Archiv für den Monat: Dezember 2014

Heimweh

Tschaikowskys Sechste aus dem Jahr 1893 und die Sechste von Dmitri Schostakowitsch sind dem lettischen Dirigenten Mariss Jansons seit seiner Lehrzeit bei Jewgeni Mrawinski, der mehrere Sinfonien seines Freundes Schostakowitsch uraufführte, und 1939 eben auch die Sechste, bestens vertraut; Mrawinkis Tschaikowsky-Aufnahmen sind nicht minder legendär. Mariss Jansons präsentiert uns sozusagen einen Schostakowitsch aus erster Hand, malt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks den Widerhall der Kriegsgräuel und die bittere Ironie der Musik mit gespenstischen Farben aus. Bald nachdem Jansons als Nachfolger Lorin Maazel in München angetreten war, hatte er mit seinem neuen Orchester Tschaikowskys Pathétique interpretiert.

tschaikowsky pathetique jansons brIm Juni 2013 setzte er die rätselhafte „musikalische Lebensbeichte“ abermals auf das Programm, schöpfte die schwermütigen Farben aus, ohne sich bei aller virtuosen Orchestermacht dem Gefühlsüberschwang auszuliefern. Die beiden in München – im Herkulessaal und im Gasteig – aufgenommenen Sechsten sind ein Ergebnis von Jansons lebenslanger, doch stets penibel neu erarbeiteten Verbundenheit mit dieser Musik (BR Klassik 9001235).

Verdi und Strauss komponierten beide jeweils nur ein Streichquartett, eng verwandt durch die zeitliche Nähe und die Bewunderung für entsprechende Vorbilder bei Haydn und Beethoven. Bei Verdis e-Moll-Quartett von 1873 handelt es sich um ein Spätwerk zwischen Aida und Otello, bei Strauss um ein 1860 entstandenes Frühwerk des 16jährigen Gymnasiasten. Das in New York beheimatete Quartett, benannt nach dem Kreis-Symbol aus der japanschen Kalligraphie, hat die beiden Stücke, wobei der Strauss in seiner spätromantisch blühenden Anlage besser erfasst ist als der Verdi (das Amadeus-Quartett hatte das Werk einst sehr gut gespielt und reizvoll mit Tschaikowsky und Smetana), um Puccinis Crisantemi und drei gefällige Minuten-Minuette ergänzt (Naxos 8.573108).

dvorak decca weilersteinIm wunderschönen Rudolfinum in Prag nahm die Amerikanerin Alisa Weilerstein im Juni 2013 Dvořáks zweites Cellokonzert auf, welches er während seines Amerika-Aufenthaltes Ende 1894 und Anfang 1895 geschrieben hatte (Decca 478 5705). Die 1982 geborene Alisa Weilerstein, die – hochprominent von Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin begleitet – ihr Decca-Debüt mit dem eng mit Barenboims verstorbener Ehefrau Jacqueline du Pré assoziierten Cellokonzert Edgars sowie Carters Cellokonzerte gegeben hat (478 2735), ist in dem zentralen Werk ihres Repertoires eine technische brillante und selbstbewusste, dabei manchmal zu überbordend sentimentale Interpretin mit schwerem Ton. Virtuos lässt sie bei Dvořák ihr Cello zwischen schwerblütigem Heimweh und böhmisch musikantischer Leichtigkeit changieren, glänzend begleitet von Czech Philharmonic Orchestra unter Jiri Bělohlávek, der gekonnt gegen Weilersteins Gefühlsfluss steuert. Den zweiten Teil der CD bilden einige kleinere Kompositionen, darunter aus den Zigeunerliedern und Slawischen Tänzen, die Weilerstein zusammen mit der Pianistin Anna Polonsky in New York eingespielt hat.

R.F.

Vielseitig und strahlend: Adolf Dallapozza

 

Adolf Dallapozza: Alle Wege der Musik führen nach Wien. Und viele Wege der Oper führen aus Wien in die musikalische Welt. Zur Gesangskunst insbesondere, die ihre Quellen unbestreitbar in Italien hat, doch ohne den Präsenzplatz Wien seit mehr als zwei Jahrhunderten kaum vorstellbar wäre – auch weil epo­chale Gesangskünstler/innen in großer Zahl ungeachtet ihrer Herkunfts­bindungen historisch mit Wien verbunden blieben. Um nur auf Tenöre zu schauen, erinnern wir exemplarisch: die Deutschen Winkelmann, Schu­bert, Völker, Lorenz, die Böhmen Walter und Slezak, die Dänen Schmedes und Rosvaenge, die Österreicher Patzak und Friedrich, den Norweger Oestvig, den Briten Piccaver, den Rumänen Grosavescu, den Polen Kiepura, den Ungarn Pataky, den Bulgaren Mazarov, den Slowenen Dermota.

Adolf Dallapozza: Rodolfo mit Helen Donath/Mimì/Fernsehfilm

Adolf Dallapozza: Rodolfo mit Helen Donath/Mimì/ZDF-Fernsehfilm/youtube

Ein solcher Überblick wird dominiert von den Stimmfächern lirico spinto und drammatico, also Jugendlicher und Heldentenor. Nur wenige Wiener Jahrhundert-Tenöre gehörten dem reinen, unverfälschten Lirico-Fach an. Selbst die beiden Wiener Lyriker mit der glanzvollsten Position in Wien nach dem zweiten Weltkrieg – Anton Dermota und Waldemar Kmentt – vermochten nach ihrer Etablierung auf dem Parnass behutsam, doch fol­genreich Wege in dramatischere Wirkungsfelder zu beschreiten.

Die reinen Lyriker hingegen, auch nach Kriegsende in großer Zahl vorhan­den und durchwegs von gutem Niveau, sprengten nur selten den weltstadt­regionalen Rahmen, stiegen kaum in die erste Reihe deutschsprachiger Tenorstars auf: Hugo Meyer-Welfing, Willy Friedrich, Wenko Wenkoff, Peter Baxevanos, Hans Decker, Max Lichtegg, Rudolf Christ oder der zu Medienwirkung gekommene Karl Terkal. Die meisten gelten im Rückblick trotz vieler Auftritte am Wiener „ersten“ Haus, der weltweit renom­mierten Staatsoper, auch (und fallweise vorrangig) als Haustenöre der Wiener Volksoper, deren Bedarf an primär lyrischen Stimmen sich schon aus ihrem Kernrepertoire ergab.

Adolf Dallapozza als Zigeunerbaron/Fernsehfilm/HafG

Adolf Dallapozza als Zigeunerbaron/Fernsehfilm/HafG

Was danach kam, lässt sich, soweit eine „erste Reihe“ zur Rede steht, auf die Weltrang-Tenöre Dermota und Kmentt beschränken – der eine von fremdartigem melancholisch-exotischem Wohllaut, der andere mit edlem Timbre und strahlendem do di petto, der eine bis zu Florestan und Palestrina, der andere zu Pedro und Stolzing schreitend. Was sich sonst im Fach der lirichi in Wien einfand, zählte von Simoneau bis Wunderlich natürlich zur Europa- und Weltspitze, war aber nicht dauer­fest in Wien, sondern kam meist als Abendgast.

Ein Debüt mit Langzeitwirkung: Umso bemerkenswerter, ja erstaunlicher, mag deshalb 1962 das Wiener Debüt eines jungen Tenors registriert worden sein, der genau dem Ideal des Stimmfachs entsprach, um das es hier geht: „Lyrischer Tenor“, auch tenore leggero und di grazia, in Kloibers Typologie mehr optimistisch als realistisch „mit einer Tonspanne von C-D“ positioniert – und charakteri­siert als „weiche, bewegliche Stimme mit schönem Schmelz und großer Höhe“.

Adolf Dallapozza: "Zigeunerliebe"/Fernsehfilm

Adolf Dallapozza: „Zigeunerliebe“/Fernsehfilm/youtube

Mit der Höhe ist ein Optimum bezeichnet, das sich in der Praxis nicht häufig realisiert. Das C“ ist vielen, auch erstrangigen Fachvertretern al­lenfalls in Jugendjahren erreichbar; ein D“ beherrschen zuverlässig nur Ausnahmekönner. Dieser Tenor aber verfügte über solche Höhenregion mit geradezu organisch wirkender (wenngleich konzentriert trainierter) Selbstverständlichkeit, leicht, locker, schwingend, in beinahe lässig-spie­lerischer Grandezza. Schon damit setzte er Auftritt für Auftritt Standards, die in weitem europäischem Umgriff, so auch in einem Mekka der Oper wie Wien, Aufsehen machen mussten.

Dieser tenore lirico, Adolf Dallapozza, zeigte sich nicht nur als wahrhaft universeller Allessänger = Alleskönner, sondern auch als attraktiver Darsteller jugendlicher Mannsgestalten, mehr noch: über Stim­me und Gesangskunst hinaus als Verkörperung all der Attribute, mit de­nen man junge Liebhaber, Charmeure, Naturburschen und Kavaliere zu charakterisieren pflegt. Solch eine singende Bühnenerscheinung war und ist die Idealbesetzung fürs ganze Reich der Barock-, Mozart-, Romantik- und Spieloper, für die Protagonisti der Opera buffa und die Röles senti­mentales der Opéra comique, dann vor allem – wir sind in Wien – für ein universelles Operetten-Repertoire.

Adolf Dallapozza: "Zigeunerliebe" mit Janet Perry/Fernsehfilm

Adolf Dallapozza: „Zigeunerliebe“ mit Janet Perry/Fernsehfilm/youtube

Dallapozza, zunächst vielfach mit Comprimario-Aufgaben be­dacht (neben dem Erstfach-Sänger Jean Cox gab er noch 1964 etwa den Arminio in Verdis l Masnadieri, dokumentiert auf HAfG 30304) fand in all diesen Genres und Fächern Aufgaben fast ohne Grenzen. Seine spezifi­sche Einheit von jugendlicher Attraktivität, berückendem lirico-Timbre und fabelhafter Leichtigkeit der Tonbildung bis in die Stratosphären eines, wie das populär heißt: „C-Tenors“.

Die zentrale Erfolgszeit Dallapozzas liegt in der Phase vor der gegenwärtigen weltweiten Belcanto-Renaissance. Zu seinem Repertoire gehörten in einer Fülle von lirico-Partien jeden Genres, jeder Provenienz und Ausrichtung auch Partien des engeren Belcanto-Repertoires: des ro­mantischen dramma lirico und der opera buffa, von Rossini, Bellini, Donizetti, also jener Werke, die dem Tenor bei voller Ausdeutung der Partiturvorgaben eine Beherrschung des canto fiorito, der Kunst des ver­zierten Singens, abverlangen. Tenöre, die in dieser Disziplin zu glänzen vermögen, waren in den 1960-80er Jahren erst langsam wieder im Kom­men. Ihnen wird die Kategoriebezeichnung tenore di grazia zugeordnet. Sie stellen auch die Idealbesetzung der Tenorpartien in den Barockwerken (…).

Adolf Dallapozza: Wilhelm Meister in "Mignon" HafG

Adolf Dallapozza: Wilhelm Meister in „Mignon“ HafG

Diese künstlerischen Fertigkeiten standen bis in die 1980er Jahre nur einer kleinen Zahl mitteleuropäischer Tenöre zur Verfügung. Heute, da dieses anspruchsvolle Gesangsfach für ein wiederentdecktes Belcanto-Repertoire unverzichtbar geworden und reicher besetzt ist, erscheinen seine wenigen Repräsentanten in den Jahrzehnten zuvor fast als Raritäten, ihre Leistun­gen oftmals eher als Annäherungen – so etwa von Landi, Martini, Valletti, Monti, Alva, Bottazzo, Misciano et al.

Klassisches Instrument – lehrbuchhafte Technik: Adolf Dallapozza war die Wiener Version des tenore di grazia – und insofern ein Zeitgenosse und Nachfolger des bedeutenden Kollegen Kraus. Nur dass er diesen auch noch mit einem weiter gezogenen Rollenfundus, hin­über in andere lirico-Fächer, übertraf.

Adolf Dallapozza: Gasparone/HafG

Adolf Dallapozza: Gasparone/HafG

Seine Naturstimme konnte mit weichem Wohllaut prunken. Farbe und Klang entsprachen dem klassischen Maß des leggero– Ideals, näher bei Legenden des Golden Age wie Clement, Bonci, Giorgini. Übertragen auf Stil- und Sprachregeln deutscher Art, ist damit recht ge­nau das Hörbild eines Mozart-Tenors nach dem „Wiener Mozartstil“ erfasst: Mittleres Schallvolumen, idealer Umfang (exemplarisch nach Kloiber), fabelhaft-leichte Höhen bis auf´s D“ und E“, nahezu vollkommenes, souveränes passaggio, elegante Phrasierung, integrierte Dynamik selbst bei effektvollen Akzentsetzungen. Und vor allem perfekte Intonation, praktisch ohne Einschwingphasen; hierin ist der Wiener Tenor bedeutenden Vorgängern wie Ludwig, Anders, Schock überlegen, kommt Wunderlich gleich.

