Archiv für den Monat: Juli 2023

Tournee-Erfolg

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Als Weltpremiere veröffentlicht das französische Label Château de VERSAILLES auf drei CDs das Drame en musique La Finta pazza von Francesco Sacrati, der von 1605 bis 1650 lebte (CV5070). 1641 wurde es in Venedig uraufgeführt und konzentriert sich im Libretto von Giulio Strozzi auf Deidemia, die nach der Abreise von Achille gen  Troja dem Wahnsinn verfällt. La Finta pazza wurde damit zur allerersten Oper, welche sich diesem Gemütszustand widmet. Zudem finden sich in dem Werk viele Zutaten des venezianischen Repertoires von Cavalli und Monteverdi – komische Episoden, eine Amme, ein Eunuch und ein Hauptmann der Wachen. Die Musik weist einen Mix aus lyrischen Arien, Ariosi und Passagen im Stil des recitar cantando auf. Deidamia bringt die seriösen Teile ein, vor allem Lamenti, was sie in die Nähe zu Penelope aus Monteverdis Ulisse bringt, der ein Jahr früher heraus kam.

Die vorliegende Einspielung erfolgte im Juni 2021 in der Opéra Royal du Château de Versailles. Es handelt sich um jene Version, welche auf Tourneen durch Italien genutzt wurde. Leonardo García Alarcón leitet die von ihm 2005 gegründete Cappella Mediterranea solide, doch gelegentlich recht zurückhaltend. Solche Nummern wie die gravitätische Sinfonia liegen ihm besonders.

Die ausgeglichene Besetzung wird von Mariana Flores als Deidamia gebührend dominiert. Ihr Sopran zeichnet sich durch seine lyrischen Qualitäten, aber auch die dramatische Intensität mit gelegentlich bohrendem Ton aus. Ihre große Szene im 2. Akt „Ardisci, animo“ ist erschütternd in ihrer Wahrhaftigkeit und Tiefe. Nicht weniger ergreifend ist die Wahnsinnsszene im letzten Akt, in der sie von Achille phantasiert. Die Kastratenrollen des Ulisse und Achille werden von den Countertenören Carlo Vistoli und Paul-Antoine Bénos-Dijan wahrgenommen. Letzterer berührt in seiner vermeintlich aufrichtigen Empfindung für Deidamia, während Vistoli wie stets durch seine klangvolle, sinnliche Stimme imponiert.

Komödiantische Beiträge kommen vom Tenor Marcel Beekman als Nodrice und dem polnischen Counter  Kacper Szelazek als Eunuco. Beider Duett zu Beginn des 3. Aktes, „Quand’ ebbi d’oro il crin“, ist ein Kabinettstück zweier Vollblutsänger, die sich gegenseitig zu überbieten suchen. Salvo Vitale als Capitano lässt profunde Basstöne in seiner Szene „Spalancatevi abissi“ im 2. Akt hören und man bedauert, dass die Partie nicht größer ist. Die Bekanntschaft mit diesem Werk, eine der populärsten Opern des 17. Jahrhunderts, ist lohnend in jedem Fall. Bernd Hoppe

Polnischer Verismo

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Auf eine bewegte Geschichte blickt die polnische Stadt Lublin in Ostpolen zurück, die litauischen, russischen, österreichischen, deutschen und sowjetischen Einflüssen ausgesetzt war und die  nicht nur ein eigenes Opernhaus, sondern auch eine renommierte Musikakademie mit dem Namen Henryk Wieniawski besitzt. In deren Konzerthalle entstand im Oktober des Jahres 2021 die Aufnahme von Wladysław Želeńskis dritter von vier Opern mit dem Titel Janek, statt, die 1900 in Lemberg uraufgeführt worden war. Diese heute in der Ukraine liegende Stadt ist auch in anderer, sehr trauriger Weise mit der Familie  verbunden, denn ein Sohn des Komponisten war einer der von den Deutschen 1941 ermordeten polnischen Intellektuellen, die von ihren ukrainischen Studenten denunziert worden sein sollen. Die Untat ging als „Professorenmord“ in die Geschichte ein.

Želeńsky wurde in der Nähe von Krakau geboren, wo er auch studierte, ehe er nach Prag und danach nach Paris ging, um schließlich wieder nach Polen, nach Warschau und dann Krakau, wo er 1921 verstarb, zurückzukehren.

Die Musik zu Janek wird als eine Mischung von polnischen Volksweisen, vorzugsweise der Hohen Tatra, von italienischem Verismo und auch etwas Brahms beschrieben. Veristisch ist sicherlich die Handlung, ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang frei nach Cavalleria Rusticana, musikalisch überwiegen vor allem in den üppigen Chorszenen die folkloristischen Elemente.

Die schöne Bronka, verlobt mit dem Gebirgler Stach, hat den verwundeten Räuber Janek bei sich aufgenommen und gesund gepflegt. Beide haben sich ineinander verliebt, was der Geliebten  Janeks mit Namen Marynka nicht verborgen bleibt. Sie stachelt den eifersüchtigen Stach dazu auf, Janek zu erschießen, der tot vor den Augen der entsetzten Anwesenden zusammenbricht.

Bei You Tube findet sich die Aufnahme einer Arie des Janek aus dem Jahr 1929, auf der ein Tenor namens Salecki durchaus mit dem Timbre für einen Turiddu prunken kann. Auf der von Naxos zu verantwortenden Aufnahme wirken zumindest die Stimmen des unglücklichen Liebespaars ausgesprochen slawisch, so ist der Tenor, den Lukasz Gaj für die Titelpartie einsetzt, herb, metallisch, wirkt streckenweise etwas ungehobelt und überzeugt mehr durch prachtvolles Material als durch Gesangskultur. Die Mittellage ist angenehm farbig, insgesamt macht seine Leistung den Eindruck, als stehe sie unter dem Motto “Volle Kraft voraus“.  Malgorzata Grzegorzewicz-Rodek hat für die Bronka eine lieblich klingende mädchenhafte Sopranstimme, die wie eine voce dal cielo klingt. Viril, dunkel bis düster, dazu herb und kantig klingt der Bariton von Pawel Trojak, der den rachsüchtigen Stach gibt und durchaus an einen Alfio denken lässt. Einen fülligen, weichen Sopran, der fast Mezzoqualitäten aufweist, kann Agnieszka Kuk für die eifersüchtige Marynka einsetzen und ausgesprochen stählern im Forte klingen. Profund ist der Bass von Dariusz Gȯrski für den Marek.

Wunderschön hört sich der Women’s Choir oft the Henryk Wieniawski Philharmonic an, höchst markant I Signori Men’s Vocal Ensemble. Im Orchestergraben saust und braust es gewaltig, fegt Unheilschwangeres, auf pure Überwältigung Zielendes daher, zieht Dirigent Wojciech Rodek alle Register, um slawisch Volkstümliches und italienisch Veristisches miteinander zu vereinen und der ersten Einspielung des Werks zum Erfolg zu verhelfen (Naxos 8.660521-22). Ingrid Wanja   

Einer für alle

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Warum wohl änderte Christof Loy die von Pucccini für sein Trittico vorgesehene Reihenfolge von Il Tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi in Gianni Schicchi, Il Tabarro und Suor Angelica? Wollte er 2022 in Salzburg dem Publikum das befreiende Gelächter nach dem veristischen Reißer und dem frommen Rührstück versagen? Oder hatte er ganz einfach erkannt, dass seine Protagonistin für alle drei Einakter, die Sopranistin Asmik Grigorian,  sich nur so vom Einsingen als Lauretta über Giorgetta als ein Glied des Trio infernal zur Primadonna assoluta einer Angelica steigern konnte? Entsprechend jedenfalls fiel der Beifall für sie aus, der sich von freundlich über herzlich bis zu frenetisch steigern konnte. Bedenklich stimmt die Besetzung der drei Partien trotzdem, denn die Lauretta der Grigorian erreichte nicht die sich einschmeichelnde Dolcezza der Besten in dieser Partie, ihre Giorgetta musste sich davor schützen, sich ganz zu verausgaben, denn für die Suor Angelica brauchte sie noch lyrische Leuchtkraft sowie für das „Senza Mamma“ gebändigte Expressivität und ein wunderschönes Diminuendo zum Schluss.

Bei Christof Loy kann der geplagte Opernfreund davor sicher sein, Geschmacklosigkeiten und Entstellungen ertragen zu müssen, auch wenn seine Inszenierungen immer ein wenig kalt wirken. Kahl und riesig ist das Gemach (Bühne Ètienne Pluss), in dem Buoso Donati sein Leben ausgehaucht hat. Die Verwandtschaft in Fünfzigerjahreskostümen (Barbara Drosihn) sitzt (wie in unendlich vielen anderen Produktionen bisher) aufgereiht an einer Wand, ist bereits beim Leichenschmaus, der natürlich aus Spaghetti Bolognese besteht, während die Besetzung alles andere als italienisch ist. Viele lustige Details unterhalten das Publikum bestens, so wenn einige Familienmitglieder sich bereits am Tafelsilber und anderem bereichern oder die Kerzen auslöschen, da das Geld dafür vom Erbe abgehen könnte.

Ein mächtiges Trumm von einem Kerl ist der Gianni Schicchi von Misha Kiria, einem georgischen Sänger mit einem vollmundigen Bariton voller Farbe, Saft und Kraft. Ihm nimmt man eher machtvollen körperlichen Einsatz als hinterlistigen Witz ab. Alexey Nekklyudov ist Rinuccio, optisch attraktiv,  mit einem durchdringenden „Firenze“ ohne Tenorschmelz und Poesie, dazu enger Höhe. Optisch wie akustisch ragt aus der Schar der Verwandtschaft Scott Wilde als Simone heraus. Auch Enkelejda Shkosa, die noch in zwei weiteren Partien zu erleben ist, kann als Zita mit üppigem Mezzosopran reüssieren. Insgesamt ist leider viel von dem, was der Italiener „a squarcia gola“ nennt, zu vernehmen. Feiner und italienischer hören sich die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst an.

