Archiv für den Monat: September 2024

Gemischte Eindrücke

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Gerühmt für seine Interpretationen von Partien des französischen Repertoires (Massenets Werther und Des Grieux, Gounods Roméo und Offenbachs Hoffmann) wird der Tenor Benjamin Bernheim gegernwärtig hoch gehandelt. Jetzt hat er für sein drittes Album bei seiner Stammfirma Deutsche Grammophon französische Mélodies und Chansons ausgewählt, die unter dem Titel „Douce France“ erschienen sind (486 6155). Dieser ist der gleichnamigen Komposition von Charles Trenet entnommen, welche gemeinsam mit Joseph Kosmas „Les feuilles mortes“ und Jacques Brels „Quand on n´a que l´amour“ für einen populären Ausklang der Anthologie sorgt. Der Sänger schlägt damit auch eine Brücke zwischen dem klassischen Lied und dem zeitgemäßen Chanson.

Einige dieser Nummern hatte Bernheim schon in das Programm seines Salzburger Liederabends von 2023 integriert, so Henri Duparcs „L´invitation au voyage“, „Phidylé“ und „La vie antérieure“ oder Ernest Chaussons „Poème de l´amour et de la mer“.

Als Auftakt der CD erklingt Hector Berlioz´ bekannter Zyklus „Les nuits d´été“, der zumeist von Frauenstimmen interpretiert wird. Legendär sind die Einspielungen  von Régine Crespin, Victoria de los Angeles und Janet Baker. John Eliot Gardiner (wie auch vorher der BGerlioz-Pionier Colin Davis) hatte in seiner Aufnahme 1989 die Lieder verschiedenen Sängerinnen und Sängern zugeteilt, darunter dem Tenor Howard Crook und dem Bassisten Gilles Cachemaille. Bernheim aber ist nun alleiniger Interpret des kompletten Zyklus. Bei seiner Einspielung hat er sich für dessen ursprüngliche Fassung mit Klavier entschieden und in der Pianistin Carrie-Ann Matheson eine einfühlsame Partnerin gefunden. Zunächst ist die exemplarische Diktion des Franzosen hervorzuheben. Auch der kompetente Gebrauch der voix mixte ist ein Trumpf des Sängers. Irritierend aber sind der zuweilen aufgeraute, spröde Klang des Tenors und die forcierten hohen Töne. Man vermisst oft den Schmelz und die Süße – noch vor kurzem seine Markenzeichen. Und bei einer Platte mit dem Begriff „douce“ im Titel erwartet man schließlich Anmut und Charme. Der Beginn mit „Vilanelle“ klingt plärrend, um nicht zu sagen penetrant. Ein günstigerer Eindruck ergibt sich bei getragenen Stücken, so beim folgenden „Le spectre de la rose“, das träumerisch und mit feinen Zwischentönen ausgebreitet wird. Auch „Sur les lagunes“ und „Absence“ gefallen in der entrückten Stimmung und schwebenden Linie. Doch auch hier gibt es Momente, wo exponierte Töne im mezzoforte und forte ertrotzt wirken. Zauberisch  kommt „Au cimetière“ daher, während das letzte Stück, „L´île inconnue“, wieder verhärtet und uncharmant tönt.

Es folgt der Chausson-Zyklus („La fleur des eaux“ und „La mort de l´amour“) mit gleichfalls diversen  Eindrücken – auch dem der stimmlichen Überforderung.

Die Mélodies von Duparc schließen sich an und bieten mit „L´invitation au voyage“ deren bekannteste Komposition. Man kennt sie in feinsinnigerer Deutung. „Extase“ und „Phidylé“ haben dagegen delikate Nuancen, während das finale „La vie antérieure“ in seinem forcierten Duktus wieder irritiert.

Erstaunlich, dass Kosmas „Les feuilles mortes“ als erstes der drei populären Chansons am Ende einer der gelungensten Titel ist. Ähnlich angenehm tönt die Stimme in Trenets „Douce France“, womit die Platte versöhnlich ausklingen könnte, käme danach nicht noch das missglückte „Quand on n´a que l´amour“ von Jacques Brel. Bernd Hoppe

Carolina Ucellis „Anna di Resburgo“

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Eine Opernkomponistin 1835 in Italien? Aber ja! Carolina Ucelli! Die Suche nach Carolina Uccelli begann mit einem Druckfehler. Will Crutchfield – Maestro, Musikwissenschaftler, Musikkritiker, Gelehrter – durchforstete die Listen der Opern und Komponisten in Band IV von Francesco Florimos monumentalem Werk, das alle in Neapel in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts produzierten Opern katalogisiert, als er auf einen interessanten Eintrag für eine „Carolina Miceli“ und eine Oper namens Anna di Resburgo stieß, die laut Florimo 1835 am Teatro San Carlo nach einem Libretto von Gaetano Rossi aufgeführt wurde. Eine Oper von einer Frau? Im Italien der 1830er Jahre? Aufgeführt an einem großen Opernhaus? Für einen Belcanto-Liebhaber und Musikhistoriker in der Tat verlockend, aber nachfolgende Recherchen ergaben nichts über „Miceli“, bis Crutchfield einen korrigierten Eintrag in Giovanni Salviolis viel späterer „Bibliography of the Italian Dramatic Theatre…“ fand, in dem vermerkt war, dass der Komponist nicht Miceli, sondern Uccelli hieß und dass das Theater der Uraufführung nicht das San Carlo Neapel war, sondern das gemeinsam verwaltete Teatro del Fondo.

Die Komponistin Carolina Ucelli/Teatro Nuovo

Bei der Suche nach der Partitur wurde das Manuskript eines Kopisten in der Bibliothek des Konservatoriums von Neapel gefunden (wo Donizetti-Zeitgenonosse und Biograph Florimo eineinhalb Jahrhunderte zuvor Archivar gewesen war). Crutchfield nannte es „Hühnerkratzer“, aber auch Beweise für „eine geborene Opernkomponistin“, und es begann die lange Aufgabe, die handschriftliche Partitur für eine Aufführung dieser völlig unbekannten Oper einer völlig unbekannten Komponistin nutzbar zu machen, die sich in die Höhen der Opernproduktion in der Stadt gewagt hatte, die die Karrieren von Rossini, Donizetti, Bellini und so vielen anderen begründet hatte. (…)

Die Musik ist bemerkenswert, unnachahmlich melodisch und der dramatischen Situation angemessen. Die musikalischen Formen sind die, die man in einer Belcanto-Oper von 1835 erwarten würde – Arien, Romanzen, Cabalettas und Ensembles, die sich zu großen Höhepunkten steigern. Es ist eine erstaunliche Leistung für einen fast unerfahrenen Komponisten von etwa 23 oder 24 Jahren. Besonders erwähnenswert im ersten Akt ist das Trio der Anerkennung für Anna, Edemondo und Olfredo, „Io ti adoro, o ciel clemente“ mit seinem schönen Mittelteil und dem schönen Finale des Aktes. Der zweite Akt, dessen Libretto von Uccelli überarbeitet und verstärkt wurde, enthält jedoch die wahren Perlen. Man beachte die äußerst ungewöhnliche Auftrittsarie für Olfredo, „Nel Consiglio già raccolti“. Das Tottola-Libretto der Geschichte für G.S. Mayr hatte die Figur des Olfredo in einen Buffo-Bass verwandelt, der auf Neapolitanisch sang, aber als Rossi die Geschichte aufgriff, war Olfredo eine ernste Figur. Uccelli behielt die Tradition der komischen Plauderarie des Buffo bei, verwandelte sie jedoch in eine atemlose Schilderung der Beratungen des Rates, die zu Edemondos Todesurteil führten – ein einzigartiges Beispiel für ein ernstes Plauderlied in der italienischen Oper.

Fanny Tacchinardi-Persiani sang die Titelrolle in der Uraufführung der „Anna di Resburgo“, hier als Donizettis Lucia di Lammermoor/BNF Gallica

Oder man nimmt Norcestos zwei wunderbare Szenen im zweiten Akt – das Duett mit Anna, als sie versucht, ihn mit seinen schuldbewussten Ausflüchten davon zu überzeugen, den Mord zu gestehen, und seine Arie auf dem Friedhof, ebenfalls von Schuldgefühlen geplagt („Io ritrovo in ogni oggetto“) – beides echte psychologische Porträts eines nicht ganz so üblen Schurken, der weit entfernt ist vom romantischen Bösewicht aus Pappe (z. B. Enrico in Lucia). Oder nehmen Sie das gesamte Finale des zweiten Aktes, das sich auf dem Trauermarsch aufbaut, der Edemondos Marsch zum Friedhof zur Hinrichtung begleitet. Der von Uccelli mit einer Prise Dissonanz komponierte Marsch entwickelt sich zu einem kraftvollen Höhepunkt, der erst durch das rettende Ende und ein glückliches Duett für das treue Paar („Tra soavi ritorte di amore“) zu einer fröhlichen Melodie belebt wird.

Anna di Resburgo war 189 Jahre nach ihrer Geburt am 20. Juli im Alexander Kasser Theatre auf dem Campus der Montclair State University in Montclair, New Jersey, endlich wieder zu hören; dann folgte  eine weitere Aufführung ins Rose Theater am Columbus Circle in New York. Die halbszenische Produktion stammt vom Teatro Nuovo (TN), der Belcanto-Schmiede von Will Crutchfield (es sangen Chelsea Lehnea /Anna, Santiago Ballerini /Edemondo, Ricardo José Rivera/Noresto, Lucas Levy/Olfredo, Elise Albian/Etelia,/ Orchester und Chor/Derrick Goff des Tetro Nuovo, Leitung Elisa Citterio (Violine) und Lucy Tucker Yates (Cembalo); Inszenierung Marco Nisticò; Ausstattung  Adam Thompson/ Devon Allen/.Jason Flamos).  Charles Jernigan

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Dazu Will Crutchfielod selbst: Wer war Carolina Uccelli?  Biografische Informationen über Carolina Uccelli sind spärlich, und einige der Informationen, die man finden kann – sie wurden ohne neue Nachforschungen von einem längst vergangenen Wörterbuch zum anderen weitergereicht – sind nicht korrekt. Die obige Zeitleiste fasst den derzeitigen (noch vorläufigen) Stand unseres Wissens über sie zusammen.

Was dieses Wissen heute so interessant macht, ist die außergewöhnlichste Phase ihres kurzen Lebens: Für eine kurze Zeit in ihren Zwanzigern strebte sie danach, mit den Konventionen zu brechen, indem sie eine öffentliche Karriere als Theaterkomponistin anstrebte. Das war für Aristokraten stark verpönt und für Frauen schlicht unerhört.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Die junge Carolina war musikalisch frühreif und erwarb sich bereits im Teenageralter einen Ruf für ihre Klavierimprovisationen, ihren Gesang und ihre Kammer-Kompositionen. Wahrscheinlich komponierte sie Anna di Resburgo in den Jahren 1833-1835, und das Werk wurde in der Herbstsaison 1835 am Teatro del Fondo in Neapel viermal aufgeführt, mit einer weiteren Aufführung (möglicherweise Anfang 1836) am gemeinsam geführten Teatro San Carlo in derselben Stadt. Die Hauptsänger gehörten zur ersten Riege der Stars: die Sopranistin Fanny Tacchinardi-Persiani (die ursprüngliche Lucia di Lammermoor), der Tenor Napoleone Moriani (für den Donizetti und Verdi neues Material in Lucrezia Borgia und Attila einfügten) und der Bariton Giorgio Ronconi (der ursprüngliche Nabucco).

Das von Uccelli gewählte Libretto wurde erstmals 1819 von dem jungen Giacomo Meyerbeer und in den 1820er Jahren von mindestens zwei weiteren Komponisten vertont. Uccelli schrieb es grundlegend um, änderte den Namen der Heldin (ursprünglich Emma) und brachte das Drama auf den neuesten Stand für das hochromantische Zeitalter von Bellini und Donizetti. Die von ihr geschaffene Partitur rechtfertigt das hohe Lob, das Komponisten wie Rossini und Mayr ihren früheren Werken entgegengebracht hatten. Sie hat eine Frische der Erfindung, eine Klarheit der Charakterisierung und eine Sicherheit des theatralischen Tempos, die zweifellos Zuspruch gefunden hätte, wenn sie von einem Komponisten auf dem normalen Karriereweg produziert worden wäre.

Ucellis „Anna di Resburgo“ vom Teatro Nuovo New York/Szene/Teatro Nuovo

Obwohl das Werk in Neapel kein Flop war, wurde es von der Uraufführung einer anderen „schottischen“ Oper, Lucia di Lammermoor, durch dasselbe Ensemble in derselben Spielzeit gründlich in den Schatten gestellt. Die Hürden für die Akzeptanz einer Oper einer weiblichen Komponistin waren bereits hoch, wie wir aus der umfangreichen Korrespondenz zwischen Uccelli und dem Impresario Alessandro Lanari wissen, und nach Anna scheint sie sich von ihren theatralischen Ambitionen zurückgezogen zu haben. Nach Anna scheint sie sich von ihren Theaterambitionen zurückgezogen zu haben. Sie kehrte zu den gesellschaftlichen Kreisen ihrer aristokratischen Erziehung zurück, gab neben einigen öffentlichen Konzerten viele Privatkonzerte und komponierte kleinere Werke. Dazu gehörten eine Kantate zum Gedenken an Maria Malibran und vokale Kammermusik in italienischer und französischer Sprache, die hauptsächlich in Paris veröffentlicht wurden.

Ab Mitte der 1840er Jahre trat in ihren Programmen häufig ihre Tochter Emma, eine Sopranistin, auf. Sie wirkten mit großem Erfolg in London, Amsterdam, Mailand und München. Im Jahr 1852 traten sie bei einem der berühmten Pariser Salonkonzerte auf, die von Rossini veranstaltet wurden, der Jahrzehnte zuvor Uccellis Bemühungen um einen Platz an der Spitze der Opernwelt unterstützt hatte. Wir können nur vermuten, was sie produziert hätte, wenn dieser Wunsch in Erfüllung gegangen wäre. Anna di Resburgo lässt ahnen, dass wir eine geborene Opernkomponistin mit großem Potenzial verpasst haben.

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Napoleone Moriani sang die Tenorpartie der Uraufführung von „Anna di Resburgo“/Teatro Nuovo

Die Musik: Sowohl Rossini als auch Giovanni Simone Mayr (Donizettis Lehrer und Autor von Medea in Corinto, das in der ersten Spielzeit des Teatro Nuovo aufgeführt wurde) schrieben Briefe, in denen sie ihre Eindrücke von Uccelli als Opernkomponistin schilderten. Rossini kommentierte ihre erste Oper, Saul, deren Uraufführung er in Florenz besuchte. Mayr las die Partitur eines projektierten Eufemio di Messina, der nie produziert wurde. Es ist keine Partitur dieser Opern gefunden worden; einige Teile von Eufemio könnten in die spätere Anna di Resburgo eingeflossen sein (wir wissen, dass dies bei der Ouvertüre der Fall ist).

Uccelli legte großen Wert auf diese Briefe; es war ihr wichtig, als Frau, die einen Platz am Tisch der Männer suchte, zeigen zu können, dass einige der wichtigsten Männer, die bereits dort waren, sie für würdig hielten, aufgenommen zu werden. Beide leitenden Komponisten lobten Uccellis Fähigkeit, für die Instrumente des Orchesters zu schreiben. Mayr bewunderte ihren Kontrapunkt, „besonders die Basslinien“, und riet ihr, die Rezitative nicht auf die Streicherbegleitung zu beschränken, sondern der modernen Neuerung zu folgen, auch Bläser darin zu integrieren. Die Partitur von Anna zeigt, dass sie diesen Rat befolgte.

