Archiv für den Monat: Dezember 2014

La voce del melodramma

Ebenso wie über die Callas, die Schwarzkopf oder die Gencer ist über die unvergleichliche  und kürzlich (am 8. September 2014) verstorbene Magda Olivero absolut alles gesagt. Sie ist die letzte Zeugin einer langen und aufregenden Epoche, sie wurde vom Komponisten Cilea selbst (angeblich) aus ihrer Zurückgezogenheit wieder ins Bühnenleben zurückgeholt und premierte sein bedeutendstes Werk, die Adriana Lecouvreur. Ihre Verkörperung der Titelpartie geriet zu einem Monument, zu einer überzeitlichen Darstellung mit der die Olivero immer wieder und vielleicht auch zu ihrem Leidwesen identifiziert wurde. Ähnlich wie bei der Callas gehen einem bestimmte Phrasen und Wendungen nicht aus dem Ohr, wenn man sie einmal gehört hat. Der herrliche Monolog und der unglaublich raffinierte Übergang in den Gesang im ersten Akt, die „Poveri fiori“ natürlich, aber auch das kraftvolle Duett mit der Principessa di Bouillon und das „vile“ bei der darauffolgenden Konfrontation. Das sind Bühnen- und Interpretationsmomente, wie es sie heute nicht mehr gibt, entstammen sie doch einer Vorkriegszeit, in der es große Bühnen-Persönlichkeiten gab, die der Musik nicht nur dienten sondern sie auch nach-schufen.

Sicher, man mag – wie ich – sich an den übertriebenen Glottis stören. Und ich muss gestehen, dass ich mir die Olivero in der Erinnerung bewahrt und kaum noch in den letzten Jahren gehört habe. Diese für heutige Ohren sehr expressive Art des Singens, das für unsere modernen Ohren ungewohnte Bibbern in der Stimme (kein Tremolo, sondern gespannte Kraft und eben Eigenart der Stimme), das Schluchzen und Aufschreien als Teil einer fast schon manischen, melodrammatischen Form des Ausdrucks – all dies macht die Olivero historischer als andere Kolleginnen/-en aus ihrer Zeit.

Magda Olivero: die berühmte und oft veröffentlichte "Adriana Lecouvreur", hier in Neapel mit den Traumkollegen Corelli und Simionato/gallerpassion4art

Magda Olivero: die berühmte und oft veröffentlichte „Adriana Lecouvreur“, hier in Neapel mit den Traumkollegen Corelli und Simionato/gallerpassion4art

Aber welche interpretatorische Kraft! Testament hat in bester BBC-Qualität den Mitschnitt eines Gastspiels der Oper von Neapel beim Edinburgh-Festival 1963 herausgebracht, auf der die Olivero einmal mehr ihre Paradepartie singt – gestaltet, schreit, schluchzt, bibbert, haucht – und über die Maßen eindrucksvoll ist. Sie durchmisst die Partie der Adriana wie einen großen, prunkvollen Salon, in dem sie alle Gegenstände kennt und liebevoll berührt. Sie ist in der Partie zu Hause und durchlebt sie wie keine andere Sängerin die ich kenne, auch die von mir in solchen Rollen geliebte Scotto nicht, zumal sie über viel mehr Stimme verfügt als ihre jüngere Kollegin. Und sie gibt uns einmal mehr einen faszinierenden Einblick in die Welt des Verismo, als deren „umile“ Vertreterin sie kenntnisreich vor uns tritt.

Magda Olovero: Adriana Lecouvreur/OBA

Magda Olivero: Adriana Lecouvreur/OBA

Neben dieser monumentalen Persönlichkeit haben es die anderen nicht leicht. Adriana Lazzarini war eine gestandene B-Kraft in Neapel und den anderen Provinzhäusern, und sie bedeckt sich ebenfalls mit Ruhm, denn ihre Principessa spricht von bester Opernroutine, von einer gesunden, brustigen Mezzostimme und von dem nötigen Aplomb in den entscheidenden Momenten (namentlich „Acerba volutta“). Juan Oncina bleibt da als Maurizio ein bisschen schmalbrüstig und auf der Strecke (außerdem meckert er…; ach ja Corelli auf der berühmten neapolitanischen Aufnahme 1959 bei Hardy und anderen). Sesto Bruscantini, den man im allgemeinen nur als Buffo in Erinnerung hat, gibt einen liebevollen, sympatischen und ebenfalls vielschichtigen Charakter als Michonnet ab, der Diva absolut ebenbürtig in seiner großen stimmlichen Darstellungkunst. Der Rest ist beste Comprimario-Ware aus Italien: Piero De Palma (natürlich), Enrico Campi, Anna di Stasio (natürlich) und viele mehr, die für die nötige Italianità unter Oliviero de Fabritiis am Pult von Chor und Orchester aus Neapel sorgen – was für ein tolles, lehrreiches Dokument (SBT2 1501 mit einem Interview mit der Olivero von 1963/Opera).

Geerd Heinsen

Bedenkliches in grossen Buchstaben

Ohne weiteres nachvollziehbar ist es, wenn ein Sänger, dessen glanzvolle Karriere mit der Musik  eines Komponisten, hier Richard Wagner, besonders eng verbunden war, sich von ausgerechnet auch noch zu einem Jubiläumsjahr erschienen Büchern herausgefordert sieht, deren Verfasser sich Kapitel aus dem Leben seines Idols herausfischen, die den Verehrten in einem schlechten Licht erscheinen lassen, ihn sogar zu verunglimpfen versuchen. René Kollo hat sich offensichtlich diese Veröffentlichungen so zu Herzen genommen, dass er selbst zur Feder gegriffen hat und als später Gratulant nicht nur das Werk seines Idols, dessen Bild er jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Handkuss zuwirft, sondern auch dessen Lebenswandel von den Flecken zu reinigen, die er ihm zu Unrecht zugeordnet sieht. Vor allem geht es dabei um den nach Kollo angeblichen Antisemitismus, luxuriösen Lebenswandel und das Verhältnis Wagners zu den Frauen.

Damit begnügt sich der Autor jedoch nicht, sondern spannt auf gut 200 Seiten mit angenehm großen Buchstaben einen weiten Bogen über die Religionen aller Zeiten und Völker, übt Zeit- und Kulturkritik, wobei er besonders die deutsche Sucht des „kritischen Hinterfragens“ geißelt, und schlägt einen weiten Bogen von Homer über Jesus zu den Nibelungen und damit Wagner, der bekanntlich diese „Stoffe“ für seine Opern zumindest in Erwägung gezogen hatte. Ob die zahlreichen „ja“, „wohl doch“, „eigentlich“ dabei Zeichen der Unsicherheit darüber, ob seine Argumente tatsächlich stichhaltig sind, sei dahin gestellt, besser fühlt sich der Leser, wenn es um Handgreiflicheres geht wie um die Diskussion darüber, ob die Ansprache des Hans Sachs nationalistisch und damit verwerflich ist oder nicht. Kollo wehrt sich dabei gegen eine unhistorische Betrachtungsweise nicht nur hier, sondern auch bei der Frage, ob Wagner mitschuldig am Aufstieg Hitlers sei. Was den Sachs betrifft, hat er natürlich Recht, wenn er meint, man müsse die Ansprache unter der Berücksichtigung  der historischen Situation sehen, in der tatsächlich Fürsten aus vieler Herren Länder nach der Kaiserkrone und damit der deutschen Königswürde strebten und damit nicht zuletzt die Integrität der deutschen Kunst in Frage gestellt wurde.  Überzeugender würden seine Ausführungen sein, wenn sie nicht Ungenauigkeiten aufwiesen. So gab es keinen Friedrich III. in Preußen, wurden die Kaiser in Rom nicht nur gesalbt, sondern vor allem auch gekrönt, wenn eine Reise möglich war, sollte der Begriff „Genius Loci“ richtig verwendet werden. Auch geht aus der Oper Die Meistersinger von Nürnberg nicht hervor, dass Evchen Sachs heiraten muss, wenn Stolzing den Wettstreit verliert. Allzu unbekümmert streift der Autor durch Philosophie, Religion und Geschichte und gibt damit seinen eventuellen Gegnern, und davon wird es einige geben, unnötig scharfe Waffen in die Hand. Zitate werden an unpassender Stelle eingesetzt, so „The show must go on“ für die Aufführung des Parsifal an der Met, obwohl das Werk nur für Bayreuth gedacht war. Der Vergleich der Totenwache haltenden Cosima mit Elektra erweist sich ebenfalls als anfechtbar. Allerdings hätte hier auch ein Lektor hilfreich sein können. Der hätte zudem einen Satz wie „Auf den Schultern, die doch letztendlich nichts Schlimmes, sondern nur Assimilierung wollten“, vermieden.  Auch stammt der Stabreim des Ring nicht aus dem Mittelhochdeutschen, das den Endreim verwendet, sondern dem Altgermanischen. Ohne diese vielen kleinen Unstimmigkeiten würde das Buch als Gesamtes überzeugender wirken.

