Archiv für den Monat: Juli 2023

Daniza Mastilovic

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An Daniza Mastilovic (sie starb 15. Juli 2023 in hessischen Dreieich) erinnere ich mich genau und mit Freude, wenn sie an der Deutschen Oper Berlin als Elektra in der unerreichten  Sellner-Inszenierung erst einsprang und dann öfter den illustren Vorgängerinnen Mödl und Varnay sowie auch Schlemm folgte. Ihre machtvolle Stimme, die wir in West-Berlin auch als Turandot (erst in Deutsch und dann im Original) hörten war eine absolute Überraschung wegen der Kraft (einer Kuchta gleich) und der italienischen Geschmeidigkeit, wie sie man in der Forza oder auch im Trovatore bewundern konnte. Optisch war sie eher dem Ideal der gestandenen Stimmen verpflichtet und auch vielleicht nicht die ganz große Gestalterin, aber die machtvolle Stimme ohne jede Höhenprobleme bleibt mir in bester Erinnerung. Wenn sie auf dem Plan stand wusste man, was man bekam, und sie war jede Minute den Besuch der Vorstellung wert. Möge sie in Frieden ruhen. G. H.

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Daniza Mastilović, im deutschen Sprachraum auch Danica Mastilovic wurde am * 7. November 1933 in Negotin, im damaligen Königreich Jugoslawien geboren und starb am † 15. Juli 2023 in Dreieich, Hessen. Sie wurde als Tochter von Luka Mastilovič und dessen Ehefrau Ljubica Pajki, die beide serbischer Abstammung waren, im Osten des heutigen Serbien geboren. Sie studierte am Belgrader Konservatorium Gesang bei dem Bassisten Nikola Cvejić-Vladin (1896–1987) und trat bereits während des Studiums in den Jahren 1955 bis 1957 an verschiedenen Belgrader Operettentheatern auf.

Ohne Deutschkenntnisse und ohne Studienabschluss kam Danica Mastilović, vom damaligen Frankfurter Ersten Kapellmeister Wolfgang Rennert in Belgrad entdeckt, Ende der 1950er Jahre auf Veranlassung des Dirigenten Georg Solti zum Vorsingen nach Frankfurt am Main, wo sie zur Spielzeit 1958/59 vom damaligen Intendanten Harry Buckwitz zunächst mit einem Dreijahresvertrag an die Oper Frankfurt engagiert wurde. Sie debütierte dort 1959 mit der Titelpartie in Tosca und gehörte bis zu ihrem Bühnenabschied am Ende der Saison 1998/99 insgesamt 40 Jahre zum festen Ensemble der Frankfurter Oper. Nachdem sie zunächst kleinere Partien gesungen hatte, erhielt sie an der Oper Frankfurt nach und nach größere Aufgaben, vor allem im dramatischen Fach, übertragen. 1964 sang sie in Frankfurt mit großem Erfolg erstmals die Titelpartie in Turandot. Während der Zeit von Christoph von Dohnányi als Generalmusikdirektor und Direktor der Frankfurter Oper wechselte sie Ende der 1960er-Jahre ins hochdramatische Fach. 1971 sang sie in Frankfurt am Main erstmals dieElektra, wofür der damalige Frankfurter Ballettchef John Neumeier eine spezielle Choreografie mit ihr erarbeitet hatte. 1978 sang sie in Frankfurt die Kundry und Isolde. 1979 debütierte sie als Küsterin in Janáčeks Jenůfa unter der musikalischen Leitung von Michael Gielen.

Ab 1983 übernahm sie auch Partien aus dem Charakterfach. Sie sang die Larina in Eugen Onegin, die Berta in Der Barbier von Sevilla und die Czipra in der Operette Der Zigeunerbaron. In der Spielzeit 1985/86 übernahm sie die Mutterrolle der Ludmila in einer Neuinszenierung der Oper Die verkaufte Braut (Regie: Christof Nel). Außerdem war sie in der Spielzeit 1985/86 die Venus in einer Neubearbeitung der Offenbach-Operette Orpheus in der Unterwelt, bei der sie „mit […] barocken Proportionen in vergangenheitsmächtiger Pose ihre nach wie vor üppigen stimmliche Reize zur Schau stellt[e].“ 1995 und nochmals 1997 war sie als alte Buryja in Jenůfa an der Frankfurter Oper zu hören.[7] In der Spielzeit 1998/99 verabschiedete sie sich in der Rolle der Filipjewna in Eugen Onegin als festes Ensemblemitglied von der Bühne und von ihrem Frankfurter Publikum.

Mastilović wurde 1983 zur Kammersängerin ernannt. Sie war verheiratet und lebte zunächst viele Jahre in Mainz.Nach Beendigung ihrer Karriere blieb sie in Frankfurt am Main wohnen und lebte in Sachsenhausen. Sie starb im Juli 2023 im Alter von 89 Jahren im hessischen Dreieich.

Parallel zu ihrem Festengagement an der Oper Frankfurt übernahm sie zahlreiche Gastengagements, so 1963 als Abigaille an der Seite von Tito Gobbi an der Lyric Opera of Chicago. Im Januar 1964 debütierte sie als Tosca an der Wiener Staatsoper. Sie trat dort bis 1980 u. a. als Leonora in Il trovatore, Senta, Kundry, Ortrud sowie als Turandot und Elektra auf. Von 1965 bis 1967 war Mastilović als Gerhilde in Die Walküre bei den Bayreuther Festspielen verpflichtet. Im Oktober 1970 debütierte sie als Färberin am Teatro Colon in Buenos Aires. Weitere Gastspiele gab sie dort im August 1972 als Abigaille und im September 1975 als Elektra.  Im März 1972 gab sie als Elektra ihr Debüt an der Mailänder Scala.[15] In der Spielzeit 1975/76 sang sie dort in vier Vorstellungen die Turandot. An der Oper Zürich war sie 1973 als Ortrud verpflichtet. Im November 1975 debütierte sie an der Metropolitan Opera in New York als Elektra, mit der sie dort bis 1979 auftrat. 1980 sang sie die Färberin an der Grand Opéra Paris.

Weitere Gastspiele führten sie an die Dresdner Semperoper, die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf, die Hamburger Staatsoper, die Deutsche Oper Berlin und an die Opernhäuser von Athen, Zagreb, Stockholm und Mexiko-Stadt. 1987 trat sie als Klytämnestra in Elektra am Salzburger Landestheater auf. Im April 1988 gastierte sie mit dieser Rolle bei Elektra-Vorstellungen in Pretoria. In der Spielzeit 1991/92 gastierte sie am Theater Trier als Gräfin in Pique Dame.

Mastilovićs Bühnenlaufbahn konzentrierte sich hauptsächlich auf die Werke von vier Komponisten – Verdi und Puccini im italienischen, Richard Wagner und Richard Strauss im deutschen Fach. Sie galt als „große Verdi-, Wagner- und Puccini-Interpretin“. Zu ihren Hauptrollen gehörten insbesondere die Titelrollen in Turandot und Elektra. Die Turandot verkörperte sie weltweit an insgesamt 28 Opernhäusern, zum Beispiel in Buenos Aires und Wien, im Großen Salzburger Festspielhaus, beim Puccini-Festival von Torre del Lago (anlässlich des 50. Todesjahrs des Komponisten), in der Arena di Verona und an der Opéra de Monaco (1979).

Zu ihrer international wichtigsten Rolle wurde die Elektra. Sie sang die „Rolle ihres Lebens“ in nahezu 200 Vorstellungen auf der Bühne, unter anderem an der Bayerischen Staatsoper (1973), am Londoner Royal Opera House (1973 und 1975), an der New Yorker Metropolitan Opera, an der Mailänder Scala, am Teatro Colón in Buenos Aires, am Teatro Liceu in Barcelona (1980) sowie in Wien und Paris (1977, Grand Opéra). (Foto als Elektra/ Piccagliani/ Archivio Storico del Teatro alla Scala Mailand/ Quelle Wikipedia)

Frühwerke aus Lucca

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Giacomo Puccini, in aller Welt bekannt als Opernkomponist,  war eigentlich und durch seine Herkunft bedingt Organist und Kirchenmusiker in fünfter Generation in der toskanischen Stadt Lucca, nicht weit vom Puccini-Festspielort Torre del Lago entfernt,  seine diesbezügliche Karriere in der Kirche San Girolamo beginnend. Harmonia mundi stellt Werke vor, die  zwischen 1880 und, ja, kein Druckfehler, 2014 uraufgeführt wurden. Es handelt sich um eine Komposition mit dem ursprünglichen Titel Messa a quattro voci, später wohl wegen des breit angelegten Gloria als Messa di Gloria bekannt geworden, um ein Scherzo für Streicher, das seine Uraufführung erst 2014 im Teatro Giglio  von Lucca erlebte und eigentlich als Teil eines Streichquartetts geplant war, und um ein Capriccio sinfonico, das als Examensarbeit seine Studienzeit in Mailand beendete. Relativ bekannt ist das abschließende Crisantemi, eine Elegia per quartetto d’archi, ein Auftragswerk nach dem Tod des Duca Amedeo Ferdinando di Savoya. Nicht nur beim Hören dieses Werkes wird der Opernliebhaber die Ohren spitzen, denn Puccini ließ nichts umkommen, verwertete Musik aus seinen frühen Orchesterwerken später wieder in seinen Opern. So erklingt in den Crisantemi, den Totenblumen der Italiener, auch die Reise nach Le Havre aus Manon Lescaut, im Kyrie die aus Edgar und im Capriccio wird das Bohéme-Leben gefeiert. Sogar das Agnus Dei erlebt eine Wiederauferstehung im Madrigal, mit dem Geronte die kapriziöse Manon langweilt.