Rossini erklärte Saul für „geeignet, einen glücklichen Erfolg zu erzielen“, und bescheinigte der Debütantin „Ideenreichtum“ sowie „Ausdruckskraft und Eleganz in Deklamation und Melodie“. Er riet ihr, nicht so eifrig nach Aufführungen zu streben, dass sie riskieren würde, sie mit minderwertigen Sängern zu geben, sondern nach erstklassigen Künstlern Ausschau zu halten, „denn auch die beste Musik ist verloren, wenn sie dieser Hilfe beraubt wird.“ Dieser Empfehlung konnte Uccelli glücklicherweise auch folgen, wie die Starbesetzung der Anna-Premiere beweist.

Il Teatro del Fondo (a sinistra), dal 1870 Teatro Mercadante (a destra). L’edificio fu sottoposto a diversi interventi di restauro nel corso degli anni. /INA

Ihre Gesangskenntnisse und ihr Geschick im Schreiben von Vokalwerken scheinen ihr diese Aufgabe leicht gemacht zu haben; die Sänger waren begierig, Uccellis Musik aufzuführen. Sie hatte bereits mit Adelaide Maldotti und Lorenzo Bonfigli zusammengearbeitet, die Unterstützung von Maria Malibran und Gilbert-Louis Duprez in Anspruch genommen und eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Carolina Ungher begonnen. Lange nachdem Uccelli ihre Hoffnungen auf eine öffentliche Theaterkarriere aufgegeben hatte, traten in ihren Salonkonzerten weiterhin Künstler von ähnlichem Format auf. Sie schrieb (und begleitete) unter anderem für Sofia Cruvelli, Giambattista Rubini, Giulia Grisi und Antonio Tamburini. Jeder dieser Namen spricht Bände für Studenten der Opernwelt, in die die Komponistin eintreten wollte.

Die Partitur selbst: Uccellis Status als einsame Frau in der rauen Welt der männlichen Belcanto-Komponisten ist ein offensichtlicher Magnet für Aufmerksamkeit. Um so weit zu kommen, wie sie es tat, muss sie bemerkenswert gewesen sein. Das ist ein guter Grund, sich mit der von ihr komponierten Oper zu beschäftigen, aber kein ausreichender, um sie im 21. Jahrhundert zu reproduzieren. Dafür muss die Oper selbst Überzeugung und Befürwortung erwecken. Was finden wir also in dieser einzigen erhaltenen Partitur?

Zu „Anna di Resburgo“: Resburgo ist das schottische Roxburgh, wo auch Donizetttis „Lucia di Lammermoor“ angesiedelt ist/INA

Zuallererst, wie sowohl Rossini als auch Mayr bemerkten: Sicherheit. Sie versteht, wie das Orchester funktioniert, versteht den Aufbau von Musikstücken und deren Verteilung auf eine Geschichte; versteht in hohem Maße, wie man für Opernstimmen schreibt. So weit so gut, aber da ist noch mehr.

An mehreren Stellen sehen wir unkonventionelle Entscheidungen, die von der Bereitschaft und Fähigkeit zum Experimentieren zeugen. Mit einer Sängerin, die Erfahrung mit „Buffo“-Rollen und deren Sprücheklopfern hat, hat sie für die ganz und gar nicht komische Rolle des Olfredo eine brillante Rarität geschaffen: eine rasante Silbenarie, die nicht „buffo“ ist, sondern todernst, wenn der Vater atemlos die Geschichte des Prozesses erzählt. Sie ist eine der Perlen der Partitur. Ein weiteres ist der langsame Satz der Konfrontation zwischen Anna und Norcesto, in dem die beiden Kontrahenten innehalten, um sich getrennt voneinander ihre Angst vor der Pattsituation zu gestehen, die sie erreicht haben. Die Orchestrierung kombiniert hier Streicherbegleitung mit einem höchst ungewöhnlichen Paar von Soloinstrumenten, Flöte und Pauke. Das eine vielleicht für den Hoffnungsschimmer in Annas Herz, das andere für das Pochen der Schuld in Norcestos.

Auch das Schlussallegro („Cabaletta“) dieses Duetts ist kühn: Sopran und Bariton singen ihre obligatorische gemeinsame Reprise nicht unisono, nicht harmonisch, sondern im Kanon, mit verzahnten Einstiegen im Abstand von einem Takt. Dies ist ein Trick der „gelehrten Komponisten“, den schon Berlioz gern angewandt hat, aber ich kenne kein anderes Beispiel, in dem dies in einer italienischen Cabaletta versucht wurde. Es ist alles andere als einfach, die von der Cabaletta-Form geforderte musikalische Direktheit mit der technischen Herausforderung des kanonischen Schreibens zu verbinden. Uccelli gelingt dies mit beeindruckender Leichtigkeit und Brio.

Von Roxburgh Castle ist nur noch ein historischer Steinhaufen übriggeblieben/INA

Norcestos Schuldgefühle hingegen sind in seiner Musik irgendwie hörbar, noch bevor wir eine Andeutung davon im Text erhalten. Auf den ersten Blick singt er eine Arie voller Fröhlichkeit, in der er sich als wohlwollender Herr präsentiert, der sich am Glück seiner Untertanen erfreut – doch auf halbem Weg scheint er in einer unerwarteten Molltonart stecken zu bleiben und braucht eine beharrliche Wiederholung von Text und Musik, um aus ihr auszubrechen. Als Norcesto am Ende der Oper schließlich von seinem Gewissen übermannt wird, stellt er sich vor, wie der Geist des Ermordeten sich erhebt, um nach Gerechtigkeit zu rufen – nicht mit der erwarteten Stimme von Blut und Donner, sondern mit dem klagenden Flüstern einer unbegleiteten Flöte.

Momente wie diese sind in der gesamten Partitur zu finden. Im „großen Finale“ in der Mitte jeder Belcanto-Oper, wo die Handlung die Krise erreicht, die in der zweiten Hälfte gelöst wird, war es üblich, einen zentralen Überraschungsmoment zu haben, der alle in lyrische Reflexion versetzt, das „largo concertato“. (Das Sextett aus Lucia und die Szene von Bartolos Verblüffung in Der Barbier von Sevilla sind klassische Beispiele). In Uccellis Oper gibt es zwei Kandidaten für diesen Moment: Norcestos Schock, als er im Gesicht des vermeintlichen Waisenkindes Elvino die Züge des verbannten Edemondo sieht, und Annas Ausbruch, als sie ihre Verkleidung ablegt und offenbart, dass sie die Mutter von Elvino ist. Anstatt zwischen ihnen zu wählen, kennzeichnet Uccelli jedes mit einem eigenen kurzen, kompakten „Largo“ – was ein zusätzliches Allegro dazwischen ermöglicht und so ihr Finale zu einer noch symphonischeren Abfolge von ineinandergreifenden Sätzen ausbaut.

All dies sind für mich Anzeichen für einen geborenen Theaterkomponisten. Finden wir auch Zeichen der Jugend und der Unerfahrenheit? Natürlich – genau wie in den frühesten Opern von Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi. Es gibt nur wenige Komponisten, die bei ihren ersten Bühnenwerken nicht noch „auf der Suche“ sind. Als Musikkritiker würde ich sagen, dass Uccelli bestimmte „pikante“ harmonische Verläufe ein wenig zu sehr mag, die sie zwar gerne und gut verwendet, aber zu oft und zu eng beieinander. Und manchmal, wenn sie die Musik in eine neue Tonart gelenkt hat, ist sie etwas pedantisch, wenn es darum geht, in die alte Tonart zurückzukehren. Ich bin mir sicher, dass sie in ein paar Jahren geschickter darin geworden wäre.

Will Crutchfield conducting at Teatro Nuovo’s predecessor, the Bel Canto program at the Caramoor Festival (Photo by Gabe Palacio)

Aber als langjähriger Interpret italienischer Opern finde ich etwas Wichtigeres: Das Stück singt, und es spielt. Damit meine ich: Uccelli hat die Gabe, stimmliche Gesten und Phrasen zu finden, die die Dramatik des Augenblicks verkörpern, und sie setzt diese Momente überzeugend und in gutem Verhältnis zu der Geschichte, die sie inspiriert hat. Wir erleben die Gefahr und den Mut der Eltern mit; wir spüren die Gewissensbisse des Gegners, der versucht, seine Ambivalenz zu überwinden; wir werden von den einzelnen Ereignissen mitgerissen, während sie sich entfalten; nichts lässt uns zu lange warten oder überstürzt die Handlung. Sie weiß, wie man die Spannung einer Szene aufbaut und wie man sie in einem Höhepunkt entlädt.

Diese Qualitäten sind für einen Opernkomponisten sehr wertvoll. Es gibt einige großartige Komponisten (Haydn und Schubert zum Beispiel), die sie nie ganz gefunden haben. Und es gibt einige Italiener, die zu Uccellis Zeiten viel erreicht haben (Mercadante und Pacini zum Beispiel), ohne die Natürlichkeit der Erfindung zu haben, die sie von Anfang an zu besitzen scheint. Ich würde Anna di Resburgo nicht als Meisterwerk bezeichnen, aber sie hat aufregende Abschnitte, die mich leicht glauben lassen, dass ihre vierte oder fünfte Oper eine solche hätte sein können. Und noch etwas: Obwohl sie sich in den bekannten Formen und Stilen der Epoche bewegt, klingt ihre Musik nicht wie die der oben genannten Komponisten. Sie klingt wie sie selbst. Das ist mehr als genug Grund, ihre Stimme nach zwei Jahrhunderten der Vergessenheit wieder zu hören und eine mitreißende Oper, die keiner anderen gleicht, im Bel Canto-Kanon zu begrüßen. Will Crutchfield

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Zu „Anna di Resburgo“: Bothwell Castle, das historische Schloss für Ucelli und Donizetti, hier auf einer zeitgenössischen Darstellung/INA

Handlung: Die Handlung der Oper wird von zwei Vätern beherrscht, die bereits vor Beginn der Oper gestorben sind. Roggero und Duncalmo waren benachbarte Herren und waren Freunde und Waffengefährten gewesen. Doch der letztere, der die Ländereien des ersteren begehrte, ermordete seinen Kameraden heimlich und schob die Schuld auf Roggeros eigenen Sohn Edemondo.

Der von Schuldgefühlen geplagte Patriarch gestand die Tat auf dem Sterbebett seinem eigenen Sohn und Erben Norcesto. Doch Norcesto, der sich für das Verbrechen seines Vaters schämt, hat beschlossen, das Geständnis zu verheimlichen.

Edemondo ist ins Exil geflohen und hat seine Frau Anna und ihren kleinen Sohn Elvino zurückgelassen. Anna ist untergetaucht und lässt das Kind als unbekanntes Waisenkind bei dem Gutsbesitzer Olfredo aufwachsen, während sie sich als Bäuerin („Egilda“) verkleidet, um in seiner Nähe zu sein. All dies wird im Vorwort des veröffentlichten Librettos erklärt und im Laufe der Oper nach und nach in Dialogen enthüllt.

Erster Akt: Der Vorhang hebt sich in der Morgendämmerung von Olfredos Festtag. Seine Tochter Etelia dankt für die reiche Natur und begrüßt dann ihren Vater und die Gemeinschaft der Bauern und Hirten, die später gemeinsam feiern werden. Herannahende Trompeten kündigen die Ankunft von Norcesto, dem Herrn von Lanerck, an. Ein Herold verliest ein neues Edikt: Fremde dürfen in Lanerck nicht beherbergt werden, ohne dass ihre Identität bestätigt wurde, bis der flüchtige Verbrecher Edemondo gefunden und für den Mord an seinem Vater vor Gericht gestellt wurde. Unter vier Augen zeigt Norcesto sein Unbehagen, während Olfredo und Etelia ihren Verdacht äußern.

Der Bass der Uraufführung: Giorgio  Ronconi/Stahlstich von_Joseph Kriehuber(1840)/Archivio Storico Ricordi_

Während die beiden letzteren die Situation besprechen, ertönt der Klang einer Harfe. Die Harfenspielerin ist in der Grafschaft als „Egilda“ bekannt, aber Etelia vermutet, dass sie eine verkleidete Adelige ist. Wie wir nach ihrem Solo erfahren, weiß Olfredo insgeheim, dass sie Anna ist, die Frau des flüchtigen Edemondo. Er hat vermutet, dass sie die Mutter von Elvino ist, dem vermeintlichen Waisenkind, das er in Schutz genommen hat, und er verspricht Anna dasselbe.

Nun trifft Edemondo ein, der sein Exil unter Einsatz seines Lebens bricht, weil er die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn, die er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, nicht ertragen kann. Er ist wettergegerbt und abgemagert. Olfredo begegnet ihm, erkennt ihn aber erst, als Anna ihn anspricht. Olfredo glaubt ihm seine Unschuldsbeteuerung am Tod seines Vaters. So ist das Paar wieder vereint und auf Olfredo angewiesen, um sich vor dem Usurpator Norcesto zu schützen.

Die Schlussszene des ersten Aktes ist das Fest zu Olfredos Ehren, zu dem sich unerwartet Norcesto gesellt, dem zu Ehren gesungen wird. Anna und Edemondo sind anwesend, aber versteckt. Zu ihrem Entsetzen erkennt Norcesto im Gesicht des kleinen Elvino die Züge des Vaters und befiehlt, das Kind wegzutragen. Anna, verzweifelt, gibt sich zu erkennen, aber Olfredo hält Edemondo davon ab, dies zu tun. Als der Vorhang fällt, wird das Kind in Norcestos Schloss in Gewahrsam genommen.

Zweiter Akt: Der zweite Akt beginnt im Schloss, wo Olfredo und Etelia nach Elvino suchen. Wie sie bald erfahren, ist auch Anna aus demselben Grund gekommen. Ein wütender Mob ist ihr gefolgt, um von Anna zu verlangen, dass sie den Aufenthaltsort ihres flüchtigen Mannes verrät. Sollte sie sich weigern, drohen sie damit, sie und Elvino für sein Verbrechen verantwortlich zu machen. Edemondo, der sich in der Menge versteckt und die Gefahr für seine Frau sieht, gibt sich nun seinerseits zu erkennen. Er erklärt sich bereit, dem Tod ins Auge zu sehen, auch wenn er ungerechtfertigt ist, und bittet um die Sicherheit seiner Familie. Er wird zu einer Anhörung vor dem Ältestenrat abgeführt.

Anna hat jedoch Norcestos Anzeichen eines schlechten Gewissens wahrgenommen und stellt ihn zur Rede. Sie verlangt von ihm zu schwören, dass er nicht der wahre Mörder von Roggero ist, da sie davon ausgeht, dass ein Adliger nicht offen eine Lüge schwört. Aber sie weiß nicht, dass sein unangenehmes Geheimnis das Verbrechen seines Vaters betrifft, nicht sein eigenes. Nach einigem Zögern schwört er, was sie verlangt, und Anna ist verblüfft.

Bühnenbildentwurf zu „Lucia di Lammermoor“ von Tancredi Liverani/Archivio Storico Ricordi

Außerhalb der Ratskammer wartet Etelia auf das Urteil. Ihr Vater eilt herbei, nachdem er die Beratungen miterlebt hat, und berichtet ihr davon. Das Ergebnis: Edemondo ist zur Hinrichtung neben dem Grab seines ermordeten Vaters verurteilt worden.

Die letzte Szene spielt sich auf dem Friedhof ab, wo sowohl Roggero als auch sein wahrer Mörder Duncalmo begraben liegen. Norcesto ist der erste, der dort ankommt, und seine Gewissensbisse gipfeln darin, dass er glaubt, den Geist des Ermordeten zu sehen, der sich erhebt, um Rache zu fordern. Als er den Marsch der Henker und des Volkes hört, versteckt er sich hinter dem Grab seines eigenen Vaters.