Viel zusätzliches Personal, so Midinetten und Tänzer gibt es für Il Tabarro, ohne dass das Stück dadurch bereichert erscheint, auch Un amante wie Un‘ amante dürfen sich länger auf der Szene tummeln als vorgesehen. Ein riesiger Schleppkahn, vor dem man ein Wohnzimmer samt Stehlampe aufgebaut hat, beherrscht die Szene. Asmik Grigorian ist eine Jean-Harlow-Kopie, für die sich die Regie viele schlüssige Details ausgedacht hat, so wenn sie erst das Antlitz des Gatten zärtlich berührt, sich dann aber verstohlen die Hand abwischt. Eine ausgefeilte Personenregie kann auch hier überzeugen. Scott Wilde und Enkelejda Shkosa , später noch Suora Zelatrice, sind auch als Il Talpa und La Frugola darstellerisch wie vokal ein Gewinn, zu ihnen gesellt sich als ebensolcher Andrea Giovannini als Il Tinca. Hell und strahlend, aber doch recht kühl bleibend, füllt Asmik Grigorian die Partie der Giorgetta aus. Schon einmal optisch ideal rollendeckend sind Roman Burdenko als Michele und Joshua Guerrero als Luigi. Vokal hat Ersterer Wärme wie Autorität in seinem Bariton, während der Tenor mit einheitlich dunklem Timbre, weniger mit erotischem Flair punkten kann.

Die Nonnentracht ist kaum modischen Zwängen unterworfen, und so kann man lediglich am Kostüm der Zia Principessa, ein strenger Hosenanzug zu ebensolchem Herrenhaarschnitt, festmachen, dass auch hier die Handlung in moderne Zeiten verlegt wurde. Recht idyllisch und in freundlicher Atmosphäre spielt sich das Leben im Kloster ab, am Schluss gibt es keine Marienerscheinung und keinen tödlichen Trank, sondern Angelica sticht sich mit einer Schere beide Augen aus, ihr Kind läuft auf sie zu und umarmt sie. Davor allerdings zeigte die Nonne durchaus weltliche Gelüste, wenn sie sich aus einem Koffer mit Kleinem Schwarzen und Lippenstift fein machte und genussvoll eine Zigarette rauchte. Viel Wärme in ihrem Mezzosopran hat Hanna Schwarz als Badessa, während Karita Mattila trotz einschüchternder Optik weder darstellerisch noch vokal die Eiseskälte der Zia Principessa vermitteln konnte. Asmik Grigorian hingegen bewältigte zwar alle drei Partien, doch ist ihre achtenswerte Leistung durchaus kein Plädoyer für die Besetzung mit nur einer Sängerin (Major 809004). Ingrid Wanja

Wien liegt im Erzgebirge

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In der Geschichte der deutschsprachigen Operette bedeutet die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten Anfang 1933 einen radikalen Einschnitt: Die bis dahin erfolgreichsten Komponisten und Librettisten waren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) jüdisch, Aufführungen ihrer Werke im Deutschen Reich wurden umgehend verboten. Sie setzten ihre Karrieren in Wien (bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938), Budapest, Paris (bis zum Ausbruch des II. Weltkriegs) oder Zürich fort und waren dort mit neuen Stücken sehr wohl erfolgreich, aber diese Exil-Operetten wurden gewöhnlich nicht nachgespielt (schon gar nicht im Ausland!) und gerieten spätestens nach 1945 ganz und gar in Vergessenheit.

Ralph Benatzky/ Foto Discogs

Ein neues Interesse an diesen Werken, mit denen die Gattungsgeschichte der Operette an ihr Ende gelangt, ist erst in den letzten Jahren zu registrieren: Von Paul Abraham wurde Roxy und ihr Wunderteam(ungarisch Budapest 1936, deutsch Wien 1937) 2014 in Dortmund erstmals wieder gespielt und war zuletzt in der Volksoper Wien (Herbst 2021) zu sehen; im Sommer 2021 kam in Nürnberg Abrahams Märchen im Grand Hotel (Wien 1934) auf die Bühne. Die Volksoper Wien spielte 2016 Ralph Benatzkys „musikalisches Lustspiel“ Axel an der Himmelstür (Wien 1936). Benatzky ist auch der Komponist der „Kammeroperette“ Zur gold’nen Liebe (Berlin 1931), die im Juni 2021 mit großem Erfolg von der Bühne Burgäschi, einer Schweizer Truppe operettenbegeisterter Amateure, aufgeführt wurde.

Benatzky war nicht jüdisch, er verließ Deutschland, weil ihm das Regime des „Führers“ (den er gern den „Baedeker“ nannte) zuwider war. Am Deutschen Volkstheater in Wien kam im April 1936 seine Operette Der reichste Mann der Welt heraus. Die erfolgreiche Inszenierung sollte die einzige bleiben, erst 2021 stellte das Theater in Annaberg-Buchholz das Werk wieder auf den Prüfstand (dazu den Rezension von Rolf Fath in unserer Rubrik Die besondere Oper; nun als DVD in einer Aufzeichnung von 2022  bei der Firma Rondeau ROP9018 zum Nacherleben erschienen; die nachstehende Rezension von Albert Gier vermittelt seinen Eindruck vom Besuch des Eduard-von-Winterstein-Theaters in Annaberg am 16. Juli 2023. G. H.)

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Da die Orchesterpartitur verlorenging, hat Wolfgang Böhmer das Stück auf der Grundlage von Benatzkys Klavierauszug neu orchestriert. Böhmer und GMDJens Georg Bachmann, der Dirigent der Aufführung, betonen übereinstimmend, dass die Musik das Idiom der Wiener Operette mit Elementen der amerikanischen Musical Comedy verbindet. Das kleine Orchester in Annaberg-Buchholz besteht aus neunzehn Instrumenten, darunter Orchesterklavier und natürlich Schlagwerk.

Das Libretto von Hans Müller ist gut konstruiert, wenn auch nicht ganz so inspiriert wie die Bücher, die z.B. Curt Goetz (Zirkus Aimé) oder Willi Wolff und Martin Zickler (Zur gold’en Liebe; der Komponist wird als Mitautor genannt) für Benatzky schrieben. Regisseur Christian von Götzrückt das Stück in die Nähe der Boulevardkomödie, die sich durch hohes Tempo auszeichnet. Von Götz beschreibt sie als „Theater, wo die Türen klappern“, als sein eigener Bühnenbildner entwarf er einen abstrakten Raum, dessen Hintergrund eine gewölbte, aus verschiedenfarbigen Segmenten bestehende Wand bildet, in jedem zweiten Segment gibt es eine Tür. Im Verlauf des Abends wird bald die eine, bald eine andere Tür (von außen oder innen) aufgerissen, dahinter wird jeweils eine der Figuren sichtbar, die wieder verschwindet, wenn die Tür (meist recht schnell) wieder geschlossen wird.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Die Türen klappern also tatsächlich, allerdings nicht wie im französischen Bühnenschwank: Dort führt das Öffnen einer Tür meist zur unverhofften Begegnung von Figuren, die einander unbedingt aus dem Weg gehen wollen, vor allem an kompromittierenden Orten (z.B. in einem Stundenhotel). In der deutschsprachigen Operette ist der zweite Akt von Heubergers Opernball ein Musterbeispiel für diese Dramaturgie. Solche peinlichen Begegnungen gibt es in Der reichste Mann der Welt nicht, das Öffnen und Schließen der Türen steigert vor allem das Tempo des Bühnengeschehens, ist also letztlich funktionsloser Aktionismus, den sich der Zuschauer allerdings gern gefallen läßt.

Bevor das Spiel (ohne Ouvertüre!) beginnt, verbirgt ein pinkfarbener Vorhang die untere Hälfte des Bühnenbilds, der später als Gliederungssignal dient, zwischen den einzelnen Szenen wird er jeweils kurz zugezogen. Die Aufschrift („Einen Hut will ich tragen im ersten Akt (…) Und im vierten Akt… da komme ich nackt“) verheißt Frivolität, die Inszenierung löst dieses Versprechen allerdings nur zum Teil ein.

Die Geschichte, die laut Textbuch 1893 spielt, erhebt keinen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit: Die Ziegelei, die die aristokratische Familie der blonden Ilka betreibt, ist in Schieflage geraten, man schuldet Ludwig Reingruber in Wien, dem „reichsten Mann der Welt“, viel Geld. Würde Ilka Reingrubers Sohn Schorsch („Schorsch“ ist eine Dialektform des Vornamens Georg, aber auch ein verbreiteter jüdischer Nachname, verweist also indirekt auf die Herkunft des jungen Mannes und seines Vaters) heiraten, wären die Probleme gelöst, aber Ilka denkt nicht daran, sich ohne weiteres „verloben“ zu lassen. Schorsch leistet ebenfalls Widerstand, denn er will nicht ins Bankhaus seines Vaters eintreten, sondern als Opernsänger Karriere machen und hat offensichtlich auch das Zeug dazu.

Erwartungsgemäß kommen sich die beiden (wie zahllose andere Operetten-Paare) schnell näher, wenn sie einander kennenlernen, ohne zu wissen, wer der jeweils andere ist: Im Schnellzug, der Ilka nach Wien, Schorsch nach Venedig bringen soll, liegen ihre beiden Abteile nebeneinander – in Annaberg sind die „Abteile“ zwei Kommoden, aus deren Tiefen die Fahrgäste auftauchen, wenn der Schaffner – eine groteske Figur mit grünem Turban – nach den Billetten fragt. Die Szene zitiert den Donauwalzer, umtextiert und musikalisch verfremdet – der Tradition entsprechend sind die Walzer Ausdruck zärtlicher Gefühle.

Der energische, etwas hyperaktive Milliardär Reingruber schwingt sich an einem Seil auf die Bühne. Die Eingangspost – einen ganzen Sack voll! – verstreut er in der Gegend, der leere Sack leitet über zu dem szenischen Gag, dass alle Darsteller beim Sackhüpfen mitmachen – ähnlich wie das Rollschuhlaufen in einer der folgenden Szenen verstärkt das Sackhüpfen vor allem den Eindruck atemlos hohen Tempos.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Ilka und Schorsch bezeugen einander ihre Liebe wortlos in einer Tanzszene zu spanischen Rhythmen (Benatzky stellt einmal mehr unter Beweis, dass er ein Meister der Stilkopie ist). Dennoch gibt der junge Mann schließlich auf und tritt doch ins Bankhaus seines Vaters ein; der schickt ihn zur Börse, um die Neuemissionen aufzukaufen. Dass Schorsch das nicht tut, erweist sich im Nachhinein als Glücksfall, er bewahrt seinen Vater dadurch vor großen Verlusten. Für die Zukunft der beiden jungen Leute wagt ein Mitglied von Ilkas Familie die Prognose: „Entweder er heiratet sie – oder er bringt sie um!“, was den Einwand provoziert: „Aber das ist doch ein und dasselbe!“

Intimität wird sichtbar, wenn die beiden sich eng umschlungen in den Vorhang wickeln; für die Zuschauer unsichtbar tauschen sie die Kleider, Ilka trägt dann sein Jackett über ihren Strumpfhosenbeinen, Glöckner macht als auch als Damenimitator im Kleid gute Figur. Zum guten Schluß zieht das Ensemble das Fazit: „Wer ist der reichste Mann der Welt? / Der seinen Schatz im Arme hält!“