Dennoch sind die auf der CD vereinigten Frühwerke des Aufführens und Hörens wert, besonders wenn sie von so versierten Kräften angeboten werden. Da sind erst einmal die vorzüglichen Gesangssolisten, der Tenor Charles Castronovo und der Barion Ludovic Tézier, dazu der Chor Orfeó Català, der die sanfte Bitte des Kyrie wunderbar bruchlos anschwellen und wieder abschwellen lässt, der im Gloria einen balsamischen Kontrast zum eher herben Orchesterklang bildet und einen schönen Dialog mit den Bläsern führt, im Gloria wie weichgespült klingt und ein die Welt umarmendes Amen und ein Et resurrexit  voller Jubel zelebriert. Das Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Gustavo Gimeno gibt  die unterschiedlichen Stimmungen, die durch die frühe Meisterschaft Puccinis auch in der Orchestrierung bereits in diesen Werken hörbar werden, eindrucksvoll wieder. Der Tenor hat einen keuschen Ton für das Gratias, die Höhe ist strahlend, er singt mit reicher Agogik, und die Stimme erhebt sich machtvoll im Credo über den Chor, ist höchst eindrucksvoll im Et incarnatus est. Der Bariton singt ein empfindsames Benedictus, die Stimme weist exakte Konturen auf, glänzt im Agnus Dei durch edle Schlichtheit des Ausdrucks. Eine CD, die man mal schmunzelnd ob der Opernanklänge, insgesamt aber mit Interesse und Profit genießen kann (harmonia mundi 905 36). Ingrid Wanja

Kenneth Riegel

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Am 29. April 1938 in West Hamburg, Pennsylvania, geboren, zeichnete sich die musikalische Karriere des US-amerikanischen Tenors Kenneth Riegel frühzeitig ab. Sein Operndebüt erfolgte 1965 in Hans Werner Henzes Oper König Hirsch in Santa Fe. Noch im selben Jahr debütierte Riegel am Royal Opera House, Covent Garden, in London. Zu seinem Schwerpunkt gerieten die New Yorker Opernhäuser: 1969 begann sein Engagement an der New York City Opera, ab 1973 auch an der Met, wo er auf nicht weniger als 102 Auftritte kam. Bei den Salzburger Festspielen konnte man ihn 1975 erleben, später auch in Paris (1979) und Hamburg (1981). Riegels Diskographie umfasst u. a. Haydns Harmoniemesse unter Leonard Bernstein (Sony), Mozarts Don Giovanni unter Lorin Maazel (Sony; auch als Film verewigt), Bergs Lulu unter Pierre Boulez (DG) und Richard Strauss‘ Salome unter Christoph von Dohnányi (Decca). Bereits am 28. Juni 2023 verstarb der Sänger, der 2005 seinen Bühnenabschied genommen hatte, in Sarasota, Florida, im Alter von 85 Jahren. Daniel Hauser

Klavier statt Orchester

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Gustav Mahler. Das Lied von der Erde für eine hohe und eine mittlere Gesangsstimme mit Klavier. Gemeinsam mit ihren Pianisten Gerold Huber haben der Tenor Piotr Beczala und der Bariton Christian Gerhaher diese Version für ihre Einspielung bei Sony gewählt (19568795702). Wieder eine der in die Mode gekommenen Bearbeitungen? Mitnichten. Es handelt sich um ein Original, das auf den Komponisten selbst zurückgeht. Schon auf den ersten Blick fallen Unterschiede zur gebräuchlichen Version, die sehr oft eingespielt und mitgeschnitten wurde, auf. Das dritte Lied ist mit „Der Pavillon aus Porzellan“ und nicht mit „Von der Jugend“ überschrieben, das folgende heißt „Am Ufer“ statt „Von der Schönheit“. Und „Der Trunkene im Frühling“ ist hier – weniger prosaisch – der „Trinker“.

Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke hat sich mit der Entstehungsgeschichte intensiv beschäftigt. Nach seiner Einschätzung stellt die eingespielte Version „keine Vorstufe zur Orchesterfassung“ dar. Vielmehr sei sie gleichberechtigt neben ihr. Die Differenzen am Textstand seien minimal, „und beim dritten und fünften Satz ging der Partiturentwurf der Klavierfassung wohl voraus“. Zudem habe Mahler von 1892 an mit einer Ausnahme alle Lieder zugleich für Klavier und Orchester vorgesehen. Von „definitiven Endfassungen“ könne bei ihm, ohnehin keine Rede sein, weil er in den Texten bei jeder Aufführung nachbesserte. Allerdings nicht beim Lied von der Erde, „weil er es nie gehört hat“. Wie Gülke im Booklet weiter schreibt, sollte man es sich mit dieser Gleichberechtigung beider Versionen nicht zu leicht machen. „Es bedarf keiner direkten Erinnerung an die bekannte Fassung, um überall Orchesterinstrumente mitzuhören.“ Einerseits vertieft Gerold Huber am Klavier diesen Eindruck noch, indem er seinem Instrument musikalische Bilder und Farben entlockt, wie sie sonst nur ein mehrstimmiger Klangkörper hervorzubringen in der Lage ist, andererseits aber hat er in mir zu keiner Zeit das Verlangen nach einem klassischen Orchester geweckt. Gülke behält also Recht mit seiner Feststellung, dass beide Versionen ihre Gleichberechtigung behauten können.

Der Tenor sei „stärker Solist in dem, was ihm – auch an anstrengender Höhe – abverlangt wird“, stellt Gülke heraus und findet dazu interessante Vergleiche aus der Opernliteratur. In seinem ersten Gesang (Das Trinklied vom Jammer der Erde), sei er Tannhäuser, im zweiten (Der Pavillon aus Porzellan), Tamino und im dritten (Der Trinker im Frühling), Pedrillo. Wobei es sowohl im Booklet als auch auf der Rückseite der CD-Hülle keinen direkten Hinweis darauf gibt, wer was singt. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass die Hörerschaft einen Tenor vom Bariton unterscheiden kann. Beczala, der mit Zustimmung und Unterstützung des Labels Pentatone für die Produktion gewonnen werden konnte, ist eine gute Wahl. Mir fällt auf Anhieb niemand anderes ein, der statt seiner hätte besetzt werden können. Er wirkt jung, überschäumend und – dies ganz im Sinne des Stückes – unbedenklich. Niemals grüblerisch. Technisch bereiten ihm die schwierigen Passagen nicht die geringsten Schwierigkeiten. Er klingt auch dann noch schön, wenn er in technisch fast unsingbare Bereiche gelangt. Jedes Wort, jede  sprachliche Regung sind zu verstehen. Man könnte den Text mitschreiben, wenn er denn nicht im Booklet abgedruckt wäre. Beczala agiert auch opernhafter als sein Kollege Gerhaher und bestätigt damit die von Gülke verwendeten Assoziationen mit konkreten Opernfiguren. Gülkes Fazit: „Das mit Klavier realisierte Lied von der Erde ist gewagtere, zugleich intimere Musik, es zwingt die Singenden, anders, feiner nuanciert zu singen als mit Orchester und die Hörenden, intensiver zu hören, den abstrakten Klang in die mitgemeinte, rhetorische Farbigkeit imaginativ zu verlängern.“

Der Dichter Hans_Bethge (1913)/ Wikipedia

Alles in diesem Werk läuft auf den Abschied hinaus. Dieser Schlusssatz des auch als Sinfonie apostrophierten Werkes dauert mit seinen siebenundzwanzig Minuten fast genauso lange wie die vorangegangenen Nummern zusammen. Auch dadurch wirkt das Lied von der Erde wie zweigeteilt, was in der Klavierfassung nach meinem Eindruck noch stärker auffällt. Nun schlägt die Stunde für Christian Gerhaher, der auch genau richtig besetzt ist. Er ist fast auf sich allein gestellt. Das auch eigenständig agierende Klavier kann im Vergleich mit einem Orchester nur bedingt Halt geben, auf den er aber letztlich nicht angewiesen ist. Stimme und Gestaltung sind bei ihm eins. Es ist eine Stärke des Sängers, diese beiden Seiten seiner Kunst stets so eng wie möglich zu verknüpfen. Stimme allein ist nicht bei Gerhaher. Eher neigt er – wenn man das so sagen darf – zur Überinterpretation. Ich erinnere mich an einen konzertanten Tannhäuser, wo er sich als Wolfram im dritten Aufzug aus dem Ensemble derart zu separieren schien, als gebe er ein solistisches Konzert. So ein Eindruck kann hier nicht entstehen, denn es ist ja niemand neben ihm als der Pianist. „Die Vögel hocken still in ihren Zweigen. Die Welt schläft ein.“ Wenn es nicht ganz von selbst geschieht,  empfiehlt es sie, an dieser Stelle den Atem anzuhalten, um die ganze Wirkung auszukosten.