Edemondo tröstet Anna und bereitet sich auf sein Schicksal vor, als Norcesto plötzlich hervortritt und seinen Betrug und den Wunsch seines Vaters vom Sterbebett aus zugibt, Wiedergutmachung zu leisten. Die Bevölkerung bittet Edemondo um Verzeihung für ihre ungerechte Wut.

Edemondo und Anna, die nun wieder in Sicherheit sind und ihren angestammten Besitz zurückerhalten haben, jubeln in einem letzten Duett. Will Crutchfield

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Der kurze Artikel von Charles Jernigan ist die Einleitung zu seiner Rezension der Aufführung in New Jersey 2024 (s. Die besondere Oper); der von Will Crutchfield stammt aus dem Programmheft des Teatro Nuovo zur nämlichen Vorstellung und wurde uns – in unserer Übersetzung/DeepL – liebenswürdiger Weise überlassen. Natürlich hoffen Belcanto-Fans auf eine CD-Aufnahme der Oper. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier  Red. Geerd Heinsen

Aggressivität und Melancholie

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Natürlich steht Joana Mallwitz beim CD-Debüt für die Deutsche Grammophon vor „ihrem“ Konzerthausorchester Berlin. Der Titel „The Kurt Weill Album“ (487 5670) steht für den Mut der Dirigentin bei der Programmauswahl, hat sie doch Weills nicht eben populäre Sinfonien Nr. 1 und 2 mit dem bekannten Ballett „Die sieben Todsünden“ kombiniert und damit nicht unbedingt einen Verkaufserfolg garantiert. Nach dem Hören der CD wird wohl mancher Musikfreund seine anfängliche Skepsis ablegen und das nächst  gelegene Musikgeschäft aufsuchen, um die CD zu erwerben. Denn Mallwitz bringt den Tonfall der Musik zu optimaler Wirkung – ihre Aggressivität wie ihre Melancholie.

Die Symphonie No. 1, betitelt die „Berliner Symphonie“, ist ein Frühwerk von 1921, wurde erst 1958 uraufgeführt, was dafür spricht, dass man dem Werk damals jegliche Bedeutung absprach. Die viersätzige Komposition beginnt mit einem Grave. Breit und wuchtig. Mallwitz realisiert diese Vorgabe imponierend, ohne den lyrischen Inseln des Satzes weniger Aufmerksamkeit zu schenken.   Auch den Charakter des 2. Satzes, Allegro vivace, Wild, heftig, trifft sie genau, suggeriert einen nervösen Großstadtlärm. Der 3. Satz, Andante religioso, kontrastiert als träumerisches Intermezzo, der 4., Larghetto. Ruhig, ohne Leidenschaft, beginnt mit einem pochenden Motiv, das sich zu einer hymnisch-breiten Klangfläche entwickelt Mit dem bestens aufgelegten Orchester gelingt der Dirigentin eine exemplarische Wiedergabe, die sich würdig einreiht in die wenigen existierenden Einspielungen (H. K. Gruber/Anthony Beaumont/Marin Alsop/Roland Bader).

Die Symphony No. 2 entstand 1934, ist dreisätzig und trägt die Bezeichnung „Fantaisie Symphonique“. Sie klingt viel Weill-typischer als die 1. und weist Gemeinsamkeiten mit den Sieben Todsünden auf. Motorische Hektik vernimmt man im 1. Satz, Sostenuto – Allegro molto, gewichtige ernste Klänge im folgenden Largo und am Ende im Allegro vivace eine ausgelassene Tanzszene. In Bruno Walter, der die Uraufführung in Amsterdam leitete, fand das Werk einen starken Fürsprecher. Joana Mallwitz folgt dem großen Vorgänger mit totalem Einsatz.

Zwischen den beiden sinfonischen Werken ist das Ballett platziert, welches 1933 in Paris zur Premiere kam.   Hier dominiert Katharine Mehrling als Anna I und II, sekundiert von den Tenören Michael Porter und Simone Bode sowie dem Bariton Michael Nagl und dem Bassbariton Oliver Zwarg in den Partien der Familie. In Sachen Brecht/Weill ist Mehrling eine erprobte Sängerin. Man hört bei ihr nicht den pathosreichen Diven-Ton einer Milva oder den gemeißelten Sound von Gisela May, freilich auch nicht deren geschärfte Diktion. Ihre Interpretation klingt weicher, dadurch weniger eindringlich und packend – mehr in der Nähe des französischen Chansons. Daneben gibt es auch plärrende oder an stimmliche Grenzen stoßende Momente (wie am Schluss der dritten Sünde: „Zorn“, der fünften: „Unzucht“ und siebten: „Neid“). Dennoch gelingen Mehrling bemerkenswerte Details in Tonfall und Färbung, vor allem in den kurzen Einwürfen von Anna II. Und mit dem Epilog, „Darauf kehrten wir zurück nach Louisiana“, knüpft sie an den von ihr den atmosphärisch  geformten Prolog, „Meiner Schwester und ich stammen aus  Louisiana“, an. Bernd Hoppe

Anita Cerquetti

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Die italienische Sopranistin Anita Cerquetti (1931-2014) war ein
Phänomen. Ihre Opernkarriere begann 1951 in Spoleto – und das bereits
als Aida (!) -, führte sie in die großen Opernhäuser der Welt und endete
schon wieder 1960 in Holland. Nach nur neun Spielzeiten zog sich die
damals erst 29-jährige Sängerin von der Bühne ins Privatleben zurück. Die
Gründe hierfür sind bis heute nicht ganz geklärt, in einem Interview gab die
Sängerin an, sie hätte sich dem Stress und dem Termindruck des
modernen Opernlebens nicht mehr aussetzen wollen.
Es gibt lediglich zwei kommerzielle Plattenaufnahmen von ihr, die beide
1957 bei Decca erschienen sind. Eine Studiokarriere blieb der Primadonna
allerdings verwehrt: Die Plattenfirmen besetzten die großen Sopranpartien
seinerzeit leider entweder mit Maria Callas oder Renata Tebaldi. Doch
dank zahlreicher erhaltener Liveaufnahmen wurde sie stattdessen zur
„Queen der Piraten“, deren halb- bis illegalen Mitschnitte unter Stimm- und
Opernliebhabern früh als Aufnahmejahr: 1954-1957; 1960 besondere Kostbarkeiten auf dem Schwarzmarkt kursierten.

Die Gründe hierfür sind nachvollziehbar: Weil hier eine Stimme in
allerüppigster Weiblichkeit pure Sinnlichkeit verströmt. Weil diese Stimme
eine der schönsten ist, welche die Oper je gehört hat; nie aggressiv,
scharf, schrill, dafür rund, weich, lyrisch, empathisch. Diese Stimme war
geradezu wie gemacht für die romantischen Heldinnen Giuseppe Verdis –
für die weich schwingenden, melancholisch umflorten Melodiebögen der
Ernani- wie Vespri Siciliani-Elvira, der Maskenball-Amelia, der Don Carlo-
Elisabetta, der Forza del destino-Leonore, ja sogar für die gewaltigen
Oktavsprünge der herrischen Nabucco-Abigaille. Anlässlich des 10.
Todestags erscheint die vorliegende Box, die die unvergessene Anita
Cerquetti als führende Verdi-Interpretin ihrer Zeit würdigt (Pan/Note 1 PC10464/ 14 CDs). Note 1

Vermächtnis

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Vor achtzig Jahren wurde Sir Michael Tippetts Oratorium Andrew Davis dirigiert Tippetts A Child of Our Time im Londoner Adelphi Theatre unter Leitung des deutschen Emigranten Walter Goehr uraufgeführt. Zu den vier Solisten gehörten die Sopranistin Joan Cross und der Tenor Peter Pears, der sich zusammen mit Benjamin Britten maßgeblich für eine Aufführung des Freundes eingesetzt hatte. Brittens Gegenstück folgte übrigens erst 1962. Es scheint eine „zusammengestückelte und recht amateurhafte Angelegenheit“ gewesen zu sein, wie Marvyn Cooke im Beiheft der Chandos–Aufnahme vermerkt (Chandos CHSA 5341, inzwischen im Naxos Vertrieb), die das Werk, von dem nur wenige Einspielungen vorliegen, 80 Jahre nach diesem Ereignis mit Andrew Davis, dem „anderen Davis“ als den ihn schon der Komponist bezeichnete, und dem BBC Symphony Orchestra jetzt vorlegt. Colin Davis hat das Werk u.a. 1975 in London ebenfalls mit dem BBC Symphony Orchestra aufgenommen, Tippett (1905-98) nahm es wenige Jahre vor seinem Tod 1991 in Birmingham auf. Der kürzlich verstorbene Andrew Davis ist bei einer seiner vermutlich letzten Aufnahmen ein eloquenter Anwalt Tippetts und kann sich vor allem auf die geradezu fesselnde Imagination des BBC Symphony Chorus verlassen.

A Child of Our Time. Oratorio for Soli, Chorus and Orchestra with Text and Music by Michael Tippett mahnt zu Humanismus, Toleranz und Gerechtigkeit, Ideale für die der überzeugte Kriegsdienstverweigerer Tippett auch ins Gefängnis ging. A Child of Our Time ist ein schweres Stück. Als ich es vor Jahrzehnten zum ersten Mal hört, hat es mich allerdings mehr beeindruckt. Tippett hat ungemein viel in dieses gerade mal einstündige Werk gepackt, angefangen vom Titel, der Ödön von Horvaths 1938 erschienenem Roman entnommen ist, über die im Mittelteil angedeutete Geschichte des 17jährigen Herschel Grynszpan, der im November 1938 in Paris den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath erschossen hat, was die bereits geplanten Novemberpogrome rechtfertigen sollte und für Tippett Anlass für die Komposition war – Herschel Grynszpans Vater konnte übrigens 1952 und 1962 bedeutende Aufführungen in Haifa und Tel Aviv erleben – über das Vorbild der Oratorien Bachs und Händels bis zu der Jungschen Psychologie oder seinen Archetypen, die sich im vorangestellten Motto manifestiert (…the darkness declares the glory of light/ Die Dunkelheit kündet von der Herrlichkeit des Lichts) und den fünf traditionellen Spirituals. Den Text hat Tippett, wie später bei all seinen Opern, selbst geschrieben.

Dirigent Andrew Davis ist spürbar bestens vertraut mit dem Werk, steuert behutsam zwischen den dramatischen Blöcken und betrachtenden Sequenzen und hat den Chor sicher im Griff, ohne dass er dem Werk ein spezifisches Gesicht oder innere Kohärenz verleiht. Von den Solisten ist  Sarah Connolly, die bei den Aufnahmen im Mai vorigen Jahres kurz vor ihrem 60 Geburtstag stand, nicht immer sehr tonschön, aber eindringlich und anrührend. Anrührend ist auch der schmale, nasale Ton des Tenors Joshua Stewart. Der Bassbariton Ashley Riches singt mit Autorität, der wolkig verhangene unstete Ton von Pumeza Matshikize macht weniger Freude. Rolf Fath

Unmögliches (fast) möglich gemacht

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Dass die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, war zumindest bis zur Erfindung von Fotographie und Film nachvollziehbar, dass einer Sängerin, eben Caroline Unger, die von 1803 bis 1877 lebte, als von einer Tonaufzeichnung noch nicht die Rede sein konnte, ein Buch von 575 Seiten bei Königshausen & Neumann gewidmet werden kann, scheint unvorstellbar, ist aber von der Musikologin Eva Nesselrath erfolgreich in die Tat umgesetzt worden. Es geht in ihrem Werk allerdings nicht nur, wie der Untertitel verrät,  um die Stimme, sondern auch um die Karriere und die Kompositionen von Caroline Unger, und es hätte durchaus auch noch die Gesangspädagogin in die Aufzählung ihrer Meriten aufgenommen werden können.

Zunächst befällt den Leser (vielleicht) ein Schreck, wenn er erfährt, dass erst die Genderforschung (und das Internet) das Buch ermöglichten, ihm auch (selten!) ein Gendersternchen zugemutet werden muss, aber dann liest er sich mit wachsendem Vergnügen in ein Buch ein, dass zugleich hoch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht zuletzt durch einen umfangreichen kritischen Apparat gerecht wird, sondern zugleich auch höchst flüssig und unterhaltsam geschrieben worden ist. Von der Wichtigkeit der portraitierten Person ist er auch spätestens von der Seite an überzeugt, auf der davon berichtet wird, dass Gaetano Donizetti mehrere Opern auf ihre Stimme zugeschnitten komponierte und sie als aus dem deutschen Sprachraum stammende Sängerin von den Italienern auf eine Stufe mit einer Giuditta Pasta gestellt wurde.

Es geht zunächst um den Forschungsstand im 20. und 21. und dann zurückblickend im 19. Jahrhundert, und bereits hier wird, wie dann auch noch einmal in der abschließenden Würdigung einige hundert Seiten später darum, dass selbst eine so berühmte Frau wie die Unger oder, in Italien, Ungher, erwähnenswert vor allem deswegen erschien, weil sie in eine lockere oder innigere Beziehung zu einem berühmten Mann trat, so als sie als die Altistin bei der Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie dem Komponisten, indem sie ihn zum jubelnden Publikum umdrehte, seinen Riesenerfolg verdeutlichte, oder indem sie Nikolaus Lenau für einige Zeit vom völligen Versumpfen abhielt.

Das Buch geht eine glückliche Verbindung zwischen soziologischen Betrachtungen über den Standort der Primadonna nach dem Abtreten der Kastraten als Stars der Opernbühne  und dem persönlichen Schicksal der Unger ein, macht den Leser damit bekannt, dass eine Sängerin mit dem Eintritt in eine Ehe normalerweise ihren Beruf aufgeben musste, dass sie zwischen angebeteter Göttin und verachtenswerter Hure ihren Platz finden musste, und weist ihn auf die hauptsächlichen Quellen, Briefe, Kritiken, Huldigungstexte und das verwendete Notenmaterial, hin. Der Erschließung des Wesens der Stimme dient insbesondere das Notenmaterial, so das der Donizetti-Opern, das ihrer eignen Kompositionen und das der musikalischen Widmungen einzelner Komponisten oder sonstiger Verehrer. Dabei istzu berücksichtigen, dass mit zunehmendem Ruhm auch eine zunehmende Verschleierung und Mystifizierung stattfand und nicht zuletzt, dass immer die intensive Darstellung, weniger die Stimme des Ruhmes der Zeitgenossen teilhaftig wurde.

Caroline Unger/Kostümbild für ihre Elvira im Don Giovanni“ in Paris/BNF Gallica

Nach den einleitenden Betrachtungen zeichnet Nesselrath die einzelnen Karriereschritte der Unger nach, vom Alt zum Sopran und damit von der seconda donna zur Primadonna, von der Wiener Konzertsängerin zum Opernstar in Neapel und danach in allen großen italienischen Häusern, von der von Beethoven vorgesehenen Melusine in einer nie vollendeten Oper zu Tourneen nach Paris, London und auch Deutschland, wo man nicht müde wird, zwar den italienischen Gesangsstil zu bewundern, aber auch die deutsche Tiefe, derer man sich rühmt, hervorzuheben. Natürlich gibt es eine Unmenge von Zitaten in allen möglichen Sprachen, und mancher Leser wird dankbar sein, dass alle Texte im Anhang ins Deutsche übersetzt werden. Bemerkenswert ist auch der überschwängliche Stil, in dem  sich Kritiker in Italien wie in Deutschland äußern, geradezu sich in eine hochpoetische Sprache hineinsteigern, um die Qualitäten der Künstlerin angemessen zu würdigen. Man erfährt also nicht nur viel über Caroline Unger, über das Musikleben ihrer Zeit, sondern auch der Soziologe oder der Sprachwissenschaftler kann aus diesen reichen Quellen Wissen schöpfen.