Immer dann wird es interessant und nachvollziehbar, wenn sich Kollo nicht auf das immer wiederkehrende „Alle 5000 Jahre“ beruft, in denen ein Genie wie Wagner die Welt beglückt, sondern konkreter wird, so bei seinen Ausführungen über Wagner-Regie und Wagner-Bühnenbilder. Er hätte aus seinem großen Erfahrungsschatz als Wagnersänger berichten können, über die Auseinandersetzungen mit Regisseuren, sein eventuell im Verlauf der Jahrzehnte gewandeltes Verhältnis zu den einzelnen Figuren, die er verkörpert hat. Wer erinnert sich zum Beispiel nicht an seine Berliner Tannhäuser, Tristan, Siegfried unter Götz Friedrich und hätte gern mehr davon erfahren. Stattdessen stellt er immer erneut Beziehungen zwischen den Werken Wagners und der Bibel her.

Interessant ist allerdings der Widerspruch, den er zwischen den theoretischen Äußerungen über die Juden und der Tatsache sieht, dass zu Wagners engstem Freundes- und Mitarbeiterkreis immer Juden gehörten. Überzeugender wären Kollos Bekundungen, Wagner sei gar kein Antisemit gewesen, wenn er sich auf die unwiderlegbaren Zitate bezogen hätte, die immer wieder als Beweis für das Gegenteil herangezogen werden. Recht hat er, wenn er behauptet, Antisemitismus ohne praktische Folgen wäre damals allgemein und weit verbreitet gewesen, erst Cosima und Winifred hätten sich wirklich schuldig gemacht.

Besonders ausführlich befasst sich René Kollo mit Parsifal und der eventuellen Absicht Wagners, sich als Religionsstifter zu profilieren. Hier werden interessante Aspekte aufgezeigt wie auch im Kapitel über Nietzsche und Wagner und des Ersteren Wandel vom Wagnerverehrer zum Wagnerhasser. Bedenklich wird es, wenn Sätze fallen wie über Wilhelm II.: „ Deutschland wurde unter ihm die Nummer eins in Europa und ist es bis heute geblieben“. Dazwischen lagen nur leider zwei Weltkriege.  „Made in Germany“ aber wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts von den Engländern deutschen Waren aufgedrückt und nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg. Bei der Verbindung einer doch extrem positiven Haltung gegenüber dem Menschen Richard Wagner mit so vielen angreifbaren Mängeln des Buches bekommt man es geradezu mit der Angst. Da möchte man den geschätzten Sänger vor dem Autor Kollo am liebsten warnen oder in Schutz nehmen. (210 Seiten lauverlagISBN 978 3 95768 139 3)

Ingrid Wanja

„Glücklich ist, wer vergisst…“

Das Buch beschäftigt sich mit dem Komponisten, Librettisten und Bühnenautor Richard Genée (1823-1895), der heute als  Motor beziehungsweise Gründungsmotor der Wiener Operette gilt.Als Richard Geneé nach Wien kam, waren jene drei alsbald repräsentativen Musiker der ersten Operetten-Periode schon geraume Zeit am Werk: der etwa 50-jährige Franz von Suppé, der 10 Jahre jüngere Johann Strauß jun. und der 30-jährige Carl Millöcker. Bei Strauß war es die mitreißende Tanzmusik von Polkas und Walzern, bei Suppé und Millöcker sketchartige Einakter, Ouvertüren und Couplets, welche die letzten Ausläufer der Lokalposse aufpolieren sollten. Doch wie oben erwähnt, leisteten schon in den 60er-Jahren Suppé wie auch Millöcker mit ihren meist einaktigen Operetten wichtige Pionierleistungen auf diesem Gebiet. Gemeinsam mit Friedrich Zell schrieb Richard Genée in den Jahren 1874 bis 1884 zahlreiche Libretti, darunter sechs Meisterwerke, auf welche Musikbühnen in aller Welt nicht verzichten mochten: Strauß‘ „Fledermaus“ und „Nacht in Venedig“, Suppés „Fatinitza“ und „Boccaccio“ sowie Millöckers „Bettelstudent“ und „Gasparone“.  Bezeichnenderweise sind in dieser Zeit auch Genées wichtigste Operettenkompositionen entstanden: der „Seekadett“ und „Nanon, die Wirtin vom goldenen Lamm“. Sie reichen an die Hauptwerke nahe heran, wurden damals auch hunderte Male an verschiedenen Bühnen gespielt.

Pierre Genée, geb. 1942, Studium der Medizin in Wien, Facharzt für Neurologie. Seit Jahren Beschäftigung mit kultur- und kunsttheoretischen Themen.Eine ausführliche Rezension folgt!

 

Richard Genée und die Wiener Operette

Löcker Verlag: 15 x 22,5 cm | Hardcover mit SU
351 Seiten |
ISBN 978-3-85409-738-9

Very British

Der Dirigent Richard Hickox, vor allem in seiner Heimat Großbritannien hoch geschätzt, hinterließ bei seinem plötzlichen Tod im Jahre 2008 eine große Zahl von Schallplattenaufnahmen. Bevorzugt widmete sich der charismatische Künstler englischer Musik verschiedener Epochen. Entsprechend sind auch mehrheitlich britische Komponisten in der Reihe der Wiederveröffentlichungen beim Label Chandos berücksichtigt worden.

Der Dirigent Richard Hickox/Wiki

Der Dirigent Richard Hickox/Wiki

Eine Ausnahme bildet der Elija von Felix Mendelssohn Bartholdy, der hier im originalen Englisch gesungen wird. Das Oratorium war 1846 mit großem Erfolg beim renommierten Musikfestival in Birmingham uraufgeführt worden. Dazu waren die dreihundert Mitwirkenden in einem Sonderzug von London angereist, was für sich genommen schon Aufsehen erregte. Danach arbeitete Mendelssohn das Werk um, indem er Stücke hinzu komponierte, andere veränderte. Elias blieb für lange Zeit in England populärer als in Deutschland. Hickox gelingt mit dem London Symphony Orchestra und dem London Symphony Chorus eine mächtige, gleichwohl transparente Interpretation, unterstützt von den Solisten Willard White, Rosalind Plowright, Linda Finnie, Arthur Davies und Jeremy Budd, die zum Zeitpunkt der Aufnahme 1989 sämtlich noch auf der Höhe ihrer stimmlichen Mittel waren (Chandos CHAN 241-48).