Sarah Charles Cahier sang den Mezzo-Part in der Uraufführung des „Lied von der Erde“ (hier als Glucks Orfeo/ Wikipedia)

Den Text gewann Mahler aus dem 1907 erschienen Gedichtband „Die chinesische Flöte“ von Hans Bethke (1876-1946), der viel gelesen wurde und durch die Insel-Bücherei eine große Verbreitung fand. Bethke sprach kein Chinesisch. Er griff bei seinen Nachdichtungen auf englische und französische Übersetzungen zurück und dürfte auch eigene Empfindungen aus seiner Zeit, der Moderne mit dem Symbolismus, beigemischt haben, wodurch sich die Dichtungen immer weiter vom chinesischen Original entfernten. Seine ungebundenen Verse inspirierte neben Mahler und in seiner Folge eine Vielzahl anderer Komponisten zu Vertonungen, darunter Strauss, Schönberg, Webern, von Einem und Eisler. Bleiben wir noch beim Abschied und nehmen die bereits zitierten Zeilen in der Fortsetzung wieder auf: „Es wehet kühl im Schatten meiner Fichten. / Ich stehe hier und harre meines Freundes. / Er kommt zu mir, der es mir versprach. Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite / die Schönheit dieses Abends zu genießen.“ Spätestens bei der nun folgenden Zeilen wird eine betont männlich-männliche Konnotation deutlich: „Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk / des Abschieds dar. Er fragte ihn, wohin er führe / und auch, warum es müsse sein. / Er sprach, seine Stimme war umflort. Du, mein Freund / mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold.“ Mir drängt sich der Eindruck auf, als lasse Bethke den Topos der idealisierten Männerfreundschaft aus der Romantik noch einmal aufleuchten.

William Miller sang der Tenorpart in der Uraufführung von Mahlers „Lied von der Erde“ (hier als D´Alberts Sebastiano/ Mahler Foundation)

Die Uraufführung des Werkes fand am 20. November 1911 – ein halbes Jahr nach dem Tod des Komponisten – in München statt. Bruno Walter dirigierte das Konzertvereinsorchester, aus dem später die Münchner Philharmoniker hervorgingen. Gustav Mahler selbst hatte mit diesem Klangkörper, der sich zunächst nach seinem Gründer, dem Pianofabrikantensohn und Konzertveranstalter Franz Kaim (1856-1935) nannte, seine vierte und seine achte Sinfonie aus der Taufe gehoben. Der Dirigent stand Mahler sehr nahe. Er war sein künstlerischer Testamentsvollstrecker. Mit Walters Namen sind maßstäbliche Darbietungen und Platteneinspielungen verbunden, die als authentisch gelten können. Als Solisten wirkten bei der Uraufführung die aus den USA stammende Altistin Sarah Charles Cahier (1870-1951) und ihr Landsmann, der Tenor William Miller (1880-1925), mit. Beide hatten noch unter Mahlers Leitung an der Wiener Hofoper gesungen – die Cahier als Carmen, Ortrud, Erda, Brangäne, Sesto und Adriano; Miller vornehmlich in Heldentenorpartie. Beider Deutsch war vortrefflich. Während von der Altistin sogar zwei Mahler-Aufnahmen, nämlich Urlicht aus der 2. Sinfonie und das Rückert-Lied “Ich atmet‘ einen Linden Duft“ überliefert sind, fanden sich von Miller bisher keine Tondokumente. Sarah Charles Cahier singt stilistisch perfekt und mit starker innerer Erregung wie sie sich später so ähnlich bei Kathleen Ferrier finden sollte. Nach dem Gründer des Orchesters Franz Kaim war in München auch die Stätte der Uraufführung in der Maxvorstadt benannt. Später hieß dieser große Konzertsaal im prachtvollen Louis-Seize-Stil, der 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, Tonhalle. Vor diesem historischen Hintergrund ist es ein schöner Zufall, dass die neue Einspielung von Sony 2020 Studio II des Bayerischen Rundfunks in München entstand. Rüdiger Winter

Refices Kirchenoper „Cecilia“

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Laut Arturo Toscanini hätte Licinio Refice (1883-1954) der größte Opernkomponist seiner Zeit sein können, wenn er nicht den Talar gewählt hätte: «Refice sarebbe il più grande operista del nostro tempo se non fosse per quella tonaca», schreibt er, der sich sehr für die Komponisten seiner Zeit einsetzte. Der Priester Don Refice bewies seine musikalischen Fähigkeiten als Komponist von Kirchenmusik (darunter ca 40 Messen und mehrere Oratorien, darunter das bei Colosseum dokumentierte Lilium Crucis). Auch zwei Opern beendete er, die zu ihrer Zeit in Italien erfolgreich waren. Cecilia wurde 1934 an der Königlichen Oper in Rom auch dank der Sopranistin Claudia Muzio in der Hauptrolle ein Triumph, der weltweit zu über 1000 Vorstellungen führte, 1938 eröffnete dann Refices Margherita da Cortona die Saison an der Mailänder Scala (davon ein LP-Mitschnitt ehemals bei Voce mit Antonietta Cannarile Berdini bei der RAI 1975). Cecilia und Margherita di Cortona – beide wurden von der katholischen Kirche heiliggesprochen, Refice blieb auch bei seinen Opern Kirchenmusiker.

Licinio Refice/Autogrammblatt/Tamino

Die heilige Cäcilie, die Patronin der Kirchenmusik, starb als Märtyrerin ca 230 n.Chr. in Rom, da sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwören wollte. In Europa entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Tradition der Cäcilienverehrung, entsprechende Kompositionen gibt es bspw. von Purcell, Händel, Haydn, Gounod oder Britten. Das Frühchristentum in Rom ist ein Thema, das bereits Donizetti in seiner aktuell wieder Aufmerksamkeit bekommenden Oper Poliuto/Les Martyrs  verwendete. 1932 wurde in der New Yorker Carnegie Hall das Mysterienspiel Maria Egiziaca von Ottorino Respighi konzertant aufgeführt und in der der Folge in Italien szenisch auf die Bühne gebracht. Respighis religiöse Oper in drei Episoden (2013 von den Wuppertaler Bühnen für eine Kirchenaufführung inszeniert) ist das zeitgeschichtliche Ergänzungswerk zu Refices Cecilia. Beide Werke vereint eine klangsinnliche Herangehensweise in spätromantischer Klangwelt. Wenngleich sich auch das Wort Kirchenkitsch aufdrängt, ist doch der moderne Zuhörer weit entfernt von dieser italienischen Mystifizierung. Aber man muss das Werk – und ja eigentlich alle – aus der historischen Einbettung heraus betrachten und im ästhetischen Sinne nicht durch die Brille unseres rabiaten Kapitalismus mit seinen Folgen be- oder verurteilen.

Thematisch befindet man sich bei Cecilia also auf bekannten Pfaden, spannend wird es durch die katholische Färbung des Komponisten – Refice nannte seine Oper eine azione sacra in drei Episoden und vier Bildern -, die die Handlung musikalisch gekonnt dramatisiert und dabei geschickt Vorbilder wählt. Die erste Episode, bei der Cäcilie in das Haus ihres ihr anverheirateten heidnischen Gatten Valerianus gebracht wird und doch ihre Unberührtheit bewahren kann, erinnert vom Aufbau an den ersten Akt von Madama Butterfly. Herzstück ist die mit einem melodisch fast alle wichtigen Motive vereinenden Vorspiel beginnende zweite Episode, bei der Cäcilie Valerianus zu einem frühchristlichen Gottesdienst in die Katakomben mitnimmt, bei dem ein Wunder geschieht: Eine Blinde kann wieder sehen, die Gemeinde stimmt ein Halleluja an, Valerianus lässt sich taufen und ein Engel erscheint, der die geistige Beziehung der Ehegatten segnet und auf das kommende Leid verweist. Tribunal und Verurteilung (als Vorbild könnte man den dritte Akt von Andrea Chénier nennen) sowie die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen (ähnliche Beispiele finden sich in Norma, Anna Bolena und Maria Stuarda) führen in der dritten Episode zu Tod und Verklärung.