Die Entwicklung der Stimme kann der Leser aus der Wahl der Rollen erschließen, die Donizetti für die Sängerin komponierte.  Es beginnt auch mit Hosenrollen für den Alt, ehe sich die dunkel bleibende Stimme mit erkämpfter Höhe zu der einer Tragédieuse entwickelt, deren Tonumfang, Tessitura, dramatisches Vermögen aus den vielen Notenbeispielen abzulesen sind. Nachvollziehbar wird auch, dass sie stets dem romantischen Belcanto verpflichtet blieb, Verdi zum Beispiel ablehnte. Die Kunst von Caroline Unger spiegelt sich auch in den Widmungen u.a. von Heine, Hensel, Meyerbeer, der sie für die Hugenotten wollte, Pauline Viardot oder Johann Strauss mit seinen Rosenblättern wider.

„Karoline (!) Unger“ um 1870/Foto Leopold Bude Graz/Wiener Theatermuseum

Bei so vielen mitteilenswerten Tatsachen kann auch ab und zu ein Irrtum auftauchen, wie ein angeblicher Carlo im Trovatore oder die Verwechslung von Udine mit Undine.

Mit 38 Jahren verlässt Caroline Unger die Opernbühne, heiratet nach langem Zögern einen fünfzehn Jahre jüngeren Mann, versammelt in Florenz in ihrem Salon die kulturelle Elite Europas um sich und bildet zahlreiche Sängerinnen und einen Tenor aus, der ausgerechnet mit Verdi berühmt wird.

In ihren Liedern wird der Einfluss Schuberts, dessen Werk sie studiert, hörbar, sie dienten vielleicht der Gesangslehrerin als Unterrichtsmaterial.  Ob ihre Ausstrahlung als Sängerin und als begehrenswerte Frau andere Künstler inspirierte, so Dumas zu einem Roman, kann auch die Verfasserin nicht klären, so wenig wie, welcher Art das Verhältnis zu Liszt war. Auf jeden Fall wird der Leser mit der Meinung der Autorin, dass ihre „Karriere von Polarität geprägt“ war, zustimmen können. 

Umfangreich ist der Anhang mit einer tabellarischen Übersicht der Opernproduktionen, der Übersicht über die Lieder, dem Literaturverzeichnis, der Zeitungsartikel, des Archivmaterials, der Internet-Quellen, der Libretti und Notenausgaben, der Notenbeispiele im Sopranschlüssel, der Huldigungsgedichte und eines Fotos vom Elterngrab. Es bleibt der unerfüllbare Wunsch, die Stimme von Caroline Unger zu vernehmen (Königshausen & Neumann 2024, 575 Seiten; ISBN 978 3 8260 8746 2.) Ingrid Wanja          

Zum 200. Geburtstag

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Bestechend elegant in der Optik und überzeugend im akustischen Eindruck ist die von Supraphon zum 200. Geburtstag des Komponisten auf den Markt gebrachte Ausgabe sämtlicher Opern Bedřich Smetanas, angefangen von den Braniboři v Čechách (Die Brandenburger in Tschechien) und endend mit der nur wenige Tracks umfassenden Viola, deren Librettto sich auf Shakespeares Was ihr wollt stützt. Jeder Oper ist eine zart beigefarbene Kassette gewidmet mit der Silhouette des Bühnenbilds  als Cover, mit einem eigenen Booklet, dem man die Besetzung, die Trackliste, die Entstehungsgeschichte des  jeweiligen Werks und eine Inhaltsangabe entnehmen kann, alles auf Tschechisch und auf Englisch.

Auf eine digitale Verfügbarkeit des jeweiligen Librettos, ebenfalls in beiden Sprachen, wird verwiesen, und der Namenszug des Komponisten sowie das Uraufführungsplakat sind ebenfalls zu bewundern. Fotos zeigen die wichtigsten Sänger der durchweg in den in den Sechzigern oder Achtzigern vorwiegend im Prager Nationaltheater aufgeführten Opern, die Tonaufnahmen entstanden in eben dieser Zeit im Studio und wurden in jüngster Zeit remastered. Nicht aus Prag und lediglich als  Studioaufnahme existiert Hubička (Der Kuss), in Brünn aufgenommen.  Alle Opern wurden natürlich in der Originalsprache gesungen, was einen besonderen Wert ausmacht, die Sänger sind bis auf wenige Ausnahmen,  so Gabriela Beňačkova als Marie in Die verkaufte Braut und Libuše, die zur Wiedereröffnung des Prager Nationaltheaters aufgeführt wurde, und Peter Dvorsky als Hans in Die verkaufte Braut national sicherlich sehr, international weniger bekannte Sänger. Allerdings könnte es sich bei der als Jitka im Dalibor aufgeführten Hana Svobotá Jankǔ um die als Gioconda oder Turandot auf allen großen Bühnen geschätzte Sängerin handeln.   

Smetana drückte seine Heimatliebe, die sicherlich auch durch das Nichtvorhandenseins eines souveränen Staats für die Tschechen genährt wurde, nicht nur in den populären sinfonischen Dichtungen Mein Vaterland oder Die Moldau aus, sondern auch in seinen Opern, insbesondere in Braniboři v Čechách, Libuše und Dalibor, die auf teils sagenhafte historische Ereignisse zurückgreifen. So geht es in seinem Erstlingswerk um die nach dem Tod Ottokars II., von Franz Grillparzer in dessen Drama König Ottokars Glück und Ende besonders gewürdigt, erfolgte Besetzung (heute) tschechischen, ehemals Böhmischen Gebiets durch die Brandenburger und die Befreiung von dieser, die in der Oper zudem die von drei böhmischen Schwestern bedeutet, deren eine einen Tschechen liebt, aber einen Deutschen heiraten soll. Am Ende sind Mädchen wie Tschechen insgesamt frei, und alle können in einen Jubelchor einstimmen, nachdem es bereits in dem einschließlich Ballett nach dem Muster einer Grand Opéra gestrickten Werk viele patriotische Chöre à la patria oppressa gegeben hat. Die Oper wurde übrigens unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gleich an zwei der drei Opernhäuser Prags gegeben, nach 1948 war man vorsichtig, weil die Eingangsworte sich gegen eine Fremdherrschaft richteten, die nach dem erneuten Prager Fenstersturz, dem des Außenministers Masaryk, und damit die Sowjets hätten herausfordern können.   

Emmy Destin Sang die Marenka in der Uraufführung/ Foto Bärenbreiter

Das Orchester des Prager Nationaltheaters unter Jan Hus (!) Tichŷ lotet die Farbigkeit und das Pathos der Partitur mit hörbarer Wonne aus.  Ganz am Schluss der Besetzungsliste taucht ein Kmet, was so viel wie Alter Mann heißt, auf, der aber eine Schlüsselrolle im Freiheitskampf einnimmt und der von Eduard Haken mit hoch autoritärem Bass eindrucksvoll sonor gesungen wird. Den Vater im Dreimäderlhaus und zugleich Bürgermeister von Prag singt Karel Kalaš mit schlankerer tiefer Stimme, Zdenȇk Otava zeigt seinen fiesen Charakter als Jan Tausendmark mit teils verzerrten Tönen seines an sich nicht hässlichen Baritons. Das gilt auch für den Sänger des Varneman, Antonin Votava, Anführer der Brandenburger, dessen Tenor rollengerecht nicht auf Schöngesang ausgerichtet ist.  Der glücklichere der beiden Liebhaber der umschwärmten Ludiše ist Ivo Židek, dessen Tenor heldentenorale Kraft wie lyrische Innigkeit demonstrieren darf. Etwas fippsiger ist der von Bohumir Vich für den Jira, der in einer hübschen Arie aber auch Liebhaberqualitäten zeigen darf. Lyrisch mädchenhaft, was nach dem Betrachten des Fotos der Sängerin erstaunen lässt, klingt der Sopran von Milada Šubrtová, allerdings zeigt er auch die für slawische Stimmen oft typischen Schärfen in der Höhe.

Auch die Schwester Vičenka darf eine Arie singen und tut dies mit dem herb-frischem Sopran von Miloslava Fidlerová . Allen Sängern gemeinsam ist die vorzügliche Textverständlichkeit, die man auch bei ostdeutschen Bühnen zu schätzen wusste, die aber natürlich wenig nützt, wenn man des Tschechischen nicht mächtig ist.   

Offensichtlich auf keiner szenischen Aufführung basierend, sondern eine reine, sich über zwei Monate des Jahres 1981 hinziehende Studioaufnahme ist die der Verkauften Braut in Starbesetzung mit Gabriela Beňačková und Peter (nicht Petr), aber Dvorsky, die auch nicht von einem Opernorchester der Stadt Prag, sondern von der Česká filharmonie unter Zdenȇk Košler und dem Pražskŷ  filharmonicky sbor begleitet werden. Die Szenenphotos, die auch hier nicht fehlen, stammen vom Tschechischen Fernsehen.

Die verkaufte Braut ist mit Abstand Smetanas populärste Oper, deren „Komm mein Söhnchen, auf ein Wort“ oder „Endlich allein“ Wunschkonzertqualitäten haben. In der Originalsprache hört sich das alles noch frischer, noch tiefer berührend und gar nicht mehr abgedroschen banal an. Noch mitreißender ist der Furiant, noch flotter die Ouvertüre, in der es auch einmal gewollt derb zugeht, der Ausdruck der Gefühle klingt noch überzeugender, die naive Fröhlichkeit der Chöre noch strahlender. La Beňačková  ist eine blond klingede Mařenka mit zartem Klang für die Rezitative, verletzbar, mädchenhaft, mit viel Wärme im Duett mit dem Vašek von Miroslav Kopp, der einen für diese Partie außergewöhnlich ansehbaren oder vielmehr anhörbaren Tenor besitzt.

Zum Mitweinen schön getaltet die Tschechin die Arie der sich verlassen Glaubenden und kann durchaus bestehen neben anderen wunderbaren Bräuten wie Lucia Popp oder Pilar Lorengar. Ein herbes Strahlen, eine Nähe zum Hörer herstellende Direktheit zeichnet den Jenik von Peter Dvorsky aus, dessen Stimme hier im Unterschied zu seinen italienischen Partien dem Idiom des Ursprungslandes gerecht wird. Eine frische Soubrettenstimme besitzt Jana Jonášová für die Esmeralda, Richard Novák ist nicht nur derb polternd, sondern ausgesprochen schattierungsreich in seinen Versprechungen und bettet viel Komik in seinen Gesang ein.  Was in Aufführungen in deutscher Sprache sich dem netten Singspiel näherte, wird in dieser originalsprachlichen Aufnahme zum facettenreichen Drama, auch wenn die Ludmila von Marie Veselá nur eine Zwitscherstimme hat.  Dafür ist der akustische Tumult umso chaotischer, wenn es am Schluss heißt: Der Bär ist los.

Es folgten Dalibor, Libuše, Zwei Witwen, Der Kuss, Das Geheimnis und Die Teufelswand, wobei  Hubička, Der Kuss, vom Orchester und Chor der Oper von Brünn unter František Vajnar als Studioaufnahme gestaltet wurde.

Smetana mit seinen Freunden, Gemälde von František Dvořák, 1865/ Wikipedia

In seinen letzten zehn Lebensjahren, von 1874 bis 1884, arbeitete der Komponist mit vielen Unterbrechungen, zwischendurch wurde Tajemstvī, Das Geheimnis, uraufgeführt, an einem nicht tschechischen Sujet, an Shakespeares Was ihr wollt, das den Arbeitstitel Viola trägt. Davon gibt es die ersten Szenen, in denen bei einem Schiffsunglück das Zwillingspaar Sebastian und Viola voneinander getrennt wird, der Herzog Orsino auftritt, und das nur mit Klavierbegleitung, denn die Orchestrierung hat bereits geendet. Das Fragment wurde 1924 und 1944 aufgeführt, jeweils zu runden Jahrestagen. Bemerkenswert ist die Besetzung des Zwillingspaares mit einem Mezzosopran und einem Sopran, wobei die beiden Stimmen, Marie Veselá für die Viola mit hellem Sopran und Drahomira Drobková für den Sebastian mit dunklem Mezzosopran, beinahe so weit voneinander unterscheidbar sind, als handle es sich um Sopran und Tenor. Dieser gehört allerdings dem Orsino von Miroslav Švejda, der zwischen Charakter- und lyrischem Tenor schwankt. Zdenȇk Košler macht das neuerliche Liebeswerk mit dem Orchester des Prager Nationaltheaters möglich und vollendet so ein begrüßenswertes, eine würdige Ehrung des Komponisten darstellendes Unternehmen (17 CDs Supraphon 2024/ Foto oben: Bärenreiter). Ingrid Wanja

Griechisches Oratorium

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Auf seiner zweiten Missionsreise, die ihn durch weite Teile des heutigen Griechenlands führte, kam der Apostel Paulus im Jahr 51 nach Athen. Um an dieses Ereignis vor 1900 Jahren zu erinnern, formierte sich im Januar 1950 in Athen ein Komitee zur Beauftragung einer Komposition. Nicht weniger als ein Oratorium sollte es ein, das von Leben und Wirken des Apostels erzählt, das Tradition und Moderne, östliche und westliche Modelle verbindet und das nach Griechenlands traumatischen Kriegs- und Nachkriegsjahren einheimische wie ausländische Besucher anzuziehen vermochte. Die Wahl fiel auf Petros Petridis (1892-1977), der innerhalb von drei Monaten den Text verfasste und in weiteren drei Monaten die Komposition fertigstellte, die am 29. Juni 1951 im Odeon des Herodes Atticus unter seiner Leitung erstmals aufgeführt wurde.

Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Der in der Türkei geborene Petridis studierte in Konstantinopel und ab 1911 in Paris zunächst Jura, dann Klavier und Komposition bei Albert Wolff und Albert Roussel und lebte ab 1919 abwechselnd in Athen und Paris als Komponist, Dirigent und Kritiker für griechische und englisch-amerikanische Publikationen. Der gelegentlich als erstes griechisches Oratorium bezeichnete Aglos Pavlos oder Saint Paul, dem ähnliche weltliche wie geistliche Werke von Mantzaros, Lialios, Levidis, Lavragas, Poniridis oder Nezeritis vorausgegangen waren, ist nun in einer bereits 2004 in Sofia entstandenen Aufnahme zu erleben. Byron Fidetzis dirigiert das Bulgarische National Radio Symphony Orchestra, das auf der zweiten CD auch mit einer rund 20 Jahre zuvor entstandenen Aufnahme der erste Sinfonie G-moll Hellenic und den Kleft Dances von Petridis zu erleben ist. Fidetzis, der innerhalb der Griechenland-Initiative von Naxos auch Werke von Kalomiris, Kalafati und das Requiem von Petridis dirigierte (und auf dem inzwischen verschwundenen Label Lyra eine ganze Reihe von griechischen Opern vorlegte und sich über viele Jahre um die Klassische Musik seines Heimatlandes kümmerte, wie oft hier bei operalounge.de angemerkt), besorgte verdienstvollerweise auch die Editionen der Werke (2 CD Naxos 8.574356-57).