Adolf Dallapozza: Paganini/Fersehfilm

Adolf Dallapozza: Paganini/Fersehfilm

Ein Wiener „von draußen“: Adolf Dallapozza wurde am 14. März 1940 in Bozen/Südtirol geboren (da­her der Familienname), kam aber schon wenige Monate darauf nach Wien, wuchs dort auf, sozialisierte sich als das, was man einen echten Wiener nennt. Durch sein Elternhaus beeinflusst, suchte der Jüngling seinen Platz im kulturellen Metier. Er begann eine Einzelhandelsausbildung in einer Musikalienhandlung. Sein Traum war die Laufbahn eines Klavier­virtuosen. Seine Freizeit füllte er außerdem mit sängerischer Ausbildung, unter anderen bei der Wiener Gesangspädagogik-Koryphäe schlechthin:

Elisabeth Rado, die auch Sängerprominenz wie Waldemar Kmentt, Fritz Uhl, Werner Krenn, Eberhard Waechter, Kieth Engen zur Bühnenreife führte. Seine ersten Bühnenschritte machte der junge Tenor als Mitglied im Chor der Wiener Volksoper. Schließlich fand sich die Gelegen­heit zu einem Vorsingen vor dem Volksoperndirektor Franz Salmhofer. Der junge Tenor erhielt einen Elevenvertrag. Der führte ihn durch zahlreiche Klein- und Nebenaufgaben zu einem ersten schnellen Protagonisten-Debüt als Ernesto in Donizettis Don Pasquale. Womit auch die Karriere vorgezeichnet war: im Fach des tenore di grazia.

Adolf Dallapozza in "Il Turco in Italia"/HafG

Adolf Dallapozza in „Il Turco in Italia“/HafG

Zehn Jahre lang war Dallapozza dann der erste Tenor der Wiener Volksoper, neben Gaststars von Rang und Ruf ein Zentrum des gerade damals ins Stadium seiner „großen Jahre“ tretenden, nur nomi­nell zweiten Wiener Opernhauses. (…) Auf dieser von breiter Popularität getragenen Musikbühne reihte der neue Tenorstar nun Erfolg auf Erfolg. So als lirico autentico in allen Bereichen des Spielplans, mit Belcanto im Mittelpunkt, aber auch im deutschen, fran­zösischen, slawischen Repertoire und nicht zuletzt als Operetten-Bonvivant. Auf dem Feld des lirico serioso war er wiederum in allen Sparten präsent, von Monteverdi bis Britten und Einem, vom Barock über Belcanto zur Spätromantik und klassischen Moderne. Herausragend stehen in der Er­innerung seine bravourösen Auftritte als Chapelou in Adams Postillon von Lonjumeau, mit rasant attackiertem, ganz aus der Legatolinie entwickeltem D“, und sein famoser Tonio in Donizettis Regimentstochter, glanzvoll mit locker hingelegten C“-Stakkatofolgen. So etwas hatte man selbst in Wien kaum je zu hören bekommen. Entsprechend rasend war jeweils der Beifall und dauerhaft die Liebe des Wiener Publikums.

Adolf Dallapozza: "Madame Pompadour" mit Ingeborg hallstein/HafG

Adolf Dallapozza: „Madame Pompadour“ mit Ingeborg Hallstein/HafG

Perfektion mit Intensität und Flair: An seinem Stammhaus, der Volksoper, trug Dallapozza ein breites Repertoire. Was einen Groß­teil seiner Arbeit ausfüllte und seinen Stand in der Gesangshistorie wohl ungenau, ja unzureichend akzentuierte: Er war der führende Operetten­held in einem Genre, das den Spielplan des Hauses seit jeher großteilig bestimmt. Hier glänzte er in zahlreichen Produktionen, vor allem in den Werken der Goldenen Ära: Als konkurrenzlose Traumbesetzung des Vogelhändlers Adam aus Tirol und bei Offenbach, Strauß, Millöcker, Zeller, Zierer, Fall bis zu Lehär und Kálmán. In den Johann-Strauß-Dauerbrennern Die Fledermaus, Der Zigeunerbaron oder Wiener Blut sammelte er Erfol­ge ohne Ende, in der Fledermaus souverän zwischen beiden Tenorpartien wechselnd. Als Operettensänger erreichte er auch seine größten Medien­erfolge.

Adolf Dallapozza: Eisenstein in der Wiener Volksopern-Produktion/Wiener Volksoper

Adolf Dallapozza: Eisenstein in der Wiener Volksopern-Produktion/Wiener Volksoper

Als Mitglied des Volksopern-Ensembles, doch auch als Solo-Gast, entfal­tete der Tenor seit Beginn der 1970er dazu eine internationale Karriere, mit Auftritten an den Staatsopern München und Hamburg, an der Mai­länder Scala, der New York City Opera, in Buenos Aires und Mexico City, in Tokio, Berlin, Zürich, Brüssel, Basel, Bologna, Köln, bei den Kornneuburger, Bregenzer und Mörbischer Festspielen – und natürlich an der Wiener Staatsoper, wo er 1973 sein zweites Wiener Fest­engagement antrat. Dort ist er mit klassischem und romantischem Re­pertoire aufgelistet: als Mozarts Belmonte, Ferrando, Idamante, Beetho­vens Jaquino, Rossinis Almaviva, Verdis Cassio, Wagners Steuermann, dazu als Richard Strauss‘ Narraboth, Matteo und die Tenorsänger in Der Rosenkavalier und Capriccio, weiter in Werken von Puccini, Leoncavallo, Smetana. An der Volksoper glänzte er auch als Händels Giustino, Donizettis Nemorino, Offenbachs Hoffmann, Puccinis Rodolfo, Thomas‘ Wilhelm Meister, Massenets Werther. Als besonders wertvoll können nun die bisher nahezu unbekannten Mitschnitte aus Produktionen von Kienzls, Bittners und Sutermeisters gelten, die den Tenor auch als spinto– und Charaktersänger von Wohllaut dokumentieren.

Adolf Dallapozza: als Orfeo mit Antonia Fahberg/HafG

Adolf Dallapozza: als Orfeo mit Antonia Fahberg/HafG

Ein „notorischer Zweiter“? Damit ist Dallapozzas Medienkarriere angesprochen. Er zählt zu den meistaufgenommenen, meistgesendeten, meistpräsentierten Tenören des letzten Jahrhundertdrittels im deutschen Sprachraum – wozu seine attraktive Erscheinung nicht wenig beitrug. Ein langlebiger Schallplatten­vertrag mit EMI brachte zahlreiche schöne Rollenportraits, zumeist in Werken der Klassik und der Spieloper, dazu eine Flut von Operetten­Interpretationen in Gesamtaufnahmen, Querschnitten, Sammlungen, Recitals. In Radioarchiven, vor allem beim BR München und ORF Wien, häufen sich die Tondokumente von Auftritten aller Art, nicht zuletzt in Funkkonzerten. Auch im Fernsehen war er vielfältig präsent.

Adolf Dallapozza/"Albert Herring"/Hafg

Adolf Dallapozza/“Albert Herring“/Hafg

Trotz dieser Fülle wird die per Medien greifbare Hinterlassen­schaft der Leistung und Bedeutung des Sängers nur teilweise ge­recht. Er ist dem großen Publikum fast ausschließlich als Operetten­sänger im Bewusstsein – ein Großteil seiner Glanzpartien auf der Opernbühne wurde nie eingespielt oder in Mitschnitten veröffentlicht. Bei EMI hinterließ er Kabinettstücke, wahre Glanzleistungen in „zweiten Rollen“, so als Baron Lummer im Intermezzo und als Matteo in Arabella – einen grandioseren Interpreten beider Richard-Strauss-Partien gibt es, trotz Dermota, kaum im Aufnahmenkatalog. In der Gesamtaufnahme von Mozarts Idomeneo unter Hans Schmidt-Isserstedt war er ein wundervol­ler Idamante neben bzw. hinter Nicolai Gedda, in Willi Boskovskys Fledermaus-Aufnahme war es wieder so: Gedda war Eisenstein, Dallapozza Alfred. Immer, wenn es an die ganz wichtigen, die dominanten, die stargemäßen Partien ging, stand dem Wiener ein Weltstar im Wege, meist Gedda, dann Wunderlich; sogar bei weitem nicht so glanzvolle Peter Schreier wurde ihm vorgezogen. So blieb es bislang bei einer Einordnung als gern gehörter Operettenstar, die fast einer Abstempelung gleichkommt.

Adolf dallapozza: mit Biograf und Fan Thorsten Schneider/Foto TS

Adolf Dallapozza: mit Biograf und Fan Thorsten Schneider/Foto TS

Representante e Benveluto: Der unvermindert vitale, neugierig-aktive Kammersänger beging 2008 auf der Bühne der Wiener Volksoper als Eisenstein sein 50jähriges Bühnenjubiläum – in herausfordernder Frische und bezwingender Jugendlichkeit, mit unverminderter Stimmpracht und intaktem sängerischem  Können. Ein Vielgeliebter, der durch Leistung und Persönlich­keit zum Repräsentanten wurde. Er widmet sich nun der Formung jun­ger Gesangstalente, nimmt wach und engagiert am Wiener Kulturleben teil – ein Wunder nicht nur begeisternden Künstlertums, sondern an anhaltender Jugendfrische.

Klaus Ulrich Spiegel

Den vorstehenden Text entnahmen wir der Beilage zu den drei CD-Boxen mit zum Teil sehr seltenen Dokumenten Adolf Dallapozzas beim Hamburger Archiv für Gesangskunst: Ausgabe 1 (4 CDs 10514) enthält Opernarien von Händel, Mozart, Beethoven, Weber, Schubert, Nicolai, Adam, Thomas, Offenbach, Rossini, Verdi (Masnadieri!), Donizetti, Puccini, Giordano (Fedora), Leoncavallo, Kienzl (Auszug aus dem auch als Ganzes erhaltenen Kuhreigen des ORF), Strauss, Bittner (Der Musikant), Sutermeister (Romeo und Julia);   Ausgabe 2 (3 CDs 10515) Operetten von Offenbach, Suppé, Zeller, Fall, Künnecke, Charles Kálman und anderen; Ausgabe 3 (3 CDs 10516) erneut Operetten von Léhar, Emmerich Kálman und Robert Stolz in großzügigen Ausschnitten. (Textredaktion G. H.) Die Fotos von der Wiener Volksoper übernahmen wir mit freundlicher Genehmigung und Dank.

Foto oben: Adolf Dallapozza als Eisenstein in der Produktion der Fledermaus an der Wiener Volksoper/WVO/Dank an Eva Wopmann

www.vocal-classics.com / KUS@ku-spiegel.de

Adolf Dallapozza in "Zigeunerliebe"/Arthaus

Adolf Dallapozza in „Zigeunerliebe“/Arthaus

 

Liebe am Gemüsestand

Hat je jemand drüber nachgedacht, was aus Rodolfo wird, wenn Mimì gestorben ist? Um die Wahrheit zu sagen – ich nicht. Zumindest nicht bis ich plötzlich wieder auf Rodolfo stieß. In einer Operette namens Ciboulette aus dem Jahr 1923 von Reynaldo Hahn.

hahn ciboulette fra opera-comiqueDer ehemalige Puccini-Held hat inzwischen auf dem DVD-Mitschnitt aus der Opéra-Comique bei fraMusica von 2013 der Liebe und der Dichtkunst  abgeschworen, einen Job als Beamter und den Namen Duparquet angenommen und kontrolliert nun den Verkehr in den legendären Gemüsehallen von Paris (die es damals ja noch gab). Wie eine gute Fee hilft er den Händlern die Liebe ihrer Leben zu finden – so  zumindest in einem Falle. Er spielt den Kuppler zwischen einem jungen Bauernmädchen namens Ciboulette und Antonin, einem jungen, blasierten Aristokraten…..

Reynaldo Hahn: "Ciboulette"/Szene/ Paris 2013 Trailer Oéera-Comique

Reynaldo Hahn: „Ciboulette“/Szene/ Paris 2013 Trailer Opéra-Comique

… schreibt unsere Amsterdamer Freundin und Journalistin  Basia Jaworski im Folgenden in Englisch weiter, wobei Kollege  Kevin Clarke vom Operetta Research Center ORCA liebenswürdiger Weise die Übersetzung aus dem Holländischen gemacht und uns die Übernahme des dort erschienenen Artikels gestattet hat).

Reynaldo Hahn: "Ciboulette"/Szene/ Paris 2013 Trailer Oéera-Comique

Reynaldo Hahn: „Ciboulette“/Szene/ Paris 2013 Trailer Opéra-Comique

The first act is all black-and-white (plus a bit of grey) and looks like it comes straight from the early years of cinema. Only when Cibolette enters does the scene become more colorful. In every sense of the word. This makes for a stunning effect. It’s as if a grey veil is lifted and you see a magical world previously hidden. Jean-François Lapointe is an irresistable Duparquet. He effortlessly switches from his mad-cap dialogue scenes and a cheerful duet with Ciboulette (the infectuous “Nous avons fait un beau voyage”) to the touching “C’est tout ce qui me reste d’elle” where he remembers Mimi. I am not sure if I misheard, but it seems like there are some faint echos of Puccini in the background. Tenor Julien Behr, as rich and spoiled Antonin de Mourmelon, does not really have a pretty voice, and he’s also somewhat stiff on stage, but that fits the role rather well. Eva Ganizate is a wonderful grisette called Zénobie who dumps Antonin for a dashing huzzar (in a very dashing uniform), and Bernadette Lafont delivers the part of Madame Pingret with an extra dose of humor.