Eine Neueinspielung (Mitschnitt einer Aufführung bei Dynamic aus dem Theater in Cagliari) lässt uns zu  einen älteren Artikel über das Werk in operalounge zurückkehren. Erst einmal die Besprecdhung von Ingrid Wanja und dann ein Blick auf weiteres Verfügbares. G. H.

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Nicht laut genug erschallen kann das Lob für das Teatro Lirico di Cagliari auf Sardinien und ebenso kräftig sollte es ertönen für das Label Dynamic aus Genua, denn das eine bringt seit Jahrzehnten immer wieder unbekannte Opern auf seine Bühne, das andere gibt sie fast zeitgleich als CD oder Bluray heraus und lässt so ein großes Publikum am jeweiligen Ereignis teilnehmen. Da gab es unter anderem den Schiavo von Gomes, Webers Euryanthe, Tschaikowkys Pantöffelchen, eine sardische Oper aus der Zeit der Nuraghe und in den letzten Jahren Giorgio Marinuzzis Palla de’Mozzi und  im Winter 2022 Licinio Refices Cecilia. Letzterer ist eigentlich ein Don Licinio Refice, Priester und in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts  für die Musik in Santa Maria Maggiore in Rom verantwortlich, welches Amt er jedoch zum Ärger der Kurie zugunsten unter anderem mehrerer Südamerikareisen vernachlässigte, auf der letzten, während der Proben zu Cecilia 1954 in Rio de Janeiro mit Renata Tebaldi in der Titelpartie verstarb er. 1953 wagte sich das Teatro San Carlo in Neapel an das Werk, und auch damals sang Renata Tebaldi die Cecilia, es dirigierte der Komponist.

.Azione sacra in tre episodi nannte der Komponist sein Werk, das eigentlich eine Oper mit geistlichem Inhalt ist wie auch Margherita da Cortona, eine dritte Oper mit dem Titel Il Mago, brachte es nicht einmal zu einem vollendeten ersten Akt.

Für Cecilia hatte sich Refice eine Uraufführung zum Heiligen Jahr 1925 erhofft, die aber am Zwist zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat scheiterte und erst nach den Patti Lateranensi 1934 im römischen Teatro Reale dell‘ Opera, sprich Teatro Costanzi, 1934 möglich wurde. Für den beachtlichen Erfolg war nicht zuletzt die Sängerin der Cecilia, Claudia Muzio, verantwortlich.

Licinio Refice privat/ personaggi illustri

Refice verwendet als heißer Verehrer Richard Wagners zwar Leitmotive für seine Protagonisten, auch für den Chor, sei es der der Christen oder der der Heiden, aber ansonsten ist seine Musik durch und durch italienisch, üppig melodienselig, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme, Giuseppe Grazioli, nennt sie „un trait d’union“ zwischen Puccini und Respighi. Nachvollziehbar ist, dass Refice als Kirchenmusiker dem Chor eine bedeutende Rolle zuerkennt, sei es als entrückter Engelsgesang, als der der schüchternen Ancelle, der unversöhnlich auftrumpfenden Heiden oder der auf Überwältigung angelegte gemeinsame der irdischen wie himmlischen Heerscharen.

Erstaunlich kompetent sind, bedenkt man, dass es sich um ein selten aufgeführtes Werk in einem teatro di provincia handelt, die Sänger. Marta Mari hat einen in der Höhe aufblühenden Sopran mit viel corpo, dolcezza und splendore, rund und farbig auch im Piano. Emphatisch klingt das „Si, Valeriano“, ein feines akustisches Gespinst ist das „Io sorrido di pianto“. Die Stimme wird im Verlauf der Handlung immer entrückter wirkend, bis sie zu ersterben scheint. Frisch und schlank ist der Sopran, den Elena Schirru für den Engel einsetzt. Giuseppina Piunti gibt mit etwas schütterem Mezzosopran die Cieca, die natürlich von ihrem Gebrechen geheilt wird und dadurch auch an Stimmvermögen zunimmt.

Einen lyrischen Tenor setzt Mickael Spadaccini für den Gatten Valeriano ein, kann,  als bereits Hingerichteter, der der aus dem Jenseits klingenden Stimme ein schönes Schweben verleihen. Glück für das Personalbüro, dass sein Bruder Tiburzio bereits vor dem zweiten Akt das Zeitliche segnet, so dass Leon Kim nicht nur diese Partie, sondern auch die des Amachio singen kann und beides mit einem textverständlichem, viel vokale Autorität ausstrahlendem Bariton. Schnell hat Christian Collia als Un Liberto und Un Neolita sein vokales Pulver verschossen, einen hochpräsenten  Bariton setzt Patrizio La Placa als Schiavo ein, warm und dunkel klingt Alessandro Spina als Urbano.

Musikalisch hochinteressant, dürfte es das Werk wegen seines Themas weiterhin schwer haben. Die Begegnung mit ihm lohnt auf jeden Fall (Dynamic CDS 7967.2). Ingrid Wanja 

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Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italien, sang die Cecilia bei der RAI/Melodram

Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italiens, sang die Cecilia 1955 bei der RAI/Melodram

Refice bekehrt musikalisch und will das Herz seiner Zuhörer berühren. Sein Erfolgsrezept liegt in der Mischung: veristische Momente, gregorianischer Gesang und eine an Mascagni und Puccini (bspw. Suor Angelica) erinnernde Klangsprache. Wer diese musikalische Mischung aus Wehmut, Hingabe und Erhabenheit schätzt, wird bei Refice fündig: Es gibt melodische Einfälle, die haften bleiben. Arien aus Cecilia wurden später von bekannten Sängerinnen eingespielt, bspw. von Renata Tebaldi (1953 unter dem Komponisten selbst bei der italienischen RAI, ehemals als knisternde LP von UORC) und Renata Scotto (im New Yorker Konzert 1976 unter Campori). Refice starb 1954 in Rio de Janeiro, wo er mit Renata Tebaldi seine Oper probte.

In der Folge geriet Cecilia in Vergessenheit. Ber youtube gibt es zum Hören Aufnahmen mit der Muzio, Tebaldi und Scotto (als CD gekürzt auf VAI erhältlich, sehr empfehlenswert wegen der opernhaften Hinwendung) sowie Maria Pedrini (als LP, später CD ehemals bei Melodram im RAI-Mitschnitt von 1955 unter De Fabritiis, ungeschlagen wegen der wunderbaren pastosen Stimme voller Unschuld und Unverstelltheit – eine gläubige Italienerin singt aus ihrem erfüllten Herzen heraus), die eine der großen Vertreterinnen der Partie nach dem letzten Krieg und überhaupt eine der schönsten Spinto-Stimmen ihrer Zeit (und zudem in Italien eine bedeutende Norma neben der Cerquetti) war. In jüngster Zeit näherte sich Jonas Kaufmann dem Werk, dessen Tenorarie „Ombra di nube“ er auf seinem Decca-Recital singt.

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Die  Gesamteinspielung der tüchtigen Firma Bongiovanni ist ein Live-Mitschnitt eines Konzerts vom 22.11.2013 in der Kirche von Monte-Carlo. Es handelt sich um ein wichtiges Plädoyer für eine vergessene Oper – die  Aufnahme taugt allerdings kaum als Referenz, dafür fehlten einigen Sängern am Aufnahmetag die Unverwechselbarkeit und Überzeugungskraft und die Akustik ist nicht ideal. Als Cecilia hat man mit Denia Mazzola Gavazzeni einen (zu) reifen, gestisch fast zu dramatischen Sopran gewählt, der zwischen Gläubigkeit, spiritueller Anrufung und Todesbereitschaft Eindruck hinterlässt, deren scharfe Sopranstimme allerdings auch den Weg zum Werk verstellt. Als ihr Partner Valerianus hat man den nicht immer frei klingenden Tenor von Giuseppe Veneziano gewählt, der Engel Gottes ist mit Serena Pasquini stimmlich wohlklingend, aber unaufregend besetzt. Der Bassist Riccardo Ristori als Bischoff Urban könnte deutlicher würdevoller und standhafter klingen; die gut besetzten Corrado Cappitta (Tiburzio/Amacchio) und Kulli Tomingas (La vecchia cieca) ergänzen u.a. in den kleineren Rollen. Auf der Habenseite dieser Aufnahme befinden sich Dirigent Marco Fracassi und das Orchestra Filarmonica Italiana, die für positive Eindrücke sorgen. Der Chor der Camerata di Cremona wirkt nicht immer ganz sicher und passt sich der durchwachsenen Gesamtleistung an. Eine Oper, die – wenn sich die richtigen Stars ihrer annehmen würden – durchaus wieder eine Chance auf der Bühne bekommen könnte. Und die Aufnahmen mit Scotto (in gutem Stereo-Sound) oder Pedrini (sehr ordentliches Mono) zeigen, was große Gestalterinnen sind (2 CDs, Bongiovanni, GB 2472-2). G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Grauns „Iphigenia in Aulide“

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Das Ensemble barockwerk hamburg ist für seine außergewöhnlichen Projekte und eindrücklichen Programme bekannt. Insbesondere die Wieder-Aufführung von bisher unveröffentlichten Werken der hamburgischen Musikgeschichte erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Erstmals in Form eines Streaming-Konzerts stellte das Ensemble mit seiner Leiterin Ira Hochman nun die Oper Iphigenia in Aulis von Carl Heinrich Graun vor.