Das rund zweistündige Oratorium schildert von der Steinigung des Stephanus und dem Damaskus-Erlebnis des Paulus über Prozessionen und Erlebnisse in Korinth, Ephesus und Jerusalem die Geschichte des Apostels bis zu seiner Enthauptung in Rom nach Texten aus dem Neuen Testament und verbindenden Erzählungen, die der Komponist selbst verfasste und einem Erzähler überträgt. Der Erzähler, in diesem Fall der Bariton Dimitris Tiliakos, der 1997 am Prinzregententheater als Graf Almaviva sein Debüt gegeben hatte und den man zuletzt in Essen als Simon Boccanegra oder in Zürich als Don Pasquale hören konnte, gestaltet die Erzählergestalt mit fabelhafter Lebendigkeit, sein charaktervoll biegsamer und dunkler Bariton hält das lange, zweistündige Werk zusammen. 14 große Choräle, vom Bulgarischen National Radio Chorus mit gewaltigem Impetus gestaltet, gliedern die beiden Akte, in dem acht weitere Solisten jeweils mehrere Figuren übernehmen, darunter als vermutlich bekanntester Name der Bassist Christophoros Stamboglis. Das „Byzantinische Oratorium“, so der Untertitel, überrascht durch eine geradezu farbige, vielgliedrige Erzählweise, die einen großen Bilderbogen im Stil von Hollywoods damals aufkommenden Visualisierungen der Antike entrollt. Als Beispiel sei die Reise nach Damaskus genannt, eine wild und opernhaft zerklüftete, sehr leidenschaftliche Szene mit Chor, Erzähler, dem Jünger Ananias sowie der Stimme von Jesus, dem der leichte Tenor Yannis Christopoulos seine Stimme leiht. Es gibt viele von solchen szenisch illuminierten und von Fidetzis mit einer gewissen Grandeur dirigierten Abschnitte, doch auch steife Momente, in denen die Arien, Duette, Terzett und Quartett und die Verbindung eines byzantinischen Stils mit Bachschen Modellen auf der Stelle tritt.

Interessant sind als Ergänzung die Ende der 1920er Jahre entstandene und 1933 von Dimitris Mitropoulos uraufgeführte erste „hellenische“ Sinfonie zu hören sowie die rhythmisch obsessiven Kleft Dances von 1922, das erste Werk für großes Orchester von Petridis. Rolf Fath

Zum ersten Mal auf Video

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Die letzte von sieben Opern ist Francesco Cileas Gloria, dessen L’Arlesiana immerhin den Dauerbrenner und damit die allseits beliebte Zugabe des Lamento di Federico und dessen Adriana Lecouvreur eine Bombenrolle für eine Magda Olivero oder Raina Kabaivanska bereit hält. Ein herberes Schicksal ist seiner Gloria beschieden gewesen, die 1907 in Mailand uraufgeführt, aber bereits nach wenigen Vorstellungen wieder abgesetzt wurde, die er gründlich über- und umarbeitete und die 1932 in neuer Fassung in Neapel wieder aufgeführt wurde. 1938 gab es eine bejubelte Vorstellung in Rom mit Maria Caniglia und Beniamino Gigli in den Hauptrollen und in Anwesenheit von Benito Mussolini, was dem Werk nach 1945 nicht gerade dienlich war. Ein letzter verzweifelter Versuch, seiner Oper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war Cileas Bitte an Maria Callas, die er für die ideale Interpretin der Gloria hielt, sich um eine Aufführung zu bemühen. Sie zeigte keinerlei Interesse daran. Immerhin führte man Gloria 1997 in der historischen Freiluftkulisse der Geschlechtertürme von San Gimignano  mit Fiorenza Cedolins und Alberto Cupido auf und befand sich damit nur wenige Kilometer vom Handlungsort, der ebenfalls toskanischen Stadt Siena, entfernt. KIKKO hatte diese Aufführung auf zwei CDs verewigt, die man auch bei you tube hören kann.

Nicht oft genug betonen, ja loben kann man das Bestreben des Opernhauses von Cagliari, in jeder Spielzeit mindestens ein unbekanntes Werk aufzuführen, so aus dem italienischen Repertoire Marinuccis Palla de‘ mozzi, Refices Cecilia, außerdem Gomez‘ Lo Schiavo, aber auch in ihren Herkunftsländern mit Missachtung gestrafte Opern wie Webers Euryanthe oder Tschaikowkis Pantöffelchen. Selbst die sardischen Vorfahren, die Erbauer der Nuraghe, wurden bereits gewürdigt.

Es geht um eine Romeo-und-Julia-Geschichte, um die Feindschaft zwischen den Guelfen, den Anhängern der Braunschweiger Welfen, und den Ghibellinen, die auf der Seite der Staufer standen, also um die Nachwehen eines unbedachten Akts Leos III., der Weihnachten 800 in Rom den überraschten fränkischen König Karl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt und damit den späteren deutschen Königen die Verantwortung für Italien auferlegt hatte. Dass Italien wie Deutschland erst im 19. Jahrhundert zur Einheit fand, war die Spätfolge dieses unbedachten Tuns.

In Siena, das auf der Seite der Guelfen steht, feiert man die Einweihung eines neuen Brunnens durch die Tochter des Priors Aquilante gemeinsam mit den eigentlich vertriebenen Anhängern der Ghibellinen, die jedoch bei Anbruch der Dunkelheit die Stadt wieder verlassen müssen. Unter ihnen ist Lionetto, Sohn des Anführers der Ghibellinen, der sich in Gloria verliebt und auch von ihr wohlwollend beachtet wird. Als nach Einbruch der Dunkelheit der Tabubruch bemerkt wird, Guelfen und Ghibellinen aneinander geraten, entführt Lionetto Gloria. Im zweiten Akt finden wir Gloria in Gefangenschaft Lionettos, der sie um ihre Hand bittet. Sie stimmt zu, auch um den Frieden zwischen den beiden Parteien wieder herzustellen. Ihr Bruder Bardo fordert sie jedoch auf, den Bräutigam mit einem Schwert, das er ihr überlässt, zu töten. Sie weigert sich, stimmt jedoch zu, ihm Gift zu verabreichen. Als Lionetto berichtet, zum Frieden bereit zu sein, ist sie auch dazu nicht mehr in der Lage, sondern will selbst das Gift trinken, was wiederum Lionetto verhindert. Der dritte Akt führt den Zuschauer in  die Hauskapelle der Bardi, in der die Trauung von Gloria und Lionetto stattfindet. Die Umarmung der beiden Schwager nützt Bardo dazu, LIonetto einen tödlichen Messerstich beizubringen. Danach will er mit Gloria fliehen, die es jedoch vorzieht, mit ihrem Gatten zu sterben.

Wer von Gloria eine Musik voller dolcezza, Eleganz, Geschmeidigkeit und Duftigkeit wie aus Adriana bekannt, erwartet, der wird arg enttäuscht, denn inzwischen hatte der Komponist eine Entwicklung hin zum eher Deklamatorischen vollzogen, Einflüsse von Wagner, dem französischen Impressionismus, manchmal fühlt man sich an Rimski-Korsakov erinnert, sind vernehmbar. Auch wer ein Kolossalgemälde mittelalterlicher Glaubens- und Geschlechterkämpfe erwartet, wird von der Intimität des Stoffes überrascht sein. So hat der Chor zwar einiges zu singen, verhält sich aber optisch eher wie der eines Oratoriums, so wie auch die Protagonisten teilweise nebeneinander aufgereiht vor diesem stehen und dies durchaus zum Charakter des Werks zu passen scheint. Regisseur Antonio Albanese verzichtet auch auf Videoprojektionen, bevorzugt eine quasi holzschnittartige Optik, und auch mit Farben wird sparsam umgegangen, Grau, Beige und Schwarz herrschen vor (Bühne Leila Fteita), und nur das Hochzeitskleid Glorias ist in glühendem Rot gehalten, könnte durchaus auf der Freitreppe von Cannes Aufsehen erregen (Carola Fenocchio).

Den Sängern ist also alle Aufmerksamkeit sicher, und sie sind sie wert. Die mit ihrem Familiennamen erst einmal in die Irre führende Anastasia Bartoli ist nicht die Tochter eines berühmten Mezzosoprans, sondern die von Cecilia Gasdia, einst ein stilsicherer lyrischer Koloratursopran und inzwischen seit vielen Jahren erfolgreiche Intendantin der Festspiele von Verona. Anastasia trägt den Familiennamen ihres Vaters, eines Fiorentiner Zahnarztes, und auch was ihr Repertoire angeht, wandelt sie nicht auf den Spuren der Mutter, sondern eher auf denen eines soprano drammatico e d’agilità, hat bereits Lady Macbeth gesungen, Lucrezia in Due Foscari und strebt die Abigaille an. Der Sopran besticht durch Klarheit, Reinheit, auch eine gewisse Herbheit, sicher in der Höhe, durchaus auch stählern und von der Interpretation dienender Schärfe. Die Optik der schönen, schlanken Sängerin lässt nichts zu wünschen übrig. Eines tenore eroico bedarf die Partie des Lionetto, zu dem sich Carlo Ventre mittlerweile entwickelt hat, dessen Stimme dunkler geworden ist und der über einen bemerkenswerten Squillo verfügt. Etwas unglücklich ist die Optik zumindest im ersten Akt, wenn er wie ein in Paketband eingewickeltes Möbelstück wirkt. Bleichgesichtig verfolgt Franco Vassallo seine üblen Rachepläne und setzt dafür einen in allen Registern präsenten Bariton stupender Höhe ein. Weit ausholen mit autoritär klingendem Bass kann Ramaz Chikviladze als Aquilante, sanft und mild ist Elena Schirru als Senese, sonor Alessandro Abis als Vescovo. Francesco Cilluffo am Dirigentenpult dirigiert das bläserlastige Orchester sängerfreundlich und führt es, so im Vorspiel zum dritten Akt, zu einem Klang voll raffinierter Harmonien. Szenisch zeigt sich die Produktion allzu statisch, als dass sie dazu beitragen könnte, dem Stück trotz vorhandener Qualitäten die Bühne dauerhaft zu erobern (Dynamic 58004). Ingrid Wanja

Wolfgang Sawallisch

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Wolfgang SawallischComplete Opera Recordings. Eine neue Box bei Warner mit nicht weniger als 31 CDs entpuppt sich als ein spannendes Kapitel Schallplattengeschichte (5054197949463). Schon der Zeitraum des Entstehens der Aufnahmen, nämlich 1956 bis 1993, lässt nur diesen Schluss zu. Was ist in diesen Jahren nicht alles geschehen? Endgültig setzte sich die Stereophonie durch, die Schallplatte wurde durch die CD ersetzt. Die deutsche Teilung, die auch auf Besetzungslisten in Aufnahmestudios Spuren hinterließ, wurde 1990 durch die Wiedervereinigung überwunden. Sawallisch (1923-2013) gehörte also zu jener Dirigentengeneration, die sich gleich mehreren Herausforderungen stellen musste. Die Edition bildet das anschaulich ab, ohne dass die betreffenden Ereignisse, die auch Einschnitte waren, im Booklet alle dokumentiert sind. Das wäre gewiss zu viel verlangt. Musikfreunde und Sammler kennen sich aus, verknüpfen mit Tondokumenten zudem eigene Erlebnisse und Erinnerungen.

Platz eins der Sammlung belegt Mozarts Zauberflöte. Eine gute Wahl, auch wenn sie ganz zufällig getroffen sein dürfte. Ein Ordnungsprinzip für eine Reihgenfolge etwa nach Buchstaben oder Aufnahmejahr ist nicht zu erkennen. Für die Heraushebung spricht vieles. Doch was beim ersten Erscheinen für Aufsehen sorgte, hat mit den Jahren die Exklusivität verloren. Eingespielt wurde die Oper 1972 an acht Tagen im August im geschichtsträchtigen Bürgerbräu-Saal in München, der sieben Jahre Neubauten Platz machen musste. Sawallisch leitete Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper. Als Nachfolger von Joseph Keilberth hatte er das Amt als neuer Generalmusikdirektor seit einem Jahr inne. Produzent im Studio war Helmut Storjohann, dem die Electrola schon zahlreiche prominent besetzte Aufnahmen verdankte. „Quadrophonie“ prangte es wie ein Transparent noch über dem Titel auf dem originalen Plattencover. Damals der neueste Schrei, hat sich diese Technik der Mehrkanal-Aufzeichnung und -wiedergabe längst überholt und ist auch nicht mehr erwähnenswert. Unvergessen bleibt hingegen, dass die Stimme von Edda Moser als König der Nacht seit 1977 für „eine geschätzte Lebensdauer von 500 Millionen Jahren“ durchs Weltall schwebt, wie es auch Booklet-Autor Christoph Vratz vermerkt. „Ich bekam einen Brief aus Kalifornien“, zitiert Vratz die Moser aus einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Thomas Voigt, „ob ich einverstanden sei, dass meine Aufnahme auf die Platte der Voyager-Sonden könne. Das habe ich natürlich mit Freuden getan.“ Die Aufzeichnung sei morgens um zehn „in einem Rutsch“ gegangen. „Wollen Sie einen Probelauf, oder nehmen wir gleich auf?“, habe Sawallisch gefragt. Die Antwort: „Von mir aus gleich Aufnahme!“

In anderen Quellen stellt sich die offenkundig mehrfach erzählte Geschichte etwas anders dar. Wikipedia zitiert sie Sängerin aus einem Interview mit dem Forum-Forum von 2013: „An die Entstehung dieser legendären Zauberflöte erinnere ich mich noch sehr gut, die war wie ein Wunder. Mit Kurt Moll, Theo Adam, Walter Berry und Peter Schreier hatten wir damals ein komplett deutschsprachiges Ensemble, das alleine war schon außergewöhnlich. Mich hatte man als Königin der Nacht für diese Aufnahme engagiert. Ich kam dann nach München, da sagte mir der Produzent Helmut Storjohann: ‚Es gibt da ein kleines Problem: Frau Sawallisch möchte Sie nicht als Königin haben.´ Worauf ich fragte, was Frau Sawallisch mit der Aufnahme zu tun hätte? Daraufhin hat der von mir verehrte Helmut Storjohann gesagt: ‚Wenn die Edda die Königin der Nacht nicht singt, fällt die ganze Produktion aus!‘ Sawallisch hat dann in den sauren Apfel gebissen und fragte mich bei der ersten Sitzung etwas kühl, ob ich mit der ersten oder zweiten Arie anfangen möchte. Ich sagte, ich nehme gerne die zweite. Und in dieser Wut, die ich hatte, weil man mich nicht wollte, habe ich den ganzen Zorn in die Arie gelegt und in einem Take durchgesungen.“ Ob in Details so oder so – gut ist die Geschichte allemal.

Gewisse Vorbehalte gegen die Moser dürften sich auch daraus erklären, dass sie als Königin einen ganz neuen Typ verkörperte, nämlich die rasende verletzte Frau, die sich ihrer Tochter und ihres Erbes beraubt sieht, die sich nichts gefallen lässt und sich gegen die ihr feindlich gesinnte Männerwelt zu wehren weiß. Das passte in die frauenbewegte Zeit während der Einspielung, wurde von der Sängerin auch stimmlich überzeugend dargestellt – und verfehlte die Wirkung nicht. München war durch Erika Köth geprägt, die noch immer zum Ensemble der Staatsoper gehörte. Sie hatte die Königin im In- und Ausland mehr als 270 Mal gesungen. Ihre Interpretation war stilistisch mehr oder weniger immer die gleiche geblieben, die Koloraturen wie in Stein gemeißelt. Generationen wollten es so und nicht anders hören. Ich lege sie immer wieder gern auf, staunen, wie man so perfekt singen kann wie sie. Zufall oder nicht. Edda Moser ließ bei der Aufzählung der Mitglieder des von ihr geschätzten deutschsprachigen Ensembles Anneliese Rothenberger weg. Die war als ihre Tochter Pamina fast zwanzig Jahre älter als die Mutter. Und das hört man auch. Nicht, dass sie ihre Partie technisch nicht bewältigte. Sie kann sich aber nicht glaubhaft einbringen, wirkt wie ein Fremdkörper – in den gesprochenen Dialogen noch mehr als im Gesang. Die Betonfrisur ist etwas verrutscht. Für die Rothenberger kommt die Aufnahme eindeutig zu spät.