Reynaldo Hahn: "Ciboulette"/Szene/ Paris 2013 Trailer Opéra-Comique

Reynaldo Hahn: „Ciboulette“/Szene/ Paris 2013 Trailer Opéra-Comique

The title role is sung by the young French soprano Julie Fuchs. She has a fresh, almost spring-like voice, portraying a girl who doesn’t yet know what she wants – until she walks right into it. Or him rather. In the end, she gets one of catchiest tunes from the score, that will burn itself deep into your memory. That the audiences  loves Miss Fuchs, too, is clear from the final round of applause. If you are suffering from a “winter blues,” feeling stressed out because of the holiday season or have just been left by a lover: get this DVD and let yourself be transported. It’s a real treat and vintage operetta (Production FRAmusica et Opéra Comique DVD FRA 009, BD FRA 509).

Basia Jaworski

Foto oben: Eva Ganizate als Zénobie im Ausschnitt aus der Ciboulette-Produktion der Opéra-Comique im Trailer auf der website des Opernhauses

Düstere Ausblicke

Glückverheißend klingt mit der Titel Erwarten Sie Wunder! von Kent Naganos in Zusammenarbeit mit Inge Kloepfer im Berlin Verlag verfasstem Buch, Unheilschwangeres dagegen ist in ihm zu lesen, wenn der Verfasser immer wieder auf die drohende Gefahr verweist, die Klassik, sei es Konzert oder Oper, werde in absehbarer Zeit aus dem Leben der Menschen verschwinden, da immer geringer werdende Subventionen (Deutschland) oder Spenden (USA) ihr die finanzielle Grundlage zunehmend entziehen würden. Der Text bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen ungeheurem Enthusiasmus gegenüber der Musik der Vergangenheit, aber auch der sogenannten „modernen“ und einem abgrundtiefen Pessimismus, da nicht nur die Gelder schwinden, sondern auch das Publikum, das immer älter wird und dem keine jungen Besucher nachwachsen.

Das Buch gliedert sich in einen Prolog und sechs Kapitel, jedes mit einem das Hauptthema verratenden Titel und dazu nähere n Ausführungen über Schwerpunkte. Eine Art Komponistenportrait der Musiker, die eine besondere Rolle in der Karriere von Nagano gespielt haben, schließt sich den einzelnen Kapiteln an. Jedem von ihnen ist außerdem das Zitat einer Persönlichkeit vorangestellt, das mit dem jeweiligen Thema zu tun hat. Als Anhang gibt es lediglich ein Verzeichnis der Literatur, aus der zitiert wurde, kein Sach- oder Personenregister. Als Verlust für den Einzelnen wie für die gesamte Menschheit bezeichnet der Verfasser den drohenden Verzicht auf ein Leben mit klassischer Musik. Im ersten Kapitel berichtet er davon, wie er selbst mit ihr in einem kleinen Fischerdorf an der Westküste namens Morro Bay  durch den Glücksfall eines dorthin verschlagenen georgischen Musikers im Kreis der Dorfjugend sich für die Klassik begeisterte. Von ihm entwirft der Dirigent ein ebenso plastisches wie liebevolles Portrait. Er bekennt sich zur „sanften Gewalt“, mit der man Kinder zum Erlernen eines Instruments veranlassen müsse, auch er brauchte sie anscheinend, um das Klavierspiel zu erlernen. Kinder müssten jeden Tag mit Musik konfrontiert werden, und Anstrengung wie Handwerk gehörten zum Erreichen von Zielen. Wichtig ist dabei als Anleitung eine charismatische Persönlichkeit, wie sie sein Lehrer offensichtlich  in hohem Maße war. Nagano berichtet von dem Doppelstudium von Soziologie und Musik, meint, dass ein Autodidakt in der Musik nicht weit komme und spricht der Musik einen hohen Wert für das friedliche Zusammenleben von Menschen zu. Dabei wird Biographisches immer wieder zum Anlass für allgemeine Betrachtungen.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Beinahe-Scheitern des berühmten Orchesters von Philadelphia  durch finanzielle Probleme, wie sie vor allem die nicht subventionierten Kulturinstitutionen bedrohen, während in Oakland bereits das Orchestersterben Wirklichkeit wurde. Da Musik in den USA „nice-to-have“ sei, aber nicht lebensnotwendig, da die Zinsen der Stiftungen auf einem besonders tiefen Niveau sind, drohe hier, aber auch in Italien und in abgeschwächter Form überall eine „Auflösung des kulturellen Konsens“. Allerdings hat Nagano auch die freudige Feststellung treffen können, dass es immer mehr Festivals mit klassischer Musik gibt. In Europa sieht er es als symptomatisch an, dass in den Pisa-Tests keine Kompetenz in den Künsten geprüft werde, und er beklagt sich über den fehlenden oder schlechten Musikunterricht an den Schulen. Im dritten Kapitel geht es unter anderem um die Frage, ob Hochkultur trivialisiert wird, wenn sie allen zugänglich gemacht wird, welchen Standpunkt Nagano strikt ablehnt, im Gegenteil gerade jetzt auch eine Chance für die Klassik in den USA sieht. Er fragt sich, wie Musik ihre Kraft entfaltet und was sie bewirken kann, geht dabei weit zurück bis zu den Meinungen der alten Griechen zu diesem Thema. Mancher Leser wird ihm in seinem Enthusiasmus für die vermeintliche Kraft der Musik nicht folgen können.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen das Wirken von Nagano in Montreal, die Èclatè-Jugendkonzerte, die Kombination von Strauss‘ Ein Heldenleben mit einer Eishockey-Musik Les Glorieux für noch zu gewinnende Zuschauer. Entsprechend gab es mit dem DSO eine Kombination von Brahms und Rihm, während er in München (der Stadt der Uraufführungen) fünf Kompositionsaufträge vergab. Im Zentrum des fünften Kapitels steht ein Gespräch mit einem Psychologen über die Wirkung von Musik auf den Menschen. Es geht um die Frage, warum uns Musik in Moll besonders berührt, dass unser Gehirn auf atonale Musik nicht programmiert ist und wir sie darum tunlichst meiden. Eine besondere Bedeutung misst Nagano dem Tritonus zu als „Diabolus in Musica“. Das sechste und damit letzte Kapitel nennt sich „Die offene Frage“ und bringt Gespräche mit Helmut Schmidt und Kardinal Marx, was die deutsche Seite betrifft. Opernfreunden wird nicht gefallen, was Schmidt über die Oper denkt, dass er den Ring als voll von üblem Nationalismus sieht, ist schlichter Blödsinn. Die den einzelnen Kapiteln angehängten Komponistenportraits, die sich wie das gesamte Buch trotz seines hohen Anspruchs gut lesen lassen, befassen sich mit Bach ( Enzyklopädie musikalischen Wissens), Beethoven (Assoziationen beim Hören der 8. Sinfonie), Schönberg (revolutionär in der Harmonik, konservativ in der äußeren Form), Bruckner (im Zentrum die7. Sinfonie, das Vorbild Wand bei der Interpretation), Messiaen (durch ihn Zugang zu Europa) und Yves und Bernstein (rustikale und urbane typisch amerikanische Musik).

Sieht man die vollen Konzert- und Opernhäuser, dann mag man die düsteren Prophezeiungen für übertrieben halten, einwenden, dass klassische Musik immer eine Sache des Bildungsbürgertums war, dass auch junge Leute besonders in den Konzertsälen anzutreffen sind oder mit dem Reifwerden von der Pop- zur klassischen Musik wechseln, aber unleugbar gibt es Kürzungen, Orchesterzusammenlegungen und ähnliche bedrohliche Erscheinungen, in Deutschland weniger schlimm als anderswo, und ein Alarmschlagen sollte deshalb zu Nachdenklichkeit und einem „Wehret den Anfängen“ führen (320 Seiten, Berlin Verlag ISBN 978 3 8270 1233 3).

Ingrid Wanja

Virtuose Gipfelstürmer

Hört man diese glorios gesungene Neuaufnahme von Hasses Dramma per musica Siroe re di Persia, empfindet man sie als einen Endpunkt der barocken opera seria im Übergang zur Vorklassik und als Gipfel der sängerischen Bravour. Kaum noch zu steigern scheint hier die Virtuosität hinsichtlich ihrer spektakulären und auf die Starsänger ausgerichteten Effekte und deshalb nicht verwunderlich, dass es mit Gluck einen Reformator dieses Stils geben musste. Aber eine Orgie für die Ohren ist Hasses Musik zweifellos – wenn sie von solchen Sängern interpretiert wird wie auf der Decca-Einspielung, die 2014 in der Parnassos Hall von Athen entstand. Der Counter Max Emanuel Cencic stellt seit einigen Jahren spannende Projekte bei seinen Parnassus Arts Productions vor (so 2012 Händels Alessandro) und singt in Siroe auch die Titelrolle – den erstgeborenen Sohn des persischen Königs Cosroe, den Juan Sancho mit heroischem Barocktenor gibt. Schon in seiner Auftrittsarie, „Se il mio paterno amore“, zeigt er sich eloquent und virulent in der Attacke. Gelegentlich gibt es bei exponierten Tönen einen verspannt-forcierten Klang. Im sanft wiegenden „Gelido in ogni veno“ des 3. Aktes kommt die Stimme schön zur Geltung. Cencic  spricht in der Einführung im Booklet der Hasse-Oper als von einem Märchen aus 1001 Nacht, in welchem das Gute über das Böse siegt, was er als interessante Parallele zu Schikaneders Zauberflöte sieht. Sein Titelheld lässt schon  in der ersten Arie, „La sorte mia tiranna“, eine perfekt ausgewogene Stimme hören – so schmeichelnd im Klang wie aufgewühlt in den Emotionen. „Mi credi infedele“ im 2. Akt ist ein munteres Stück, das er mit geläufiger Stimme tänzelt, ähnlich dem „Fra dubbi affetti miei“, in welchem er seinen Counter weich und kosend führt. Im 3. Akt hört man von ihm eine Einlage – das recitativo accompagnato „Son stanco“ aus Händels Siroe und die Arie „Vo disperato a morte“ aus Hasses Tito Vespasiano, wo Cencic ein großes Spektrum an Emotionen ausbreitet – aufbegehrend, schmerzlich, aufgewühlt, verzweifelt. Die folgende Arie „Se l’amor tuo mi rendi“ ist dagegen hoffnungsvoll beschwingt und bietet dem Sänger Gelegenheit, noch einmal seine hohe Gesangskunst zu demonstrieren.

Siroe liebt Emira, Prinzessin von Kambajen, die in Männerkleidern unter dem Namen Idaspe auftritt. Mary-Ellen Nesi singt sie mit reizvoll herbem Mezzo von kokettem Ausdruck und flexibler Stimmführung. „Sgombra dall’anima“ im 2. Akt überzeugt durch den reschen Ansatz, „Che furia“ im 3. durch die vehemente Interpretation mit erregten Ausbrüchen.

Zweitgeborener Sohn des Cosroe ist Medarse, den Franco Fagioli in sensationeller Manier gibt. Der hochpersönliche, sinnlich vibrierende Altus scheint derzeit auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten. Mit „Fra l’orror della tempesta“, wo der Sturm ein Gleichnis für seelischen Aufruhr bedeutet, beendet er den 1. Akt mit einem Aufruhr von Gefühlen – fulminant in den rasanten Koloraturketten, stupend in der Ausreizung der stimmlichen Skala von baritonaler Tiefe bis zur Sopranhöhe. Auch „Tu decidi del mio fato“ im 2. Akt  ist überwältigend in der Schönheit der kantabel wiegenden Stimme, des sich reich verströmenden Gefühls und der schier endlosen Schleifen und Triller. Ihm fällt auch das letzte Solo der Oper zu – „Torrente cresciuto per torbido piena“ mit stürmisch-vitalem Charakter und noch einmal artistischem Höhenflug.

Ein Freund Siroes ist Arasse, General der persischen Armee, den die Amerikanerin Lauren Snouffler mit kultiviert-lieblichem, sehr beweglichem Sopran gibt, der in der Süße und Zärtlichkeit zuweilen von dem Julia Lezhnevas kaum zu unterschieden ist. Die Russin singt die Laodice, Cosroes Geliebte, doch Siroe zugetan, und erbringt in dieser Partie ihrer bisher stärkste Leistung auf Platte. Der Sopran besticht sogleich im Auftritt, der Arie „O placido il mare“, welche die Bilder von Meer und Sturm nutzt, mit Koloraturgirlanden von unglaublicher Geläufigkeit und halsbrecherischem Tempo sowie virtuos getupften staccati. In ihrer ersten Arie des 2. Aktes, „Mi lagnerò tacendo“, betört sie mit noblem Ton und feinen portamenti. „Se il caro figlio“ zu Beginn des 3. Aktes ist ein Showstopper, in welchem sie geradezu auf den Noten tanzt, trillert und jubiliert. Und um diesen virtuosen Exzess noch zu krönen, gibt es für sie vor dem Schlusschor noch eine spektakuläre Einlagearie aus Grauns Britannico, die in ihrer bravourösen Bewältigung eine mirakulöse Dimension annimmt.

Wie schon bei Alessandro steht erneut George Petrou am Pult der Armonia Atenea und sorgt von der Sinfonia an für ein betont straffes und lebendiges Musizieren, das aber auch die lyrisch-kontemplativen Momente in kantabel ausschwingendem Klang berücksichtigt. Die Aufnahme, reich ausgestattet mit zwei Booklets (Text und Einführung), ist nichts weniger als eine Sensation und sei jedem Barockfreund dringend empfohlen.

