Pauken und wirbelnden Streicherfiguren, konnte der Sänger hier mit Koloraturen, staccati und Extremtönen in der Höhe ein Feuerwerk an Virtuosität entfachen. Prominentester Vertreter in der Solistenriege war der italienische Counter Filippo Mineccia als Osmida, Vertrauter der Königin Didone. Auch er kein Unbekannter in Potsdam wie bei vielen anderen internationalen Festivals, bedauerte man bei ihm am meisten die fehlende Szene, ist er doch ein engagierter Darsteller mit starker Aura und expressiver Gestik. Die klangvolle Stimme war schon in seiner Auftrittsarie „Tu mi scorgi“ zu vernehmen, und auch „Quando l´onda“ im 3. Akt imponierte durch den virilen Zugriff.

View of a scene from the opera „Didone abbandonata“ (Act I, Scene 9) by Metastasio and Galuppi, organised by Farinelli at the Coliseo del Buen Retiro Between 1754 and 1759, 1754 and 1759/ Ricordi Archivio Storica

In der Titelrolle ließ die französische Mezzosopranistin Natalie Pérez eine noble Stimme von hoher Kultur und schlankem Volumen hören. Die untere Lage wirkte gelegentlich etwas verhalten, aber der Vortrag war energisch und passioniert, was ihrer großen Arie „Son regina“ einen selbstbewussten Zuschnitt verlieh. Das wiegende Melos der Arie „Ah! non lasciarmi“ lag ihr besonders und beklemmende Wirkung erreichte sie mit ihrer finalen Arie „Vado… Ma dove?“, welche nach einem aufgewühlten Recitativo accompagnato den verwirrten Zustand der Königin aufzeigt.

Nicht weniger edel klang der Sopran von Alexandra Tarniceru als Didones Schwester Selene. Die Rumänin imponierte schon durch ihre hoheitsvolle Aura, was die edle Stimme von hoher Musikalität und feinem Gespür noch unterstrich. „Ardi per me“ im 2. Akt zeichnete sich durch den inbrünstigen Vortrag aus, „Io d´amore“ im 3. durch die schmerzliche Empfindung. Einem weiteren Sopran war die Partie (en travestie) des Araspe, Vertrauter Iarbas und verliebt in Selene, anvertraut. Die Italienerin Carlotta Colombo sang sie beherzt und mit frischem Ton. Die Aufführung, die dem Festspiel-Almanach dieses Jahres ein weiteres Ruhmesblatt hinzufügte, wurde vom Publikum enthusiastisch gefeiert (Foto oben Stefan Gloede). Bernd Hoppe