Was die Einspielung von allen anderen unterscheidet, wäre auch bei der neuen Ausgabe durch Warner eine Bemerkung wert gewesen. Wer die Zauberflöte als solche verinnerlicht hat und diese Aufnahme nicht genau kennt, dürfte bei Track 4 auf CD 2 aufhorchen: „Pamina, wo bist du?“ Mit dieser Frage stimmt Tamino (Peter Schreier) ein unbekanntes Duett mit Papageno (Walter Berry) an. Was hat es damit auf sich? Im Nachtragsband zur Neuen Mozart-Ausgabe würden auch verschiedene unter dem Namen Mozart überlieferte Kompositionen als „Werke zweifelhafter Echtheit“ zur Diskussion gestellt, klärt Ulrich Leisinger, Direktor der Forschungsabteilung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg, im Bärenreiter-Magazin Takte auf. Zu diesen Werken gehöre besagtes, das singulär in einer Partiturabschrift des frühen 19. Jahrhunderts überliefert sei, die sich in der Lippischen Landesbibliothek Detmold befinde. Nach Angaben des Musikwissenschaftlers wurde es wurde dann auch in Auflagen aus dem frühen 20. Jahrhundert des Zauberflöten-Klavierauszugs des Verlags C. F. Peters gedruckt, allerdings in die bis heute bekannte Ausgabe des Klavierauszugs der Zauberflöte von Kurt Soldan (1932) nicht mehr aufgenommen. In Partitur sei es bislang ungedruckt. Leisinger bezeichnet das Duett über weite Strecken des Vokalstimmensatzes als „mozartisch“. Dies gelte auch für die abwechslungsreiche und recht dichte Orchesterbegleitung im ersten Teil. Der stilistische Befund im weiteren Verlauf des Stücks sei allerdings zwiespältig: Taminos „Monolog“ wirke für ein Duett eher deplatziert, und der zurückhaltend instrumentierte Schluss lasse mozartsche Überraschungsmomente vermissen, die hingegen am Beginn des zweiten Teils in einigen harmonisch ungewöhnlichen Wendungen noch anzutreffen seien. Leisinger, seit 2005 Herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe, spricht von einem „musikalisch interessantes Stück, das zwar früh in der Überlieferung der Oper auftaucht, aber weitgehend unbeachtet geblieben ist“. Aus der Kenntnis von Mozarts Schaffensweise und seines Personalstils sei es aus der Tatsache, in keiner einzigen weiteren Quelle überliefert zu sein, allerdings unwahrscheinlich, dass es in allen Teilen von Mozart stamme. Soweit der Mozart-Experte.

Sawallisch nahm es auf – und das spricht für seine Kenntnis und seinen wissenschaftlichen Spürsinn. Die neue Zauberflöte aus München hatte sich auch in der DDR herumgesprochen. Briefe flogen hin und her. Telefonleitungen glühten. Hast du schon, wie findest du …? Man zapfte alle nur möglichen Bezugsquellen an, bemühte Onkel und Tante, um in ihren Besitz zu gelangen. Obwohl mit Schreier und Theo Adam als Sprecher die beiden namhaftesten Sänger aus dem Osten mitwirken, blieb die Einspielung dem westdeutschen Publikum vorbehalten, denn es handelte sich um keine Koproduktion, wie sie es auch gab. Deshalb wohl auch der ausdrückliche Hinweis in der Plattenausgabe, dass Schreier „mit freundlicher Genehmigung des VEB Deutsche Schallplatten“ mitwirke. Zudem war der kleinere ostdeutsche Markt 1970 mit einer eigenen Produktion gesättigt, an der Schreier ebenfalls als Tamino beteiligt war, während Adam den Sarastro gab. Mit Helen Donath konnte sie sich der überzeugenderen Pamina sicher sein. Und als Königin der Nacht trat die aus Ungarn stammende Sylvia Geszty ins Rampenlicht – mit ihrem betont dramatischen Impetus der Moser nicht unähnlich.

Nach CD-Menge gerechnet, bildet Richard Wagner mit dem Ring des Nibelungen und den Meistersingern von Nürnberg den größten Posten der Edition. Vratz im Booklet: „Wolfgang Sawallisch hat stets hervorgehoben, dass das Orchester der Bayerischen Staatsoper eine besondere Beziehung zu Wagners Musik pflegt.“ Er wisse nicht, zitiert er den Dirigenten, wie es zu erklären sei, aber seit den Uraufführungen scheine sich von Generation zu Generation eine Wagner-Überlieferung erhalten zu haben. Daher habe Sawallisch diese Ring-Aufführung, die von Nikolaus Lehnhoff szenisch realisiert und die in den Folgejahren sukzessive weiterentwickelt worden sei, resümierend für einen bedeutenden Beitrag in der Ring-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte gehalten Und doch hatte es dieser Mitschnitt nicht ganz leicht. 1989, im Jahr des Mauerfalls, im Münchner Nationaltheater von NHK Enterprises gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, kam er mit einiger Verspätung in den gesamtdeutschen Handel, wo er sich bald starker Konkurrenz ausgesetzt sah. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis sich der nächste Ring bei EMI unter Bernard Haitink ankündigte. Von der Metropolitan Opera war unter dem Gelblabel (Deutschen Grammophon) eine Produktion auf DVD und CD mit Hildegard Behrens, die die Brünnhilde auch bei Sawallisch ist, zu erwarten. Und aus Bayreuth drängte Daniel Barenboim ebenfalls in Ton (Teldec) und in Bild (Unitel) in den Handel. Ein Mitbewerber gab mittendrin auf. Christoph von Dohnányi kam bei Decca nur bis zur Walküre. Die Schlacht um das große Buffet war eröffnet. An Nachschub mangelte es nicht. Ein Ring nach dem anderen würde in den kommenden Jahrzehnten folgen. Ungeachtet der Tatsache, dass Georg Solti, dieser Herr der Ringe, mit seiner epochalen Wiener Decca-Produktion in immer neuen Auflagen wie eine unbezwingbare Gebirgswand vor die Konkurrenten geschoben hatte.

Für mich sind die Filetstücke der Edition bei Richard Strauss zu finden. Mit Studioeinspielungen von vier Werken hat sich Sawallisch Meriten vom Feinsten erworben. Obwohl noch in Mono ist Capriccio mit Elisabeth Schwarzkopf als Gräfin Madeleine (1958) bis heute der Standard geblieben. Keine andere Aufnahme kann es mit der musikalischen Delikatesse dieser hochkarätig besetzten Produktion aufnehmen, in der sich der Dirigent auch im Ensemble als einer der Diener verewigt ist. Wie Capriccio war auch Intermezzo (1980) die erste offizielle Aufnahme dieses Stückes und hat nicht zuletzt durch Lucia Popp in der Rolle der Christine die Maßstäbe gesetzt. Die Frau ohne Schatten (1987) ist die erste komplette Aufnahme. Auch wenn sie es mit der Stimmung, die Karl Böhm in seiner allerersten Einspielung bei Decca eingefangen hat, nicht aufnehmen kann, darf sich unter neuesten Stereo-Bedingungen die rauschhafte Breitwandmusik endlich in ihrer überbordenden Dramatik, die sich immer wieder in feinsten Verästelungen selbst auszubremsen scheint, entfalten. Und zwar mit voller Wucht. Was die Akustik in keinem Opernhaus hergibt, wurde im Studio exemplarisch zelebriert. Ute Vinzing ist als Färberfrau in einer ihrer seltenen Auftritte vor dem Mikrophon zu erleben. Alfred Muff gibt ihren Gatten. Das Kaiserpaar singen Cheryl Studer, die damals aus den Studios nicht herausgekommen war und dennoch keine tiefenden Spuren hinterließ, und René Kollo. Hanna Schwarz bleibt der Amme deren Dämonie schuldig. Elektra (1990) ist eine unter vielen geblieben. Ihre Besonderheit, nämlich nach Georg Solti bei Decca mit der Nilsson die wohl einzige offizielle ohne den großen Strich in der Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit Klytämnestra (Marjana Lipovsek) zu sein, wird nicht erwähnt. Was noch? Jeweils eine CD nehmen Abu Hassan von Carl Maria von Weber und Die Zwillingsbrüder von Franz Schubert (beide 1975) in Anspruch. Ob ihnen die Mitwirkung von Edda Moser, Helen Donath, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Kurt Moll gerecht wird, darf mit zeitlichem Abstand hinterfrage werden. 1975 tat ihnen der prominente Einsatz gewiss gut. Plötzlich redete man über diese abseits stehenden singspielartigen Stücke.

Die Edition klingt versöhnlich aus in einer Welt, die zur alten Ordnung zurückgefunden hat. Und zwar mit Kinderstimme und Zitherbegleitung, dass es zu Herzen geht: „Ah, da hängt ja der Mond.“ Wir sind bei Carl Orff, dem bayerischen Landsmann von Sawallisch, für den er sich bereits am Beginn seiner internationalen Karriere von London aus verwendet hat. Dort gelangten kurz hintereinander Die Kluge (1956) der Schwarzkopf und Der Mond (1957) mit Hans Hotter als Petrus auf Schallplatte. Zum Glück hatte sich Produzent Walter Legge diesmal auf Stereo eingelassen, was beiden turbulenten Einaktern sehr zum Vorteil gereicht indem sie deutlicher als kraftvolle Theaterstücke erkennbar werden. Es sollten fast fünfzehn Jahre vergehen, bis sich in München erneut Kurt Eichhorn an beide Stücke für Eurodisc machte. In der DDR nahm sich Herbert Kegel zunächst den Mond vor, um 1978 die Kluge nachzureichen. Seither kam nichts mehr von Belang. Rüdiger Winter

Aber was für eine Geschichte!

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Zwei seiner Bühnenwerke hat Walter Braunfels nach seiner Übersiedlung an den Bodensee geschrieben. Hitlers Machtübernahme hatte seine Karriere beendet, er verlor sein Amt als Direktor der Kölner Musikhochschule, öffentliche Betätigung war ihm verboten, seine Musik wurde auf den Index gesetzt. In der inneren Emigration in Überlingen entstanden Werke, die keine Aussicht auf eine Aufführung hatten: 1933-37 die Verkündigung nach Paul Claudels L‘ annonce faite à Marie/ Mariä Verkündigung, 1938-42 Jeanne D’Arc. Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna, zu der Braunfels selbst das Libretto nach den Prozessakten verfasste. Die Verkündigung wurde 1948 in Köln uraufgeführt, gelangte aber erst 2012 in Kaiserslautern neuerlich auf die Bühne, Jeanne D’Arc wurde sogar erst 2001 in Stockholm uraufgeführt und 2008 erstmals szenisch an der Deutschen Oper Berlin gegeben. 2013 dann folgte die von Capriccio veröffentlichte Aufführung bei den Salzburger Festspielen (2 CD C 5515), die, wie bereits die Uraufführung in Stockholm sowie die deutsche Erstaufführung im selben Jahr in München, von Manfred Honeck dirigiert wurde, der zusammen mit Juliane Banse, die stets seine Johanna war, aber 2011 unter Ulf Schirmer auch die Violaine der Verkündigung gesungen hatte (BR Klassik 900311), zu den erfahrensten Jeanne D’Arc-Interpreten gehört.

In seinem ausgezeichneten Text, der bereits bei anderen Braunfels-Veröffentlichungen bei Capriccio aufgefallen war, lässt Jens Laurson, der übrigens von einer zarten Braunfels-Renaissance spricht, den Dirigenten deshalb ausführlich zu Wort kommen: „Es ist eine Schande, dass die von den Nazis verbannten Künstler immer noch in der Versenkung weilen. Man muss sich einmal ausmalen, wie die Künstler sich gefühlt haben müssen- die, die überlebt haben – als sie darauf gehofft hatten, nach 1945 wieder aufgeführt zu werden, nach all diesen Jahren der Finsternis, nur um zu bemerken, dass nach ihnen nicht länger verlangt wurde. Wie sich das für Braunfels angefühlt haben muss, nach all den Jahren der inneren Emigration. Was für eine Katastrophe für ihn. Aber was für eine Geschichte! Wobei Braunfels‘ Musik so gut ist, dass ich sie auch aufführen würde, wenn es diese Geschichte nicht gäbe“.

Braunfels bezeichnet seine Oper als „Handlung in 3 Teilen und einem Vorspiel op. 57“ bezeichnet. Die drei Teile sind mit „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“ überschrieben, wobei der erste und dritte Teil jeweils aus drei Szenen, der mittlere nur aus einer bestehen. Die rahmenden Chöre des Volkes, „Herrre, hilf, Herre, hilf“ und „Ein Wunder, Ein Wunder“, verleihen dem Werk einen oratorischen Duktus, der durch die Vielzahl der Figuren und den Reichtum der Handlung aufgebrochen wird, die Braunfels auf faszinierende Weise vergegenwärtigt. Laurson spricht von einer schwelgerischen post-romantischen „Tonsprache irgendwo zwischen Die tote Stadt und Salome.. mit einem Schuss Bartók“. Dabei mit vielen pfitznerisch zähen Rezitativen sicher kantiger, auch archaischer, wohl auch instrumental farbig und auftrumpfend und im ersten Finale geradezu orchestral virtuos.

Die Hörer sowie das ORF Radio-Symphonieorchester Wien brauchen etwas, um sich einzuhören und einzuspielen, bis sie von Honecks souveräner und kenntnisreicher Leitung mitgerissen werden. Ausgezeichnet der Bachchor, Kinder- und Festspielchor. Neben der bekannten Geschichte von der Vision der Johanna, der Befreiung von Orleans, der Krönung des Thronfolgers, dem Inquisitionsprozess und der Hinrichtung malt Braunfels eine Beziehung Johannas zu Gilles de Rais aus; vielfach wurde in ihm die Urgestalt des Blaubart erkannt, und Braunfels nimmt sich dieser Legende gerne an. Gilles de Rais galt als einer der reichsten Grundherren Frankreichs, stieg zum Marschall von Frankreich auf und wurde im Oktober 1440 in Nantes hingerichtet, nachdem er sich dazu bekannte über Jahre hinweg Hunderte von Kindern bestialisch zu Tode gequält zu haben.

Johan Reuter singt den zweifelnden und suchenden Gilles de Rais mit markantem und forschem Bassbariton, interessanter scheint der Dauphin Karl von Valois, der in seinem großen Monolog „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ Resignation und Selbstzweifel offenbart, ohne dass Pavol Breslik dies trotz seines hübschen Tenors zu echter Charakterisierung nutzt. Unter den vielen kleineren Partien, darunter Tobias Kehrer als Vater Jacobus, Martin Ganter als Ritter Baudricourt und Michael Laurenz als Richter Cauchon fallen Norbert Ernst mit prallem Charaktertenor als Schäfer Colin, Wiebke Lehmkuhl mit gutem Alt als Baudricourts Frau und der tenoral aufleuchtende Bryan Hymel als Heiliger Michael, zu dessen Bio das Beiheft bemerkt, dass er sich mehr auf das Unterrichten konzentriert und 2022 Teil der Fakultät des Westminster Choir College wurde. Juliane Banse zeigt sich am 1. August 2013 in der Felsenreitschule als gereifte Johanna, der vor allem die Szenen der Gequälten und Leidenden vor Gericht und im Gefängnis liegen.  Rolf Fath

Gemeinschaftswerk

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Durch und durch Familienmensch ist offensichtlich Pene Pati, der nicht nur sein Hochzeitsglück im Internet mit dem Rest der Welt teilt, sondern auch in seine nunmehr zweite CD seine Ehefrau Amina Edris  und seinen Bruder Amitai Pati integriert und somit eine recht bizarre Programmgestaltung garantiert hat.  Duette zwischen zwei Tenören würden nicht viel hergeben, sei es Norma oder Attila, und auch die vom Sänger gewählte kurze Szene zwischen Macduff und Macolm aus Verdis Macbeth ist kaum dazu angetan, die Qualitäten einer Stimme zu offenbaren. Außerdem gibt es, dem Familienzusammenhalt geschuldet,  einen Ausschnitt aus Mercadantes Il Bravo, einen aus Halévys La Juive und einen aus Guirauds Frédégonde, in der auch der zarte Sopran der Gattin in der Partie der Brunhilda, die einst von einem Auch-Wagner-Sopran, Lucienne Bréval, aus der Taufe gehoben wurde, zu vernehmen ist.