CD ApostlesSir Edward Elgars Oratorium The Apostles, nach dem großen Erfolg seines ersten derartigen Werkes The Dream of Gerontius geschrieben und 1903 ebenfalls in Birmingham uraufgeführt, wurde von Hickox 1990 mit dem gleichen Orchester und Chor wie der Elias eingespielt. Das Werk ist von einer manchmal etwas ermüdenden Getragenheit, mit deutlich über zwei Stunden Spieldauer auch sehr breit konzipiert. Vergleiche mit zeitnah entstandener Musik, beispielsweise von Gustav Mahler, dürften nicht zu Gunsten von Elgar ausfallen. Gleichwohl stehen Hickox auch hier Solisten der ersten Garnitur zur Verfügung: Bryn Terfel als Petrus, Robert Lloyd als Judas und David Rendall als Johannes, um nur die Wichtigsten zu nennen. Chandos CHAN 241-49)

CD TroilusBei Troilus and Cressida von William Walton, uraufgeführt in London 1954, handelt es sich um eine der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr beliebten Literatur-Vertonungen. Walton greift dabei nicht auf William Shakespeare zurück, sondern auf das gleichnamige Poem des Dichters Geoffrey Chaucer. Dessen Lebensdaten sind nicht eindeutig. Er starb 1400, vermutlich in London. Die Musik ist eingängig, mit dramaturgisch klug gesetzten Akzenten und verfügt über gut singbare, dankbare Partien. In dieser Aufzeichnung einer Produktion der Opera North von 1994 erklingt die Oper in ihrer rekonstruierten Erstfassung. Zwischenzeitlich hatte Walton eine veränderte Fassung, die von Janet Baker kreiert wurde, angefertigt. Judith Howarth als Cressida und Arthur Davies als Troilus sind genau so gut besetzt wie die Sänger der Nebenrollen. Das English Northern Philharmonia Orchester und der Chorus of Opera North sorgen für eine engagierte Wiedergabe des bis heute erfolgreichen Werkes. (Chandos CHAN 241-50)

CD LucretiaBenjamin Britten, ohne Zweifel der bedeutendste britische Komponist des 20. Jahrhunderts, ist in dieser Reihe mit seiner zweiten, unmittelbar nach dem Welterfolg seines Peter Grimes entstandenen Oper The Rape of Lucretia vertreten. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgänger handelt es sich bei diesem Werk um eine Kammeroper. Das Orchester besteht gerade einmal aus dreizehn Musikern. Die wenigen Figuren, die neben einem mit jeweils nur einer Stimme singenden männlichen und weiblichen Chor agieren, lassen keine Wünsche offen. Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, wenngleich sie an machen Stellen etwas distanziert wirken. Die Altistin Jean Rigby ist die Lucretia (in der Uraufführung sang Kathleen Ferrier diese Rolle), Alastair Miles ist ihr Ehemann Collatinus, männlicher und weiblicher Chor sind mit Nigel Robson und Catherine Pierard besetzt. Das Ensemble City of London Sinfonia begleitet hoch sensibel diese emotional berührende Stück, Hickox gelingt eine gleichermaßen durchsichtige wie eindrückliche Interpretation. (Chandos CHAN 241-51)

Peter Sommeregger

 

Jaroussky dirigiert sich selbst

Vivaldi – Pietà – Sacred works for alto: Das neue Album von Philippe Jaroussky bei Erato (082564257508) fällt zunächst durch seine elegante Gestaltung auf. Als ob Jaroussky nicht allein schon durch sich selbst, durch seinen guten Namen und seine sympathische Erscheinung genug Werbung für sein neues Kunstprodukt wäre. Nein, es wird optisch und gestalterisch noch großzügig draufgelegt. Zur CD kommt eine DVD, im Innern findet sich ein informatives Booklet in drei Sprachen (Englisch, Französisch und Deutsch) mit einem profunden Text über Vivaldi und seine Werke, die auf der CD erklingen, von Frédéric Delaméa (siehe Anhang). Schließlich kommt der Sänger, der entsprechend dem Inhalt der Musikstücke auf mehreren Fotos wirkungsvoll in Szene gesetzt ist, auch noch selbst zu Wort. Was will man mehr. Wir leben im Zeitalter der Bilder. Das Auge hört mit. So schön können Musikalben sein.

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Der eigentliche Neuigkeitswert dieser Produktion versteckt sich zwischen den Zeilen. Erstmals tritt Jaroussky mit seinem eigenen Ensemble Artaserse in einer erweiterten Orchesterbesetzung in Erscheinung – als Sänger und Dirigent. Aufnahmen in kleiner Besetzung gibt es bereits. Der Name Artaserse stimmt mit dem Titel einer Oper überein, für die Pietro Metastasio das Libretto schrieb und die 1730 erstmals in Rom, komponiert von Leonardo Vinci, aufgeführt wurde. Mehr als neunzig weitere Vertonungen sollten folgen. Jaroussky hatte in einer Produktion der Vinci-Version den Titelhelden gesungen, die bei Erato sowohl auf CD als auch auf DVD gelangte und ihm viel Lob einbrachte. Das Werk ist ihm offenbar wichtig. Nun also Vivaldi, der fast dreißig Jahre älter als Vinci gewesen ist, diesen aber überlebte „Musikalisch und für mich persönlich war es ein bewegendes Abenteuer, eine so große Zahl von Musikern zu dirigieren und dabei gleichzeitig zu singen“, lässt er die Leser des Booklets wissen. Er hoffe, dass „diese Einspielung der Beginn einer neuen Richtung in meinem Leben als Musiker sein wird. Möge Vivaldi mir Glück bringen, wie er erst stets getan hat“. Denkt Jaroussky, der langsam auf die Vierzig zugeht, über seine künstlerische Zukunft nach? Eröffnet sich eine ähnliche Laufbahn, wie sie einst René Jacobs mit Erfolg eingeschlagen hat? Man darf gespannt sein.

Immerhin ist in das Programm – diskret in der Mitte platziert – auch ein rein instrumentales Werk, das Concerto for strings and continuo RV 120, aufgenommen worden, das der Dirigent Jaroussky mit großer Entschlossenheit und gar nicht zögerlich angeht. Noch aber ist der Countertenor auf der Höhe. Ja, ich habe den Eindruck, als sei seine Stimme einerseits noch geschmeidiger und aussagestärker geworden, in den Höhen aber mitunter etwas rau. Der musikalische Auftakt der CD ist mit der Kantate Clarae stellae, scintillate RV 625, virtuos und diesseitig gewählt: „Helle Sterne, funkelt und gebt neuen Glanz der Helle des Tages“, beginnt das Werk in deutscher Übersetzung. Es ist, als spräche sich Jaroussky damit selbst Mut zu für die kommenden Herausforderungen. Inhaltlich und formal fällt das Stück aus dem Rahmen der sehr ernst gehaltenen Neuerscheinung, die mit Pietà überschrieben ist. Pietà, steht einerseits für die Darstellung Marias mit dem Leichnam Jesu Christi, andererseits war das Ospedale della Pietà in Venedig kirchliches Waisenhaus und Musikschule in einem. Antonio Vivaldi, selbst als Priester ausgebildet und tätig, wirkte dort viele Jahre als Violinlehrer. Heute sind in der Pietà noch immer soziale Einrichtungen für Menschen in Not untergebracht. Auf der DVD, die ihn nicht nur bei der Arbeit mit seinem Ensemble zeigt, führt Jaroussky die Zuschauer selbst an den Ort, den jeder Venedig-Reisende kennt, weil sich in unmittelbarer Nachbarschaft die imposante Kirche Santa Maria della Pietà erhebt.