Bernd Hoppe

Johann Adolf Hasse: Siroe re di Persia (Cencic, Lezhneva, Fagioli, Nesi, Sancho, Snouffer; Armonia Atenea, George Petrou)  2 CD Decca 478 6768,

 

Kleibers Mahler

Nur einer der Berichterstatter glaubte in ihm „einen neuen Mahler-Dirigenten – es gibt ihrer zu gegenwärtig zu wenige“ – gefunden zu haben. Ansonsten waren die Reaktionen auf das mit Hoffnungen verbundene Wien-Debüt von Erich Kleibers Sohn zurückhalten, wenn nicht gar ausgesprochen negativ (sogar ein „Mangel an Musikalität“ wurde ihm attestiert). Carlos Kleiber war bereits 37 Jahre, als er 1967 im Rahmen eines Mahler-Zyklus‘ bei dem Wiener Festwochen – an dem auch Abbado, Maderna, Prêtre, Sawallisch und Swarowsky mitwirkten – von den Wiener Symphonikern als Einspringer für Josef Krips eingeladen wurde, Das Lied von der Erde zu dirigieren. Der zuvor auf anderen Quellen zugängliche (etwa Nuova Era) von den Wiener Symphonikern jetzt veröffentlichte Mitschnitt vom 7. Juni 1967 mit Christa Ludwig und Waldemar Kmentt als Solisten wäre vermutlich nicht so bemerkenswert, wäre die Aufnahme, an deren klanglichen Qualitäten man sich erst gewöhnen muss, nichtdas Zeugnis von Carlos Kleibers einziger Beschäftigung mit Gustav Mahler (WS 007). Es handelte sich um die 50. Aufführung des Werkes bei den Wiener Symphonikern seit seiner ersten Aufführung 1912 unter Bruno Walter, dem sich in der Folge bemerkenswerte Dirigenten wie u.a. Alexander von Zemlinsky, Schalk, Krauss, Knappertsbusch, nach dem Krieg Krips, Klemperer, Steinberg, Gielen und Mehta anschlossen. Das informative Beiheft, das die Umstände und Reaktionen um das Konzert auffächert, weist darauf hin, dass Kleiber sich damals mit den kurzen Proben zufrieden geben musste. Ausführlich schildert Alexander Werner in seiner umfangreichst recherchierten Carlos Kleiber-Biografie das Konzert, wozu er u. a. Waldemar Kmentt befragte,Es war ein wunderschönes Konzert mit viel Tiefe. Carlos behandelte mich besonders freundlich. Das überraschte mich ein wenig, da er ja als schwierig galt. Er gratulierte mir, während er sich über Frau Ludwig beklagte, da sie er zu abgehoben fand“.  Ludwig erinnert sich: „Es gab nur ein einziges Problem bei der Schlussapotheose Die liebe Erde überallEwig,,, Ewig,,, Er wollte es piano. Das steht auch in der Partitur. Ich sang es immer fortissimo. Man sang es immer laut, er wollte es leise. Mit Recht, aber piano fiel es nicht so auf und dann gab es schlechtere Kritiken. Ich habe mit allen möglichen Dirigenten gesungen und sonst immer gesagt, was ich haben will. Das tat ich auch bei ihm“. 

Die Harmonie zwischen Kleiber und dem Tenor ist auch aus der Aufnahme herauszuhören, überhaupt gibt der oftmals unterschätzte Kmentt (*1929) hier eine bemerkenswerte Interpretation, leitet die Hysterie in Das Trinklied vom Jammer der Erde in vorsichtig dramatische Bahnen und ist ausgezeichnet in Von der Jugend. Ludwig (*1928), Ludwig beeindruckt durch die farbenreichen und weiten Bögen, die gute Atemkontrolle und den noblen Ernst ihres Gesangs. Kleibers Wiedergabe ist sehr genau, bei relativ raschen Tempi und einer Aufführungsdauer von unter einer Stunde, ähnlich wie Jochum und Boulez, nur Klemperer ist beispielsweise rascher, während Bernstein, Haitink, Levine, Sinopoli mehr Zeit benötigen.

Rolf Fath

Heinz Wagner

 

Am 1. September 2014 starb Heinz Wagner, der Autor des unsersetzlichen Großen Handbuches der Oper (im Florian Noetzel Verlag) infolge eines unglücklichen Sturzes. Opernliebhaber sind ihm zu großem Dank verpflichtet, denn sein inzwischen in die 5. Auflage gegangenes Kompendium ist zu einem Haushaltswort geworden und steht in den Regalen der meisten Melomanen. Es kann ohne Übertreibung als die „Bibel“ der Opernleidenschaft bezeichnet werden.

wagner handbuch der oper noetzelMit Angaben von 3000 Opernwerken aus Vergangenheit und Gegenwart setzt die nunmehr stark erweiterte und bis in die jüngste Gegenwart aktualisierte Neuausgabe des Großen Handbuchs der Oper in Hinblick auf Vollständigkeit und Zuverlässigkeit detaillierter Informationen neue Maßstäbe.  Der Leser erhält Auskünfte zu den erwähnten  Opern über Komponisten, Textdichtern, Uraufführungen  und die zu besetzenden Rollen (schreibt der Noetzel-Verlag). Schwerpunkt bildet die Beschreibung des Handlungsablaufes, die stets einen guten Einblick in lnhalt und Aussage der einzelnen Bühnenwerke vermittelt. Aktuell bis zu den Uraufführungen der Gegenwart in aller Welt  ist das Handbuch der Oper die umfassendste und inhaltsreichste Zusammenstellung, die bislang über die Musikbühne, auch international, erschienen ist. Der Leser wird über mehr als 1000 Opernwerke unterrichtet, die in anderen Opernführern nicht mehr oder noch nicht enthalten sind, teilweise auch, weil sie im Laufe der Musikgeschichte in Vergessenheit gerieten und nach ihrer Wiederentdeckung in jüngster Zeit mit Erfolg erneute Aufführungen erfuhren. Damit steht dem Opernbesucher, dem Sammler von Opernaufnahmen, aber auch dem Fachmann, ein Nachschlage- und Quellenwerk zur Verfügung, das ihn nicht im Stich lassen wird auf der Suche nach Daten und lnhaltsangaben, selbst über selten auf den Spielplänen stehenden Bühnenwerken. Zudem enthält diese Opernenzyklopädie ausführliche Register zu den Komponisten und ihren Werken, den Textdichtern und erstmalig eine Chronologie der Uraufführungen sowie eine Porträtsammlung mit Kurzbiographien von mehr als 750 Tonkünstlern aus  der Welt  der Oper.

 

Heinz Wagner/Foto Noetzel verlag

Heinz Wagner/Foto Noetzel verlag

Heinz Wagner arbeitete sein Leben lang an diesem – 1987 erstmals erschienenen – Kompendium und seinen Ergänzungen. Mit 94 Jahren, kurz vor seinem Tode, entschloss er sich, damit aufzuhören und Annette und Hortst Vladar (selber renommierte Persönlichkeiten aus dem Operngeschäft) Platz zu machen. Immerhin initiierte er noch eine neu erschienene CD-Rom mit den aktuellen Nachträgen, die ebenfalls im Noetzel-Verlag zu haben ist und die Opernfreunden höchst willkommen sein wird.  Auch nachdem das Ehepaar Vladar eingestiegen war, schrieb Wagner, von Hause aus Mediziner, weiter an seinen Zusammenfassungen und Auflistungen, aber „Ich werde mich aus Altersgründen von der Mühsal der Recherche zurückziehen, um jüngeren Fachkräften die elektronische Fortführung und Aktualisierung des Opernführers zu überlassen.“ schreibt er im Vorwart zur Ergänzungs-CD-Rom kurz vor seinem Tod im September.

Ich habe Herrn Wagner zwar nicht persönlich kennengelernt, aber doch recht oft am Telefon gesprochen und mit ihm brieflich verkehrt und ihn als einen begeisterten und begeisternden, hochsympatischen älteren Herrn kennengelernt, als ich während meiner Chefredakteurs-Zeit bei einem Berliner Musikmagazin mit ihm zu tun hatte und von neuen, uns beiden unbekannten Opern berichtete, von deren Besuch ich zurückkam und ihm die Programmhefte schickte. Manche unserer Berichte flossen in sein Buch mit ein, darauf bin ich stolz und danke diesem ungewöhnlichen, leidenschaftlichen Mann für sein Lebenswerk. Er wird gerne und viel erinnert werden!

Geerd Heinsen

Die Ergänzungs-CD-Rom ist im Florian Noetzel Verlag erschienen. Heins Wagners Großes Handbuch der Oper in der 5. und (von Annette und Horst Vladar) stark erweiterten Ausgabe ist ebenfalls dort erhältlich (1780 S. mit CD-Rom ISBN 3-7959-0903-1; diese ist auch einzeln erhältlich: ISBN 978-3-7959-0972-7). Foto oben Heinz Wagner/Foto Wagner privat

Zerbinetta ist der Clou

An guten Aufnahmen der Strauss-Oper Ariadne auf Naxos herrscht kein Mangel. Trotzdem hat der bei Oehms Classics (OC 947) erschienene Live-Mitschnitt aus der Frankfurter Oper vom Oktober 2013 (eine Inszenierung von Brigitte Fassbaender) durchaus seine Berechtigung. Denn erstens ist er ein weiterer Baustein in der (mit fast zwanzig Opern) inzwischen schon recht umfangreich vorliegenden Dokumentation der Arbeit der Frankfurter Oper. Und zweitens ist sie mit Camilla Nylund und Michael König relativ prominent besetzt.

Nylunds noble Interpretation der Ariadne nimmt durch die Fülle ihres Tons und ihre intensive Gestaltung für sich ein. Dabei hält sie die Emotionen durchaus im Zaum, singt manchmal fast etwas unterkühlt. Aber ihren lyrischen Sopran führt sie mühelos zu leuchtenden Höhen. Mühelosigkeit kann man auch Michael König als sehr männlichem Bacchus durchweg attestieren.  Er kann mit kraftvollem Tenor ganz aus dem Vollen schöpfen. Auch wenn manche Töne mit etwas zuviel Druck erzeugt werden, steht er die Partie bis zum pathetischen Schlussgesang doch ohne große Einbußen durch. Aber der Clou der Aufnahme ist Brenda Rae als Zerbinetta. Ihre Arie „Großmächtige Prinzessin“ liefert sie ab, als wäre es nichts. Ihr Koloraturfeuerwerk ist einfach mitreißend, zudem gibt sie der Partie eine gehörige Portion Charme mit. Ein weiterer Pluspunkt dieser Aufnahme ist Claudia Mahnke als Komponist. Der „heilige Ernst“, mit dem er für die unverstümmelte Aufführung seiner Oper kämpft, wird mit jedem Ton deutlich. Mahnke kann den jugendlichen Eifer der Figur mit funkelndem Mezzo ideal vermitteln. Franz Grundheber bringt als Musiklehrer viel Persönlichkeit und eine immer noch erstaunlich intakte Stimme ein. Elisabeth Reiter, Katharina Magiera und Maren Favela bescheren als Najade, Dryade und Echo homogenen Wohllaut. Damiel Schmutzhard ist ein solider Harlekin und Peter Marsh lässt als Tanzmeister aufhorchen. Der Sprechrolle des Haushofmeisters gibt William Relton zwar eigenständiges Profil, aber man hat die Rolle schon pointierter und „blasierter“ gehört. Die Textverständlichkeit der Sänger ist bemerkenswert gut. Sebastian Weigle am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters lässt mit feiner Differenzierung musizieren. Das gilt insbesondere für die Szenen der Komödianten. Erstaunlich aber auch, was er mit den 37 Musikern an rauschhaftem Klang entfachen kann. Insgesamt eine Aufnahme, die sich im oberen Mittelfeld bewegt und die besonders den Fans von Nylund und König gefallen wird, aber auch schon allein wegen Brenda Rae interessant ist.

