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Gustav Mahler. Das Lied von der Erde für eine hohe und eine mittlere Gesangsstimme mit Klavier. Gemeinsam mit ihren Pianisten Gerold Huber haben der Tenor Piotr Beczala und der Bariton Christian Gerhaher diese Version für ihre Einspielung bei Sony gewählt (19568795702). Wieder eine der in die Mode gekommenen Bearbeitungen? Mitnichten. Es handelt sich um ein Original, das auf den Komponisten selbst zurückgeht. Schon auf den ersten Blick fallen Unterschiede zur gebräuchlichen Version, die sehr oft eingespielt und mitgeschnitten wurde, auf. Das dritte Lied ist mit „Der Pavillon aus Porzellan“ und nicht mit „Von der Jugend“ überschrieben, das folgende heißt „Am Ufer“ statt „Von der Schönheit“. Und „Der Trunkene im Frühling“ ist hier – weniger prosaisch – der „Trinker“.
Der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke hat sich mit der Entstehungsgeschichte intensiv beschäftigt. Nach seiner Einschätzung stellt die eingespielte Version „keine Vorstufe zur Orchesterfassung“ dar. Vielmehr sei sie gleichberechtigt neben ihr. Die Differenzen am Textstand seien minimal, „und beim dritten und fünften Satz ging der Partiturentwurf der Klavierfassung wohl voraus“. Zudem habe Mahler von 1892 an mit einer Ausnahme alle Lieder zugleich für Klavier und Orchester vorgesehen. Von „definitiven Endfassungen“ könne bei ihm, ohnehin keine Rede sein, weil er in den Texten bei jeder Aufführung nachbesserte. Allerdings nicht beim Lied von der Erde, „weil er es nie gehört hat“. Wie Gülke im Booklet weiter schreibt, sollte man es sich mit dieser Gleichberechtigung beider Versionen nicht zu leicht machen. „Es bedarf keiner direkten Erinnerung an die bekannte Fassung, um überall Orchesterinstrumente mitzuhören.“ Einerseits vertieft Gerold Huber am Klavier diesen Eindruck noch, indem er seinem Instrument musikalische Bilder und Farben entlockt, wie sie sonst nur ein mehrstimmiger Klangkörper hervorzubringen in der Lage ist, andererseits aber hat er in mir zu keiner Zeit das Verlangen nach einem klassischen Orchester geweckt. Gülke behält also Recht mit seiner Feststellung, dass beide Versionen ihre Gleichberechtigung behauten können.
Der Tenor sei „stärker Solist in dem, was ihm – auch an anstrengender Höhe – abverlangt wird“, stellt Gülke heraus und findet dazu interessante Vergleiche aus der Opernliteratur. In seinem ersten Gesang (Das Trinklied vom Jammer der Erde), sei er Tannhäuser, im zweiten (Der Pavillon aus Porzellan), Tamino und im dritten (Der Trinker im Frühling), Pedrillo. Wobei es sowohl im Booklet als auch auf der Rückseite der CD-Hülle keinen direkten Hinweis darauf gibt, wer was singt. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass die Hörerschaft einen Tenor vom Bariton unterscheiden kann. Beczala, der mit Zustimmung und Unterstützung des Labels Pentatone für die Produktion gewonnen werden konnte, ist eine gute Wahl. Mir fällt auf Anhieb niemand anderes ein, der statt seiner hätte besetzt werden können. Er wirkt jung, überschäumend und – dies ganz im Sinne des Stückes – unbedenklich. Niemals grüblerisch. Technisch bereiten ihm die schwierigen Passagen nicht die geringsten Schwierigkeiten. Er klingt auch dann noch schön, wenn er in technisch fast unsingbare Bereiche gelangt. Jedes Wort, jede sprachliche Regung sind zu verstehen. Man könnte den Text mitschreiben, wenn er denn nicht im Booklet abgedruckt wäre. Beczala agiert auch opernhafter als sein Kollege Gerhaher und bestätigt damit die von Gülke verwendeten Assoziationen mit konkreten Opernfiguren. Gülkes Fazit: „Das mit Klavier realisierte Lied von der Erde ist gewagtere, zugleich intimere Musik, es zwingt die Singenden, anders, feiner nuanciert zu singen als mit Orchester und die Hörenden, intensiver zu hören, den abstrakten Klang in die mitgemeinte, rhetorische Farbigkeit imaginativ zu verlängern.“
Alles in diesem Werk läuft auf den Abschied hinaus. Dieser Schlusssatz des auch als Sinfonie apostrophierten Werkes dauert mit seinen siebenundzwanzig Minuten fast genauso lange wie die vorangegangenen Nummern zusammen. Auch dadurch wirkt das Lied von der Erde wie zweigeteilt, was in der Klavierfassung nach meinem Eindruck noch stärker auffällt. Nun schlägt die Stunde für Christian Gerhaher, der auch genau richtig besetzt ist. Er ist fast auf sich allein gestellt. Das auch eigenständig agierende Klavier kann im Vergleich mit einem Orchester nur bedingt Halt geben, auf den er aber letztlich nicht angewiesen ist. Stimme und Gestaltung sind bei ihm eins. Es ist eine Stärke des Sängers, diese beiden Seiten seiner Kunst stets so eng wie möglich zu verknüpfen. Stimme allein ist nicht bei Gerhaher. Eher neigt er – wenn man das so sagen darf – zur Überinterpretation. Ich erinnere mich an einen konzertanten Tannhäuser, wo er sich als Wolfram im dritten Aufzug aus dem Ensemble derart zu separieren schien, als gebe er ein solistisches Konzert. So ein Eindruck kann hier nicht entstehen, denn es ist ja niemand neben ihm als der Pianist. „Die Vögel hocken still in ihren Zweigen. Die Welt schläft ein.“ Wenn es nicht ganz von selbst geschieht, empfiehlt es sie, an dieser Stelle den Atem anzuhalten, um die ganze Wirkung auszukosten.