Höchste Konzentration: Jaroussky bei der Aufnahme seiner neuen CD.

Höchste Konzentration: Jaroussky bei der Aufnahme seiner neuen CD – Foto: Screenshot aus der DVD.

Pietà also ist ein weitgehend getragenes Angebot mit dem berühmten Stabat Mater im Zentrum. Mir ist die Kantate Filiae maestae Jerusalem RV 638 („Betrübte Töchter Jerusalems, seht, der König aller, euer König verwundet und mit Dornen gekrönt …“) besonders nahe gegangen. Ein sehr verinnerlichtes Stück, dem Jaroussky eine unnachahmliche Schlichtheit gibt. Es bohrt sich einem ins Herz – und verbreitet doch keine Trauer und Schwermut. Jaroussky entlockt dieser Musik Zuversicht, Hoffnung und Poesie. Eine Wirkung, die von dem gesamten Album ausgeht.

Rüdiger Winter

Und nun der Text von Frédéric Delaméa: Priester und Musiker – in den Jahren nach 1710 sollte Don Antonio Vivaldi, Priester, renommierter Geigenvirtuose und Komponist von Konzerten, für Feste oder Gedenkfeiern von Kirchen und Kongregationen in Brescia, Padua oder Vicenza geistliche Stücke liefern. Zur gleichen Zeit begegneten ihm die heiligen Stätten seiner Heimatstadt Venedig mit Argwohn. In Venedigs Kirchen und vor allem im Markusdom, wo die

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majestätische Polyphonie Gabriellis oder der strenge a cappella-Gesang Legrenzis dominierten, misstraute man offenbar den heiteren Ritornellen, farbigen Orchestrierungen oder ungezügelten Kontrasten, wie sie die neuartigen Werke des prete rosso kennzeichneten. Soweit wir heute wissen, debütierte Vivaldi 1712 also fern von Venedig als Komponist geistlicher Musik – in der Stadt Brescia, wo seine Familie ihre Wurzeln hatte. Genau ein Jahr, bevor er mit Ottone in villa als Opernkomponist sein offizielles Debüt gab, auch dies fern von Venedig – in Vicenza.

Vivaldis Venedig: La Chiesa della Pietà/OBA

Vivaldis Venedig: La Chiesa della Pietà/OBA

Der Confederazione dell‘oratorio di San Filippo Neri in Brescia verdanken wir diese ersten Schritte Vivaldis in die geistliche Musik: das berühmte Stabat Mater, dessen Manuskript heute im Fondo Foà-Giordano der Turiner Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Dieses Werk, das 1939 eine der allerersten Kompositionen Vivaldis gewesen sein dürfte, die dem Publikum des 20. Jahrhunderts dargeboten wurden, war vermutlich am 18. März 1712, dem Gedenktag der Sieben Schmerzens Mariens, in Santa Maria della Pace, der Kirche der Kongregation, uraufgeführt worden. Für die Oratorianer von Brescia, die nur selten um neue Werke ersuchten und deren Repertoire hauptsächlich alte überarbeitete Stücke umfasste, war der Auftrag ebenso außergewöhnlich wie die mit ihm verbundenen Ausgaben, und er bezeugt, welchen Ruf sich Vivaldi inzwischen mit seiner Instrumentalmusik erworben hatte, die in ganz Oberitalien und großen Teilen des übrigen Europas verbreitet war. Die Verantwortlichen der Institution waren zweifellos sehr angetan von diesem ungewöhnlichen Priester und Musiker, der bereits ein Jahr zuvor sein Können bewiesen hatte. Man kann sich mühelos die Wirkung vorstellen, die dieses karge Meisterwerk hervorbrachte, das von einem kleinen Orchester (vier Violinen, ein Violoncello, ein Kontrabass und eine Orgel, die Mitwirkung einer Bratsche ist möglich, aber nicht bezeugt) und einem Kastraten oder eher Falsettisten vorgetragen wurde, wahrscheinlich dem berühmten Filippo Sandri, den die Kongregation gewöhnlich unter hohen Kosten engagierte.

Antonio Vivaldi auf einem Gemälde eines unbekannten Malers. Er wirkte auch als Violinlehrer in Venedig.

Antonio Vivaldi auf einem Gemälde eines unbekannten Malers. Er wirkte auch als Violinlehrer in Venedig.

Von dem mittelalterlichen Text des Stabat, dessen Autorenschaft sich Jacopone da Todi und Papst Innozenz III. noch immer streitig machen, hat Vivaldi nur die ersten zehn Strophen vertont, entsprechend einer Praxis, die sich etabliert hatte, als die Sequenz, die noch nicht offiziell zum Missale Romanum gehörte, während der Vesper gesungen wurde – zehn Strophen, von denen die ersten drei behutsam kontrastiertes musikalisches Material enthielten, das die drei folgenden Strophen exakt nachbildeten. Der erhabene Gesang von Liebe, Schmerz und Frömmigkeit, gestützt von einer äußerst geringen Orchestrierung von gewaltiger Intensität, miteinander wechselnden langsamen (Largo, Adagissimo, Lento) und gemäßigten Tempi (Andante), die in die düstere Welt von f-Moll bis c-Moll modulieren, rührte die Gläubigen in Brescia gewiss zu ebenso vielen Tränen wie die Mutter Christi auf Golgatha. Bis das abschließende Amen, ein ätherischer Wirbel, der auf einem strahlenden Dur-Akkord verklingt, die Pforten des Himmels öffnet … Fern seiner Heimatstadt Venedig hatte sich Vivaldi bei seinem ersten Versuch gleich als Meister bewährt.

Ein Unfall in der Geschichte war allerdings nötig, damit dieser Meister seine ersten geistlichen Stücke für seine Heimatstadt Venedig komponieren konnte. Dieser ereignete sich ein Jahr nach der Uraufführung des Stabat Mater, dank Francesco Gasparini, maestro di coro am Ospedale della Pietà, einer der vier sozialen Einrichtungen der Stadt, die ein Orchester und einen Chor unterhielt, beide von beachtlichem Ruf, und wo Vivaldi die rangvolle Position des maestro di violino bekleidete. Gasparini in seiner Eigenschaft als Chorleiter hatte die Aufgabe, das geistliche Repertoire der Institution zu komponieren und einzustudieren. Am 23. April 1713 allerdings bat er um die Erlaubnis, sich aus gesundheitlichen und familiären Gründen für sechs Monate entfernen zu dürfen. Der maestro verpflichtete sich sicherlich, die Pietà auch weiterhin mit neuen Kompositionen zu versorgen, ließ sich jedoch, nach einer Etappe in Florenz, endgültig in Rom nieder und kehrte nie wieder auf seinen Posten zurück. Unter diesen Umständen wurden Gasparinis Aufgaben, solange noch kein Vertreter benannt war, offiziell Vivaldi übertragen. Dieses ‚Interim‘ dauerte drei Jahre und setzte ihn in die Lage, mit einem beachtlichen Teil seiner geistlichen Musik aufzuwarten.

Philippe Jaroussky an der Kirche Santa Maria della Pietà in Venedig - Foto: Screenshot aus DVD.

Philippe Jaroussky an der Kirche Santa Maria della Pietà in Venedig – Foto: Screenshot aus der DVD.