Wolfgang Denker

Agostino Steffanis „Niobe“

Nun ist sie also endlich da – die langerwartete Gesamtaufnahme der Niobe von Agostino Steffani (1654 – 1728), mit der in Bremen 2013 Staraltist Philippe Jaroussky neben der kanadischen Sopranistin Karina Gauvin Furore  gemacht hatte. Der Hype um Cecilia Bartolis Steffani-CD bei Decca machte vergessen, dass zumindest für Barockfans Agostino Steffani nun wirklich kein Unbekannter ist, obwohl auch die Erato das glauben machen möchte. Al contrario! Schon die Electrola brachte in den Sechzigern Steffani-Opern-Ausschnitte auf einer Hamburg-Barock-LP heraus (Tassilone u. a.). Der von mir stets bewunderte Pionier Newell Jenkins gab die Niobe bereits 1978 in Castelfranco/Veneto konzertant und darauf in New York mit sehr ordentlichen Solisten (nebst Counter). Und die italienische Aufführung kam sogar offiziell als LPs (im Vertrieb der Angelicum) heraus (und schmückte lange meine Sammlung). Also ist die vorliegende Erato-Neuaufnahme nur (aber immerhin) eine Studio-Erstaufnahme und keine Welt-Erst-Einspielung. Zudem gab´s immer Steffani-Aufnahmen und -Aufführungen, so neben Geistlichem unter Harnoncourt und Jenkins den Alarico 2003 (Concerto 2001), den Enrico Leone (Calig 1986), die Niobe abgesehen von Jenkins auch 2010 unter Thomas Hengelbrock in Schwetzingen 2008 und  London 2011, den Orlando Generoso in Hannover (2018) und natürlich den Tassilone bereits 1986 unter Günther Kehr beim swr und unter Newell Jenkins in Castelfranco 1965 mit dem amerikanischen Counter Angelo Messana. Sicher habe ich noch einige Titel vergessen, aber in summa ist dies doch eine stattliche Reihe umgänglicher Bemühungen um den italienischen Komponisten und Diplomaten, der zudem auch der Lehrer von Händel zeitweise war. Das Rad wird eben nicht neu erfunden, auch wenn die Plattenlabels das gerne so hätten und in diesem Fall die Erato die Neuaufnahme unter Paul O´Dette und Steven Stubbs so propagiert. Herr Hengelbrock hätte das sicher auch gerne aufgenommen…

Die 1688 in München erstaufgeführte Oper ist eine repäsentative, mit allen Zutaten einer barocken Grand-Opéra, eben mit dem Instrumentarium der Pracht, mit Trompeten und barocken Vorgaben. Auf der Bühne muss das außerordentlich prächtig gewesen sein, und Boston Baroque ist in seinem Bemühen um eine üppige visuelle Darbietung im barocken Stil auf den beigefügten Fotos zu sehen, wo Erato-Star Philippe Jaroussky und Jesse Blumberg in kostbaren Kostümen zu sehen sind und sich José Lemos kokett als fächerschwenkende Nerea gibt. Nur von Karine Gauvin, der eigentlichen Protagonistin, findet sich kein Szenenfoto. In einer auf zwei Stunden gekürzten TV-Fassung aus eben Bremen singt sie konzertant neben Jaroussky und natürlich in dieser Aufnahme. Ein Blick ins Kleingedruckte belehrt, dass die Szenen-Fotos von 2011 und aus der in Boston gelaufenen szenischen Realisierung stammen, wo Amanda Forsythe die Titelrolle sang, auf den CDs nun aber zur Dienerin Manto heruntergestuft wird (dazu der Bericht in der New York Times von 2011).

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins/Foto OBA

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins/Foto OBA

Wie auch immer, die Studio-Ersteinspielung von 2013 aus Bremen vom dortigen Rundfunk im Rahmen des Musikfestes Bremen ist ein Meilenstein der Barock- und Steffani-Rezeption, kein Zweifel. Das erprobte Boston Early Music Festival Orchestra unter den Genannten klingt ein wenig unsinnlich, kleinstimmig und alert, aber meine Einschränkungen betreffen die Dynamiken und das Tempo. Irgendwie scheint mir das hier ein Rückfall in alte Zeiten zu sein, wo Gemächlichkeit regierte und die Rezitive sich doch auch manchmal recht quälend ziehen. „Action, Jungs!“ möchte man rufen, wenn sie die wirklich sensationellen Solisten durch ihre Mitteilungen arbeiten und eigentlich wie in einem Mikrokosmos nur mit sich beschäftigt sind (liegt das an den Aufnahmebedingungen?). Es scheint eine mangelnde Kommunikation zwischen  den Akteuren zu herrschen, kein auf einander Agieren. Die Nummer gehen ab und nichts wirklich Aufregendes passiert. Dabei ist hier doch die Hölle los: Die hochmütige Königin Niobe legt sich gleich mit drei Göttern an. Diana, Apoll und ihre Mutter Latona müssen erleben, dass sich die Sterbliche über sie setzt, nur weil sie meint, von einem Gott beglückt worden zu sein. Was sich auch noch als Irrtum erweist. Absolut  sauer richten die drei Götter also ein Massaker unter den Kindern der Niobe an, deren Ehemann Anfione sich darauf ersticht, bevor Niobe selbst vor Schmerz zu Stein erstarrt. Das alles auf drei langen CDs, deren letzte eigentlich per azione die spannendste ist, weil sich dort endlich mal Drama einstellt. Aber bis dahin hat´s eine lange Strecke voller vokaler Einzelschönheiten (und dabei spricht Paul O´Dette in dem informativen Booklet-Artikel zur Fassung von den Kürzungen, die schon Steffani vornahm, weil auch er die Oper 1688 zu lang fand…).

Philippe jaroussky als Anfione beim Boston Early Music festival 2001/ Foto Constantini/Erato

Philippe Jaroussky als Anfione beim Boston Early Music Festival 2011/ Foto Constantini/Erato

Mir wollen die Mitschnitte unter Hengelbrock aus London 2010 und Schwetzingen 2008 lebendiger, bewegter, akitonsreicher erscheinen, eben weil sie Live-Mitschnitte sind, was auch Barockopern gut tut. Diese Aufnahme von Radio Bremen ist mir zu sehr „Studio“ und „achtziger Jahre“, sorry. Vielleicht ist Boston Baroque da etwas stehen geblieben. Die Ariadne von Conradi von O´Dette & Stubbs aus Boston 2005/cpo litt unter demselben Syndrom der Blutarmut. Zumindest gibt’s live unter Hengelbrock und auch bei der Pionieraufnahme von Jenkins 1978 mehr Schmiss, mehr an Miteinander. Wenngleich hier bei Erato wirklich superb gesungen wird – ohne Ausnahme!

Als Niobe übertrifft sich die stets wunderbare Karina Gauvin selbst – so toll, so ausdrucksvoll, so Roeschmann-nahe im Timbre habe ich sie noch nie gehört, sie reift zu einer wirklich großen Ausdruckssängerin heran, dabei beherrscht ihre hochindividuelle Stimme die vielen kleinen Nuancen dieser Partie und breitet vor uns eine Seelenskala von sanft bis stürmisch, von oberflächlich-verliebt bis groß-klagend aus, absolut köstlich! Ehemann Anfione ist mit Philippe Jaroussky ebenfalls superb besetzt, die Stimme hochindividuell, im Ausdruck versiert und dabei so klangschön. Auch die Übrigen sind wirklich in dieser Spitzenklasse: Amanda Forythe nun als Manto, Christian Immler als Seher Tiresia. Dazu kommen Aaron Shehan, Terry Wey, Jesse Blumberg, Colin Balzer und José Lemos als komische Nerea. In summa also haben wir eine wirklich prachtvoll gesungene Barock-Aufnahme vor uns, die erst im letzten Drittel an Fahrt gewinnt und die mit einem fulminanten Finale ausklingt: Karina Gauvins Klage über ihre toten Kinder ist die lange Vorlaufstrecke allemal wert, und Jaroussky singt zudem at his best. Ausstattung und Präsentation sind tadellos und informativ. Trotz meiner eingehenden Einschränkungen sehr habenswert – wenngleich die zweistündige Konzertversion von Radio-Bremen es vielleicht auch getan hätte, oder… Geerd Heinsen

Agostino Steffani: Niobe, Regina di Tebe, Dramma per musica in tre atti mit Philippe Jaroussky, Karina Gauvin, Amanda Forsythe, Christian Immler, Aaron Sheehan, Terry Wey, Jesse Blumberg, Colin Balzer, José Lemos; Boston Early Music Festival Orchestra; Paul O’Dette & Stephen Stubbs;  3 CDs Erato 0825646343546

Ein grosser Sohn der Stadt

Als eine Sache der Ehre sieht es jede auch noch so kleine italienische Stadt an, den großen Söhnen oder gegebenenfalls auch Töchtern des Territoriums die ihnen gebührende Beachtung, sei es mit der Benennung einer Straße oder eines Platzes oder in einer anderen Form zu erweisen. Der Ort Novellara in der Emilia Romagna hat das mit dem Tenor Franco Tagliavini bereits getan, indem es das Theater in der Rocca der Gonzaga in einem feierlichen Festakt nach ihm benannte, nachdem bereits seinem und des Soprans Raina Kabaivanska Lehrerin, dem Sopran Zita Fumagalli, eine neu erbaute Passage gewidmet wurde.

Unvergessen: Franco Tagliavini als Don Carlo an der Deutschen Oper Berliin/Foto Buhs/DOB

Unvergessen: Franco Tagliavini als Don Carlo an der Deutschen Oper Berliin/Foto Buhs/DOB/Homepage Tagliavini

Nun ist knapp fünf Jahre nach dem Tod des Tenors auf Anregung der Stadt auch ein Buch erschienen, mit dem der Sänger geehrt werden und nachfolgende Generationen an ihn erinnert werden sollen. Das Titelbild zeigt ihn in einer seiner wichtigsten Rollen, dem Enzo Grimaldi aus Ponchiellis La Gioconda, den er nicht nur an der Deutschen Oper Berlin, sondern auch, alternierend mit Luciano Pavarotti, in der Arena di Verona sang. Der Untertitel des von Vittorio Ariosi verfassten Bands ist La bella storia di un tenore da Novellara al Metropolitan, letztere zwar eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, aber bei weitem nicht das einzige seiner Klasse, an dem Franco Tagliavini  sang. Im Zentrum seines künstlerischen Wirkens stand vielmehr stets die Deutsche Oper Berlin, an die ihn 1965 Lorin Maazel geholt hatte und wo er 1985 seine letzten Vorstellungen hatte. Ein in deutscher und italienischer Sprache verfasstes Vorwort berichtet nach den Grußworten des Kulturverantwortlichen Sergio Calzari und der Bürgermeisterin des Ortes Elena Carletti darüber.  Davon und über den Weg von einer Meierei, in der der berühmte Formaggio Reggiano hergestellt wird, in die großen Opernhäuser der Welt auf allen Kontinenten außer Australien berichtet das Buch minutiös. Nach diesem reich bebilderten Teil  und einer Sammlung von Ausschnitten aus Rezensionen aus aller Welt befinden sich noch ein Artikel des in Italien sehr bekannten Musikologen Daniele Rubboli, ein Beitrag über das Teatro „Franco Tagliavini“ und ein Anhang mit dem Repertoire, den wichtigsten Partnern, Dirigenten und Opernhäusern mit bzw. in denen der Tenor wirkte.

Der Lebenslauf Franco Tagliavinis kann als Beispiel dafür gelten, welche Bedeutung der Kirchenchor oder andere Chöre auf dem Lande für die Entdeckung von Stimmen zu seiner Zeit hatte, welches Glück man haben musste, einen Lehrer zu finden, der unentgeltlich sich zum Unterrichten junger mittelloser Sänger bereitfand, wie es hier La Signora Fumagalli war. Das Buch zeigt auch, welchen großen Stellenwert die Oper damals in den Dreißigern in Italien hatte, so dass selbst ein Landarbeiter seinen kleinen Sohn ins Theater, wenn auch nur unter die Loggionisten führt, um ihn einen Rigoletto sehen zu lassen. Vergleicht man damit die Lage der Oper im Italien von heute, dann ist man versucht von vergangenen besseren Zeiten zu reden. Probleme von damals und heute sind die des Findens eines für die Stimme geeigneten Repertoires, wenn Tagliavini als erste Partie der heldische Canio, eine Rolle, die er selbst später nie gesungen hat, als Preis eines Wettbewerbs „verordnet“ wurde.

Franco Tagliavini, jahrzehnte einer der führenden Cavaradossis, hier in Triest 1978/Teatro verdi Trieste

Franco Tagliavini, Jahrzehnte einer der führenden Cavaradossis, hier in Triest 1978/Teatro Verdi Trieste/Homepage Tagliavini

Eindrucksvoll ist der Weg (und ebenso eindrucksvoll wird er beschrieben), den die Karriere nahm, die an alle größeren Bühnen Italiens einschließlich der Scala, in alle europäischen Hauptstädte einschließlich Paris, London und Wien führte, auf die großen Bühne der USA, nach Südafrika und nach Japan mit einem Gastspiel der Deutschen Oper Berlin, während er mit der Scala in Moskau gastierte. Interessant die vielen, sonst nicht zugänglichen Fotos, so eines mit dem belgischen Königspaar, aber auch mit vielen Kollegen zu den verschiedensten Anlässen.

Wie ein Who is Who in the World of Opera  liest sich die Liste der Kollegen, angefangen mit Renata Tebaldi über Birgit Nilsson bis zu Raina Kabaivanska, mit der er auch zwei Aufnahmen der RAI, Francesca da Rimini und Adriana Lecouvreur teilte. Eine Liste der Tonaufnahmen ist ebenfalls verfügbar. Ein kleiner Absatz ist dem „anderen“ Tagliavini  (obwohl es jetzt mit dem Bass Roberto bereits einen dritten gibt) gewidmet, der dem aufstrebenden Tenor verbieten wollte, seinen eigenen Namen zu benutzen. Damit dürfte auch die Frage nach einer möglichen Verwandtschaft negativ beantwortet sein.

Der Stadt Novellara und den unter „Danksagung“ Genannten, darunter die Gattin Elyane Claustre, kann man zu dem Buch gratulieren, dass nicht nur einen der Ihren ehrt, sondern auch kulturpolitisch interessant ist (125 Seiten Comune di Novellara, Responsabile editoriale Sergio Calzari).