Den Text gewann Mahler aus dem 1907 erschienen Gedichtband „Die chinesische Flöte“ von Hans Bethke (1876-1946), der viel gelesen wurde und durch die Insel-Bücherei eine große Verbreitung fand. Bethke sprach kein Chinesisch. Er griff bei seinen Nachdichtungen auf englische und französische Übersetzungen zurück und dürfte auch eigene Empfindungen aus seiner Zeit, der Moderne mit dem Symbolismus, beigemischt haben, wodurch sich die Dichtungen immer weiter vom chinesischen Original entfernten. Seine ungebundenen Verse inspirierte neben Mahler und in seiner Folge eine Vielzahl anderer Komponisten zu Vertonungen, darunter Strauss, Schönberg, Webern, von Einem und Eisler. Bleiben wir noch beim Abschied und nehmen die bereits zitierten Zeilen in der Fortsetzung wieder auf: „Es wehet kühl im Schatten meiner Fichten. / Ich stehe hier und harre meines Freundes. / Er kommt zu mir, der es mir versprach. Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite / die Schönheit dieses Abends zu genießen.“ Spätestens bei der nun folgenden Zeilen wird eine betont männlich-männliche Konnotation deutlich: „Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk / des Abschieds dar. Er fragte ihn, wohin er führe / und auch, warum es müsse sein. / Er sprach, seine Stimme war umflort. Du, mein Freund / mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold.“ Mir drängt sich der Eindruck auf, als lasse Bethke den Topos der idealisierten Männerfreundschaft aus der Romantik noch einmal aufleuchten.
Die Uraufführung des Werkes fand am 20. November 1911 – ein halbes Jahr nach dem Tod des Komponisten – in München statt. Bruno Walter dirigierte das Konzertvereinsorchester, aus dem später die Münchner Philharmoniker hervorgingen. Gustav Mahler selbst hatte mit diesem Klangkörper, der sich zunächst nach seinem Gründer, dem Pianofabrikantensohn und Konzertveranstalter Franz Kaim (1856-1935) nannte, seine vierte und seine achte Sinfonie aus der Taufe gehoben. Der Dirigent stand Mahler sehr nahe. Er war sein künstlerischer Testamentsvollstrecker. Mit Walters Namen sind maßstäbliche Darbietungen und Platteneinspielungen verbunden, die als authentisch gelten können. Als Solisten wirkten bei der Uraufführung die aus den USA stammende Altistin Sarah Charles Cahier (1870-1951) und ihr Landsmann, der Tenor William Miller (1880-1925), mit. Beide hatten noch unter Mahlers Leitung an der Wiener Hofoper gesungen – die Cahier als Carmen, Ortrud, Erda, Brangäne, Sesto und Adriano; Miller vornehmlich in Heldentenorpartie. Beider Deutsch war vortrefflich. Während von der Altistin sogar zwei Mahler-Aufnahmen, nämlich Urlicht aus der 2. Sinfonie und das Rückert-Lied “Ich atmet‘ einen Linden Duft“ überliefert sind, fanden sich von Miller bisher keine Tondokumente. Sarah Charles Cahier singt stilistisch perfekt und mit starker innerer Erregung wie sie sich später so ähnlich bei Kathleen Ferrier finden sollte. Nach dem Gründer des Orchesters Franz Kaim war in München auch die Stätte der Uraufführung in der Maxvorstadt benannt. Später hieß dieser große Konzertsaal im prachtvollen Louis-Seize-Stil, der 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, Tonhalle. Vor diesem historischen Hintergrund ist es ein schöner Zufall, dass die neue Einspielung von Sony 2020 Studio II des Bayerischen Rundfunks in München entstand. Rüdiger Winter