Am 2. Juni 1715 ließ die Leitung der Pietà Vivaldi eine Gratifikation von 50 Dukaten zukommen (praktisch sein Jahresgehalt), was der Sonderprämie entsprach, die gemeinhin dem maestro di coro gewährt wurde. In ihrem Beschluss rechtfertigte sie diese Maßnahme mit Vivaldis ‚wohlbekanntem Eifer und der erfolgreichen Arbeit, nicht nur in der Unterrichtung der Instrumente, deren Ergebnisse allgemeinen Beifall fanden‘, sondern auch in den ‚vorzüglichen musikalischen Kompositionen, die er seit der Abreise des maestro Gasparini geliefert hat, darunter eine vollständige Messe, Vespern, ein Oratorium, über dreißig Motetten und andere Stücke’. Die genannte Messe enthielt vermutlich das Gloria in D-dur RV 589, das heute ebenso berühmt ist wie Vivaldis Konzerte. Ein ausgefeiltes Meisterwerk in üppigem concertato-Stil, also einem Wechsel von Arien und Chören in kontrastierenden Tempi und Tonarten. Ein meisterhaftes Fresko, dessen jubilierender rhythmischer Puls mit der zarten Sicilienne Domine Deus eine der herrlichsten Pausen einlegt: Von einer solistischen Oboe, wie in dieser Aufführung, oder Violine begleitet (Vivaldi lässt in seinem Autograph die Wahl) offenbart dieser Augenblick der Ewigkeit dem Hörer, wie es Michael Talbot auf den Punkt brachte, ‚die Quintessenz der Lyrik Vivaldis‘.

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Canal´ Grande/OBA

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Canal´ Grande/OBA

Gelobt wurde Vivaldi auch für seine Komposition von ‚über dreißig Motetten‘. In der Tat musste er sich immer wieder in dieser Gattung bewähren, in der die Sänger geistlicher Musik mit Opernsängern konkurrierten. Allerdings gelang es ihm, die herkömmliche Form der Motette (zwei Arien in kontrastierendem Tempo getrennt durch ein Rezitativ und als Abschluss ein Halleluja) zu verfeinern, indem er ihr den unnachahmlichen Stempel seines melodischen und rhythmischen Genies aufdrückte und somit jeder Gefahr einer Standardisierung entging. Unter den 1715 von der Leitung der Pietà genannten Motetten befand sich vielleicht auch die Motette Clarae stellae, scintillate, die er wohl schon mit Blick auf die Heimsuchung Mariens, das Patronatsfest der Pietà am 2. Juli 1715 komponiert hatte und die an jenem Tag von einer Bewohnerin der Institution namens Geltruda vorgetragen wurde. Ein lichtvolles, wenig anspruchsvolles Stück, doch von sicherer Wirkung, auch wenn es weit entfernt war von den virtuosen Motetten, die Vivaldi mit Beginn der 1720er Jahre komponieren würde. Für Motetten dieser Art ist das spektakuläre Werk Longe mala, umbrae, terrores ein beeindruckendes Beispiel; sie würden in den Gottesdienst die funkelnde Sprache der Oper tragen und damit zeigen, auf welch erstaunliche Weise sich geistliche und profane Welt einander näherten.

Aber kehren wir in das Jahr 1715 zurück. Zu den ‚vorzüglichen musikalischen Kompositionen‘, die von den Verantwortlichen der Pietà in ihrer Resolution gerühmt wurden, könnten auch zwei introduzioni al Miserere gehört haben, wahrscheinlich begleitet von einem oder mehreren Miserere. Wenn diese Miserere heute leider verloren sind, so sind uns doch wenigstens die beiden introduzioni erhalten, alle beide für Alt und Orchester, darunter das ungewöhnliche Filiae maestae Jerusalem. Diese introduzione, während Vivaldis produktiven ‚Interims‘ an der Pietà entstanden und vielleicht ebenfalls von Geltruda gesungen, führte die Gläubigen in die tiefste Tiefe geistlicher Inspiration des Priesters und Musikers. Von der herzzerreißenden Klage der ‚betrübten Töchter Jerusalems‘ im einleitenden Rezitativ bis hin zur spektakulären Schilderung des schwankenden Universums im Augenblick des Todes Christi hat Vivaldi ein düsteres, mächtiges Werk geschaffen, dessen tiefempfundenes Feuer nie seine Kraft verliert, nicht einmal in den betont arkadischen Klängen der mittleren Arie. Wie in dem vernichteten Jerusalem, am Fuße der zerschellten Felsen und beim Zerreißen des Vorhangs ist es eine schwarze Sonne, die von Anfang bis Ende dieses absolute Meisterwerk der geistlichen Musik Vivaldis mit einem eisigen Glanz überzieht.

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Markusplatz/OBA

Vivaldis Venedig: Canalettos Blick auf den Markusplatz/OBA

Bis zu seiner Abreise aus Venedig im Jahre 1740 komponierte Vivaldi unter verschiedenen Rechtsbeziehungen und wechselnden Bedingungen weiter geistliche Werke. Zunächst für die Pietà, die in ihrer langen und bewegten gemeinsamen Zeit bei ihm sporadisch Psalmen, Hymnen und Motetten bestellte. Aber auch für andere Kirchen oder Kongregationen in Venedig und anderen Städten, in Italien und im übrigen Europa. Allerdings können wir die uns überlieferten Werke nicht immer mit Sicherheit an einen Kontext knüpfen oder sie einer bestimmten Bestellung zuordnen. Das gilt auch für das heute im Fondo Foà-Giordano der Turiner Nationalbibliothek aufbewahrte Salve Regina in g-Moll RV 618. Diese herrliche Version der Marienantiphon, die von Trinitatis bis zum Adventsbeginn gesungen wird, verwendet ein Orchester mit zwei cori, verstärkt durch zwei Oboen. Vermutlich komponiert zwischen Mitte der 1720er Jahre und Anfang der 1730er Jahre, könnte sie in der Pietà aufgeführt worden sein, steht aber nicht notwendigerweise mit dieser Institution in Beziehung. Im Laufe der sechs Strophen beeindrucken Ausdruckskraft und melodischer Reichtum ebenso wie der ausgefeilte Instrumentalsatz, der sich schon in den ersten Takten der fugierten Ouvertüre ankündigt und in dem herrlichen Wechselspiel zwischen den beiden cori bestätigt wird.

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Philippe Jarrousky/Foto Marc Ribes/Warner

Dieses Kleinod der geistlichen Musik Vivaldis bezeugt auf bewegende Weise, wie sehr Vivaldi, eine Persönlichkeit voller Gegensätze, in einer Stadt und einer Epoche lebend, die nicht weniger widersprüchlich waren, sein Leben lang versuchte, seine ‚gewaltige Kompositionswut‘, wie es Charles de Brosses ausdrückte, mit den Erfordernissen seines klerikalen Amtes und seinem Glauben in Einklang zu bringen. Denn es war natürlich der Bereich der geistlichen Komposition, wo dieses Paradoxon in erster Linie seinen Ausgleich finden sollte. In diesem Salve Regina wie auch in so vielen seiner riesigen liturgischen Fresken oder in seinen Psalmen gelang es Vivaldi, über seine Suche nach Erfolg und die Erfordernisse der Konvention hinaus, einer wahrhaft geistlichen Inspiration den absoluten Vorrang zu geben, indem er tiefste Andacht mit strahlendstem Jubel mischte. Auf halbem Wege zwischen Altar und Notenpult scheint der Priester und Musiker, ein wunderbarer Maler der menschlichen Seele, hier sein fragiles und schmerzliches Gleichgewicht gefunden zu haben.

Frédéric Delaméa

Jaroussky in vendig 5

 

Das Foto oben/Marc Ribes/Erato und den Text von Frédéric Delaméa (Übersetzung Gudrun Meier) entnahmen wir dem Warner-Pressematerial, das Foto ganz unten ist ein Screenshot aus der beiliegenden DVD. Auf dieser führt Philippe Jaroussky durch das Venedig Vivaldis. Mit dem Programm seiner neuen CD ist er noch in diesem Jahr in Hamburg (Laeiszhalle, 12. Dezember), Berlin (Konzerthaus, 14. Dezember) und Regensburg (Audimax der Universität, 16. Dezember) auf Tournee. Im kommenden Jahr folgen dann weitere deutsche Städte sowie Wien und Luzern.