Die CD wechselt zwischen allzu Bekanntem wie Nessun dorma und noch nie Eingespieltem wie der Cabaletta nach der Arie des Faust aus Gounods Oper. Letzteres ist hochwillkommen und interessant wie auch die meisten französischen Tracks sich in der lyrischen, weichen und geschmeidigen Tenorstimme gut ausnehmen, während die italienischen Titel weniger gut gelingen, sei es Macduffs Klage um die ermordete Familie, die eher weinerlich als tragisch klingt, oder Rodolfos Che gelida manina, dem es an Poesie und dem Aufblühen in der Höhe  mangelt, während der Sänger als Kalaf versucht, durch ein Übermaß an Agogik zu frappieren, was aber auf Kosten einer einheitlichen Stimmung geht.

Eine  Reihe von Nummern stammt aus Donizetti-Opern in französischer Sprache, so aus La Favorite die Arie des Fernand „Ange si pur“, dem ein empfindsam gesungenes Rezitativ vorangeht und die die eigentliche Domäne des Tenors dokumentiert. Auch Dom Sébastiens „Seul sur la terre“ gehört zu den mit Geschmack, guter Diktion und schöner Stimmentfaltung vorgetragenen Stücken. Vielleicht wäre die Lucie interessanter gewesen als die italienische Lucia, aus der die Arie des Edgardo im letzten Akt zwar ein bewegtes Rezitativ, aber eine eintönig wirkende Arie aufweist.

Die Domäne des Tenors dürfte weiterhin das französische Fach bleiben, wo in Fausts Arie ein gut tragendes Piano, eine farbige mezza voce, ein empfindsamer Vortrag erfreuen, allerdings ein verhangener Spitzenton irritiert und in der Cabaletta die Stimme nicht in allen Lagen gleich gut anspricht. Massenets Des Grieux wehrt sich mit schöner vokaler Empfindsamkeit gegen die Verführungskünste Manons, Werthers Klage ist von zunächst zarter,  Art, aber das Timbre passt sehr gut zur Partie,  die einer so schnellen Folge von Kontrasten, wie sie sich zunehmend häufen, eigentlich nicht bedarf. Auch der Berlioz-Faust mit seiner Anrufung der Natur dürfte bald zum Kernrepertoire des Tenors von der Südseeinsel Samoa gehören wie der Éléazar, und für die kurze Bekanntschaft mit Ernest Guirauds Frédégonde ist man auf jeden Fall dankbar, auch wenn die Begegnung mit ihr eine einmalige sein dürfte.

Garant für eine angemessene Begleitung ist wie bei der ersten CD das Orchestre de l’Opéra National de Bordeaux unter Emmanuel Villaume (Warner Classics 5064197897702). Ingrid Wanja

Handel mit Händel

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Hätte Barrie Kosky die Inszenierung von Händels „dramatic oratorio“ Saul an der Komischen Oper nicht einem Kollegen überlassen, dann hätte es den auf der Bühne am Harmonium agierenden Komponisten wahrscheinlich nicht gegeben, war er doch bereits, wenn auch nicht sich drehend, sondern in den Wolken thronend, in Harry Kupfers Produktion von Giustino zu sehen gewesen. In Glyndebourne allerdings war er 2015 noch nicht bekannt und konnte neben dem Kerzenmeer zu Beginn des zweiten Teils den mit Abstand heftigsten Beifall einheimsen in einer Aufführung, die auch sonst bemerkenswert durch Opulenz glänzte und mit sorgfältiger, einleuchtender Personenführung überzeugte. Überwältigend ist auch auf der Blu-ray die im ersten Teil quietschbunte, im zweiten düster dunkle Kostümierung von Solisten und Chor vorwiegend in leicht karikierendem Rokoko mit nur schüchtern hin und wieder auftauchender barocker Allongeperücke, die naturalistische Gestaltung abgeschlagener Köpfe, sei es der Goliaths oder der Sauls, sind es die reichlich Milch spendenden Brüste der Hexe von Endor, und allein schon die festlich gedeckte Tafel am Hofe Sauls mit dekorativem Schwan ist einen Applaus wert (Katrin Lea Tag). Wie von ihm gewohnt ist die Führung des Chors durch Kosky phänomenal, und auch die unverzichtbaren Tillerboys (Choreographie Otto Pichler) mit lasziven Bewegungen dürfen am Hof von König Saul nicht fehlen. Es sind ihrer sechs, und sie bieten, vom Kaiser Rotbart bis zum südländischen Beau, alles, was das weibliche oder männliche Auge begehrt.

Dass die ausufernde Optik die Musik nicht erschlägt, dafür sorgt schon einmal Ivor Bolton, der mit dem Orchestra oft he Age of Enlightenment akustischen Glanz, Straffheit und Eleganz zaubert, für barocke Authentizität sorgt und selbst den viel strapazierten Trauermarsch wie frisch komponiert erscheinen lässt.

Erfreulich kompetent sind auch die Sänger, angefangen mit dem der Titelpartie, Christopher Purves, der, optisch eine Art Talleyrand, mit machtvoller Stimme, die auch zu brillanten Koloraturen fähig ist, neben dieser auch den Samuel singt. Frisch und glockenrein singt Iestyn Davies den Sympathieträger David, dessen apathisch wirkende Verstörtheit er auch darstellerisch vermitteln kann. Als irrer Pierrot mit Krallen entspricht Benjamin Hulett optisch wenig dem Abner, weiß aber akustisch nicht nur diesem, sondern auch dem High Priest und zwei weiteren kleinen Partien gerecht zu werden. Einen schönen lyrischen Tenor mit auch guter Mittellage hat Paul Appleby für den unglückseligen, hochsympathischen Jonathan. Die Töchter Sauls sind die zunächst hochnäsige, später Sympathien weckende Merab, für die Lucy Crowe einen eher herben Sopran mit guter Mittel-, aber schwächelnder tiefer Lage einsetzt, in ihrer Arie im zweiten Teil jedoch voll überzeugen kann. Die liebliche Michal ist Sophie Bevan mit klarem, kühlem, instrumental eingesetztem Sopran. Der Chor scheint wie der der Komischen Oper Berlin aus Chorsolisten zu bestehen. Und die Engländer haben halt die angemessenen Stimmen für den Hallenser Komponisten, den sie sich als einen George Frideric Handel zu eigen zu machen suchen (Opus arte 807205D). Ingrid Wanja             

Gut gemeint

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L’Arlesiana, Adriana und Gloria sind die drei Geschöpfe, die der  Komponist Francesco Cilea als seinen Beitrag zum Italianismo ansieht, der sich in der schlichten, flüssigen und eleganten Melodie manifestiert und dem die italienische Sopranistin Lenny Lorenzani nicht nur in den drei genannten Opern, sondern auch in den Canzoni und geistlichen Stücken, die der Komponist hinterlassen hat, nachspürt. Bei Komponieren der späteren Werk könnte er, der auch Lehrer war, an seine Schülerinnen Ebe Stignani und Maria Caniglia gedacht haben, die zu vergleichen mit der Interpretin auf der CD recht vermessen wäre.

Es handelt sich um eine Romanze des erst 17jährigen, der damals noch seinem Vorbild Bellini verpflichtet war, um eine seiner Tante gewidmete Serenata sowie die Arie Alba novella, der Arie des Federico aus der letzten Version der Arlesiana, bei der die Harmonik stark an Debussy oder Ravel erinnert. Ein Wiegenlied wurde in ein Liederbuch der Faschisten aufgenommen, in Opernbereiche geht es  bei der abschließenden Fuge über das Thema der Umile ancella aus Adriana Lecouvreur

Über die Solistin ist im Internet wenig zu erfahren, und auch das Booklet gibt sich verschwiegen, erwähnt nur das Studium und die Beschäftigung mit den ganz großen Opernkomponisten ohne Zeit und Ort, und stutzig macht, dass die wichtigste Mitteilung die über eine Lehrtätigkeit der Sängerin ist, von der ansonsten nur eine Berta aus dem Barbiere in Florenz die Rede ist. Bebildert ist das Booklet mit wohl Portraits der Sängerin im Kostüm einer Operndiva des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, während im Hintergrund ein distinguierter Herr, wohl der Pianist, als vielleicht sogar der Komponist in Frack und mit Zylinder ist.

In der Romanza wird mit den ersten Tönen offenbar, warum man bisher nichts von der Existenz einer Sängerin namens Lenny Lorenzani wusste: Der Sopran klingt scharf und schnarrend, worüber das Bemühen um eine einfühlsame Interpretation nicht hinweghören lässt. Im Il mio canto werden die Höhen sehr vorsichtig angesetzt, das Vibrato erscheint als ein übermäßiges, und die Textverständlichkeit ist nur eine recht mäßige. Scharf und zittrig ergeht sich die Stimme in Alba novella, sanft und schmeichelnd versucht das Piano etwas gut zu machen, was die Stimme versäumt. Vor allem in der Mittellage bewegt sich das Ninna nanna und kann somit etwas mit der stimmlichen Gesamtleistung versöhnen, während Maria mare geschliffen scharf klingt, die Stimme corpo vermissen lässt. Gravierende Höhenprobleme werden besonders im Ave Maria da Tilda offenbar, und in der Bionda larva kann nur die reizvolle Klavierbegleitung Defizite ausgleichen.  Der Pianist versucht zu retten, was zu retten ist, und verschafft der CD mit Au village und Pensiero spagnolo einigen Glanz, aber für das Liedgut Cileas kann diese CD den Hörer nicht gewinnen (Brillant classics 96734). Ingrid Wanja   

Megan Kahts

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Als Mezzosopranistin hat man es in Sachen Liebe auf der Bühne nicht immer leicht: Die großen Romanzen werden den Sopranistinnen zugeteilt, und wenn die liebende prima donna dann doch mal Mezzo ist, wird sie am Ende der Oper verlassen oder – eterni dei! – umgebracht (Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel). Die südafrikanische Mezzosopranistin Megan Kahts und ihr Ensemble, das Carestini Ensemble Wien, haben dieser Liebe ohne Happy End ihr neues Album gewidmet: In dolce abbandono heißt es (SM 459, 4260123644598).

Im Mittelpunkt des Albums stehen, eingerahmt von den Händel-Arien Ombra mai fu und Verdi prati, zwei beliebte Opernstoffe, hier aber im Gewand zweier dramatischer Solokantaten: Armida abbandonata von Händel und Arianna a Naxos von Haydn (nicht in der bekannteren Fassung für Hammerklavier und Gesang, sondern in einer Bearbeitung für Gesang und Instrumentalensemble eines Haydn-Zeitgenossen). Zweimal geballte Verzweiflung zweier vom Liebsten verlassenen Frauen – typisch Mezzo könnte man sagen.

Die Sängerin Megan Kahts war selbst übrigens nicht immer Mezzosopran. Nach ihrer Laufbahn als Klavier spielendes und singendes Wunderkind in Pretoria studierte Sie Gesang in Wien und begann ihre Karriere als Sopranistin. Wenn man sie heute hört, ist das kaum vorstellbar. Sie hat eine voluminöse Mittellage, eine klangvolle Tiefe und insgesamt sehr wenig sopranhaftes Timbre. Die tiefen Register liegen ihr mit Abstand am besten: Wenn sie als Armida mit viel Pathos ihrem abgängigen Geliebten alles an Meeresungeheuern an den Hals wünscht, was der Ozean so zu bieten hat (O voi dell’incostante e procelloso mare), ist das durchaus eindrucksvoll – mit dieser Armida würde ich mich nicht anlegen. Als Arianna, die gar nicht weiß, welche Enttäuschung ihr bevorsteht, umschmeichelt die Sängerin mit samtiger und klarer Stimme den Liebsten, der da leider schon längst das Weite gesucht hat (Teseo mio ben). (Quelle no-te)

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Elegante Megan Kahts/Foto Xavier Saer

Zu dieser interessanten Neuaufnahme gibt es ein Gespräch der Sängerin mit der Journalistin Ruth Wiedwald. Thematik und Relevanz der Werke: Sie widmen sich in „In dolce abbandono“ den großen Verlassenen der Musikgeschichte. Was hat Sie zu dieser thematischen Auswahl inspiriert? Eigentlich einfach die Liebe zu der Musik dieser zwei Kantaten, muss ich ehrlich gestehen. Die Haydn-Kantate Arianna a Naxos hatte ich schon öfters gesungen und die Händel-Kantate Armida abbandonata wollte ich auch unbedingt noch lernen. Händel und Haydn sind zwei meiner Lieblingskomponisten und bei großen dramatischen Solokantaten für eine weibliche Sängerin muss es ja um große Gefühle gehen – das Verlassensein ist ein Katalysator für eine emotionale Achterbahnfahrt und bietet natürlich die Möglichkeit zu einem tollen dramatischen Monolog und zu fantastisch berührenden musikalischen Vertonungen an. Also habe ich die Musik, nicht unbedingt das Thema, ausgewählt. Außerdem haben diese Frauen Erlösung, Erneuerung, neue Zukünfte gefunden… die Szenen, die wir interpretieren, sind nicht das „Ende der Geschichte“ – nur ein kurzer Fokus auf die Verzweiflung. Ich werfe Licht auf harte menschliche Emotionen – das, was vor dem Happy End eigentlich passiert ist.

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Warum denken Sie, dass diese antiken Geschichten und Emotionen immer noch relevant sind für heutige Zuhörer? Weil wir Menschen sind, genauso wie sie es waren, und auch große Gefühle empfinden. Auch heute werden wir immer noch auf unterschiedliche Arten und Weisen verlassen. Ja, wir Frauen sind vielleicht nicht mehr so hilflos und es passiert uns vielleicht nicht mehr so, wie bei Arianna und Armida, dass wir im Wald im Schlaf plötzlich von dem Geliebten, der auf einem Schiff geflüchtet ist, im Stich gelassen werden – aber emotional, im übertragenden Sinne, passiert es uns Menschen auch heute immer wieder, dass unsere Freunde oder Partner oder Familie uns, aus welchen Gründen auch immer, sitzen lassen und das kann genau so stark weh tun. Wir können uns emotional mit diesen Frauen identifizieren und erleben denselben emotionalen Prozess nach dem Schock der Verlassenheit. Ich bin aber schon sehr froh, dass wir heute generell nicht mehr langfristig so hilflos bleiben müssen. Darum kämpfen Frauen aus manchen Kulturen ja immer noch.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs) 

Welche universellen menschlichen Themen und Konflikte finden Sie besonders stark in den Geschichten von Armida und Arianna verkörpert? Besonders stark und eindrucksvoll sind die seelischen Konflikte dieser Frauen und wie sie aus schweren Herausforderungen herauswachsen und Erneuerung finden. Armida findet einen neuen Weg, nachdem sie beim ersten Versuch mit Rinaldo gescheitert ist. Nachdem Theseus sie verlassen hat, wird Ariadne von Dionysos gefunden und erhoben – Hoffnung gibt es immer, selbst in den dunkelsten Momenten des Lebens. Durch ihr Leid und ihren Schmerz haben sie sich selbst erkennen und transformieren können.