Ingrid Wanja

Nostalgisches im Viererpaket

Wie lange ist es her, dass mein Kollege und ich uns anguckten und sagten: „Wie gut, dass wir ihn noch einmal in dieser Form erlebt haben“, denn bei dem schonungslosen Einsatz der Stimme, der Generosität bei den Zugaben, dem aufgedrehten Verhalten auch außerhalb des Konzertsaals, das das Fernsehen zeigte, war es abzusehen, dass eine Stimme diesem Stress nicht lange standhalten kann. Zudem hatte Rolando Villazón sich mit dem Don José auf heldentenorales Gelände begeben, was der zwar dunklen, aber doch leichten Stimme gar nicht gut tat und wo man im dritten Akt bereits Defizite vernommen hatte. Bitterböse hatten damals noch Fans auf kritische Berichte reagiert, ehe es wenige Wochen später zur ersten Stimmkrise gekommen war. Auf den vier CDs, die Erato nun in einer Kassette, aber ohne jedwedes Booklet herausgegeben hat, hört man die Stimme noch in all ihrer Pracht und mit all ihren Finessen, die der Mexikaner damals einsetzen konnte.  Bravo! nennt sich das Viererpaket und könnte ohne weiteres sich Bravissimo nennen, so gelungen sind die meisten Aufnahmen, deren erste aus dem Jahre 2004 und deren letzte aus dem Jahre 2007 stammt (und die aus dem von Warner übernommenen EMI-Kontigent kommen).

Die erste CD bringt Arien aus italienischen Opern, der Dirigent ist der unvergessene Marcello Viotti, der das Münchner Rundfunkorchester in der von ihm gewohnten Art zu einfühlsamer Begleitung der jungen Stimme anhält. Es gibt viel Donizetti, bei dem der Tenor viel länger hätte verweilen sollen, und man staunt über die wunderbar schwebenden Piani auch für die beliebte Arie Cileas  „È la solita storie“, stellt fest, wie dunkel die Stimme klingt und konstatiert nur ihr kurzes Nachhintenrutschen , das aber gut kaschiert wird. Der Komponist aus Bergamo ist mit Il Duca d‘ Alba, Elisir, Lucia vertreten, und die Stimme betört durch die leichte Emission, die bemerkenswerte dolcezza, die zärtlich zurückgenommene Lautstärke und das bruchlose An- und Abschwellen, so auf „d’amor“ in Nemorinos  Arie. Von Verdi sind einige mehr lyrische Partien vertreten, so der Oronte, dessen Arie Villazón zärtlich romantisch singt, als wäre sie von Donizetti.  Der Charakter und die Situation des Don Carlo werden nicht besonders deutlich, und auch die Arie des Macduff wird mit vielen agogischen Feinheiten gesungen, die den Hörer entzücken können, die aber auch die Tragik dieses Schicksals nicht ausloten. Hört man danach den Duca, findet man keinen Unterschied in der Interpretation, in den Farben, dem Nachdruck des Singens. Alfredos Cabaletta wird ohne Mühe nach oben gesungen, erstaunlich und bewundernswert ist, wie der Tenor auf den zwei Silben „quasi“ ein feines decrescendo und ein crescendo unterbringt. Mit schwärmerischem Klang wird der Bohème-Rodolfo in tono gesungen, und „E lucevan le stelle“ könnte aus dem Lehrbuch für ausdrucksvollen Operngesang sein. Im Nerone wird’s dramatisch, L’amico Fritz passt besser zum damaligen Entwicklungsstand der Stimme.

Französische Arien von Gounod und Massenet nahm der Tenor ein Jahr später in guter stimmlicher Verfassung mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France unter Evelino Pidò auf und erwies sich als für dieses Fach mit leicht verhangenem Ton als besonders geeignet, wie bereits die Arie aus Le Cid zeigt. Besonders die Traumerzählung des Des Grieux klingt wunderschön poetisch, als Werther singt er wahrlich zu Herzen gehend und sehr idiomatisch noch dazu. Für Roméos „Soleil“ fehlt etwas das Leuchten in der Stimme, in der Gruft ist ihr dunkler Klang passender, aber insgesamt ist das französische Fach bei dieser Stimme sehr gut aufgehoben. Besonders freut es den Hörer, dass auch selten gehörte Stücke wie Mireille, Le Roi de Lahore, Grisélidis, La Reine de Saba und Polyeucte vertreten sind, dem er eine mitreißende Emphase angedeihen lässt, während in „Inspirez-moi“ ein beeindruckender Spitzenton zu bewundern ist. Ätherische Töne lässt schließlich am Schluss der CD noch einmal Des Grieux vernehmen, während Faust so empfindsam wie höhensicher auftritt.

Auf das Jahr 2006 datiert ist die dritte CD mit dem Titel Opera Recital, auf der französische wie italienische Arien, aber auch der Lenski zu finden sind. Skurriles lässt sich im „Klein-Zack“ hören, von schwärmerischem Klang ist „Courage et confiance“, Hoffmann ist sicherlich eine Paradepartie für den Tenor gewesen. In Cavaradossis erster Arie sind die Fermaten bemerkenswert, scheint aber ihre Ausstellung wichtiger zu sein als der Gehalt der Liebeserklärung. Sehr schön ist die dunkle Färbung auf „all‘ aperto“ in Turiddus Abschied, ebenso in Fedora angebracht, wo die Fermate auf dem hohen Ton Erstaunen auslösen kann. Seltsame Vokaldehnungen und -verfärbungen beeinträchtigen den Genuss der beiden Flotow-Arien, ein ungewohnt leidenschaftlich singender Lenski gehört zu den schönsten Tracks der CD. Bei der Arie des Sängers aus dem Rosenkavalier wird es oben bedenklich eng, und die letzte Arie des Riccardo wird recht offen gesungen, die Pianissimi sind nicht mehr so farbig, wie aus den beiden ersten CDs erinnerlich. Wohl fühlt sich die Stimme in La Favorita mit feinem canto elegiaco, während für Don José das Timbre gespreizt wird, der Schluss nicht so gesungen wird, wie Bizet es wollte. Diese Rolle scheint, auf der Bühne gesungen, eine Art Schicksalspartie für den Tenor gewesen zu sein. Mit dem Ernani schließlich singt er entschieden über sein eigentliches Fach hinaus.

Kollege und Förderer Plácido Domingo ist der Dirigent der letzten CD mit Arien aus Zarzuelas, die Villazon hörbar aus vollem Herzen und aus voller Kehle singt, offener noch als die Opern-Arien, aber auch ab und zu mit perfekt gedeckter Höhe, gefühlvoll  verhauchend, mit Lachen und Trauer in der Stimme, wie es die jeweilige Arie verlangt. Auch diese CD ist eine schöne Erinnerung an vergangene Zeiten, die Kassette insgesamt trotz aller Einschränkungen allen, die nicht bereits die einzelnen CDs besitzen, unbedingt zu empfehlen (Erato 0825646236183).

Ingrid Wanja               

Was kochen die Stars?

Was gab es bei Kaufmanns, wenn Jonas zuhause war? Was tischt Anna auf, wenn Besucht kommt? In der Oper kochen normalerweise große Leidenschaften und große Gefühle. In Die Oper kocht stellen sich hingegen Sänger hinter den Herd, schippeln, rühren und brutzeln in ihrem eigenen Heim, in der Restaurantküche oder im Appartement und zeigen dabei ihre Lieblingsspeisen oder die Spezialitäten ihrer Heimat. Der Starfotograf Johannes Ifkovits und Evelyn Rillé haben 64 Stars der internationalen Opernszene von Roberto Alagna bis Markus Werba vor die Kamera und den Herd gelockt. Den Anfang machte Anna Netrebko, worauf keine ihrer Kolleginnen und Kollegen zurückstehen wollte. Nach Netrebkos Bortsch und Kaufmanns Bandnudeln mit Kürbis kann man unter einem Krautstrudel von Diana Damrau, Kasarovas Lammauflauf, gegrillten Meeresfrüchte von Neil Shicoff oder dem sächsischen Sauerbraten wählen, wie ihn schon René Papes Großmutter zubereitete, anschließend gibt es Crêpes, die José Carreras in der Küche des Hotels Sacher zubereitete, Apfelkuchen von Piotr Beczala, eine Torte von Anja Harteros oder ein Schokoladendessert von Renée Fleming. Das einzigartige Projekt präsentiert schöne Ergebnisse und praktikable Rezepte, ist auf jeden Fall ein Hingucker und die Gespräche, die sich um Vorlieben, Abneigungen und Essengewohnheiten der Stars drehen, sind oftmals lustig. Zwei fehlen allerdings: die ansonsten omipräsenten Domingo und Villázon (Evelyn Rillé, Johannes Ifkovits, Die Oper kocht. Weltstars am Herd,Opera Rifko Verlag, 280 Seiten, ISBN-13: 978-3950295603).

Rolf Fath

 

 

Irene Dalis

 

Am 14. Dezember (2014; am selben Tag wie ihre Kollegin Janis Martin) starb die bedeutende amerikanische Mezzosopranistin Irene Dalis im Alter von 89 Jahren – Opernfreunden ist sie als Kundry und Ortrud in Bayreuth bekannt, woher es doch einige Mitschnitte gibt. Auch an der Deutschen Oper Berlin sang sie und an den großen Häusern der westlichen Welt, namentlich aber an der New Yorker Met, der alten wie der neuen, und in den Opernzentren Nordamerikas, so vor allem in San Francisco. Im Folgenden bringen wir einen Nachruf der Kollegen vom Blog Voix des Arts/Joseph Newsome  und danken dafür.

Irene Dalis als Eboli an der Met (Melancon)

Irene Dalis als Eboli an der Met (Melancon)

Irene Dalis (8 October 1925 – 14 December 2014): On 18 December 1959, Birgit Nilsson made her Metropolitan Opera début in a rôle that remains associated with her, the titular Irish princess in Wagner’s Tristan und Isolde. Ten days later, she reprised her Isolde in one of the most famous performances in MET history, the night on which the ravages of illness paired her with no fewer than three Tristans. The winter of 1960 – 1961 saw the MET débuts of Hermann Prey and Sir Georg Solti in Wagner’s Tannhäuser in December, the spectacular joint débuts of Leontyne Price and Franco Corelli in Verdi’s Il trovatore in January, and Ms. Price’s first MET Aida in February. In January 1962, the underappreciated Anita Välkki bowed as Brünnhilde in Die Walküre, followed in March 1964 by the first MET appearance of the equally undervalued Nicolae Herlea as Rodrigo in Don Carlo. In October 1966, Karl Böhm and a fantastic cast introduced MET audiences to Richard Strauss’s Die Frau ohne Schatten, and a highlight of the Spring 1967 Tour was the début in Boston of Elisabeth Grümmer as Elsa in Lohengrin. The 28 September 1968 performance of Cilèa’s Adriana Lecouvreur partnered Renata Tebaldi with a young tenor making his first journey across Lincoln Center Plaza from New York City Opera to the MET, Plácido Domingo. August Everding’s new production of Tristan und Isolde, uniting Ms. Nilsson’s Isolde with Jess Thomas’s Tristan, was one of the greatest triumphs of the 1971 – 1972 Season, and the artistic sensation of the 1976 MET Tour was Renata Scotto’s portrayal of the soprano heroines in Puccini’s Il trittico. The common denominator in these performances, the witness to all of these watershed moments in the history of the Metropolitan Opera, is mezzo-soprano Irene Dalis, one of America’s finest, most unforgettable singers. A thrilling creature of the stage whose artistry was matched by her humanity, Ms. Dalis’s legacy in American opera is one of integrity, humility, and dedication to making her own career one of unerring dignity and affectionately nurturing the careers of young singers.

Irene Dalis als Azucena/OBA

Irene Dalis als Azucena/OBA

Following an instructive tenure in German opera houses, Ms. Dalis made her own MET début as Eboli in Don Carlo on 16 March 1957, in a performance in which her colleagues were Jussi Björling, Delia Rigal, Ettore Bastianini, Cesare Siepi, and Hermann Uhde. Critic Raymond A. Erickson wrote in Musical America that she ‘met the exacting demands of the part of Eboli with such vocal and dramatic authority as to make her debut one of the most exciting in recent seasons.’ Her prowess in Verdi repertory was confirmed in subsequent seasons by the fact that neither her Azucena nor her Amneris was eclipsed by her high-voltage colleagues. The histrionic intensity of her Azucena and the nobility of her Amneris were combined in Ms. Dalis’s magnificently-sung Lady Macbeth, and she was a hair-raising but unfailingly musical Ulrica in Un ballo in maschera. In Verdi repertory, as Santuzza in Cavalleria rusticana, as the Principessa di Bouillon in Adriana Lecouvreur, and as the Zia Principessa in Suor Angelica, she was America’s only true rival for the incomparable Giulietta Simionato.

Irene Dalis als Ortrud/www.cs.princeton.edu

Irene Dalis als Ortrud/www.cs.princeton.edu

Though she brought an element of authentic Gallic hauteur to her characterization of the Principessa di Bouillon, Ms. Dalis’s only French rôle at the MET was the Biblical seductress in Saint-Saëns’s Samson et Dalila, but her expertise in Italian repertory was paralleled by her superb singing of German rôles. Brangäne in Tristan und Isolde was her fourth part at the MET, and her level of achievement was such that Birgit Nilsson, frequently her Isolde, regarded her not as a rival but as an equal. Whether her Brünnhilde was Nilsson, Välkki, Martha Mödl, or Margaret Harshaw, she was a commanding Fricka in Die Walküre and a compelling Waltraute in Götterdämmerung, as well as a powerful Fricka in Das Rheingold. She was an Ortrud and a Venus who could hold her own against the very different Elsas of Régine Crespin, Ingrid Bjoner, and Elisabeth Grümmer and Elisabeths of Victoria de los Ángeles and Leonie Rysanek. Ms. Dalis’s sole Klytämnestra in Richard Strauss’s Elektra was a tour performance in Atlanta, but her Herodias in Salome took New York by storm. The standard that she set with her singing of the Amme in Die Frau ohne Schatten has never been surpassed.