Für Neulinge

 Opernliebe  nennt sich ein dickleibiges Buch von Iso Camartin mt dem Untertitel  Ein Buch für Enthusiasten. Gemeint ist sowohl die Liebe zur Oper als die Liebe, die schließlich  das Thema der meisten Opern ist.  Die Zielgruppe des Autors sind nicht die Opernexperten, sondern diejenigen, die Opern lieben oder bereit sind, es zu lernen, und es ist gut, dass er diese Einschränkung gleich zu Beginn macht.

Das Buch gliedert sich nach Epochen, beginnend mit der Spätrenaissance und endend mit Richard Strauss. Dazwischen wird nach Komponisten wie Mozart oder nach Kunstepochen wie dem Verismo oder geographisch, so die slawische Opernliteratur, gegliedert. Die einzelnen Kapitel begründen die jeweilige Auswahl aus dem umfangreichen Material, befassen sich mit den Quellen für die Libretti, mit dem jeweiligen Entstehungsprozess, der Wirkung und selten weisen sie auf besonders lobenswerte Interpreten hin. Den meisten Raum, und deshalb ist das Buch eher etwas für Opernneulinge, nimmt eine umfangreiche, wenn auch meistens auf die Liebesgeschichte beschränkte Inhaltsangabe der jeweiligen Oper ein. Bei diesen essayistischen Ausführungen spürt man in jedem Satz die Begeisterung des Autors für sein Sujet, den Wunsch, Oper dem Leser recht nahe zu bringen. Im Barock-Kapitel wird über die unterschiedlichen Arten von Liebe berichtet, über die historischen Bedingungen für das Musikwesen, im Mozart-Kapitel findet der Leser eine kleine Psychologie der Liebe. Interessant ist die Sichtweise, die Camartin auf Donna Anna hat, streiten könnte man mit ihm darüber, ob in Fidelio ein Beispiel romantischer Liebe zu finden ist.

Im Kapitel über die französische Oper hätte es sich angeboten, die Auffassung von Liebe im Vergleich zwischen deutschem Stoff in romanischer Vertonung zu untersuchen, aber leider bleibt der Autor oft bei einer reinen Beschreibung des Phänomens stehen. Auch hätte man gern mehr darüber erfahren, welchen Einfluss Gesellschaftliches und daraus erwachsendes Ideologisches auf die jeweilige Auffassung von Liebe  genommen haben. Weniger als auf das Libretto geht der Autor auf die Musik ein, wo es doch interessant gewesen wäre, zu erfahren, welche Instrumente, welche Tonarten usw. bevorzugt in bestimmten Epochen der Schilderung von Liebe angemessen erschienen. Im Vorwort liest man zwar: “Wie sieht die Liebe aus, wenn sie nicht im Leben, sondern auf der Opernbühne ihre Gestaltung findet?“, doch davon ist weniger die Rede als man erwarten könnte. Man freut sich auch darauf zu lesen, „wie die Musik diese Liebesbotschaft umsetzt“, wird dann aber doch oft enttäuscht, weil mit dem Verfasser die Plauderlust über das Geschehen selbst durchgeht. Im Vorwort wird auch die menschliche Stimme als drittes wesentliches Element der Oper angegeben, über dieses Thema hätte man gern mehr erfahren, als dann tatsächlich zu lesen ist.

Als „Sonderfall der Operngeschichte“ der Operngeschichte bezeichnet Camartin Richard Wagner und weiß das auch eindrucksvoll zu begründen. „Erlösungswahn durch Liebe“ nennt er das Programm des Komponisten und geht dabei auf Senta und Elisabeth ein, später auch noch auf den „Liebestod“ als „Vollendung“ der „Liebe auf Erden“. In diesem Kapitel wird weit über eine Nacherzählung hinausgegangen, deutlich gemacht, dass sich Frauen zwar auch in anderen Opern opfern, aber Liù, Tosca oder  Trovatore-Leonore, um das Leben des Geliebten zu retten, um das Seelenheil geht es dabei nicht. Auch über die Meistersinger weiß der Autor sehr viel mehr und auf einem anderen Niveau zu berichten als in anderen Kapiteln.

„Liebe in russischen und tschechischen Opern“ ist eine heikle Kapitelüberschrift, denn diese lässt sich wohl kaum unter einen thematischen Hut bringen, denkt man nur daran, Tatjana, Jenufa, Katahrina Ismailova und Marina miteinander  vergleichen zu wollen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Buch einem der Oper positiv Gegenübestehenden, der sie gern näher kennen lernen möchte, viel Interessantes bietet, nicht ganz die Erwartungen erfüllt, die das Thema weckt, insgesamt aber dem Neuling hilft, in das Reich der Oper wissend einzutreten, dem Kenner immerhin einige Anregungen offeriert (385 Seiten; Beck Verlag; ISBN 978 3 406 65964 5)

Ingrid Wanja             

Catalanis „Loreley“

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Im November 2014 gab es – wohlverdient, wenngleich vielleicht als Werk etwas wenig schwungvoll und zudem natürlich nicht erstmals in der Moderne vorgeführt, sondern bereits 1984 in Oberhausen gehört/gesehen – im Münchner Prinzregententheater Die Loreley von Max Bruch, Mendelssohn-verhaftet und spätromantisch-deutsch, inzwischen gibt es davon auch eine Cd-Einspielung.. 

Das brachte uns auf die Idee – sozusagen als europäischer Süd-Nord-Kontrast – einen Artikel über die andere, berühmtere Loreley von Alfredo Catalani zu bringen, die in verschiedenen Live-Aufnahmen und sogar offiziell, wenngleich inzwischen vielleicht auch vergessen, bei Bongiovanni, opera.net und Gala vorliegt und die ganz anders mit dem „deutschen“ Sujet umgeht, eben spätromantisch-nach vorne blickend, schwungvoll. Vor allem Ausdruck einer Idee der Erneuerung verhaftet, bietet diese Oper doch – mehr noch als die Wally, finde ich – diese spannende Symbiose von italienischer, schon in die Neuzeit drängender Melodik und deutscher Beeinflussung in der Folge Wagners, dazu (wie bei Franchetti und anderen der Zeit) diese Hinwendung zur cisalpinen Kultur des deutschsprachigen Raums. Eine wirklich packende Mischung!

"Loreley": Alfredo Catalani vor der Mailänder Scala (OBA)

„Loreley“: Alfredo Catalani vor der Mailänder Scala (OBA)

Seine Oper Wally erinnert uns, dass er immer noch weitgehend der Vergessenheit anheim gefallen ist und als „Ein-Opern-Komponist“ (eben der Wally) gilt. Es gab Zeiten, wenigstens in ltalien, während derer die beiden erfolgreichsten Werke des Komponisten aus Lucca, die Loreley und die reifere Wally, regelmäßig sogar in den kleineren Theatern der Provinz zirkulierten, sehr akklamiert und bleibende Begeisterung hinterlassend.

Dies war nur bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges möglich. Dann, in der Nachkriegszeit, gerieten die beiden bekannteren Kompositionen Catalanis in Vergessenheit. Andererseits hatten fast alle melodramatischen Opern-Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger das gleiche Schicksal: Sie wurden buchstäblich verdrängt durch die alles überwaltigende Präsenz eines reifen Verdi. Außerdem trug die (in ltalien ziemlich späte)  Erscheinung der Werke Wagners zur Verwirrung der einheimischen Musiker bei. Wie auf diesen Giganten reagieren?