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Unter der ebenso engagierten wie souveränen Leitung von Jens Georg Bachmann leistet das kleine Orchester Beachtliches, Benatzkys schwungvolle Melodien werden mit viel Verve und dennoch präzise dargeboten, es macht Spaß zuzuhören. Aus einem sehr homogenen Ensemble (an dem kleinen Theater sind der Spielzeit-Broschüre zufolge weniger als zehn Sänger fest engagiert, nur fünf Rollen konnten mit hauseigenen Kräften besetzt werden, die übrigen sind Gäste) ragen Richard Glöcknerin der großen, anspruchsvollen Rolle des Schorsch und die attraktive Madeleine Vogt als Ilka heraus: Glöckner vermag den Eindruck zu vermitteln, dass Schorschs Hoffnungen auf eine Opernkarriere nicht unbegründet sind, er überzeugt mit der Strahlkraft seines lyrischen Tenors. Madeleine Vogt zeichnet das nuancierte Portrait einer kapriziösen, energischen und zugleich zu tieferen Gefühlen fähigen jungen Frau. Auch alle anderen füllen ihre Rollen musikalisch überzeugend und mit viel Spielfreude aus, was beachtlich ist, da alle fast ständig in Bewegung sind (Choreographie: Leszek Kuligowski): als Ilkas Eltern László Varga(Thassilo) und Bettina Grothkopf (Marie), als ihre Großeltern Leander de Marel (Anselm Hugelmann; er schwäbelt, weil er ein „Banater Schwabe“ ist) undJudith Christ-Küchenmeister(Philippine), als Schorschs Faktotum und alter ego Bandi Christian Wincierz(der auch den „Schlafwagenkondukteur“ spielt), als „reichster Mann“ Ludwig ReingruberJason-Nandor Tomory; außerdem Marvin George(Graf Bronsky), Nadine Dobbriner (Juliska) und Stefanie Ritter(Zenzi).

Der Autor: Albert Gier/Foto BR

Der reichste Mann der Welt ist eine rundum gelungene, musikalisch attraktive und amüsante Operette; dass sich das Theater in Annaberg-Buchholz des vergessenen Werkes annahm, ist sehr verdienstlich, das Ergebnis geriet überzeugend. Einmal mehr wünscht man sich, die Produktion möge den Anstoß geben zu weiteren Inszenierungen, die die im Werk angelegten Möglichkeiten durch andere szenische (und musikalische) Lesarten ausloten könnten. Albert Gier/ 16. Juli 2023 (mit Dank an das ORCA/ Operetta Centre Amsterdam, bei dem dieser Artikel von 2023 erstmals erschien, Dank an den Autor und den Chefredakteur Kevin Clarke für die Erlaubnis zur Übernahme).

Potsdamer Festspiel Dokument

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Inseln lautete das Motto der Festspiele 2022. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde 1768 im Schlosstheater des Neuen Palais aufgeführt, wohin es nun zurückkehrte. dhm hat die Aufführungen vom 12. und 14. Juni mitgeschnitten und auf zwei CDs veröffentlicht (19658794542).

Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni: Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. Der Tenor Rupert Charlesworth, seltsamerweise im Booklet als Sopranist ausgewiesen, gibt ihn mit lebhafter  Stimme, die gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) mit kraftvollen Spitzentönen imponiert.

Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll gerundetem Mezzo) und Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch Cetronella zur Gattin wählt. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „Oh gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.

Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet („Se d’un tenero Cupido“). Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt im 3. Akt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Giovanni Benvenuti hat diese fulminante Arie rekonstruiert. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta MameliIhr Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in Lisauras Arien sind  delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit soliden Stimmen die kontrastierend tiefen Töne ein.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Ihr gebührt Dank für diese Insel musikalischer Glückseligkeit. Man hofft nun auch auf Festspieldokumente von diesem Jahr, welches das schöne Motto „In Freundschaft“ trug. Bernd Hoppe

Junge Sänger im Aufwind

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Drei Neuerscheinungen auf dem CD-Markt haben eines gemeinsam. Die Sänger sind jung, so um die dreißig. Und damit etwa in jenem Alters, in denen die Komponisten waren, als sie die Werke, um die es geht, schufen – Die schöne Müllerin und Winterreise von Schubert, Dichterliebe von Schumann. Sagt das Rechenspiel mit den Lebensdaten etwas über die Interpretation aus? Für mich schon. Die Jungen bringen gewöhnlich mehr eigene Gefühle und Leidenschaften ein als ein sehr viel erfahrenerer Sänger, der die Lieder nach meiner Beobachtung stärker sublimiert und damit auf eine andere Ebene hebt. An dieser Stelle kommt mit Dietrich Fischer Dieskau ein sehr prominentes Beispiel zur Sprache. Er war dreiundzwanzig, als er seine erste Winterreise für den WDR aufnahm. Der Zyklus begleitete ihn sein Leben lang. Alles in allem hinterließ er an die dreißig Aufnahmen – Studio und live, bei diversen Firmen und im Rundfunk. Er klang immer etwas anders. Seine Deutungen wurden von Mal zu Mal ausgeklügelter und feinsinniger, was nicht jedem gefiel. Die drei Zyklen sind nur ihrer Entstehungszeit nach Jugendwerke. Im Kern handelt es sich um Gipfel der Tonkunst. Es ist also auch ein Wagnis, sich gleich zu Beginn der Karriere an deren Ersteigung zu machen. Denn nicht jedem Sänger dürfte sich wie einst Fischer-Dieskau die Möglichkeit eröffnen, eine Interpretation durch die nächste zu ergänzen oder auch zu korrigieren. Vielleicht wäre das auch nicht mehr zeitgemäß. Der Markt unterliegt keinen diskographischen Regeln mehr. Insofern ist es nur natürlich, wenn sich junge Sänger unerschrocken an die Arbeit machen.

Erik Rousi hat sich Die schöne Müllerin vorgenommen. Die Aufnahme ist beim finnischen Label Alba herausgekommen (ABCD 525). Die Begleitung am Klavier besorgte Justus Stasevskij aus Finnland, wo er auch studierte. Auch Rousi ist Finne. Für den Herbst 2023 ist er in Wuppertal als König Marke im Tristan angekündigt. In seiner Heimat singt er auch Bach, den er nicht aus den Augen lassen sollte. Wie dem Booklet zu entnehmen ist, treten beide Künstler schon seit 2015 gemeinsam auf und „haben sich besonders auf Schuberts Liederzyklen fokussiert“. Fraglos bringt Rousi einen sehr gut sitzenden Bass-Bariton mit. Er singt betont flexibel und nicht angestrengt. Man würde ihn auch wiedererkennen. Das teils riskante rasche Tempo im Vortrag wird nicht immer ganz sicher beherrscht und vor allem im Jäger auf eine harte Probe gestellt. Es ist Teil seiner ungestümen Sicht auf das Werk. Er geht sehenden Auges in sein Unglück, nimmt die Abgründe rechts und links der Wanderschaft nicht wahr. Trotz vieler positiver Eindrücke finde ich, dass die Aufnahme zu früh kommt. Warum? Sie ist sprachlich nicht wirklich ausgereift und offenbart zu viele Ungenauigkeiten. Wenn aus wandern „wondern“ wird, und aus Wasser „Wosser“, wirkt gleich das erste Lied unfreiwillig komisch. Die Aussprache müsste besser werden. Das hat auch der Textdichter Wilhelm Müller verdient. Rousi sollte weiter an sich arbeiten.

Bei der Winterreise lässt sich der deutsche Bariton Florian Götz vom Grundmann-Quartett begleiten. Die ebenfalls im Studio entstandene Einspielung ist bei dem in Leipzig ansässigen Label Genuin erschienen (GEN 23819). Die äußerst stimmungsvolle Fassung mit den gelegentlich eisigen Figuren der Streicher stammt von Eduard Wesly, der den Pianoforte-Part für Englischhorn, das er selbst spielt, und Streichertrio mit Ulrike Titze (Violine), Bettina Ihrig (Viola) und Ulrike Becker (Violoncello) bearbeitete. Zwischen den Liedern Einsamkeit und Die Post legt das Quartett auf der Hälfte das ebenso neu gesetzte Andantino von Schuberts Klaviersonate D 959 aus dessen Sterbejahr 1828 ein. Welcher Zweck damit verfolgt wird, bleibt zumindest im Booklet unbeantwortet. Darin findet sich lediglich ein längerer Text der Münchner Musikschriftstellerin Erika von Borries über den Dichter Wilhelm Müller, dem sie zu mehr Anerkennung verhelfen will, und Schuberts Opus. Er ist bereits vor fünfzehn Jahre erstmals veröffentlicht worden und kann schon deshalb keinen Bezug zu aktuellen Absichten der Interpreten nehmen. Die Bearbeitung macht Eindruck, verlangt aber den Hörern doppelte Aufmerksamkeit ab. Ich fühlte mich mitunter wie vor eine Wahl gestellt. Solle ich meine Aufmerksamkeit nun mehr dem Sänger oder seiner anspruchsvollen Begleitung zuwenden? Es wirken viel mehr Stimmen auf einen ein als gewohnt, zumal auch der Sänger nicht spart mit wechselnder Dynamik. Götz beginnt sehr sanft. Dadurch bleibt ihm Luft nach oben. Er weiß von Anbeginn für sich einzunehmen, was eine gute Voraussetzung für ein Werk ist, das einschließlich Pausenmusik mehr als siebzig Minuten dauert. Aber er will nicht um jeden Preis gefallen. Davon zeugen jene Momente in denen er seinen grundsätzlich wohlklingenden Bariton grell verzerrt. Manchmal hätte ich mit etwas weniger Gestaltung und dafür mehr sängerische Schlichtheit gewünscht. Der häufige Wechsel zwischen Flüsterton und Forte – im Lied Auf dem Flusse etwas auf die Spitze getrieben – verbraucht sich als künstlerisches Mittel schneller als beabsichtigt. Zumindest habe ich es so empfunden. Diese Winterreise will eben um jeden Preis ganz anders sein.

Versehen mit dem Logo Neustart Kultur ist die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – das Amt hat derzeit die Grünen-Politikerin Claudia Roth inne – gefördert worden. Das ist den Künstlern zu gönnen. Es stellt sich aber die Frage, nach welchen Gesichtspunkten diese Unterstützung gegeben wird – wer sie erhält und wer nicht. Hinzu kommt, dass diese Produktion nicht ohne zusätzliche Sponsoren möglich gewesen ist. Im Booklet werden sie namentlich genannt und mit einer Danksagung versehen. Florian Götz wurde an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar ausgebildet und war danach von 2010 bis 2014 am Erfurter Theater engagiert. Wie dem Booklet unter Hinweis auf seine Homepage zu entnehmen ist, debütierte er schon bald an den großen Pariser Opernhäusern. Stationen waren Leipzig, Karlsruhe, Düsseldorf, Amsterdam und Berlin. Auch bei diversen Festivals trat er diesen Angaben zufolge in Erscheinung.

