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Innerhalb von zwei Wochen kam es im November 2017 zu zwei bedeutenden Aufführungen des Oratorio volgare e militare in zwei Teilen für Sopran, Bariton, Sprechstimme, gemischten Chor, Knabenstimmen und Orchester von Hans Werner Henze: Das Floß der Medusa. In Hamburg, wo die geplante Uraufführung 1968 nicht über die Generalprobe hinauskam, dirigierte Peter Eötvös das SWR-Symphonie-orchester Mitte November (SWR Classic 19082), im Wiener Konzerthaus hatte Kollege Cornelius Meister mit dem ORF Radio-Symphonieorchester bzw. ORF Vienna Radio Symphony Orchestra bereits Anfang des Monats die 30. Ausgabe des Festivals „Wien modern“ eröffnet. Das Festival war froh, mit einem gar nicht so neuen Werk den Finger am Puls der Zeit zu haben und mit einem historischen Schiffsunglück und der Geschichte vom Floß der Medusa von 1816 einen Bezug zu den heutigen Flüchtlingsbooten herstellen zu können. Die Medusa war auf ihrer Reise nach Afrika gekentert, worauf sich die Offiziere in Rettungsboote verfügten und für Besatzung und Passagiere ein – wie sich später herausstellte – untaugliches Floß bauen ließen, so dass von den rund 150 ins Meer treibenden Menschen auf dem Floß nur 15 überlebten. Théodore Géricaults Monumentalgemälde vom Untergang der Medusa geriet 1819 zu einem eindringlichen Zeitdokument und führte einen politischen Eklat herbei. In Wien hatte 1971 unter Miltiades Caridis mit dem ORF-Symphonieorchester die offizielle Uraufführung stattgefunden. Beide Städte spielen also in der Aufführungsgeschichte des Oratoriums eine zentrale Rolle. Das Hamburger Konzert veröffentlichte der SWR 2019 auf seinem eigenen Label, der Wiener Konzertmitschnitt folgte jetzt bei Capriccio (C5482), wo bereits Cornelius Meisters Stuttgarter Aufführung von Der Prinz von Homburg auf CD erschienen war (C5405) und mittlerweile aus der Wiener Staatsoper zusätzlich Henzes Das verratene Meer unter Simone Young (C5460) folgte.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich so rasch wieder einer derart bannenden Aufführung des Floß der Medusa wie der Wiedergabe durch Eötvös und das SWR Symphonieorchester begegnen würde (https://operalounge.de/cd/oper-cd/oratorium-der-grausamkeit); wobei gerechterweise auch das SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor und Freiburger Domsingknaben genannt werden müssen, ebenso wie der fabelhafte Arnold Schönberg Chor und die Wiener Sängerknaben, beide eine Klasse für sich, im Fall der nicht weniger packenden Wiener Aufführung ihren Rang als Ausnahmeklangkörper untermauern. Beide Chöre werden szenisch eingesetzt: Auf der linken Bühnenhälfte steht der „Chor der Lebenden“, der sich im Laufe des Abends zugunsten des auf der anderen Seite des Podiums positionierten „Chor der Toten“ verkleinert. Cornelius Meister ist der souveräne, suggestiv sachwaltende Regisseur dieses komplexen Stückes, bei dem Sven-Eric Bechtolf den distanziert nüchternen Erzähler Charon gibt, der von den Ereignissen mitgerissen wird, Dietrich Henschel mit überragender Wort- und Tonbehandlung den Überlebenden Jean-Charles und Sarah Wegener mit scharf gleisnerischer Hingabe La Mort gibt. Rolf Fath