Irene Dalis als Lady Macbeth/SFO

Irene Dalis als Lady Macbeth/SFO

One of Ms. Dalis’s most memorable portrayals, Kundry in Parsifal, was heard at the MET only eight times, but she was the first American artist to sing the rôle at Bayreuth, where she appeared in Wieland Wagner’s controversial production of the opera in 1961, 1962, and 1963. Her performances in the 1962 Bayreuther Festspiele Parsifal were preserved on a recording that is embraced by many Wagnerians as one of the finest accounts of the troublesome opera. She also alternated with Astrid Varnay and Elisabeth Schärtel as Ortrud in the 1962 Bayreuth Lohengrin.

A native of San Jose, California, Ms. Dalis returned to her hometown after retiring from the MET stage, accepting a professorship and establishing an opera workshop program at her alma mater, San Jose State University. Recalling her own experiences as a young singer with German regional companies, she founded Opera San Jose in 1984, focusing on cultivating a true repertory company in the now-rare traditional sense. The launching of her Vocal Competition in 2007 furthered her aim of supporting and encouraging young singers and working towards the broadening of opera’s appeal in the United States.

Irene Dalis is one of many great singers whose voices I sadly know only from recordings, but her recordings offer evidence of a truly sublime talent. In truth, if her discography were confined only to the 1962 Bayreuth Parsifal, her reputation as a Wagnerian of legendary status would be assured. Thankfully, many of her MET broadcasts are in circulation in unofficial channels, and none is more impressive than the 1971 Die Frau ohne Schatten in which her Amme nearly steals the laurels from Leonie Rysanek’s typically resplendent Kaiserin, Christa Ludwig’s inspiring Färberin, and Walter Berry’s moving Barak. When I want to surrender myself completely to this fantastic singer’s beautiful tones and emotional directness, however, I turn to the 1962 broadcast of Cavalleria rusticana. To the New York operagoer of that era, the performance must have seemed unexceptional, with Ms. Dalis surrounded by Barry Morell’s Turiddu, Rosalind Elias’s Lola, Walter Cassel’s Alfio, and Lili Chookasian’s Mamma Lucia, and it is not a performance that redefines the opera or its impact. Still, it is a performance that possesses legitimate impact, and the source of that energy — a palpable electricity that, after fifty-two years, is undiminished — is the unique Irene Dalis. Joseph Newsome

 

Foto oben: Irene Dalis/Foto NN/Städtische Oper Berlin (mit freundlicher Genehmigung der DOB)

Janis Martin

 

Mit 76 Jahren starb im Dezember 2014 die amerikanische Sängerin Janis Martin, die für mich lange Jahre das „schwere Fach“ an meiner musikalischen Heimstatt, der Deutschen Oper Berlin, prägte. Erst als Gutrune und dann als Brünnhilde war sie nach Kuchta und Ligendza eine Offenbarung an kraftvollem Wagnergesang, an engagiertem Spiel und leidenschaftlich-entschlossenem Feuer. Ihr robuster, leuchtender Adriano in der konzertanten Rienzi-„Holli“-Aufführung neben Helena Doese (die Martin im eisblauen Kleid im Hedwig-Scholz-Kling-Stil)  in der Philharmonie wird mir auf immer im Gedächtnis bleiben. Auch ihre erste Elektra in Genf, wo sie mit unglaublichen, intensivsten Sopranhöhen aufwartete und ihre Eignung für diese Partien bewies. Sie war ein nicht fortzudenkender Teil des damals so bedeutenden Ensembles der Deutschen Oper, das von Edda Moser über Peter Seifert, Agnes Baltsa, Pilar Lorengar bis zu Thomas Stewart und vielen mehr das Beste aufbieten konnte. Und Janis Martin setzte Maßstäbe,die bis heute gelten. Sie war eine Vertreterin jener amerischen Sängergeneration, ohne die in West-Deutschland Opernbetrieb nicht möglich gewesen wäre. Und ich danke ihr für die vielen soliden, aber auch aufregenden Abende mit ihr. G. H.

Janis Martin als Elektra/Foto Kranich/DOB mit freundlicher Genehmigung

Janis Martin als Elektra/Foto Kranich/DOB mit freundlicher Genehmigung

In ihrem 76. Lebensjahr verstarb Kammersängerin Janis Martin (16. August 1939 – 14. Dezember 2014), die ab 1970 Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin wurde und an ihrem Haus prägend wirkte. Wagner sang Janis Martin schon ganz früh in ihrer Karriere. Da stand aber noch keineswegs fest, dass sie eine der ganz großen Kundrys, Brünnhilden und Isolden werden sollte. Es waren kleine Partien – noch dazu in einem anderen Fach: eine Walküre, eine Norn, ein Blumenmädchen. Ihre Ausbildung erhielt sie in ihrer Heimatstadt Sacramento und in Berkeley. Seit 1960 stand sie auf der Bühne großer Opernhäuser. In San Francisco debütierte sie als Teresa in Vincenzo Bellinis La sonnambula, und nachdem sie 1962 das Finale der Metropolitan Opera National Council Auditions gewonnen hatte, sang sie auch regelmäßig im ersten New Yorker Opernhaus. Nach Deutschland kam sie schon 1965, zuerst nach Nürnberg, blieb aber regelmäßiger Gast in den USA. Ab 1970 bereitete sie den Wechsel ins Sopranfach vor, am Anfang standen Partien wie Ortrud, Venus und Kundry, die sowohl Sopranistinnen wie auch Mezzosopranistinnen in ihrem Repertoire haben, aber wer als Mezzosopran „daran nicht ‚stirbt‘“, wie sich Janis Martin selbst in einem Interview äußerte, „ist wohl „ein latenter Sopran“. 1970 kam sie in das Ensemble der Deutschen Oper Berlin, ihre erste Premiere war am 16. Januar 1971 Boris Godunow in der Schostakowitsch-Fassung, also noch eine Partie am Übergang zwischen Mezzosopran und Sopran. Auch Adriano in Rienzi, den sie 1980 in der konzertanten Aufführung (und dann für die EMI in der Gesamtaufnahme unter Hollreiser) sang, gehört zu diesen Partien, die schwer einzuordnen sind, weil sie vom Komponisten für eine bestimmte Sängerin (in diesem Fall Wilhelmine Schröder-Devrient) mit einem ungeheuren Tonumfang und außergewöhnlichen interpretatorischen Fähigkeiten komponiert wurde. Nach und nach kamen neben Tosca, die sie zuerst 1976 in San Francisco und später immer wieder auch in Berlin sang, die großen Strauss-Partien hinzu, für die sie ebenso berühmt wurde: Ariadne, die Feldmarschallin, Elektra, die Färberin.

Janis Martin als Rezia/"Oberon"/Foto Kranich/DOB mit freundlicher Genehmigung

Janis Martin als Rezia/“Oberon“/Foto Kranich/DOB mit freundlicher Genehmigung

Götz Friedrich setzte sie 1983 in seiner Inszenierung von Offenbachs Orpheus in der Unterwelt als Wagner-Primadonna ein, die Götter nämlich wurden angeführt von Hans Beirer und Astrid Varnay als Jupiter und Juno, William Pell und Gerd Feldhoff gehörten dazu und eben Janis Martin als Juno. Die Fernsehaufzeichnung am Neujahrstag 1984 ist inzwischen als DVD erschienen. 1986 war sie Rezia in der Neuinszenierung von Carl Maria von Webers selten gespielter Oper Oberon. Im alten Ring des Nibelungen (von Gustav Rudolf Sellner in der Ausstattung von Fritz Wotruba inszeniert) sang sie noch Gutrune, in Götz Friedrichs Inszeni erung übernahm sie die Brünnhilden von Catarina Ligendza nach deren Rückzug von der Bühne. Bis 1996 trat sie regelmäßig an der Deutschen Oper Berlin auf, zuletzt der Form nach als Gast, aber immer noch als Teil des großen internationalen Ensembles der Deutschen Oper Berlin. 2000 zog sie sich endgültig in ihre kalifornische Heimat zurück, wo sie seither unterrichtete. (Deutsche Oper Berlin)

 

Foto oben (Buhs/Remmler/DOB): Janis Martin als Isolde an der Deutschen Oper Berlin

Gossecs „Thésée“

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Der Komponist Francois-Joseph Gossec: Der in Vergnies im Hennegau geborene Francois-Joseph Gossec (1734-1829) erlebte drei wesentliche Epochen der Musikgeschichte, in denen jeweils Rameau, Mozart und Berlioz wirkten. Er kam zur Zeit der großen Tragédies lyriques Rameaus zur Welt, arbeitete beim Ballett der Petits Riens von Mozart mit und starb, als Berlioz seine berühmte Symphonie fantastique vollendete. Seine Karriere – eine der „institutionellsten“ seiner Zeit – verlief in einer geschickt angelegten schrittweisen Steigerung. Im Jahre 1751 trat er als Geiger ins Orchester des Mäzens Le Riche de La Poupliniere ein, einer äußerst renommierten privaten Künstlergruppe. Danach stand er im Dienst des Fürsten de Conti, worauf er ab 1773 das Concert Spirituel leitete und dort eines der modernsten Programme des 18. Jhd. gestaltete. 1784 gründete er die Ecole royale de Chant (Königliche Gesangsschule), arbeitete (seit der Mitte der 1770er Jahre) oft mit der Academie royale de musique zusammen, übernahm 1795 einen Vorstandssitz am Konservatorium und am Institut und wurde 1803 Ritter der Ehrenlegion. Er hinterließ ein kolossales Werk: dutzende Symphonien und konzertante Symphonien, Duos, Trios und Streichquartette, Quartette mit Flöte, Bläsersextette, Messen und Motetten, zwei große Tragédies lyriques, mehrere komische Opern, „demi-caractere„-Werke sowie eine Fülle an Ballettmusik. Eines seiner bereits zu seinen Lebzeiten berühmtesten Werke ist seine Missa pro defunctis (1760) mit ihren visionären, ja sogar wirklich  romantischen Ambitionen.

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Francois Gossec von Véstier/Blibliot. Opéra Garnier/Ricercar

Francois Gossec von Véstier/Blibliot. Opéra Garnier/Ricercar

Gossecs Opernschaffen: „Vater der Symphonie“ „Vorsänger der Revolution“: Diese beiden Bezeichnungen haben genügt, um Gossec ab dem Beginn des 19. Jh. zu beschreiben. Sie verliehen ihm einen Ruf, aus dem ihm die Musikwissenschaftler der folgenden Jahrhunderte geradezu einen Sarg anfertigten. Dabei interessierte sich der Musiker für die Oper, wo er sich sowohl in der modernen Gattung der Opéra comique als auch in der althergebrachten der Tragédie en musique auszeichnete. Da Gossec mit den größten Institutionen seiner Zeit zusammenarbeitete, ließ er mit wechselndem Erfolg mehr als zwanzig Werke aufführen, bei denen man in vielen Fällen feststellen kann, welch dramaturgisches Talent der Komponist war. Dieses Corpus zeugt von einer großen Inspirationsvielfalt, auf deren Verschiedenartigkeit allein schon die Titel hinweisen: die Opéras comiques (Le Perigourdin, Le Tonnelier, Le Faux Lord, Les Pecheurs, Toinon & Toinette, Le Double Deguisement), die Einakter (Alexis & Daphne, Philemon & Baucis, La Fête de Village), die Opern «de demi-caractère» (Berthe und Rosine ou l’Epouse abandonnée), die Ballette in Zusammenarbeit mit Gardel und Noverre (Les Scythes enchaines, ein in Iphigénie en Tauride von Gluck hinzugefügtes Ballett, Les Petits Riens, Mirza), die Zwischenspiele für Athanlie von Racine und in der entsprechenden Zeit die Revolutionsopern (L’Offrande à la Libertée, Le Triomphe de la Republique). Doch die beiden Tragédies lyriques, Sabinus (1773) und Thésée (1782), sind unbestreitbar seine Meisterwerke auf dem Gebiet der Oper.