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Was bleibt heute übrig von Namen wie Apolloni, Petrella, Marchetti, Gomes oder Cagnoni – alles seriöse Komponisten einer großen, wenn auch vielleicht kurzlebigen Popularität. Nur zwei Werke überlebten. wenn auch aus verschiedenen Gründen: Boitos Mefi­stofele und Ponchiellis Gioconda – ersteres wegen seiner beruhigenden Rückwärtsgewandtheit, letzteres wegen seiner Melodienseligkeit.

„Loreley“: Salomea Krushelnytska war eine brühmte Loreley/OBA

Mit dieser Hypothek Verdi und Wagner im Rücken: Wieviel Raum blieb da im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einem problematischen konservativen Kontext für einen jungen, unerfahrenen Komponisten wie Alfredo Catalani, der mit seiner angegriffenen Gesundheit von halluzinativer Imagination gequält und von den Fieberträumen einer musikalischen und ästhetischen Erneuerung dominiert wurde, deren Umsetzung schwierig, wenn nicht gar unmöglich schien? Nichtsdestotrotz begeisterte der junge Mann aus Lucca mit seiner guten literarischen Ausbildung und soliden musikalischen Kultur, die er am Mailänder Konservatorium erworben und danach vertieft hatte während eines kurzen, gewinnbringenden Aufenthaltes  in Paris. Dies schlug sich nieder in der ersten kurzen Oper, La Falce, die er gegen Ende seines Studiums vorstellte. In der Folge davon scharte er eine Gruppe glühender, einflussreicher Verehrer um sich, zu denen auch Boito und Faccio (Verdis Aida-Dirigent und kürzlich hier in operalounge.de mit seinem Amleto in Albuquerque gewürdigt), aber auch die kluge Verlegerin Lucca gehörten, letztere stets auf der Ausschau nach vermarktbaren Talenten. Sie wie die anderen stellte fest, dass hier ein exquisiter Sinn für Harmonie, eine ungewöhnliche musikalische Transparenz herrschten, vor allem eine erstaunliche Begabung für die Erstellung einer Geschichte auf der Basis eine logischen, symphonischen Sujets. Das alles reichte aus, um den jungen Catalani als einen Exponenten eines intellektuellen Wendepunktes zu feiern, der endlich das italienische  melodramma von seiner altmodischen, wenn auch vielgeliebt-brillanten Verhaftung an ein altes Regime zu befreien und wieder in das Zentrum der europäischen, nicht nur der als altbacken-italienischen empfundenen Kultur rücken würde. Der alte Traum der Mailänder Bohème, der Scappigliatura, schien in Erfüllung zu gehen, die bislang nur mit Boitos Erneuerungen des italienischen Klanges hervorgetreten war.

"Loreley": Lucca 1982 (GB)

„Loreley“: Lucca 1982 (GB)

Obwohl sich der Beginn von Catalanis Karriere also so gut angelassen hatte und er als strahlender Hoffnungsträger galt, stand der nachfolgende Teil unter keinem guten Stern. Er kämpfte sein ganzes kurzes Leben gegen alle Energien verzehrende Krankheiten, die ihm einen frühen Tod bereiteten. Dennoch setzte er sich mit zäher Energie als Bühnenkomponist durch, nun auch trotz der allgemeinen Gleichgültigkeit, die den ehemaligen Enthusiasmus der Öffentlichkeit ersetzt hatte – eine Tatsache, die der Catalani-Champion Toscanini vielfach beklagte und die sich bis heute auswirkt. Viele Häuser und Dirigenten können davon ein Lied erzählen, wenn sie Catalanis Werke, außer der Wally, aufführen wollten und mit den Ricordischen „Schwierigkeiten des Orchestermaterials“ kämpfen mussten. Die Blockade Ricordis, um den favorisierten Puccini zu protegieren, galt noch bis in die Nachkriegszeit (die bereits erwähnte Verlegerin Lucca hatte Catalani durchaus zu einem Konkurrenten Verdis und des jungen Puccini aufgebaut; nach ihrem Tod kaufte der kluge Ricordi das ganze Noten-Konvolut auf, darunter eben auch Catalanis Partituren, die erst einmal für lange Zeit in den Tiefen des Ricordi-Archives verschwanden und von dem Verlag eben auch nicht mehr zur Aufführung angeboten wurden – so wie es auch anderen Komponisten wie Faccio erging).

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"Loreley": Buenos Aires 2010/Teatro Colon/Liliana Morsia

„Loreley“: Buenos Aires 2010/Teatro Colón/Liliana Morsia

In dieser schon Tuberkulose-fiebrigen, anstrengenden Atmosphäre einer kurzen Lebensspanne entstand ein Werk nach dem anderen: die phantastische Elda (1880), die fragmentarische und faszinierende Dejanice (1883), die zugänglichere, bizarre Edmea (1886), die reifere Loreley (1890) und vor allem die Wally (1892), der ein langes Bühnenleben beschieden war, nicht zuletzt wegen des imperativen Einsatzes von Arturo Toscanini, dem Freund und Bewunderer Catalanis.

Loreley, die vom Publikum des Teatro Reggio in Turin anfänglich lauwarm, später begeisterter und überzeugter aufgenommen wurde, besteht aus einer Überarbeitung des Jugendwerkes Elda unter Verwendung des Großteils der Musik, jedoch mit plausiblerer Orchestrierung. Die Handlung (inspiriert von nordischen Sagen), vom Elda-Librettisten Carlo D ‚Ormeville an die baltische Küste verlegt, wurde für die Loreley an ihren neuen Schauplatz am Ufer des Rheins transportiert, der durch Heinrich Heines Gedicht, auch in der Vertonung Liszts, sich großer Beliebtheit erfreute und allgemein bekannt war – der Inbegriff der deutschen Romantik.

"Loreley": Koblenz 1980 (orpheus)

„Loreley“: Koblenz 1980/ OBA

Aber das lnteressante an dieser Oper ist nicht das Libretto, wenngleich die Wahl eines so phantastischen, für ltalien ungewöhnlichen Sujets in der 2. Hälfte des  19. Jahrhunderts durch den Einfluss Wagners plausibel erscheint (Lohengrin grüßt). Selbst wenn die Loreley letztendlich kein wirklich erfolgreiches Werk wurde, so erscheint sie doch bedeutend wegen der träumerischen Phantasie, wegen Catalanis Gabe für harmonische und instrumentale Feinheiten und wegen eines müden Sich-Sehnens frei jeder Schematisierung, mit der er die realen und unwirklichen Umstände  seiner Charaktere, vor allem der weiblichen, charakterisiert. Musikalische Momente wie Annas unvergesslicher, quälender Begräbnismarsch mit seinem Wechsel von schmerzlichen Chor- und Solostellen oder der berühmte und auch oft im Konzert gegebene „Danza delle Ondine“ (Tanz der Undinen) schaffen eine irreale und doch reichhaltige  Atmosphäre, sind beide Höhepunkte in der Opern-Literatur nicht nur Italiens.