Der aus Niederösterreich stammende Bariton Daniel Gutmann ist vielseitig unterwegs. Als Sänger gehört er zum Ensemble des Gärtnerplatztheaters in München, wo er den Papageno und Guglielmo sang. Nebenher ist er Manager, Frontman, Songwriter und Manger in einem bei seiner Countryband The Groovecake Factory, mit der er – wie auf seiner Homepage zu erfahren ist – im „In- und Ausland zahlreiche Preise gewann“. Nicht genug. An der Universität Wien brachte Gutmann, Jahrgang 1991, ein Studium als Sportwissenschaftler zum Abschluss. Man sieht es ihm an, dass er auch Wert auf Körperkultur legt. Nun hat er gemeinsam mit dem 1996 in Wien geborenen Pianisten Maximilian Kromer, bei Gramola seine erste Solo-CD veröffentlicht (99297). Auf dem Programm Lieder von Robert Schumann. Stünde der Name des Autors der literarischen Vorlagen nicht auch auf dem Cover, der Titel der Neuerscheinung „Tränenflut“ wäre Hinweis auf Heinrich Heine genug. Der hat „im Traum geweinet“, und seine „Tränenflut“ strömt noch beim Erwachen. Das Zitat führt zum letzten Lied der Dichterliebe, dem Höhepunkt der neuen CD. Vorangestellt ist dem berühmten Zyklus der Liederkreis Op. 24. Im Booklet analysiert der österreichische Musikwissenschaftler Christian Heindl die Werke und stellt auch deren zeitliche Nähe im Schaffen des Komponisten heraus. Sie sind in der ersten Hälfte des Jahres 1840 entstanden. Mit rund 140 Liedschöpfungen war es für Schumann künstlerisch eines der einträglichsten Jahre. Die Musikliteratur spricht von seinem Liederjahr. Zudem konnte Schumann im September endlich Clara heiraten. Ein Gericht hatte die Ehe gegen den heftigen Widerstand von Claras Vater Friedrich Wieck erlaubt.

Gutmann singt die Lieder nach meinem Eindruck so, als ginge das, was sich darin poetisch ereignet, vor allem ihn selbst an. Er wirkt dadurch authentisch und glaubhaft und wird damit – daran ist nicht zu zweifeln – beim Publikum ankommen. Der Vortrag geht ihm leicht über die Lippen. Manchmal zu leicht. Dafür ist er sehr gut zu verstehen, was für den Sänger in diesem Genre eine der wichtigsten Voraussetzung ist. Nicht ein Wort, nicht ein Apostroph geht unter. Ausbaufähig ist sein Legato. In dramatischen Momenten wirken manche Töne noch wie Koloraturen aneinandergereiht. Am sichersten bewegt er sich in der Mittellage. Obwohl vorhanden, kommt mir die Tiefe etwas zu künstlich erzeugt vor. Im Ausdruck wirkt nicht alles überzeugend. „Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht“ ist ein Lied, das es in sich hat, musikalisch und inhaltlich. Durch opernhafte Anleihen ist es kaum zu bewältigen. Ein Mangel an Poesie fällt vor allem bei dem Lied „Das ist ein Flöten und Geigen“ auf. Zwischen beide Zyklen platziert sind als Kontrastprogramm die dramatischen Heine-Balladen Die beiden Grenadiere und Belsazar, die auch für den Pianisten Herausforderungen darstellen, die eindrucksvoll bewältigt werden.

Auf der letzten Seite des Booklet möchten Sänger und Pianist „einigen besonderen Menschen“ danke sagen. Die Liste ist lang und schließt auch „unsere Familien, Freundinnen und Freunde“ mit ein. Die guten Söhne wissen, was sich gehört. Es wird aber auch deutlich, dass eine CD-Produktion oft viele Helfer braucht – und kein Selbstläufer mehr ist. Rüdiger Winter

Ein Hauch von Bayreuth

Im April 1954 traf in Dessau Post aus Bayreuth ein. Die Festspielleiter Wieland und Wolfgang Wagner zeigten sich in ihrem Brief an den Intendanten des Landestheaters Willy Bodenstein erfreut, dass die traditionelle Bühne eine große Richard-Wagner-Gedenk-Woche plant. „Wir beglückwünschen Sie zu diesem Entschluss, weil wir wissen, dass berufene Hände die Werke unseres Großvaters interpretieren werden.“ Diese Festwochen, es sollte bereits die zweiten ihrer Art sein, begannen – ganz nach Bayreuther Vorbild – am 8. Mai mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie und endeten am 19. Mai mit Tannhäuser. Dazwischen gab es Meistersinger, Lohengrin, den kompletten Ring und den Holländer. Umrahmt wurde das Programm von diversen Veranstaltungen. Der renommierte Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer hielt einen Vortrag über „Richard Wagner – heute“. Sein Verhältnis zu den Machthabern war noch nicht zerrüttet. Erst neun Jahre später würde er die DDR verlassen. Mitte der fünfziger Jahre war das innerdeutsche Verhältnis noch relativ entspannt. Selbst die Führung im Ostteil Berlins glaubte noch an die Wiedervereinigung, wenngleich unter ganz anderen Prämissen als der Westen. Das Interesse an den Festspielen in Dessau war also ein gesamtdeutsches. Die Kunde davon hatte selbst den Schriftsteller Thomas Mann, einen ausgewiesenen Wagner-Kenner, erreicht, der sich nach seiner Rückkehr aus der Emigration in der Schweiz niedergelassen hatte. Bereitwillig stelle er seinen Aufsatz über den Ring des Nibelungen für eine auszugsweise Veröffentlichung in der Festivalfestschrift zur Verfügung. „Die tiefe bestimmende Wirkung, die Wagners Riesenwerk auf meine Jugend geübt hatte, der kritische Enthusiasmus, den ich mir immer dafür bewahrt habe“, machten es auch ihm zum Bedürfnis, die Künstler in Dessau zu ihrem „großen Vorhaben herzlich zu beglückwünschen“, heißt es in einem handschriftlichen Schreiben, das sich in der Festschrift für 1954, die zugleich Programmheft war, als Faksimile wiedergegeben findet.

In diesem reich bebilderten Band im A4-Format taucht der Name eines Sängers auf, dessen Stimme erst jetzt wiederentdeckt wurde: Horst Wolf. Der studierte Ingenieur legte auch als Künstler größten Wert auf seinen akademischen Titel. 1954 sang er den Tannhäuser, den er auch im folgenden Festspieljahr neben Lohengrin, Loge, Siegmund, Siegfried (Götterdämmerung) und Tristan gab. Ein Pensum, das sich selbst im Bayreuth kein Heldentenor zutraute. Der Endfünfziger traute sich mit unverwüstlicher stimmlicher Energie und einer gehörigen Portion Routine. Wolf stammte aus Zwickau, wo er 1894 geboren wurde. Er war bereits vor dem Krieg in Dessau engagiert. Bei der Eröffnung des Theaterneubaus am 29. Mai 1938 in Anwesenheit von Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Entourage mit Webers Freischütz war er der Max.

Von Horst Wolf gibt es keine offiziellen Platten. Angeblich soll er zeitlebens eine Abneigung gegen das „sterile Studio“ gehegt haben. Außer jenen, die ihn noch live gehört hatten, wusste also niemand wie er gesungen hat. Interessierte jüngere Opernfreunde und Sammler waren auf Kritiken und Berichte von Zeitgenossen angewiesen. Seine Stimme galt als verloren. Ein Schicksal, das er mit vielen Sängern seiner Generation teilt. Man denke nur an seine DDR-Heldentenorkollegen Ferdinand Bürgmann und Ernst Gruber, die von der Plattenindustrie links liegen gelassen wurden. Wolf hatte aber – wie übrigens auch Bürgmann in Leipzig – in seinen Vorstellungen mitschneiden lassen. Nach seinem Wünschen und Angaben ließ er sich dafür ein spezielles Tonbandgerät bauen. Um ein Haar wären alle Bänder bei einem Feuer im Januar 1980 in seinem Haus, bei dem seine zweite Ehefrau ums Leben kam, verbrannt. Was aus der Ruine des Gebäudes geborgen werden konnte, war durch Löschwasser schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nun trat der für seine exzellenten, stets am Original orientierten Bearbeitungen bekannte Berliner Tonrestaurator Christian Zwarg auf den Plan. Das Ergebnis seiner mühevollen Kleinarbeit ist in einer Box zusammengeflossen, die bei Querstand unter dem Titel „Die wiederentdeckte Stimme – Heldentenor Dr. Horst Wolf“ erschien (VKJK 207). Für mich in jüngster Zeit eines der bemerkenswertesten Ereignisse auf dem Musikmarkt.

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Das Dessauer Theater wurde 1938 eröffnet und 1944 bei einem Bombenangriff schwer beschädigt. Nach dem Wiederaufbau begann 1949 der Spielbetrieb. / Booklet 

Wagner bildet das mit Abstand größte Kontingent der Sammlung. Nicht alle Mitschnitte stammen von den Festwochen. Wolf war auch im regulären Spielplan vertreten. Die meist hauseigenen Kräfte vermitteln stets einen starken Eindruck vom musikalischen Niveau dieses Hauses. Einer Repertoire-Vorstellung vom November 1956 entstammen Eriks beide großen Auftritte im Fliegenden Holländer: „Bleib Senta! Bleib nur einen Augenblick!“ und „Was muss ich hören? Gott, was muss ich sehn?“ Leider bricht das Finale kurz vor Schluss ab. Mit Emmy Prell als Senta tritt eine Sängerin in Erscheinung, die in Dessau über mehrere Jahre sehr aktiv war. Ihre schlanke Stimme mit enormer Durchschlagskraft erinnert mich an Anja Silja. Der Holländer ist Matthias Klein, über den für das Booklet keine Lebensdaten ermittelt werden konnten. Er ist auch in Szenen aus den Meistersingern von Nürnberg als Sachs besetzt. Für Tannhäuser vom Dezember 1954 gibt es eine ganze CD mit fast achtzig Minuten. Sie enthält die wichtigsten Szenen aus allen drei Aufzügen, nicht aber die Hallenarie und das Gebet der Elisabeth mit Emmy Prell. Aufhorchen lässt der erst fünfundzwanzigjährige Robert Lauhöfer als Wolfram, der im Jahr darauf an die Berliner Staatsoper Unter den Linden wechselte. Die Gralserzählung ist eine von drei Ausschnitten aus Lohengrin (November 1952). Der Abschied des Gralsritters endet zu abrupt, weil der furiose letzte Auftritt von Ortrud fehlt. Wie schon beim Holländer gibt die völlig ausgereizte Kapazität der CD nicht mehr her. Auch wenn die Box Horst Wolf und nicht eigentlich den dargebotenen Werken gewidmet ist, erweisen sich solche scharfen Schnitte letztlich als Manko – zumal in Wagners durchkomponierten Musikdramen.