Die Geschichte der Königstochter Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert werden soll, gehört zu den klassischen Tragödien der griechischen Antike, die das Theater bis heute zu immer neuen Interpretationen inspirieren und die Zuschauer fesseln. Mit gerade einmal 24 Jahren begeisterte sich auch Carl Heinrich Graun an dem Stoff und komponierte vor 290 Jahren die Iphigenia in Aulis. Seine jugendlich frische und farbenfrohe Musik erklang zuletzt im Jahr 1731 auf der Bühne der hamburgischen Gänsemarkt-Oper. Im Zentrum des Werks steht die freiwillige und selbstlose Aufopferung der Iphigenie in den Zeiten der gesellschaftlichen Krise. Vaterliebe und Königspflicht, Treue und Verrat, Ironie und Intrigen und eine Hochzeit als Schlussakkord bieten alle Zutaten für eine opulente und abwechslungsreiche Barockoper. (Quelle Universität Hamburg)

Eine ausführliche Rezension von Bernd Hoppe folgt, danach  eine Einführung von der Dirigentin Ira Hochman zur neuen Einspielung bei cpo (2 CD 555 475-2).

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Mit ihrem Ensemble barockwerk hamburg hatte Ira Hochmann vor einigen Jahren schon Carl Heinrich Grauns Polydorus bei cpo auf CD veröffentlicht (s. Rezension in operalounge.de), nun legt sie des Komponisten Oper Iphigenia in Aulis nach (555 475-2, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Christuskirche von Hamburg-Othmarschen.

Das Ensemble barockwerk hamburg im Lichthof der Hamburger Staatsbibliothek/ ebh

Das Libretto stammt von Georg Caspar Schürmann, der einen Text von Christian Heinrich Postel für Reinhard Keisers Die wunderbar errettete Iphigenia als Vorlage nutzte. Postel hatte gemäß der italienischen Barockoper eine zweite Liebesgeschichte hinzugefügt – die zwischen Deidamia und Achilles. Letzterer ist eine Tenorpartie in extremer Notierung, die Graun, der eine sehr hohe Stimme besaß, für sich selbst schrieb. In der Aufnahme nimmt sie Mirko Ludwig wahr, der die erste Arie von stürmischem  Zuschnitt, „Mit seinem Feinde herzhaft kämpfen“, beherzt angeht, doch in der Höhe an Grenzen stößt und im Klang zu buffonesk bleibt. Dagegen findet er in „Geliebte Seele“ im 3. Akt auch zu innigen Tönen. Die Sopranistin Santa Karnite hat als Deidamia ebenso viele Arien zu absolvieren wie die Titelheldin, was für die Bedeutung der Partie spricht. Der Auftritt mit „Armes Herz“ lässt eine klare, reine Stimme von instrumentaler Führung hören. In „Sollte Treu im Lieben sein?“ gibt sie ihrer Enttäuschung über die unglückliche Liebe zu Achilles nachdrücklich Ausdruck.

In der Titelrolle ist Hanna Zumsande zu hören, deren wenig individueller Sopran in der ersten Arie, „Treuer Liebe reine Flammen“, keinen rechten Kontrast zu Deidamias Stimme herstellt. In der Arie „Kann ich dir das Leben geben?“ zu Beginn des 2. Akt stört ein allzu jammernder Tonfall. Am besten gelingt ihr der Koloraturjubel in „Schönste Blumen“ im 2. Akt. Auch das getragene Arioso am Ende des 2. Aktes, „Wertste Seele“, ist geglückt. Iphigenias Mutter Clytemnestra gibt die Mezzosopranistin Geneviève Tschumi, ihren Vater Agamemnon der Bassist Dominik Wörner mit flexibler Stimmführung. Dessen vertrauter Freund Nestor ist doppelt besetzt – mit dem Tenor Ludwig und dem Bass Wörner, da seine Gesangsnummern vom Komponisten beiden Stimmfächern zugeteilt wurden. Clytemnestra hat mit „Stürmet noch einmal“ eine wirkungsvolle Auftrittsarie mit bewegten Koloraturläufen, die Tschumi überzeugend wiedergibt. König Thoas, unter dem Namen Anaximenes, ist eine besonders farbige Partie zugeordnet, welche der Altus Terry Wey solide ausfüllt. Gelegentlich, wie in der ersten Arie „Schönste Seele“, klingt sein Ton etwas larmoyant. Das getupfte „Augen, machet euch bereit“ im 2. Akt profitiert von delikaten Nuancen und das stürmische „Nach wilder Wellen Brausen“ am Ende vom forschen Zugriff. Die Besetzung komplettiert der Bariton Andreas Heinemeyer in der Rolle von Deidamias Diener Thersites, der in der Tradition der Hamburger Gänsemarkt-Oper als komische Figur fungiert. Er kommentiert und persifliert in hoher Tessitura, munter plappernd und mit lautmalerischen Effekten das Geschehen.

Der Schlusschor, „Es weiche, es fliehe der Kummer“, wurde Grauns Oper Caio fabricio entnommen, da er, ebenso wie alle Rezitative, in der Handschrift der Iphigenia fehlt.

Die Erfahrung der Dirigentin mit dem Werk Grauns spiegelt sich sogleich in der Ouvertüre wider. Das Orchester musiziert kultiviert und nobel, ist den Sängern ein verlässlicher Partner. Die Virtuosität in vielen Kompositionen Grauns findet man hier allerdings nur gelegentlich, insgesamt herrscht ein getragener, dem Oratorium naher Stil, dem auch Elemente des Singspiels eigen sind, vor. Bernd Hoppe

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Carl-Heinrich-Graun/ Wikipedia

Zu seinen Lebzeiten war Carl Heinrich Graun (1704–1759) als Komponist und erster Kapellmeister der Königlichen Oper in Berlin vor allem für seine italienischen Opern bekannt und umjubelt. Die Tatsache, dass er zuvor am Opernhaus am Braunschwei­ger Hagenmarkt und der Gänsemarkt-Oper in Hamburg mit deutschsprachigen Opern wichtige Grundsteine für die Entwicklung dieser Gattung gelegt hatte, wird bis heute kaum wahrgenommen. Dabei bemerkte schon im achtzehnten Jahrhundert der Hamburger Gelehrte und Musikschriftsteller Christoph Daniel Ebeling (1741–1817): „[Grauns deutsche Opern] haben so viel Melodie, Ausdruck und Neuheit, als man in manchen Arien seiner neuern [= italienischen Opern] nicht finden wird“.1 Eine Fest­stellung, die das Ensemble barockwerk hamburg nach seiner erfolgreichen Erstein­spie­lung der Oper Polydorus (cpo 555 266-2) nur unterstreichen kann, und die nun mit der Vorstellung eines weiteren frühen Werks des Komponisten, seiner Oper Iphigenia in Aulis (1728), erneute Unterstützung findet.