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Was können wir aus diesen antiken Geschichten über die Natur von Liebe, Verlust und menschliche Stärke lernen, die heute noch so relevant sind? Zur Liebe gehören Verlust und Verlassenheit – das sind Emotionen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchmacht, unabhängig von der Epoche oder den Umständen. Diese Geschichten sprechen eine universelle Sprache, die tief in unser Menschsein eingreift. Sie zeigen uns, dass die Herausforderungen und Gefühle, denen wir heute gegenüberstehen, schon immer Teil der menschlichen Erfahrung waren. Indem wir uns mit diesen alten Erzählungen auseinandersetzen, können wir Parallelen zu unserem eigenen Leben ziehen und erkennen, dass wir nicht alleine in unseren Gefühlen und Erfahrungen sind. Großes Leid und große Verwirrung gab es in der Liebe immer schon und wir werden gestärkt, indem wir den Mut haben, auf diese schweren emotionalen Zustände einzugehen und zuzulassen, dass die uns transformieren.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Musikalische Interpretation und Vorbereitung. Wie haben Sie sich stimmlich und emotional auf die Interpretation von Händels „Armida abbandonata“ und Haydns „Arianna a Naxos“ vorbereitet? Für mich ist der Ausgangspunkt beim Einstudieren eines neuen Werks, dass man sich in die Musik verliebt, und dann kommt der Text dazu – in den verliebt man sich vielleicht auch. Man soll sich so sehr mit der Musik identifizieren können, dass die Zuhörer den Eindruck bekommen, man improvisiert und komponiert die Musik in genau dem Moment selbst.

Ich arbeite zuerst technisch und stelle sicher, dass alle Phrasen gut, flexibel und frei im Hals und im Körper „sitzen“ – oder vibrieren. Dann gehe ich auf den Text und auf den Harmonien ein und spüre in die verschiedenen vorhandenen Farben rein, um alle Ausdrucksmittel zur Geltung zu bringen. Mit dem Stil der unterschiedlichen Komponisten Händel und Haydn und mit der italienischen Sprache hatte ich schließlich auch noch gute Unterstützung.

Rein stimmlich, also rein stimm-technisch, sind die zwei Kantaten ziemlich unterschiedlich, weil die Komponisten der zwei Kantaten unterschiedlich für die Stimme geschrieben haben. Erstens liegt die Tessitura der Händel-Kantate etwas höher als die der Haydn-Kantate. Und zweitens ist Händel energetisch – da kann man sich vokal eher „reinschmeißen“ – wo man sich beim Haydn, nach meinem Gefühl, eher etwas zurückhält, um eine saubere klassische Linie zu führen. Beide Kantaten sind sehr exponiert und man muss die Stimme schön führen, aber Händel ist immer sportlicher – deshalb auch mein Lieblingskomponist zum Singen.

Haydn klingt vielleicht „simpler“ in der Gesangslinie, aber es gibt so viele Schichten in seiner Musik und es braucht Zeit, die Musik in sich reifen zu lassen und Haydns Aussage völlig zu verstehen. Die Phrasen müssen schön, fein, elegant geführt werden, aber sie sind besonders ausdrucksstark, denn die Musik enthält viel Ironie hinter diesem „Süßen“. Sie ist theatralisch – Haydn öffnet uns den Vorhang und wir gleiten langsam in Ariannas Welt ein. Bei Händel sind wir sofort mitten im Geschehen.

Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Ich bin generell äußerst selbstkritisch und es passiert mir häufig, dass ich selber von einem Stück so ganz berührt bin, dass ich erstmal kaum singen kann oder kaum wagen kann, diese Perfektion auszudrücken. So war es auch bei diesen wunderbaren Stücken. Vor allem war am Ende das Musizieren mit meinen Kollegen im Ensemble die pure Freude. Da kann man noch weiter mit der emotionalen Interpretation gehen, mit so guten Musikern und mit so vielen instrumentalen Farben um sich herum.

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Ihr Mezzosopran wird als tendenziell hoch beschrieben. Wie beeinflusst diese stimmliche Charakteristik Ihre Interpretation der barocken Werke? Wir Mezzosoprane sind Chamäleons. Ich passe mich der Partie an. Aber, dass meine Stimme hoch liegt (und ich auch eine gute Tiefe habe) ist meistens wirklich zu meinem Vorteil, denn ich kann auch manche Sopran- und Zwischenfachpartien singen. Es öffnet mir viele Türen, so dass ich nicht in einer Fach-Schublade stecken bleibe.

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Wie haben Sie Ihre stimmliche Flexibilität entwickelt, um mühelos zwischen hellen und dunklen Nuancen zu wechseln? Ich hatte mehrere fantastische LehrerInnen, und genieße technische Arbeit an die Stimme sehr – immer schon. Und es geht auf lange Zeiten in Übungszimmern zurück, in denen ich sorgfältig über viele Jahre an allen Elementen gefeilt habe. Ich bin eine Malerin und suche Farben in meiner Stimme.

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Megan Kahts/Foto Xavier Saer

Wie gelingt es Ihnen, die Balance zwischen historischer Authentizität und zeitgenössischer Relevanz in Ihrer Interpretation zu finden? Auch wenn ich mal einen „geraden“ Ton singe, muss die Stimme immer im Körper bleiben. Ein Klang ohne Körper dahinter ist nichts für mich. Man versucht, alle Aspekte der historischen Aufführungspraxis miteinzubeziehen, aber letztendlich lebt man in der realen Welt mit einer realen Stimme und arbeitet mit dem, was man hat und mit den Einflüssen, die um einen herum sind – wir haben keine Aufnahmen der originalen Händel- oder Haydnsänger. Natürlich lese und studiere ich die originalen Quellen darüber, wie diese Musik aufzuführen ist, und baue eine sehr starke Fantasie auf – ich weiß genau, wie ich möchte, dass eine Phrase erklingt – aber auch da wird die Phrase von alleine so rausfließen mit einem Hauch des aktuellen „Zeitgeists“ denke ich.

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Historische Aufführungspraxis: Inwiefern beeinflusst die historische Aufführungspraxis Ihre Herangehensweise an die emotionale Tiefe der Stücke? Durch das Lesen der Quellen über die Aufführungspraxis dieser Stücke und die Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten, in denen die Musik komponiert wurde, wird meine ganze interpretatorische Welt neu bemalt. Man versteht die Musik plötzlich sehr viel besser und die Strukturen und Figuren fühlen sich plötzlich sinnvoll und authentisch an. Das Studieren der alten Quellen hat mich sehr stark inspiriert – a breath of fresh air. Man kann emotional viel tiefer in ein Stück reingehen wenn man von einigen Fragen befreit ist und vieles besser versteht. Der Zugang zu dieser Musik ist viel offener, weil man näher an die „Wahrheit“ herankommt.

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Welche Herausforderungen stellt die Zusammenarbeit mit einem Ensemble auf historischen Instrumenten an Sie als Sängerin? Bei einem Barockensemble ist die Stimmung immer ein großer Aspekt der Aufführung. In diesem Fall liegt die Stimmung etwas tiefer und angenehmer als unsere Moderne. Für mich ist das Musizieren mit Barock-Instrumentalisten sehr befriedigend, erstens weil der Klang der Instrumente mir sehr gut gefällt und zweitens, weil wir uns alle mit dem Stil und der Aufführungspraxis dieser Werke besonders stark beschäftigt haben – daher fühlen wir uns alle auf derselben „Wellenlänge“ sozusagen. Die einzigen Herausforderungen, würde ich sagen, wäre, dass die Instrumente sich schnell verstimmen und nicht so stabil sind wie moderne Instrumente – bei einer Aufnahme muss man daher für das Stimmen extra Zeit einbauen.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Wie sehen Sie die Rolle der historischen Aufführungspraxis in der heutigen Musiklandschaft? Welche Bedeutung hat sie für zeitgenössische Hörer? Sie ist sehr wichtig und betrifft jede Epoche… die historische Aufführungspraxis ist ein Weg, den man mit einem Werk geht, ein Annähern an die ursprüngliche Idee, ein Hinterfragen der Traditionen. Zuerst lang überlegen, sich mit den relevanten Kontexten auseinandersetzen, und dann musizieren – „conscious music making“. Das bringt Frische, etwas Neues, mehr Sinn in die Sache rein. Ich finde, dass das die Zukunft des Musizierens ist – wir werden „woke“ und flexibel.

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Wie beeinflusst die historische Aufführungspraxis Ihre Herangehensweise an klassische Opernrollen, auch jene außerhalb der Barockära? Ich gehe bewusster an den Stoff heran, denn ich suche, woher die Ursprünge des Werkes kommen. Man sollte nie oberflächlich arbeiten – das hat wenig Sinn und wird auch langweilig. Je tiefer man gräbt, desto höher kann man dann fliegen. Wenn die Basis gut erforscht ist, kann man ruhiger und freier musizieren.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Carestini Ensemble und künstlerische Vision.  Sie haben das Carestini Ensemble Wien selbst gegründet. Welche künstlerische Vision stand hinter dieser Entscheidung? Ich arbeite viel mit meinem Cembalisten Reinhard Führer, und wir wollten ein Ensemble bauen, das die Werke auf „unsere“ Art interpretieren kann, bzw. aus Kollegen, mit denen wir schon arbeiten und uns gut verstehen. Wir wollten eine harmonische und reibungslose Zusammenarbeit, und das entsteht durch die richtige Balance von Persönlichkeiten – darauf sind wir stolz. Unsere Vision ist es, im Ensemble ein musikalisches Zuhause zu finden, und Werke aufzuführen, die wir gerne spielen wollen. Jedes Ensemblemitglied spielt absolut solistisch und kammermusikalisch – wir sind kein Orchester und daher ist jeder auch viel selbständiger und präsenter als in einem größeren Ensemble.

Man kann sich als Sängerin oft ziemlich einsam fühlen und so schaffe ich es, „like-minded“ Musikerkollegen um mich herum zu haben, denen es auch sehr viel Spaß macht, miteinander und mit mir zu arbeiten. Wir möchten eine freudige und positive Zusammenarbeit genießen, die uns als Künstler aufbaut, und wir wollen selbständig bestimmen, was wir spielen und was für uns passt. Es ist mein eigenes Baby und ich finde, wir sind stark und haben Potenzial – das wollen wir zur Geltung bringen.

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„In dolce abbandono“ Was möchten Sie mit dieser Aufnahme beim Publikum bewirken? Erstens möchte ich mich einem breiteren Publikum, als jenem, das es bei einem Livekonzert gibt, präsentieren. Dann möchte ich die Menschen ein reichhaltiges Hörerlebnis anbieten und ihre Gefühle berühren. Deswegen kann man sich das Album auch mit Dolby Atmos anhören. Ich lade die ZuhörerInnen ein, mit uns auf eine emotionale Reise zu kommen. Ich möchte sie von ihrem sonstigen Alltag für einen Moment entführen, und einen positiven Einfluss auf ihren emotionalen Zustand haben. Das Publikum soll mit uns „grooven“ und sich inspirieren lassen.

Megan Kahts/Foto Damian Posse

In der Haydn-Kantate gibt es in einem der Rezitative eine Zeile, wo Arianna erkennt, dass Theseus wirklich weg ist: „e qui mi lascia in abbandono“. Man erkennt es – und was macht man damit? Das ist der Ausgangspunkt für alle Bewegung. Aber wie Haydn diese Zeile so „süß“ vertont hat ja auch eine gewisse ironische Aussage, meiner Meinung nach. Sie wurde verlassen: aber sie ist auch frei. Das Wort „abandonment“ auf English heißt sowohl Verlassenheit als auch Hingabe. Also für mich ist der Titel zweideutig: „sweet creative abandonment“ – also Hingabe, und seiner Kreativität freien Lauf zu geben – und natürlich eine Beschreibung der zentralen Thematik: Verlassenheit, Verlust, und alle Emotionen, die dadurch erweckt werden.

Ich glaube auch, dass es dabei eine dritte Ebene gibt, und zwar, dass ich mich meiner kreativen Berufung hingegeben habe – dafür bin ich weit weg von meinem Heimatland gezogen und habe viel geopfert. Diese Wahrheit existiert für mich auch im Titel meines ersten internationalen Albums.

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Persönliche Entwicklung und Zukunftsperspektiven.  Wie haben die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse von Südafrika bis Wien Ihre musikalische Entwicklung geprägt? Ich sage immer, ich bin unter der Sonne aufgewachsen – ich meine das sowohl tatsächlich als auch im übertragenen Sinne. Südafrika ist auch ein „Melting Pot“ für mehrere Kulturen und musikalisch habe ich das vor allem im Schulchor gespürt. Als wir in China auf Tournee waren, haben die Mädels, oder wir alle (ich war in einer Mädchenschule) überall auf der Straße einfach frei afrikanische Volkslieder gesungen, harmoniert, und dazu improvisiert – dieses seelische Jubeln hat mich geprägt und ich habe auch diesen „Spirit“ in mir. Das ist die Basis, auf die meine ganze wundervolle Ausbildung aufgebaut wurde. Ich habe mich dann in Wien sofort wohl gefühlt. Meine ganze Sozialisierung ins erwachsene Leben hat in Wien und an der (sehr internationalen) Universität für Musik und darstellende Kunst stattgefunden.

Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Deswegen fühle ich mich ziemlich österreichisch – als ob ich eine doppelte Kultur habe: halb Südafrikanerin und halb Österreicherin. Die ersten Jahre in Wien hatte ich das Gefühl, ich leben einen Traum und konnte es kaum glauben, denn schon mit 11 war ein Headline in einem Zeitungsartikel über mich als Kindersängerin “Megan aims for Vienna”. Ich war bzw. bin sehr oft an der Staatsoper oder im Musikverein und habe fast täglich meine Idole und große Stars der Klassikwelt teilweise hautnah erlebt. Außerdem hatte ich Spitzenlehrer und war umringt von Leuten, auf deren Kultur klassische Musik aufgebaut wurde, so mein Gefühl. Das alles hat eine riesige Auswirkung auf mich gehabt. Das Zugehörigkeitsgefühl, das ich in Wien wegen der musikalischen Verbindung habe, war immer schon ausschlaggebend und stark. Denn in Südafrika gibt es keine große Begeisterung für klassische Musik, aber in Wien fühlte ich mich sofort verstanden und konnte meine Interessen seriös ausüben und ausleben.

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Welche Projekte und künstlerischen Herausforderungen stehen in Ihrer Zukunft? Ich möchte gerne, dass mein Ensemble und ich immer weitere Konzerte bekommen und immer mehr Bühnen betreten und dass wir die Möglichkeit haben, zu wachsen und unser Repertoire immer auszubreiten. Ein großes und tolles Projekt mit Martin Haselböcks Wiener Akademie Orchester freut mich ganz besonders. Nächstes Jahr singe ich meine erste Rosina und tauche somit zum ersten Mal richtig in die Rossini-Welt ein. Auch in der Welt der zeitgenössischen Musik gibt es für nächstes Jahr in einer Zusammenarbeit mit dem Komponisten Nuno Côrte-Real tolle Entwicklungen, auf die ich mich freue – ich halte alle, via meine Website, Instagram, Facebook und LinkedIn, auf dem Laufenden! Ruth Wiedwald (oben: Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski/ Kleider von Immagika Creative Designs)