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„Zurück vor dem Speer!“ Vilma Fichtmüller (Brünnhilde), Horst Wolf (Siegmund), Kurt Uhlig (Wotan) und Peter Roth-Ehrang (Hunding/von rechts) in der Walküre 1954 / Programmheft

Doch es geht nicht nun um Wolf. Mit der ihm gewidmeten Edition erlangt ein ganzes Kapitel deutscher Wagnerpflege akustische Konturen. Endlich ist zu hören, wie es damals klang in Dessau. In Wolf treffen wir noch auf einen Sänger alter Schule. Damit wird auch ein gravierender Unterschied etwa zum Nachkriegsbayreuth deutlich, wo die Vergangenheit nicht nur optisch sondern auch im Gesangsstil weitestgehend überwunden worden war. Nur noch zweimal, nämlich 1952 als Siegfried in der Götterdämmerung und 1954 als Siegmund kam Max Lorenz aus der Vorkriegszeit zurück und hinterließ – wie aus Mitschnitte nachzuhören – einen zwiespältigen Eindruck. Wolf hingegen war immer noch da und sang, wie er es gelernt hatte. Der anhaltende Erfolg gab ihm Recht. Von jenen seinen Kolleginnen und Kollegen, die auch in der Sammlung von Querstand dokumentiert sind, ist niemand vor 1900 geboren. Sie entstammen einer neuen Generation. Wolf bringt viel Erfahrung ein. Vor allem als Tristan in den großen Auszügen aus dem dritten Aufzug von 1955 jongliert er geschickt mit seinen Kräften. Er nimmt sich zurück, wo er zu sparen können glaubt, flüchtet sich auch mal in den Sprechgesang, um dann die Stellen, auf die es ankommt, mit großer Intensität und frappierender Wortdeutlichkeit auszufüllen. „Isolde kommt! Isolde naht!“ dürfte ihm so schnell niemand nachgesungen haben. Mit seiner stählernen Stimme, die hohen Wiedererkennungswert besitz, bohrt er sich in die Tiefen seiner Seele als verwunde er sich selbst. Trotz seines ökonomischen Gestaltens gibt er immer hundert Prozent. Die Isolde in dieser Vorstellung war Vilma Fichtmüller (1910-2008), die nur aus der Ferne mit den Worten „Tristan! Geliebter“ zu hören ist. Dafür singt sie bei den Festwochen 1956 mit Wolf als Parsifal die große Duett-Szene des zweiten Aufzugs. Da kommen immerhin fünfunddreißig Minuten zusammen. Genug, um von dieser Wagner-Sängerin endlich einen Eindruck zu bekommen.

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Vilma Fichtmüller als Isolde 1955 in Dessau. Sie ist auch in der Horst-Wolf-Edition zu hören / Programmheft

Meine jahrelange Suche nach Tondokumenten mit Vilma Fichtmüller fand nun ein glückliches Ende. Neugierig hatten mich ihre Erinnerungen gemacht, die 2003 in Buchform bei der Druck und Verlags GmbH Holler in Karlsruhe, wo die Sängerin schon in den dreißiger Jahren engagiert war, herauskamen. Dessau ist in diesen Memoiren ein eigenes großes Kapitel gewidmet. Trotz der den politischen Verhältnissen geschuldeten Schikanen, die ihr widerfuhren, blickte sie dankbar zurück: „In Dessau fühlte ich mich heimischer als in Karlsruhe.“ Sie war über mehrere Jahre eine feste Stütze des Ensembles und trat auch in Opern anderer Komponisten auf. Ihre Elektra fand viel Aufmerksamkeit und soll sogar vom DDR-Rundfunk aufgezeichnet worden sein, wo sie aber nicht mehr auffindbar ist. In der Edition ist sie auch als Marta in großen Ausschnitten aus d’Alberts Tiefland vom 12. Juni 1956 dokumentiert. Wolf, der den Pedro singt, hatte nicht seinen besten Tag. Er verließ die Gesangslinie zu oft. Ein alter Freund, der die Fichtmüller noch auf der Bühne erlebte, erzählte mir, dass die hoch gewachsene blonde Frau eine Figaro-Gräfin gewesen sei, nicht aber eine Isolde oder Brünnhilde.  Ich muss ihm widersprechen. Die Fichtmüller ist alles andere als eine Mozart-Sängerin. Vielmehr verkörpert sie – gemessen an den Tondokumenten – mit ihrem schlanken Sopran einen neuen hochdramatischen Typ, der Stimme und Erscheinung in Einklang zu bringen suchte. Sie agiert sehr intensiv, mitunter etwas scharf – und nicht gerade schön. Man ahnt, dass ihre Auftritte – wenn auch nicht auf meinen Freund – für große Teile des Publikum elektrisierend gewesen sein müssen.

Programmheft in Buchform für die Wagner-Festwochen 1954 in Dessau

Nur in privaten Sammlungen hatten sich bisher einige Szenen von Aufführungen der Dessauer Festspiele von 1954, 1962 und 1963 erhalten. Wer sie hat aufnehmen lassen, ist nicht bekannt. Wolf scheidet aus, weil er nirgends mitwirkt. Ein inzwischen verstorbener Sammler hatte sie mir für den eigenen Gebrauch überlassen. Deren Klang steht dem, was die neue Edition zu bieten hat, nicht nach. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich tippe auf professionelle Mitschnitte. Zum Bestand des Deutschen Rundfunkarchivs gehören sie aber nicht – oder nicht mehr, wie Recherchen ergaben. Künstlerisch werden unter der musikalischen Leitung der Dessauer Generalmusikdirektoren Erich Riede und Heinz Röttger, die auch Hort Wolf begleiten, packende Eindrücke vermittelt. Die Attraktivität der Dokumente beruht nicht zuletzt darauf, dass  namhafte Gäste hinzugezogen wurden: Rudolf Gonszar (Sachs und Wotan), Erich Witte (Stolzing) Ruth Keplinger, die die Eva auch bei der Wiedereröffnung der Berliner Staatsoper sang, und Brünnhild Friedland (Elisabeth). Erwähnenswert ist neben Joachim Sattler und Günther Treptow ein weiterer Dessauer Siegfried jener Jahre: Hans Wolfgang Vogt-Vilseck. Es ist wenig über ihn in Erfahrung zu bringen. Werner P. Seiferth vermerkt in seiner Dokumentation „Richard Wagner in der DDR“, dass er vorwiegend in der Bundesrepublik tätig war, in der ersten Hälfte der 50er Jahre als Gast-Heldentenor auch in der DDR auftrat. Mehr nicht.

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Brünnhild Friedland sang bei den Festwochen 1954 die Elisabeth in „Tannhäuser“ / Programmheft

Die Richard-Wagner-Pflege in Dessau währt bis in die Gegenwart – wenngleich nicht mit dem Enthusiasmus und der Intensität von einst. Sie beruht auch darauf, dass der Komponist selbst in der Stadt weilte. Seine erste Frau Minna gehörte dem Schauspielensemble an. 1857 wurde im alten Herzoglichen Hoftheater, dem Vorgängerbau des jetzigen Landestheaters, mit Tannhäuser die erste Wagner-Oper gegeben. Für die Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses mit dem Ring des Nibelungen 1876 stellte Dessau dreizehn Musiker. Nach der Aufführung der einzelnen vier Teile 1892 folgten im Jahr darauf erstmals zwei geschlossene Darbietungen des Bühnenfestspiels durch den leitenden Dirigenten August Klughardt, der inzwischen als Komponist wiederentdeckt wurde. Cosima Wagner setzte 1894 Humperdincks Hänsel und Gretel in Szene, wofür ihr der Komponist den so genannten Dessauer Schluss schuf – zu hören als Appendix der Gesamtaufnahme unter Donald Runnicles bei Teldec. Fazit ihres Aufenthaltes: „Dessau ist diejenige Stadt, in der nächst Bayreuth die Wagnerschen Werke am vollendetsten und getreuesten im Geiste ihres Schöpfers dargestellt werden.“ Anders als in Bayreuth wurde in Dessau auch Rienzi gespielt. Bei der Premiere am 22. Dezember 1956 sang – wie hätte es auch anders sein können – Wolf die Titelrolle. Der Mitschnitt des inbrünstig vorgetragenen Gebets Allmächt’ger Vater, blick herab“ in der Edition stammt aber nicht aus Dessau sondern aus Gera, wo die große Oper 1959 auf dem Spielplan stand. Im letzten Kriegsjahr 1944 gab es am 1938 eröffneten Theaterneubaus, der mit seinen 1250 Plätzen als damals größte Bühne nördlich der Alpen galt, schwere Bombenschäden, die 1949 behoben waren.

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„Nothung! So nenn‘ ich dich Schwert“: Horst Wolf und Emmy Prell sind als Siegmund und Sieglinde auch in der Edition vertreten / Programmheft

Der Neubeginn vollzog sich tastend und nicht so radikal wie im Bayreuth der Wagner-Enkel. Bühnenbilder wie sie in den Festschriften abgelichtet sind, erinnern am Emil Praetorius. „1959 war der Höhepunkt der Richard-Wagner-Festwochen bereits erreicht, ja überschritten“, heißt in dem historischen Abriss von Ronald Müller, der seit 1990 Dramaturg für Konzert und Musiktheater am Anhaltischen Theater ist. Als gesamtdeutsches Ereignis hätten sie 1960 zum achten und letzten Mal stattgefunden. Im Jahr darauf wurde die Berliner Mauer errichtet und mit ihr die Teilung Deutschlands für die nächsten achtundzwanzig Jahre zementiert.

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Das Booklet, in dem sich auch der Text von Müller findet, ist so inhaltreich wie übersichtlich gestaltet. Es gibt viele Fotos und biografische Notizen – so ermittelbar – zu den Mitwirkenden. Mit Verweis auf die von Ernst A. Chemnitz herausgegebenen Lebenserinnerungen des Sängers, die 2020 in Anspielung auf die Oper Tiefland mit dem schönen Titel „Wolfserzählung“ bei  Kamprad erschienen und auch bei Operalounge.de besprochen wurden, wird die Biographie von Horst Wolf zusammengefasst.