Geboren in Wahrenbrück, begann Carl Heinrich Graun seine Karriere schon als Sängerknabe an der Kreuzschule in Dresden. Als jüngster der drei Gebrüder Graun, die alle ausgezeichnete Musiker waren, genoss er die bestmögliche Musikausbildung seiner Zeit, erhielt Unterricht auf der Orgel, Cembalo, Cello, Laute und in Kompo­sition. Nach dem Stimmbruch wurde aus dem Knabensänger ein exzellenter hoher Tenor. Carl Heinrich komponierte zahlreiche Kantaten und Opernpartien für die eigene Stimme, darunter die extrem hohe Partie des Achilles in der Iphigenia in Aulis. Graun soll als Privatperson einen sehr angenehmen Charakter gehabt haben, so hatte er viele Freunde und Förderer, darunter den Dresdner Hofpoeten Johann Ulrich König. Dieser prominente Opernlibrettist vermittelte den jungen Sänger 1725 nicht nur an die Hagenmarkt-Oper in Braunschweig, sondern lieferte auch das Libretto zu seiner (vermutlich) ersten Oper Sancio, oder die in ihrer Unschuld siegende Sinilde. In Braunschweig debütierte Graun 1726 als Tenor in der Oper Heinrich der Vogler von Georg Caspar Schürmann. Er wurde bald auch kompositorisch tätig und bekam nach dem großen Erfolg seiner Oper Polydorus den Titel Vizekapellmeister. Zwischen dem deutlich älteren Hofkapellmeister Schürmann und Graun als Vertreter des moderneren Stils entstand ein kollegiales Verhältnis, eine damals typische Art von Teamwork. Graun schrieb Einlagearien für Schürmanns Opern, darunter Ludovicus Pius, Heinrich der Vogler und Clelia, Schürmann dichtete für ihn unter anderem den Text der Iphigenia in Aulis. Dieses Bühnenwerk soll die dritte von sechs in Braunschweig geschriebenen Opern Grauns sein.

Zu Grauns „Iphigenia“: das Hamburger Theater am Gänsemarkt/ Wikipedia

In seiner Studie zur Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper von 1863 dokumentiert der Musikwissenschaftler Friedrich Chrysander die etwas verwirrende Chronologie der Aufführungen von Grauns Iphigenia in Aulis folgender­maßen: „Um 1730. Iphigenia in Aulis. Eine ganz deutsche Oper, von welcher zwar nur ein Textbuch aus der Sommermesse 1734 vorliegt, die aber in diese Zeit gehören muss, weil sie mit Graun’s Musik schon 1731 in Hamburg war.“2 Tatsächlich wurde die dreiaktige Oper in Braunschweig bereits 1728 uraufgeführt, und die Gänsemarkt-Oper in Hamburg spielte das Werk dreimal im Winter 1731/32. Danach verschwand es für 293 Jahre aus dem Opernrepertoire.

Im Sprechtheater gehört Euripides‘ Iphigenie in Aulis zweifelsfrei zu den meist­gespiel­ten antiken Tragödien. Im Bereich des barocken Musiktheaters waren die mythologischen Opern zwar die beliebtesten Opernsujets, jedoch sind heute nur zwei Adap­tionen des Iphigenien-Mythos bekannt, Glucks Iphigénie en Aulide (Paris 1774) und Martín y Solers Ifigenia in Aulide (Neapel 1779). Dabei wurde auf der Bühne der Hamburger Gänsemarkt-Oper schon im Jahr 1699 die Oper Die wunderbar errettete Iphigenia von Reinhard Keiser gespielt. Dessen Librettist Christian Heinrich Postel schrieb in seinem Vorbericht, dass ihm Euripides‘ „vortreffliches Trauer-Spiel“ als Grundlage diente. Postel fügte der Handlung eine Liebesgeschichte zwischen Deidamia und Achilles hinzu, um der üblichen Dramaturgie einer Barockoper zu entsprechen. Das wiederum zog es nach sich, möglichst eine Intrige als Nebenstrang und eine komische Figur für die Unterhaltung des Publikums in die mythologische Handlung einzupflegen. Die Musik dieses „Singe-Spiels“ hat sich leider nicht erhalten. Der zeitgenössische Druck des Librettos hingegen ist heute digital zugänglich.3

Zu Grauns „Iphigenie“: Uraufführungs-Kostüm für Arcas/ BDO

Genau dieses Libretto diente 1728, also fast 30 Jahre später, Georg Caspar Schür­mann als Grundlage für den Text der Iphigenia in Aulis. Die Handlung wurde von ihm von fünf auf drei Akte gekürzt und die Rezitativtexte wurden gestrafft. Der Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson übte daran harsche Kritik und schrieb, es sei „die 32 Jahre alte, schöne Postelsche Poesie […] lästerlich verschnitten, weggewor­fen, zerstümmelt, vertauscht und geflickt“ worden.4 Bei einem weniger polemischen, sachlichen Vergleich der Textbücher wird offensichtlich, dass den Kürzungen insbesondere Ensembles und Interaktionen zwischen Charakte­ren zum Opfer fielen, die zuvor wahrscheinlich in kürzeren musikalischen Formen ver­tont worden waren. Schürmanns Bearbeitung des Librettos bewegt sich also in Rich­tung der klassischen Struktur einer Barockoper mit ihrer Abfolge von Da-Capo-Arien und Rezitativen.

Zwei unvollständige Handschriften der Iphigenia in Aulis aus den Hofkapellen in Braunschweig-Wolfenbüttel und Sondershausen werden heute im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel5 und in der Stadtbibliothek Sondershausen aufbewahrt.6 In ihnen fehlt leider die Musik zu sämtlichen Rezitativen, den drei Chören, dem abschließenden Auftritt der Diana mit allen Beteiligten sowie dem Schlusschor. Deren Texte sind aber in den zeitgenössischen Drucken des Hambur­ger und des Braunschweiger Librettos (beide 1731) enthalten, von denen Exemplare in den Beständen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und des Landes­archivs Wolfenbüttel aufbewahrt werden. Darüber hinaus ist die Quellenlage insofern unübersichtlich, als dass sich manche Arien ausschließlich in einer der beiden Musik­quellen befinden und manche, obwohl sie zur selben Rolle gehören, verschiedenen Stimmfächern zugeordnet sind. Das letztere Rätsel kann eigent­lich nur darauf zurück­­­geführt werden, dass die bei den verschiedenen Auf­führungen für die Besetzung die­ser Rollen engagierten Sänger nicht der ursprüng­lichen Stimm­zuweisung entsprachen und man entweder die Arien transponierte oder neu komponierte. Abgesehen von diesen offenen Fragen ist eine Fülle an höchst inspirierender Musik vorhanden, darunter die Ouverture, sowie 35 Arien, und es wäre mehr als schade, dieses umfangreiche Werk weiterhin ungespielt in den Archiven liegen zu lassen.

Zu Grauns „Iphigenia“: Der SchauspielerLavigne, in der Rolle des Achilles / BDO

Mit Blick auf heutige Aufführungen stellt sich somit die Frage: Wie unvollständig ist Iphigenia in Aulis tatsächlich? Stellen wir dazu einen Vergleich an. Sowohl eine der bekanntesten Opern von Georg Friedrich Händel, die dreiaktige Giulio Cesare in Egitto als auch Grauns fünfaktige Oper Polydorus weisen 37 Musiknummern auf. Wir können daraus schließen, dass wohl nur sehr wenige Stücke der Iphigenia in Aulis fehlen. Dennoch benötigte die Oper für unsere Erst-Wiederaufführung einen Schlussgesang. Wir haben uns erlaubt, diesen aus Carl Heinrich Grauns Oper Caio fabricio (GraunWV B:I:14) von 1746 zu entlehnen. Deren Schlusschor „La gloria è un gran bene“ ließ sich problemlos der Text des Schlusschors aus Schürmanns Iphigenia-Libretto unterlegen. Die letzte Arie des Anaximenes (Altus), „Nach wilder Wellen brausen“, die überraschenderweise im Bassschlüssel notiert ist, wurde eine Oktave nach oben versetzt und damit dem Rest der Partie angeglichen. Die Rolle des Nestor, ein Freund Agamemnons und der­jenige, der die Schlüsselbotschaft über die Opferung der Iphigenia überbringt, behielt die Diversität der Stimmfächer: Nestor singt das Eröffnungsduett mit Agamemnon als Tenor, während seine spätere Arie „Wo ungerechte Götter thronen“ dem Bass zugeteilt ist und auf unserer Aufnahme von dem Bassisten Dominik Wörner vorgetragen wird.

Zu Grauns „Iphigenia“: Titelseite des Hamburger Librettos (Staats- und Universitatsbibliothek Hamburg, Signatur: 281 in MS 639/3:20)

Es ist erstaunlich, wie feinsinnig der 24-jährige Komponist die Charaktere seiner zwei­ten beziehungsweise dritten Oper gestaltet hat. Iphigenia ist unschuldig und unerfahren, und dennoch mutig und entschieden. In der Arie „Schönste Blumen, meine Wonne“ begießt sie mit ihren Tränen die Blumen. Graun verzichtet hier auf die tiefen Bassinstrumente und bringt so die Musik zum Schweben. Todesmutige Opferbereitschaft hingegen zeigt Iphigenia in der großangelegten und dennoch schlichten Arie mit Hörnern und Oboen d’amore „Lebe wohl, ich muss dich lassen“. Für die Rolle der Deidamia schrieb Graun ebenso viele Arien wie für die eigentliche Hauptpartie der Iphigenia. Er muss diesen Charakter sehr gemocht haben. Ihre Musik besticht durch eine berührende Ehrlichkeit der Gefühle. Ihre Enttäuschung in der Liebe zu Achilles hört man insbesondere in der Arie mit Oboen d’amore und ostinaten Violinen „Sollte Treu im Lieben sein“, während die Arie „Treuloses Herz, verkehrter Sinn“ ihrer Verzweiflung Ausdruck verleiht. König Agamemnon, Iphigenias von Zweifeln geplagter Vater, wird musikalisch in einem archaischen, an oratorische Musik gemahnenden Stil gezeichnet.