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Die Pariser Oper in der Zeit der Musikrevolutionen: Im Jahre 1778 bekommt die Academie royale de musique einen neuen Direktor: Anne-Pierre-Jacques Devismes du Valgay (1745-1819), einen dynamischen, kühnen Unternehmer, der die schwerfällige Institution übernimmt. Ganz Paris geriet infolge der Nominierung eines so atypischen Profils in helle Aufregung. Devismes setzte sofort drakonische Reformen durch. Vom künstlerischen Standpunkt aus lag seine Hauptbeschäftigung darin, auf seinem Theater die entlegensten Gegenstände zu vereinen, die man sich vorstellen kann. Schon in seinen ersten Reden gab er vor, alle Gattungen zu fördern und bei seinen Entscheidungen absolut nicht voreingenommen zu sein. Diese – unumstrittene – Vielfalt erlaubte Devismes, alle Zuschauer für sich zu gewinnen: Er hatte „ein Mittel gefunden, sie zu seinen Gunsten zu versammeln, indem er jedem davon abwechselnd Aufführungen nach dessen Geschmack bot.. Eines der Zugpferde von Devismes‘ Politik war das Ausgraben alter Werke, die mit den allermodernsten Produktionen konfrontiert waren. (…) Wenn die Wiederaufnahme alter Werke dazu diente, einen bestimmten Teil des Publikums zufriedenzustellen, so standen die Uraufführungen von Opern und choreographischen Werken dem in nichts nach. Während in der Spielzeit 1777-1778 nur drei neue Werke herausgebracht wurden, gab es in Devismes‘ erster Saison, wenn man kleine lyrische Gattungen, mehrere Ballettpantomimen und viele italienische Opere buffe mit einrechnet, gleich an die fünfzehn. In den darauffolgenden Spielzeiten plante Devismes eine für das Publikum seiner Zeit sehr interessante Gegenüberstellung der beiden Iphigénie en Tauride von Gluck und von Piccinni. Mehrere Aufträge ergingen an berühmte Komponisten in ganz Europa, wie Johann-Christian Bach, Philidor oder Piccinni, und sollten für einige Zeit das Repertoire der Institution erneuern. Doch Devismes Direktion dauerte nicht lang genug, um ihn an der Uraufführung dieser Opern teilhaben zu lassen. Seine künstlerische Politik der „offenen Börse“ sowie seine zahlreichen Streitigkeiten mit dem Personal der Oper kosteten ihm Ende 1779 seinen Posten.

Thésée (Bildausschnitt des Ricercar-Covers nach Chaise/Mus Beaux Arts Strasbourg/Ricercar

Thésée – eine schwierige Uraufführung: In der Spielzeit 1778-1779, kurz bevor Devismes von seiner Kündigung erfuhr, brachte er Lullys Thésée, in einer kaum bearbeiteten Fassung heraus. Sicher hatte er die Absicht, parallel dazu eine „moderne“ Version desselben Textbuches aufzuführen: Mit diesem Ziel hatte er Gossec mit einem Thésée beauftragt, den der Komponist rasch beendete, da er seit dem Misserfolg seines Sabinus 1774 in Paris von der Opernbühne ferngehalten worden war. Im Sommer 1778 kündigte der Mercure de France – als er einige in einem Konzert aufgeführte Werke Gossecs würdigte – ohne genauere Angaben an: „Von demselben Autor wird eine Oper Thésée geprobt werden“ was beweist, dass die Komposition bereits vollkommen fertig war. Das Werk wurde zwar geprobt, doch hatte es nicht die Ehre, aufgeführt zu werden. Gossec beklagte sich darüber öffentlich und hielt Gluck dafür verantwortlich. (…)  Gossec musste vier lange Jahre und zwei Führungswechsel abwarten, bevor das Publikum endlich Thésée zu sehen bekam. Kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses, das (nachdem der Saal des Palais Royal 1781 abgebrannt war) an der Porte Saint-Martin stand, wurde Thésée auf den Spielplan gesetzt. Ist diese Tatsache als ein Zeichen der Dankbarkeit und der Achtung – ja der Freundschaft – des neuen Direktors Antoine Dauvergne zu interpretieren, dessen Stellvertreter Gossec unterdessen geworden war? Die Uraufführung, auf die eine ansehnliche Reihe von Aufführungen folgte, war ein schöner Erfolg. (…)

Diese zweite Tragédie lyrique Gossecs ist vom Libretto inspiriert, das Quinault fast ein Jahrhundert davor für Lully geschrieben hatte. Der Text wurde teilweise von Morel de Chedeville (1747-1814) umgearbeitet, wie es damals üblich war. Seit einigen Jahren passte man die alten Textbücher von Quinault, Houdart de la Motte, Fontenelle oder Pellegrin dem Geschmack der Zeit an und setzte sie erneut in Musik. Abgesehen vom Erfolg von Roland (1778) und Atys (1781) von Piccinni oder Armide (1777) von Gluck, wurden viele Werke vom Publikum streng beurteilt: Das war der Fall beim Thésée (1765) von Mondonville – dem ersten Beispiel auf diesem Gebiet -, von Omphale (1769) von Cardonne, von Amadis (1776) von Johann Christian Bach oder von Persée (1781) von Philidor. Das Werk Gossecs folgt somit einer bereits langen Reihe von Opern, bei denen der – unsichere – Erfolg das Ergebnis subtiler Kompromisse zwischen Tradition und Moderne war. Das neue Libretto war bedeutend kürzer als das Original: Die geraffte Handlung lief in vier Akten ab und der Prolog war ebenso verschwunden wie die Nebenhandlung des komischen Liebespaars Cleone und Areas. Die Knappheit des Textes erlaubte dem Komponisten, dem Orchester längere Passagen anzuvertrauen, dem Geschmack des breiten Publikums, soviel er wollte, entgegenzukommen, aber auch – ja sogar vor allem! – die psychologische Entwicklung jeder Figur nach seinem Wunsch zu vertiefen.

Massenets „Ariane“: Lucien Muratore war der erste Thésee/ BNF Gallica

Als deutlicher Hinweis auf den Schöpfer der französischen Oper behielt Gossec die Arie des Königs „Faites grâce á mon âge, en faveur de ma gloire…“ (1. Akt) so bei, wie Lully sie geschrieben hatte, wobei er sich darauf beschränkte, die Begleitung zu verstärken, indem er eine Oboe, Hörner und Fagotte hinzufügte. Dieses Stück, das vom Sänger Larrivee außergewöhnlich gut interpretiert wurde, erhielt wie vorgesehen die gesamte Gunst des Publikums. Ansonsten bietet Gossecs Musik überall Aspekte einer Moderne, zu der sich Gossec bekannte: Von den ersten Takten an setzt es sich eine pompöse „Programm“-Ouvertüre zum Ziel, abwechselnd die Attacken der Krieger, die Klagen der Verwundeten und die Dankgesänge der Priesterinnen zu schildern. Das maßlose Divertimento, mit dem der erste Akt endet – eine Militärparade -, greift seinerseits die Idee einer ähnlichen Szene von Mirza auf, einem Werk, das etwas früher auf der gleichen Bühne Triumphe feierte. Wenn viele Stellen des Thésée an jene von Sabinus erinnern, so sind sie doch weit hochtrabender. Die allgemeine Atmosphäre ist stark von Heroik und Mystik gefärbt, mit Kampfszenen, öffentlichem Triumph und gemeinsamer Anrufung der Schutzgötter. Selbst der kritische Baron Grimm musste zugeben, dass „die Vorstellung dieser Oper […] sehr erhaben und sehr interessant“ war.

Von dieser beklemmenden Auflage heben sich die Helden durch ihre Menschlichkeit, ihre Zweifel und ihre offen daliegenden Gefühle ab. Jeder verdankt übrigens der Musik Gossecs seiner jeweiligen Rolle entsprechend echte psychologische Tiefe und dramatisches Gewicht. Bei der Behandlung der Figur der Medea war unbestreitbar große Kunst am Werk. Mehrere Szenen untersuchen die Mäander ihrer gequälten Seele, besonders die mit ihrer Vertrauten Dorine zu Beginn des zweiten und vierten Aktes. Die Rezitative sind subtil und präzise notiert, wie es in keiner anderen zeitgenössischen Komposition zu finden ist. Dadurch wird dem Interpreten geholfen, an seine Rolle heranzugehen. Die Kehrtwendungen der Medea, ihre Zweifel, ihre Finten, ihre Anwandlungen werden durch das Orchester mit einer faszinierenden Kunst der Rhetorik eingeführt, hervorgehoben oder fortgesetzt. (…) Als Gegensatz zu ihr und aus Gründen der Symmetrie ist die Figur des Theseus ganz Zurückhaltung und Noblesse. Er ist vor allem ein zärtlicher, aufrichtiger Liebender. In dieser Hinsicht erinnert er an Amadis der gleichnamigen Oper von Johann Christian Bach oder an Pylades in Iphigénie en Tauride von Gluck. Sein Erwachen im 3. Akt und seine Freude, die Liebste wiederzufinden, gehören zu den schönsten Augenblicken der Rolle. (…)

„Phédre“: Vignette für den Thésee der Uraufführung/ BNO/ OBA

Hier soll auch hervorgehoben werden, mit welchem Geschick Gossec rund um die vier Hauptrollen die Kämpfe, mit denen der erste Akt beginnt, in Musik setzt (und zwar gleich mit der Ouvertüre, die – sollte sie wirklich aus dem Jahr 1777 stammen – die erste situationsbezogene Ouvertüre vor dem Sturm von Glucks Iphigénie en Tauride wäre). Gossec setzt die Trompetenfanfaren und die im Hintergrund aufgestellten Chöre der Welt der Priester und Priesterinnen der Minerva auf der Vorderbühne entgegen, denen er durch den Einsatz seltener Akkorde, kunstvoller Dissonanzen, geteilter Chöre und einer gedämpften Instrumentierung (wobei er vor allem die Flöten in Dreiergruppen teilt, wie es Grétry zur gleichen Zeit in seiner Andromaque tut) eine archaische, modale Klangfarbe verleiht. Im folgenden Akt wird die Einfachheit des Athener Volks durch Marschrhythmen, rustikale Hörner oder ländliche Piccolos hervorgehoben und gipfelt in einem komischen Trio alter Männer – die aus dem Libretto Quinaults übernommen wurden -, deren hohes Alter von Gossec durch den Einsatz eines archaischen Chaconnebasses und einer rudimentären dreiteiligen Kompositionsweise geschildert wird. Im dritten Akt erscheint die Unterwelt auf der Bühne und wird unheimlich von Hörnern und Posaunen begleitet. Der vierte Akt endet pompös mit dem Erscheinen Minervas in all ihrem Glanz, der einzigen Gottheit, die den ehemaligen Hang zum Fantastischen fortsetzt, sowie mit dem Chor um Marie-Antoinette zu huldigen, da sie kurze Zeit davor, einen Dauphin geboren hatte. Dieses Charakterisieren der Situationen, Gefühle und Figuren wurde von einigen Kommentatoren des 18. Jhd. wahrgenommen, die daher das Genie des Komponisten lobten: „Indem Herr Gossec diese Schwierigkeit meisterte, bewies er, dass seine Intelligenz der tiefen Kenntnis seiner Kunst gleichkommt.“ Und sie schlossen: „Im allgemeinen fand das Publikum, dass der Komponist der Form des konvenablen Ausdrucke vollkommen gerecht wurde.“ (Mercure de France, 1782).

Der Autor, Benoit Dratwicki/Palazetto Bru Zane

Der Autor, Bénoit Dratwicki/Palazetto Bru Zane

Trotz aller hier aufgezählten Vorzüge, trotz einer erstklassigen Besetzung, trotz einer imposanten Maschinerie, wurde Thésée nur fünfzehnmal aufgeführt und ließ wie Sabinus die Pariser gewissermaßen gleichgültig. Alles lässt darauf schließen, dass die Oper Thésée, wäre sie in den Monaten nach ihrer Vollendung uraufgeführt worden, den erhofften Effekt beim erhitzten Publikum der Academie royale erzielt hätte: Das Werk bot nämlich tatsächlich eine sehr originelle Alternative zur Frage nach dem „musikalischen Stil“ über die alle debattierten. Da Thésée gleichzeitig der „reformierten“ Dramaturgie Glucks, den in Paris durch Piccinni heimisch gewordenen italienischen Strukturen sowie der großen Deklamation der französischen Art, die noch von Dauvergne oder Floquet angewandt wurde, zugeordnet werden kann, berief sich das Werk schließlich auf keine genaue Abstammung, sondern weit mehr auf die Prägung einer eklektischen Persönlichkeit, die ihrer Zeit zuhörte. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um eines der originellsten und gelungensten Werke unter all denen, die in Paris zwischen Glucks Iphigénie en Aulide und Spontinis La Vestale komponiert wurden. Bénoit Dratwicki/Übersetzung Silvia Berutti-Ronelt

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François-Joseph Gossec – Thésée miLes Agrémens, Choeur de Chambre de Namur / Guy Van Waas; Frédéric Antoun: tenor (Thésée), Virginie Pochon: soprano (Églé), Jennifer Borghi: mezzo-soprano (Médée), Tassis Christoyannis: baritone (le Roi Égée), Katia Velletaz: soprano (la Grande Prêtresse / Minerve), Caroline Weynants: soprano (Dorine / 1e Prêtresse), Aurélie Franck: soprano (2e Prêtresse), Bénédicte Fadeux: mezzo-soprano (3e Prêtresse), Mélodie Ruvio: mezzo-soprano (Cléone / une Vieille), Philippe Favette: bass (Arcas / 2e Vieillard) , Thibaut Lenaerts: tenor (1er Vieillard / 2e Suivant du roi), Renaud Tripathi: tenor (un Coryphée / 1er Suivant du roi); 2 CD Ricercar RIC337

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(Den vorstehenden Artikel entnahmen wir – mit starken Kürzungen – der gerade erschienen CD-Ausgabe des Werke bei Ricercar/337 unter Guy van Waas, die mit Beteiligung des Palazetto Bru Zane im Rahmen ihres Projektes der Förderung der Französischen Romantischen Oper möglich war. Redaktion G. H.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.