Und das Arbeitsprotokoll vom Klangrestaurator Christan Zwarg liest sich spannend wie ein Krimi: „Horchen Sie hinein ins Dessauer Landestheater vor siebzig Jahren. Und wenn Ihnen dann Dr. Horst Wolf und seine Kollegen sozusagen lebensecht vor Ohren stehen, hat sich der ganze Aufwand gelohnt!“ Rüdiger Winter (Foto oben: Rienzi-Statue vor dem Kapitol in Rom/ Foto Winter)

Gegensätze

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Großer können Gegensätze nicht sein. Auf seiner neuen CD stellt der Bass-Bariton Thilo Dahlmann Deutsche Volkslieder von Johannes Brahms den Holocaust-Liedern von Norbert Glanzberg gegenüber. Sie sind bei Challenge Records herausgekommen (CC72934). Am Klavier wird Dahlmann von Hedayet Jonas Djeddikar begleitet. Der in Basel geborene Pianist wirkt an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst als Lehrkraft für besondere Aufgaben, Liedgestaltung und Korrepetition. Neben der Repertoirepflege widmet er sich selten gespielter Werke. Zu diesem Zweck gründete er in Frankfurt die Konzertreihe „RARE WARE Lied“. Beim internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb in Pörtschach am Wörther See in Österreich ist er als offizieller Begleiter tätig. Dahlmann gehörte nach seinem Gesangsstudium an der Essener Folkwang-Hochschule 2007 zunächst dem Opernstudio des Zürcher Opernhauses an. Ein Ratgeber war ihm der Bariton Roland Hermann. Wenngleich auch in der Oper erfahren, hat sich Dahlmann vornehmlich als Konzert- und Liedsänger etabliert. Er lehrt als Professor für Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

Brahms hatte lebenslang eine starke Bindung an Volkslieder, die er auch als Inspirationsquelle empfand. Entsprechende Spuren finden sich in fast allen seinen Werken. In seinen feinsinnigen Bearbeitungen solcher Lieder für Solostimmen und Chöre versuchte er stets, den schlichten Tonfall der musikalischen Überlieferungen zu bewahren, sie gleichzeitig aber zu großer Kunst zu erheben. Interpreten sehen sich dadurch vor große Herausforderungen gestellt, mit denen in diversen Einspielungen sehr unterschiedlich umgegangen wird.

Die bekannteste von mehreren einschlägigen Werkgruppen sind die Deutschen Volkslieder WoO 33 mit 49 Titeln, für die sich Dahlmann entschieden hat. Er singt allerdings nur 16 Lieder in einer eigenen Reihenfolge. Mit „In stiller Nacht“, „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“ oder „Da unten im Tale“ sind die wohl populärsten Lieder dabei. Dahlmann singt sie ohne jede Übertreibung sehr deutlich und klar, versehen mit einem Hauch Melancholie.

Auch dadurch wird der Zusammenhang mit dem anderen Teil des Programms, den Holocaust-Liedern von Glanzberg, deutlich. „Gerade dieser Gegensatz verdeutlicht in unseren Augen das Zerbrechen der menschlichen und zivilisatorischen Kultur durch die Schrecken des Holocaust“, schreiben beide Interpreten im Booklet. Ein Zerbrechen, das Glanzberg in seinem Zyklus meisterlich in Töne gesetzt habe.

Im Booklet wird auch die dramatische Lebensgeschichte dieses jüdischen Komponisten durch den Musikwissenschaftler Lutz-Werner Hesse erzählt. Glanzberg wurde 1910 in der Nähe von Lemberg geboren. Nach dem Umzug seiner Familie nach Würzburg begann dort seine musikalische Ausbildung. Einer seiner Förderer war Emmerich Kálmán, der auch sein kompositorisches Talent entdeckte. In der Folge schrieb Glanzberg Musik für UFA-Filme und die Comedian Harmonists. Vor den Nationalsozialisten floh er nach Paris, wo ihn die Chansonsängerin Edith Piaf versteckt hielt. Erst nach dem Krieg konnte er öffentlich auftreten, komponierte für die Piaf und Yves Montand und nahm auch seine Arbeit für den Film wieder auf. Hesse: „1980 brach er mit seiner musikalischen Vergangenheit und wandte sich der so genannten ,ernsten‘ Musik zu.“ „Ernst“ treffe es insofern in idealer Weise, als die Themen seiner wenigen Werke samt und sonders seiner jüdischen Identität und dem Schicksal jüdischer und verfolgter Künstler in  den Jahren zwischen 1933 und 1945 gegolten hätten. Dazu gehören auch die bewegenden Holocaust-Lieder. Rüdiger Winter

Glyndebourne Klassiker

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Sperrmüll oder Flohmarkt. Als Vintage deklariert bekommt das alte Zeugs einen eindeutig feineren Anstrich. So ist die Begeisterung zu verstehen, die der annähernd 40 Jahre alten, gefühlt aber noch viel älteren, mehrfach auf Video und DVD erschienen Aufführung von Albert Herring in der Inszenierung von Peter Hall Inszenierung entgegenschlägt. It’s „British opera at it’s best“, so der Daily Express oder wie die auf der Vorderseite der Opus Arte DVD zitierte Sunday Times schwärmte „a vintage production with a vintage cast“ (OA 1375D). Die Aufführung versammelt alles, was das zum exklusiven Festspielort avancierte Landhaus in Sussex in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte, als Bernard Haitink von 1978-88 die musikalische Leitung innehatte. Herrlich altmodisch. Absolut passend für ein Stück, das hier 1947 zum naserümpfenden Missfallen des Festspielgründers uraufgeführt und knapp 40 Jahre später, genau im Juli 1985, zu einem der größten Erfolge der Festspiele wurde und provinzielle Engstirnigkeit und moralischen Dünkel anprangert. Peter Hall und sein nicht minder berühmter Ausstatter John Gunter haben den englischen Kleinstadtmief um 1900 samt den schweren Renaissancestühlen, Decken, Vorhängen und dem finsteren Mobiliar in Lady Billows dunklen Salon gerettet, wo die Honoratioren des Ortes mit finsteren Äußerungen und dunkler Gesinnung die jungen Damen des Ortes behängen und deshalb bei der Wahl der Maienkönigin auf den tugendhaft einfältigen Albert Herring ausweichen müssen. Die Satire auf die Doppelmoral verlogener Kleinbürger wird bei Hall zu einer Komödie über die Unzulänglichkeiten der kleinstädtisch viktorianischen Gesellschaft, die er in einer Ansammlung skurriler Charakterköpfe präzise entwirft:

Eine Garde verdienter britischer Sänger halten die Glyndebourne-Ensemblekultur hoch. Sie sind, angeführt von der herrlich aufgeplusterten und matronenhaft vibratostarken Patricia Johnson als Lady Billows, durchweg überzeugend, exzentrisch, skurril, knapp vorbei an einer Karikatur, lächerlich und ernst zugleich. Auf der DVD sowie im Beiheft lassen sich die gestochen weiß gesetzten Namen gut lesen, kaum jedoch die matt rot auf braun schwarz gesetzten Rollen dazu. Eine Unart.  Mehr erahnen als tatsächlich lesen kann man, dass Felicity Palmer als Florence Pike eines ihrer frühen eigenwilligen Porträts liefert, Alexander Oliver den Bürgermeister gibt, Derek Hammond-Stroud den Vikar und Richard Van Allan den Superintendenten. Großartig, wie sie unter Führung der Lady im Laden der Mrs. Herring (mit deftigen Akzenten: Patricia Kern) einziehen, um ihre Wahl des Maikönigs zu verkünden. Der passend farblose John Graham-Hall war, grell und greinend singend, etwas glubschäugig und linkisch, der Albert einer Generation, dem man damals noch nicht seine lange Karriere in zahlreichen zeitgenössischen Stücken und Werken der klassischen Moderne vorhergesagt hätte. Ähnliches gilt für den Bariton Alan Opie als Sid, der eine feste Größe in Glyndebourne wurde und 2008 als Vikar zurückkehrte, und Jean Rigby als frühreife Nancy. Unaufdringlich und in mit vielen liebevollen Details – man schaue sich nur die köstlichen Exzesse bei der Kuchentafel am Ende des zweiten Aktes an – führt Peter Hall vom Salon der Lady Billows durch den Gemüseladen auf die Festwiese, ebenso feinsinnig, elegant und selbstverständlich steuert Haitink durch die Partitur, deren steifleinener Humor sich im Retro-Chic bestens ertragen lässt.     Rolf Fath

Dürftige Ausstattung

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Hätte Richard Jones Mussorgskys Oper Boris Godunov an Londons Opernhaus Covent Garden anders inszeniert, wenn es nicht bereits 2016, sondern erst 2022 geschehen wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine? Vielleicht hätte er nicht auf die Urfassung von1869 ohne Polenakt und ohne die Szene mit der Klage des Gottesnarren um das Schicksal Russlands zurückgegriffen, die dem abschließenden Tod des Boris vorausgeht und so aktuell erscheint, dass es einen fast gruselt. Auch dem Berliner Publikum ist die Inszenierung aus London bekannt, denn es handelt sich um eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, die hier 2019 gezeigt wurde, nicht mit Bryn Terfel wie in London in der Titelpartie, sondern mit Ain Anger, der wiederum in London der Pimen war, während Terfel nur zu einem Gastspiel in Berlin erschien.

Die Bühne von Miriam Buethe ist in ein Oben und ein Unten unterteilt, der Hintergrund des oberen Teil gülden wie der russischer Ikonen, und in ihm spielt sich immer wieder und fast zum Überdruss oft die Ermordung des mit einer bunten Kugel spielenden Zarewitsch ab, das letzte Mal als die des jungen Fjodor, Boris‘ Sohn. Die Kostüme von Nicky Gillibrand sind für die Oberen bunt wie russischer Lackmalerei abgeschaut, für die Unteren von hässlicher Eintönigkeit, Folkloristisches wird nicht verschmäht, aber nicht überbetont, wie die Gewandung der Wirtin beweist. Eindrucksvoll mit Zarenporträts ausgestattet ist die Zelle von Pimen, nur das letzte davon blieb unvollendet. Zeit und Ort des Geschehens, Russland um 1600, bleiben erhalten, ohne in Opernkitsch abzugleiten.