Die facet­ten­reiche und sehr anspruchsvolle Tenorpartie des Achilles komponierte Graun für sich selbst. In der Arie „Geliebte Seele, weine nicht“ zeugt sein Gesang im Dialog mit dem obligaten Cello, einem Instrument, dass Graun selbst gut beherrschte, nicht nur von Achilles‘ kriegerischen Zügen, sondern auch von seinen liebevollen Eigenschaften und von Momenten voller Mitgefühl. Diese Arie, im Grunde ein Duett zwischen Stimme und Violoncello, ist eine herausragende Komposition im Hinblick auf den Anspruch an die beiden Partner und die musikalische Qualität. Der skyti­sche König Thoas unter dem falschen Namen Anaximenes ist vielleicht die kontrast­reichste Partie der Oper, die dementsprechend besonderes farbig vertont ist. Die Affekte reichen von sehr verliebt in der Arie „Schönste Seele, deine Lippen“ über todessüchtig in den Arien „Augen, machet euch bereit“ und „Ach, Iphigenia“ bis hin zu aufbrausend in den spektakulären Koloraturen der schon erwähnten Arie „Der wilden Wellen brausen“. Iphige­nias Mutter Clytemnestra zeigt sich einerseits in ihren Pflichten gefangen, andererseits rebellisch gegen das Schicksal und die Götter. Besondere Beachtung verdient die Rolle des Thersites, Deidamias Diener. Er stellt eine volkstümliche, komische Person dar, die vor allem für die Hamburger Gänsemarkt-Oper typisch ist. Kommentierend greift er in stimmlich extrem hoher Lage in die ernste Handlung ein. Er lacht aus, pointiert und provoziert. Seine geschwätzigen Kommentare bilden einen Kontrast zur Innigkeit und Ehrlichkeit von Deidamias Gefühlen. Die Männersitten werden verspottet, „denn bei Jungen und bei Alten hat noch keiner Wort gehalten.“

Die Dirigentin und Prinzipalin Ira Hochman/ barockwerk hamburg

Sollte Grauns Iphigenia in Aulis eines Tages zu einer theatralischen Wieder­aufführung kommen, kann man unsere Entscheidungen über den Schluss der Oper sowie eine Lösung für die verlorengegangene Rezitativ-Vertonungen neu über­denken. Für eine weitergehende Vervollständigung der Oper könnte man zudem auf eine zusätzliche Quelle zurückgreifen. Graun schrieb 1748 in Berlin Ifigenia in Aulide (GraunWV B:I:18), eine italienische Oper mit dem Libretto von Leopoldo di Villati nach Jean Racines Iphigénie en Aulide (Paris 1674). Sowohl die Sprache als auch der spätere Kompositionsstil Grauns eig­nen sich nicht direkt für eine Entlehnung von Musik, dennoch könnte man sich für die fehlende Opferungsszene der Iphigenia auf jeden Fall an der Instrumentalmusik bedie­nen und die Ansprache der Göttin Diana mit dieser Musik unterlegen. Man könnte das Stück als Singspiel mit gesprochenen Rezitativtexten spielen oder die Rezitative neu vertonen lassen.

Wir haben uns für eine konzertante Aufführung mit modernen Zwischentexten entschieden. Wir wagen die Voraussage, dass diese Oper mit einigen Hilfsgriffen hervorragende Chancen auf ein erfolgreiches Bühnenleben haben wird. Dafür spricht Grauns Musik, die von so herausragender Qualität und melodischer Schönheit ist. Ira Hochman 

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Quellen:  1) Charles Burney, Tagebuch seiner musikalischen Reisen, aus dem Englischen übersetzt von Christoph Daniel Ebeling, Bd. 3, Hamburg 1773, S. 175.  2) Friedrich Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für musikalische Wissen­schaft, Bd. 1, 1863, S. 147–286.  3) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: 81 in MS 639/3: 5   4) Zitiert nach Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper (siehe oben).  5) Zeitgenössisches Manuskript, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, Signa­tur: 6 Hs 17 (Nr.11)  6) Handschriftlicher Stimmensatz, Stadtbibliothek Sondershausen, Signatur: Mus. A 1: 3.

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus Tiepolos Monumentralgemälde der „Ifigenia in Aulide“ in der Villa Valmerana bei Vicenza/ Wikipedia. Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Gelungene Inszenierung

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.Na, bitte, man kann als Regisseur eigene Ideen in eine Produktion einbringen, ohne ein Werk zu entstellen, eine Bühne kreieren, ohne in einem Waschsalon oder einer Autowerkstatt zu landen, Kostüme entwerfen, die nicht einer Kleiderkammer der Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts zu entstammen scheinen und sogar auf Fluchtkoffer gänzlich verzichten, und man hat etwas geschaffen, das gleichermaßen Libretto und Musik wie dem Streben nach etwas noch nie Dagewesenem entspricht. Das alles gelungen ist Regisseurin Monique Wagemakers, deren liebevolle Aufmerksamkeit einfühlsamer Personenregie am Gran Teatre del Liceu von Barcelona sichtbar den drei Hauptpersonen von Verdis Rigoletto galt, denen sie eine amorphe Masse von Höflingen gegenüber stellt, aus der sich weder ein Marullo noch ein Borsa herausheben kann. Sehr einfühlsam herausgearbeitet ist von der Regie das Verhältnis Rigoletto-Gilda als ein nicht nur fürsorgliches, sondern auch einengendes und bedrückendes. Das Schaffen einer atmosphärisch dichten Optik gelingt auch Bühnenbildner Michael Levine mit einer denkbar kargen, aber ihre Funktionen erfüllenden Bühne, mal ein Rechteck, in dem die Höflinge kaserniert sind oder das sie umringen, mal eine steile Treppe, auf der Gilda ihr Caro nome jubiliert, die aber auch Spelunke, Mincio-Ufer und Gewitterchor miteinander verbinden kann. Die Kostüme von Sandy Powell schließlich belassen das Stück in der Renaissance und ermöglichen so das Eintauchen in eine weitere, die historische Dimension. Dem Regieteam, das sich mit ebenso viel Respekt für die Tradition wie Aufgeschlossenheit für neue Ideen dem Stück genähert hat, steht mit Riccardo Frizza ein Dirigent gegenüber, der bestens vertraut ist mit dem Werk Verdis und der gemeinsam mit dem Orchester des Liceu großzügige Phrasierung und mitreißendes Brio miteinander vereinen kann. Das trifft auch auf den Herrenchor unter Conxita Garcia zu.

Hervorragend ist der Rigoletto von Carlos Alvarez, und es liegt sicherlich nicht nur daran, dass er Spanier ist, wenn ihm der meiste Beifall des Hauses zu Teil wird. Kraftvolles Aufbegehren, genüssliches Ausholen zu einem „Cortigiani, vil razza dannata“, natürlich eine mitreißende Vendetta in generöser Phrasierung und Fermatenseligkeit sind ihm eine unangestrengte Selbstverständlichkeit, dazu kommt ein so ausdrucksstarkes wie differenzierendes Spiel. Die der Partie des Duca angemessene voce brillante hat der Tenor Javier Camarena, ideal für „Quest‘ o quella“ und „La donna è mobile“, federnd für Rezitativ und Cabaletta seiner großen Arie, am ehesten in „Parmi veder le lacrime“ lyrisches Potential vemissen lassend. Seit vielen Jahren ist Désirée Rancatore eine geschätzte   Gilda, die optisch inzwischen etwas matronenhaft wirkt, deren Sopran aber höhensicher  geblieben ist und „Caro nome“ mit zusätzlichen Verzierungen singen kann, dessen Mittellage jedoch eher gewelkt als gereift ist. Mit schlankem, dunklem und durchschlagskräftigem Bass singt Ante Jerkunica einen vorzüglichen Sparafucile, Ketevan Kemoklidze  ist eine optisch wie akustisch verführerische Maddalena. Noch eindrucksvoller könnte man sich das Maledetto des Monterone von Gianfranco Montresor wünschen. Insgesamt ist dieser Rigoletto ein Gewinn auch für denjenigen, der bereits viele Aufnahmen des Werks besitzt (C-Major 763804). Ingrid Wanja 