Obwohl mit keinem einzigen muttersprachlichen oder auch nur slawischen Sänger besetzt, wirkt die Aufführung äußerst authentisch, und obwohl nicht mit einem Bass des Kalibers Boris Christoff oder Nikolai Ghiaurov besetzt, wird die Titelpartie vom Bassbarion Bryn Terfel fesselnd und ergreifend gestaltet, nicht mit einer Überwältigungsstimme, aber mit warmen, auch oft weichen Tönen die Stimmungsschwankungen, denen die Figur unterworfen ist, eindrucksvoll vermittelnd. Viel Bassautorität, Sanftheit und Fülle strahlt die Stimme von Ain Anger als Pimen aus. Ein Kabinettstück, eine perfekte Mischung von Würde und Komik, bietet John Tomlinson als Varlaam mit immer noch hochpräsenter Stimme. Kostas Smoriginas hat einen ebenmäßig gefärbten, autoritätvermittelnden Bariton für den Anführer der Bojaren. David Butt Philip stattet den falschen Dmitri mit feiner Schauspielkunst und einem angemessenen Charaktertenor aus. Als blasser, lauernder Bürokrat  ist John Graham-Hall als Shuisky eher optisch als akustisch eindrucksvoll. Eine ausgesprochen farbig und geschmeidig klingende Stimme setzt Jeremy White für den Polizeioffizier ein. Die klare Diktion und eine angemessene plärrende Stimme beweisen die Eignung Andrew Tortises für den Gottesnarren. Zarewitsch Fjodor findet in dem Jungen Ben Knight einen auch akustisch erstaunlich präsenten Vertreter.

Ohne die Polin Marina haben die Frauen in dieser Fassung nicht viel zu sagen bzw. zu singen. Aber Rebecca De Pont Davies macht optisch wie akustisch sehr viel aus der deftigen Wirtin, Vlada Borovno ist eine anrührende Xenia und Sarah Pring eine mit weichem Alt tröstende Amme.

Der Chor von Covent Garden, einstudiert von Renato Balsadonna, singt höchst kultiviert, aber auch, wenn angebracht, mit dem notwendigen Aplomb, das Orchester unter Antonio Pappano sorgt für eine schöne Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben, ist eher in begleitender denn dominierender Funktion zu vernehmen. Das Booklet ist so dürftig, dass es nicht einmal eine Trackliste besitzt (Opus Arte BD7314D). Ingrid Wanja                    

Strauss light

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Misstraute Regisseur Krzysztof Warlikowski der Eleganz des hofmannsthalschen Wortes und der Überwältigungsfähigkeit der strausschen Musik so sehr,  dass er beiden ein optisches Aufpeppen durch seine Gattin, die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak, verordnete? Die kleidet das weibliche Personal von Elektra 2022 in der Salzburger Felsenreitschule bis hin zur Vertrauten und zur Schleppträgerin in elegante Kostüme der Fünfziger, macht Chrysothemis zum Girlie in Lackleder, Elektra zur Trägerin eines blütenweißen, weit ausgestellten Rocks, der aber auch gar nichts vom Elend ihrer Existenz verrät, dafür soll wohl das häufige Greifen zu Zigarette und Feuerzeug stehen. Ehe man in dieser Produktion zur mörderischen oder einer sonstigen Aktion schreitet, verordnet man sich eine Kneippkur, denn ein kristallklares Gewässer durchzieht die Bühne, lädt zum Bade, so auch eine Nackte, die offensichtlich zu den erfundenen Sechs Dienerinnen, denn Fünf Mägde gaben das nicht her, gehört. Videos blinken aus allen Ecken und Enden, Kinderpuppen erinnern an bessere Tage und ein blutverschmierter Agamemnon beobachtet hin und wieder das Geschehen. Soll eine Reihe von Deckenduschen an Auschwitz erinnern, die endlos händewaschende Klytämnestra an Lady Macbeth? Letztere darf sich vor Beginn der Oper mit ihrem Monolog aus Aischylos`Orestie noch für den Gattenmord rechtfertigen und bleibt in der Verkörperung durch den Mezzosopran Tanja Ariane Baumgartner neben dem Orest von Derek Welton die einzige textverständliche Figur auf der Bühne. Auf der tanzt zum Schluss nicht Elektra in den Tod, sondern auf der Rückwand tummeln sich Massen von Fliegen in munterem Reigen im aufspritzenden Blut und entziehen der Protagonistin jede Aufmerksamkeit.

Zu einer beinahe kammermusikalischen Deutung, deren Anliegen eher Durchsichtigkeit als Überwältigung scheint, ist Franz Welser-Möst mit den Wiener Philharmonikern verurteilt, denn außer dem Mezzosopran erscheint das weibliche Personal jeweils eine Nummer zu klein für seine jeweilige Partie zu sein, ist Orgiastisches nur zu hören, wenn die Sänger pausieren. Rücksichtnahme auf Sänger ist eine lobenswerte Sache, das Engagement zu leichter Stimmen  weit weniger.

Das trifft in keiner Weise auf Tanja Ariane Baumgartner zu, die nicht nur vorbildlich textverständlich auch im Gesang bleibt, sondern mit einer Stimme wie aus einem Guss und einem besonders vollmundigen mitreißenden Abgang imponiert. Eine frische, helle, klare Sopranstimme setzt Asmik Grigorian für die Chrysothemis ein, in der Extremhöhe allerdings recht spitzig mit nicht ideal angebundenen Spitzentönen und insgesamt lyrisches Leuchten vermissen lassend. Aušriné Stundyté, die im Jahr zuvor eine gefeierte Salome war, ist hörbar in einem Jahr nicht zu einer Elektra herangereift, sondern kann bei allem Bemühen um eine Verbindung von Eindringlichkeit und Schönheit des Klangs nur mit letzterem überzeugen, bleibt stets weich in der Tongebung, aber auch verwaschen und zu wenig nachdrücklich. So trägt sie wesentlich dazu bei, dass man das Gefühl hatte, einer Elektra light beizuwohnen.

Einen vokal markanten und doch sensibel erscheinenden Orest gibt Derek Welton, optisch unangemessen attraktiv als Ägisth und vokal blass ist Michael Laurenz, da ist nichts von der morbiden Attraktivität, die alternde Heldentenöre ausstrahlen können. Die Komische Oper Berlin ist mit Jens Larsen als Altem Diener vertreten, und Natalia Tanasii bleibt es nicht zuletzt wegen der Regie verwehrt, aus ihrer schönen Partie etwas zu machen (C-Major 804308). Ingrid Wanja

Nur bedingt gelungenes Konzept

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Na’ama Goldman war zunächst Pianistin, sie entdeckte den Gesang erst später, vor allem in Verbindung mit dem Schauspielen. So lag es nahe, dass sie vor allem Opernsängerin wurde. Diese Prägung spiegelt sich auch in der Auswahl der Lieder der vorliegenden CD wieder: „Es ist wunderbar, dass man dabei eine Geschichte erzählen und mit dem Publikum kommunizieren kann und zwar nicht nur durch die Musik“, betont die Sängerin. Die gebürtige Israelin ist inzwischen Berlinerin und damit Bewohnerin jener Stadt, aus der ihre Familie in der Nazizeit vertrieben wurde. So schließt sich ein Kreis.

Die Sängerin suchte vor einigen Jahren zusammen mit dem Pianisten Giulio Zappa Musik für ein Programm anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags in Mailand. Die Musik sollte mit dem Judentum verbunden, aber nicht „jüdisch“ sein: „Wir recherchierten in Bibliotheken, und wir schauten nach jüdischen Komponisten wie Mahler, Korngold, Kurt Weill. Sie waren Juden, haben aber keine ‚jüdische Musik‘ komponiert. Ihre Musik repräsentierte, wer und was sie waren – Deutsche, Österreicher. Sie komponierten, was ihre Inspiration und Kreativität ihnen eingab. Aber natürlich hatten ihre jüdische Tradition und ihre Familien auch einen Einfluss auf ihre Musik.“ Ravel gehört dazu, weil er sich von der jüdischen Tradition angezogen fühlte. Schließlich wandten sich Goldman und Zappa der jüdischen Folklore zu und auch zeitgenössischen israelischen Komponisten. „Die Auswahl der Lieder ist auf der einen Seite eine intellektuelle, aber im Endeffekt sind es doch die Lieder, die mich direkt persönlich ansprechen: als Frau mit einem jüdischen Hintergrund, als Israeli, die nach Deutschland gekommen ist.“ Na’ama Goldman sieht das Programm, ihre Zusammenstellung als „eine Art musikalischer Biografie zwischen Berlin und Tel Aviv“.

Die Umsetzung des einleuchtenden, anspruchsvollen, auch mutigen Programms ist nur bedingt gelungen. Die Sängerin wollte zwar explizit keinen „Liederabend“ auf CD veröffentlichen, doch dieser Anspruch wurde nicht wirklich eingelöst. Na‘àma Goldman verfügt über eine große, nuancenreiche und variable Stimme, setzt sie aber so ein, als ob sie auf einer Bühne stehe. Ihr Vibrato ist stark, manchmal zu stark, in der Höhe klingt der Gesang zu laut. Man vermisst die leisen Töne und in einigen Liedern auch den tiefschürfenden und „schlichten“ Ausdruck.

Das jüdische Trauergebet Kaddisch, das Maurice Ravel bewusst für eine Frauenstimme schrieb, singt sie mit großem Ausdruck und vibrierend. Ravels enigme éternelle bleibt rätselhaft, musikalisch und textlich (zumal eine deutsche Übersetzung fehlt). Aus den Sechs einfachen Lieder von Korngold hat Goldman zwei ganz unterschiedliche ausgewählt: Eichendorffs Schneeglöckchen ist eigentlich schlicht im Ton, kommt hier aber sehr expressiv. Das Gedicht Sommer des österreichischen Dichters Siegfried Trebitsch verrät den Dramatiker. Mahlers „Wunderhorn-Lieder“ Wo die schönen Trompeten blasen und Rheinlegendchen sind leider ohne Charme und Geheimnis. Das Rückert-Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen bleibt mangels Suggestivität doch eher diesseitig. Nannas Lied von Kurt Weill würde sicher stärker wirken, wenn es chansonhafter interpretiert würde.

Die Interpretationen der Lieder der jüdischen und israelischen Komponisten ist durchweg gelungener. Der Komponist, Musikwissenschaftler und Kritiker Joel Engel (1868-1927) begann um 1900 jüdische Volkslieder in Russland zu sammeln und zu arrangieren. Nur noch Dir brachte der Sängerin nach eigenen Worten „die Klänge ferner Erinnerungen mit sich“, sie nimmt es sehnsüchtig, melancholisch und auch temperamentvoll. Eyal Bat (Jahrgang 1966), einer der bekanntesten israelischen Vokalkomponisten, ist mit zwei neu komponierten Liedern vertreten. Az haya la ist ein weniger bekanntes Stück von Alexander „Sascha“ Argov (1914 in Moskau geboren, 1995 in Jaffa gestorben) – ein Liebeslied an Tel Aviv, das Na’ama Goldman auf ihrer Karriere immer wieder begleitet hat. Das Ende ist sehr gelungen – mit Elei tashuv, einem Lied des Komponisten, Dirigenten und Musikpädagogen David Sonnenschein. Na’ama Goldman singt es sicher auch deshalb so eindrucksvoll, weil es mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden ist und persönliche Erinnerungen und Gefühle aufkommen. Sonnenschein schrieb das (Liebes)Lied für ihre Großmutter, eine bekannte Sängerin, die in jungen Jahren ihre Stimme verlor. Die Noten fanden sich im Nachlass.

Sicher ließe sich die Wirkung, sprich die Verbreitung dieser CD durch eine einfache Maßnahme vergrößern. Programm und Interpreten „verkörpern“ Internationalität, Multikulturalität und Weltoffenheit. Wieso hielt man es da nicht für nötig, die fremdsprachigen Texte nicht nur in englischer, sondern auch in deutscher Übersetzung zu präsentieren. So bleiben die Lieder uns im wahren Sinne exotisch und zum Teil fremd (Solo Musica SM 421). Peter Heissler

Würdiges Memento für Stefan Soltész

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Ein Libretto, das die titelgebende Figur der Vorlage außen vor lässt, eine Oper, deren erste Fassung später vom Komponisten zugunsten der zweiten Version verboten wurde und deren erste nun fast ausnahmslos aufgeführt wird, das ist Paul Hindemiths Cardillac, von dem es jetzt eine CD mit dem Münchner Rundfunkorchester unter dem zu früh verstorbenen Stefan Soltész gibt. E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi ist eine Kriminalgeschichte, die im Paris Ludwigs XIV. spielt und über die die Figur des Fräuleins ein mildes Licht gießt. Das Libretto von Ferdinand Lion, das der Komponist für die zweite Fassung des Werks wesentlich erweiterte und veränderte, so mit der Einführung einer Opernsängerin und eines festlichen Balls, ist eher ein Psychogramm einer gestörten und verstörten Persönlichkeit. Die erste Fassung wurde 1926 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt, die zweite 1952 in Zürich. 1960 erreichte man die gerichtliche Freigabe der ersten Version in Wuppertal, die nun fast ausschließlich auf die Bühnen gebracht wird und die durch den Kontrast zwischen den schon fast altertümelnden Nummern-Bezeichnungen, die seine Form ausmachen, und der Modernität der gestörten Künstlerpersönlichkeit eine Ausnahmestellung einnimmt.

Das Münchner Rundfunkorchester beweist unter Stefan Soltész  seine Qualitäten bereits im Vorspiel, wenn es durchsichtig filigran, aber gleichzeitig rasant beginnt, allmählich die Bedrohung, die von dem in seine Schöpfungen krankhaft verliebten Goldschmied ausgeht, hörbar werden lässt. Die Aufnahme besticht durch das Miteinander von dramatischer Expressivität und schlanker Eleganz. Eine höchst bedeutende Aufgabe hat der Chor, der Prager Philharmonische Chor unter Lukás Vasilek, der höchst idiomatisch und rhythmische wie Anforderungen an die Textverständlichkeit im Rahmen des Möglichen großartig meisternd zu einem der Protagonisten der Aufnahme wird.

Hoch zufrieden sein kann man auch mit den Gesangssolisten. Markus Eiche hat das angemessen virile, farbige Timbre für die Titelpartie, dazu eine gute Diktion und das, was man als eine darstellende Stimme bezeichnet, die sich zum Bekenntnis der furchtbaren Taten emphatisch steigern kann. Weich, sanft und feine Melodienbogen virtuos ausmalend, ist Juliane Banse eine sich auch im Quartett gut behauptende Tochter. Zwei Tenöre, Oliver Ringelmann  als früh gemeuchelter Kavalier und Torsten Kerl als Offizier und glücklicher Bräutigam der Tochter, stehen einander an strahlender vokaler Präsenz nicht nach. Mit koloraturgeläufigem Bass, der zudem viel Autorität vermittelt, glänzt Kay Stiefermann als Führer der Prévôté, viel aus der kleinen Partie des Goldhändlers macht Jan-Hendrik Rootering. Einen verführerisch klingenden Sopran kann Michaela Selinger für die Dame einsetzen. Vor allem aber ist diese Aufnahme als Vermächtnis von Stefan Soltész zu würdigen, von dem es leider eine allzu kleine Hinterlassenschaft gibt (BR Klassik 900345). Ingrid Wanja

Florentinisches Wien

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Das Eingangsbild zur Florentiner Ariadne auf Naxos mag erklären, warum die italienische Produktion zumindest optisch so wenig attraktiv ausfällt: Da wird ein ausgemergelt aussehender, fast nackter Invalide in einem Rollstuhl über die Bühne geschoben, um für immer hinter den Kulissen zu verschwinden. Sollte dies etwa der reichste Mann Wiens sein, der von einer unheimlichen Krankheit befallen wurde? Gehört er zu den im Personenverzeichnis erwähnten „figuranti speciali“? Sein Schicksal bleibt ungeklärt, so geheimnisvoll wie die Absicht von Regisseur  Matthias Hartmann und Bühnenbildner Volker Hintermeier, Vorspiel und Oper in einem, noch dazu zusammengewürfelt scheinenden Bühnenbild spielen zu lassen, das viele Stolperfallen aufweist, aber weder das aufgeregte Durcheinander vor einer Uraufführung noch das Geheimnis antiker Sagenwelt widerspiegelt. Der Unterschied zwischen beiden Welten besteht in AXS, den Neonbuchstaben, die für die Oper dem bereits für das Vorspiel vorhandenen NO hinzugefügt werden. Was Naxos bedeutet ist klar, was No weniger, es könnte die Weigerung des Komponisten sein, sein Werk zu verschandeln, das des Tenors, seine Perücke zu akzeptieren und vieles anderes auch. Glücklicher als mit der Bühne wird er Zuschauer sicherlich mit einem Teil der Kostüme, vor allem die für Najade, Dryade und Echo, wunderschönen Zwanzigerjahre-Fummeln von Adriana Braga Peretzki entworfen, die mit Adriana und Zerbinetta weniger im Sinn hatte, die eine in einen silbernen Schlauch presste und die andere wie eine Puffmutter ausstattete. Ansonsten gibt es viel Gold bei Requisiten und Kostümen, auch an den Komödianten funkelt und glitzert es.  Wie ein Fremdkörper erscheint ein Fels mit dem Schriftzug Ariadne, der an einen Grabstein erinnert.

Daniele Gatti wird bald Gelegenheit haben, mit der Dresdner Staatskapelle ein Orchester zu leiten, das mit Richard Strauss bestens vertraut ist. Was er dem Orchester des Maggio Musicale Fiorentino entlockt, ist aber auch aller Ehren wert, klingt so durchsichtig wie üppig, so verschwenderisch wie klug kalkuliert. Auch an den Sängern wurde im Nach-Corona-Jahr 2022 nicht gespart. Nur was ihre sängerischen Leistungen betrifft, ist Krassimira Stoyanova eine Primadonna. Der dunkel getönte, einheitlich gefärbte, nie schrill werdende Sopran meistert die schwierige Partie souverän, eine Leistung, die von Reife und von einer Karriere spricht, die auf ihrem Zenit angekommen zu sein scheint. Den einzigen Szenenbeifall heimste stückbedingt die Zerbinetta von Jessica Pratt ein, den Italienern aus dem Belcantorepertoire bestens bekannt und natürlich auch rollenbedingt zu solchem herausfordernd. Sie ist inzwischen eine recht reife Darstellerin für die kokette Allroundloverin, ihre große Arie meistert sie angemessen. Auf dem Weg zum Heldentenor ist AJ Glueckert, der den Bacchus mit ungefährdeten Stentortönen versah und trotz unmöglicher Kostümierung stattlich daher kam.

Ein wunderbares Paar waren der sensible, leidenschaftliche, jeden Ton mit echt erscheinender Empfindung füllende Komponist von Sophie Koch und der warmherzige wie warmstimmige Musiklehrer von Markus Werba. Einmal mehr bedauert man, dass sie so schnell und dann für immer von der Bühne verschwinden. Echten Wiener Schmäh brachte der Haushofmeister von Franz Tscherne auf die Bühne, geschmeidig bewegten sich und sangen Maria Nazarova, Anna Doris Capitelli und Liubov Mevedeva die drei Fabelwesen, aus der Schar der Komödianten ragte Liviu Holender mit feinem Kavaliersbariton als Harlekin heraus. Antonio Garés machte viel aus dem Tanzmeister, Joseph Dahdah war der schmucke Offizier. Die Aufführungen fanden im intimeren Teatro della Pergola statt, wohin ein Kammerspiel auch gehört. Die guten Verbindungen von  Alexander Pereira nach Österreich hatten sich bewährt, der Himmel hing noch voller Geigen (Bluray Dynamic 57970 & gleichnamige CD). Ingrid Wanja       

Graham Clark

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Der am 10. November 1941 in Littleborough, Lancashire, geborene englische Tenor Graham Clark kam in jungen Jahren über den Kirchenchor zur Musik. Nach Studien in London trat er 1973 erstmals beim Wexford Festival auf und hatte 1975 seinen Durchbruch bei einem Benefizkonzert am Royal Opera House in London, das im Fernsehen gesendet wurde und später auch auf Schallplatte erschien. Wenig später erhielt Clark einen Vollzeitvertrag der Scottish Opera in Glasgow und sang dort Rollen von Mozart (Pedrillo), Beethoven (Jaquino), Wagner (Zorn, David) und Richard Strauss (Brighella). Nach einem ersten Auftritt im Jahre 1976 wurde er zwei Jahre darauf Haustenor der English National Opera (bis 1985). Ab 1981 trat er bis 2004 regelmäßig bei den Bayreuther Festspielen auf und machte sich im Wagnerfach international einen Namen (David, Melot, Junger Seemann, Loge, Mime). Mit 112 Auftritten war er an der New Yorker Metropolitan Opera langjähriger Gast. Weitere Gastspiele führten Clark u. a. nach Paris, Toronto, San Francisco, Chicago und Berlin. Bei den Festspielen von Salzburg, Edinburgh, Camden und York, Stockholm, Paris, Mailand, Tel Aviv, Kopenhagen und Luzern war er ebenfalls gegenwärtig. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten kämpfte der Sänger mit einer Krebserkrankung. Sein letzter Bühnenauftritt erfolgte gleichwohl noch 2019 in Brüssel. Am 6. Juli 2023 ist Graham Clark im Alter von 81 Jahren verstorben. Daniel Hauser