Geschichtsstunde mit Raritäten

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Anders als in der Oper greifen Schauspielmusiken in aller Regel nicht in die Handlung und deren Entwicklung ein; sie bilden üblicherweise nur illustrierenden Hintergrund. Die Musik, die Gioachino Rossini 1817 zu der Tragödie Edipo a Colono (Ödipus auf Kolonos) von Sophokles komponierte, ist ein Unikat im gesamten Repertoire der italienischen Musik jener Zeit. Dort hielt man wenig von der Gattung der Schauspielmusik und zog die Verbindung von Musik und Drama, also die Oper vor. Rossini erhielt den Auftrag zur Komposition der Musik zur Sophokles-Tragödie nicht – wie man annehmen sollte – von einem Theater, sondern vom italienischen Dichter Giambattista Giusti (1758-1829), der das Drama ins Italienische übertragen hatte. In einem vorausgehenden Diskurs erläuterte Gusti sein Ziel, die schlichte Schönheit der Originalsprache Sophokles‘ wieder aufleben zu lassen, mit besonderem Augenmerk auf die in den griechischen Tragödien so wichtigen Chöre. Bei der Entstehung der Komposition für Solo-Bass und Männerchor, jeweils mit Orchester-Begleitung, gab es erhebliche Verzögerungen, weil Rossini hauptsächlich mit „Barbiere“ und „Cenerentola“ beschäftigt war. Ob und wann Rossinis Musiche di scena erstmals aufgeführt wurde, ist bis heute unklar geblieben. Die erste moderne Aufführung von seiner Musik zu Edipo a Colono fand 1982 beim Rossini Opera Festival in Pesaro statt. Da sie zusammen mit der gesamten Tragödie von Sophokles als Begleitmusik gespielt wurde, darf man annehmen, dass die damalige Aufführung nicht allzu weit von der Art und Weise entfernt war, wie es sich Giusti in den 1810er-Jahren vorgestellt hatte. (Vorstehende Informationen sind dem Beiheft entnommen, das einen ausführlichen, sehr informativen Aufsatz von Francesco Milella enthält.)

Die vorliegende CD ist ein Live-Mitschnitt der konzertanten Aufführung der mit knapp 45 Minuten  relativ kurzen Schauspielmusik beim Rossini Opera Festival 2022 in Pesaro. Der argentinische Opernsänger Nahuel Di Pierro deutet acht Rezitative und zwei Arien ausdrucksstark aus, indem er seinen markanten Bass abgerundet und sicher durch alle Lagen führt.  Mit ausgesprochen ausgewogenem Klang gefällt der von Mirca Rosciani einstudierte Herrenchor des Coro del Teatro della fortuna. Bass und Chor werden von der ausgezeichneten Filarmonica Gioachino Rossini begleitet; die souveräne Gesamtleitung hat Fabrizio Ruggero. Die Einspielung dieser Rarität ist eine gelungene Sammlungsergänzung für Rossinini-Freund (Audax ADX 11207).

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Unter dem Titel  Splendours of the Gonzaga hat Arcana jeweils kürzere geistliche Chorwerke herausgebracht, die führende Musiker am Hof der bis 1630 in Mantua herrschenden Gonzaga-Familie komponiert haben. Es sind dreizehn  Stücke von den Komponisten Amante Franzoni, Giovanni Giacomo Gastoldi, Claudio Monteverdi, Benedetto Pallavicino, Salomone Rossi und Giaches de Wert. Das 2014 im lombardischen Vimercate gegründete Ensemble Biscantores, hier bestehend aus zwanzig Sängerinnen und Sängern sowie drei Instrumentalisten (Viola da Gamba, Erzlute und Orgel) entwickelt unter der umsichtigen Leitung seines fachkundigen Gründers Luca Colombo typische Renaissance-Klänge. Dabei gefällt besonders, wie schlank und bestechend intonationsrein allen die Stimmführung gelingt, ohne wunderbar ausgewogene Klangentfaltung zu vernachlässigen (Arcana A545).

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Nicola Matteis der Jüngere – wer ist das? Nur ausgewiesenen Spezialisten dürfte dieser Violinist und Komponist aus dem frühen 18. Jahrhundert bekannt sein. Um ihn dreht sich die bei Signum aus Anlass der Krönung von George III. herausgekommene Doppel-CD unter dem Titel An Englisman abroad. Matteis wurde in London als Sohn eines italienischen Vaters (Nicola Matteis der Ältere) und einer englischen Mutter um 1677 geboren. Er erhielt Violin-Unterricht durch seinen Vater, ebenfalls Violinist und Komponist, und wurde im Stil Henry Purcells ausgebildet. 1700 verließ er England, um an den kaiserlichen Hof in Wien zu gehen. Dort wirkte er unter Johann Joseph Fux in der Wiener Hofmusikkapelle; ab 1712 war er Direttore della musica instrumentale und von 1714 bis zu seinem Tod 1737 Komponist der höfischen Ballettmusiken, die zumeist am Ende eines Aktes, in Opern von Conti, Ziani, Caldara, Bononcini, Fux und anderen eingesetzt wurden. Die Zusammenstellung der Stücke auf den CDs kann man als karolingisch bezeichnen, denn sie wurden für Charles II. von England oder für Kaiser Karl VI. geschrieben. Das bereits seit 1994 bestehende britische Barock-Ensemble Serenissima wird von seinem Gründer und Konzertmeister Adrian Chandler geleitet, der auch in den beiden Violinkonzerten, die die Doppel-CD enthält, die Sologeige übernommen hat. Zu hören sind von Nicola Matteis zwei Werke, das Violinkonzert B-Dur und die abschließende Ballettmusik zu der Oper La Verità nell’Ingano von Antonio Caldara, dessen Ouvertüre ebenfalls gespielt wird. Der gradlinige, sehr transparente Klang des renommierten Streichensembles mit seinen historischen und entsprechend nachgebauten Instrumenten gefällt gerade auch in diesen Stücken des Spätbarocks, wozu die blitzsaubere Strichführung des Sologeigers bestens passt. Mit derselben Intensität und stilgerechten Interpretation werden die übrigen Werke der Doppel-CD musiziert, das Violinkonzert  Il Favorito von Antonio Vivaldi, die Ouvertüren-Suiten von Georg Philipp Telemann und Giuseppe Antonio Brescianello, dessen Chaconne A-Dur die CD abschließt, während entsprechend der Ausbildung von Matteis eine Chaconne in g-Moll von Henry Purcell die Reihe der barocken Stücke eröffnet (signum CLASSICS SIGCD751).

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Das kanadische Label ANALEKTA hat unter dem Titel Clara, Robert, Johannes einen Zyklus von vier Doppel-CDs herausgebracht, die je zwei Sinfonien von Robert Schumann und Johannes Brahms mit Liedern und anderen Werken meist aus dem Bereich der Kammermusik von Clara Schumann verbinden. Die Doppel-CD mit beiden dritten  Sinfonien mit dem Untertitel Atmosphère e Maestra enthält von Clara drei aus ihren etwa 30 Liedern, Quatre pièces fugitives op.15, die g-Moll-Klaviersonate und das Klaviertrio op.17. Durch das in allen Gruppen gut disponierte Orchestre du Centre National des Arts du Canada (NCA) erfahren beide Sinfonien eine gediegene, klangschöne Wiedergabe, bei der jeweils die Neigung des souveränen Dirigenten Alexander Shelley zu eher getragenen Tempi deutlich wird.  Die kanadische Sängerin Adrianne Pieczonka interpretiert gemeinsam mit der unaufdringlichen Pianistin Liz Upchurch Am Strande, An einem lichten Morgen und Heinrich Heines Lorelei mit farbenreichem Sopran. Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero kostet die Melodiebögen und aufrauschenden Arpeggien in Clara Schumanns Klaviersonate g-Moll genüsslich aus, so dass ihr eine insgesamt überzeugende Ausdeutung gelingt. Die jeweils kurzen Quatre pièces fugitives op.15 interpretiert der aus Kanada stammende Pianist Stewart Goodyear entsprechend ihrem Titel mit der nötigen Leichtigkeit. Gemeinsam mit dem Konzertmeister des NCA Yosuke Kawasaki und der Solo-Cellistin des Orchesters Rachel Mercer musiziert er das mit seinen vier Sätzen vielseitige Klaviertrio op.17, das durch die schwungvolle Interpretation aller Sätze, besonders des schwelgerischen Andante und des spritzigen Scherzo durchweg positiven Eindruck hinterlässt  (Analekta AN 2 8882-3). Gerhard Eckels