"Loreley": Scala 1968 Elena Souliotis und Gianfranco Cecchele/Opera d´Oro

„Loreley“: Scala 1968 Elena Souliotis und Gianfranco Cecchele/Opera d´Oro

Wenn man genau in die Musik hineinhört, erscheint das imponierende Finale des zweiten Aktes hervorragend konstruiert und das abschließende Schluss-Duett sehr wirkungsvoll, wenn auch ein wenig emphatisch, während einige der Chorteile nur als Beiwerk wirken und wenig zur Dramatik beitragen. Bei den Solopartien macht Anna den größten Eindruck mit ihrer Arie „Amor celeste ebrezza“, dem bekanntesten Stück der Oper und fälschlicherweise stets mit der Loreley selber assoziiert. Die einst beliebte Romanze Walters im ersten Akt erscheint uns heute doch eher sentimental im konservativ-alten Stil

"Loreley": Gigliola Frazzoni/Gala

„Loreley“: Gigliola Frazzoni/Gala

Die Frage nach der Aufführbarkeit der Oper muss man unbedingt bejahen, besonders weil Loreley einen noblen, wenngleich glücklosen Versuch darstellt, das italienische Musiktheater des auslaufenden 19. Jahrhunderts auf einen neuen, unabhängigen, eigenen Kurs zu bringen – weg van Verdis Einfluss und Wagners Lehren -, zwei Hypotheken, die man als gar nicht gravierend genug für die Folgezeit und für die neue Komponistengeneration die Folgezeit begreifen muss.

Der Tod hinderte Catalani an der Erfüllung seines ambitionierten Traumes. Dieser wurde später von der Jungen Schule mit größerem Nachdruck verfolgt – vor allem von Giacomo Puccini. Während Puccini eine kluge  Distanz zu der träumerischen Illusion der nordischen Nebel und der traumverhafteten Romantik bewahrte, wandte er sich den  ästhetischen, kulturellen und menschlichen Realitäten seiner Zeit zu und fand so den entscheidenden Stil, den Catalani  nicht erfolgreich verwirklichen konnte. Als  der alte Verdi die Nachricht von dem Tod seines jungen Kollegen erhielt, schrieb er an den Dirigenten Mascheroni: „Armer Catalani! Er war ein guter Mann und ein exzellenter Musiker! Schade, schade! Beglückwünschen Sie Giulio (Ricordi) für seine kurzen und schönen Worte, die er für diesen Armen sprach. Welche Schande ! Und welche Zurechtweisung für die anderen!“ Hatte er sich selbst auch mit eingeschlossen in „die anderen“?

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"Loreley": Marta Colalilo/GB

„Loreley“: Marta Colalilo/GB

Verbreitung: Nach der Premiere 1890 in Turin war die Oper in ltalien sehr erfolgreich, und auch im Ausland wurde sie wiederholt gespielt (Odessa 1901, Buenos Aires 1905, London 1907, Rio 1910, Madrid 1916, Chicago und New York 1919; Daten nach Seeger/Opernlexikon), in Deutschland erstmalig in Koblenz 1980 in deutscher Sprache. In ltalien gab es sie dann erneut wieder nach dem 2. Weltkrieg bei der italienischen RAI mit Rina Gigli unter Alfredo Simonetto 1960, szenisch in Mailand 1968, Lucca 1982 und in Genua  1993 mit Marilyn Zschau in der Titelpartie, Denia Gavazzeni-Mazzola und Nicola Martinucci unter Gianandrea Gavazzeni, der auch die Vorstellung in Mailand dirigiert hatte. Eine Loreley gab es zudem erneut bei der RAI mit der Frazzoni 1973, in 1993 Verona mit der Dimitrova, Sighele und Merighi, in Buenos Aires mit (natürlich) der Lokalmatadorin Negri 2010. Von einer Aufführung unter Guido Rumstadt in Regensburg 2013 erfuhr ich aus dem Netz.

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"Loreley": Anna de Cavalieri/OBA

„Loreley“: Anna de Cavalieri/OBA

Dokumente: Heute/2023 nachgeschaut/ muss man leider sagen, dass fast alle Live-Dokumente wegen der Copyright-Restriktionen verschollen sind – die folgenden Angaben also nur aus der Sammlertruhe. Es existierte die erste RAI-Fassung bei GAO und in Auszügen die Koblenzer Aufführung mit Anne-­Meike Eskelsen auf einer Privatpressung; bei Walhall/Gala gibt es die attraktive RAI-Besetzung mit De Cavalieri, Gigli, Neate, Guelfi auf CD (Amazon), bei Hunt, Memories/Nuova Era (Amazon) u. a. die Mailänder Produktion mit Elena Suliotis, Gianfranco Cecchele und Piero Cappucculli von 1968. Bongiovanni (Amazon) gab den Mitschnitt der Aufführung in Lucca 1986 mit Marta Collalillo, Piero Visconti und Alessandro Cassis heraus, der – trotz der substanziellen Kürzungen (wie an der Scala auch) – klanglich und sängerisch der empfehlenswerte ist.  Und es gab eine Ausgabe bei der Download-Firma opera-club.net  und anderen mit der Verona-Aufnahme von 1993 mit der Dimitrova unter Masini, der weitere Catalani-Dokumente (u.a. die Cavalieri-Aufnahme in Auszügen) angekoppelt sind.

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Loreley: Oper in 3 Akten von Alfredo Catalani, Libretto von Carlo d ‚Ormeville und Angelo Zanardini Uraufführung: Turin 1890; Personen: Rodolfo, Markgraf von Biberich – Bariton, Anna di Rehberg, seine Tochter – Sopran, Walter. Duca di Obervvesel – Tenor. Hermann. Baron – Bariton, Loreley, ein armes Fischermädchen und anschließend eine Willi/verdammte und herumirrende Seele – Sopran. Edelleute, Volk, Soldaten; Nymphen und Geister Ort/Zeit: am Rhein um 1300

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Inhalt: Im 1. Akt erfahren wir von der Verlobung Walters, des Grafen von Oberwesel, mit der jungen Anna. Tochter des Markgrafen von Biberich. Walter ist aber auch in das arme Fischermädchen Loreley verliebt und erzählt seinem Freund Hermann, der seinerseits Anna liebt, von dieser aussichtlosen Zuneigung. Er entschließt sich bei seinem Zusammentreffen mit Loreley, sich von ihr zu trennen. Diese ist tief getroffen und verliert den Sinn für die Wirklichkeit. Sie fleht den König des Rheines, den Geisterfürsten, an, ihr ewige Schönheit zu verleihen, damit sie sich an den Männern rächen kann. Wenn sie seine Braut würde und niemandem anderem gehören wolle, verspricht der Rheinkönig, gingen ihre Wünsche in Erfüllung. Loreley stürzt sich in die Fluten und steigt als unwiderstehliche Geistererscheinung daraus hervor.

"Loreley": Adelaide Negri/OBA

„Loreley“: Adelaide Negri/OBA

Im 2. Akt werden auf der Burg von Annas Vater die letzten Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen. Hermann versucht, seine heimliche Geliebte vor der Untreue ihres Bräutigams zu warnen, aber sie hört nicht auf ihn, sondern singt ein Lied auf die Liebe („Amor celeste ebrezza“). Als der Hochzeitszug vor der Kirche ankommt, entsteigt dem Rhein die zauberhafte Loreley und lockt die Männer mit ihrem Lied. Walter kann sich ihren Reizen nicht entziehen und stürzt ihr nach, die Hochzeitsgesellschaft verflucht ihn.

Im 3. Akt sind wir am Ufer des Rheins, wo sich Holzfäller von der magischen jungen Frau erzählen, die vom Felsen die Schiffer in den Tod lockt. Anna wird auf der Totenbahre vorbei getragen, sie ist an gebrochenem Herzen gestorben. Walter naht sich der Bahre voll Reue, wird aber von Hermann und dem Vater zurück gestoßen. lrrend zieht es ihn wieder und wieder an den Rhein, aus dem Loreley auftaucht. Er fleht sie an, zu ihm zurückzukehren; da mahnen sie die Geister an ihren Schwur, nur dem Rheinkönig gehören zu wollen. Verzweiflung packt Walter, und er stürzt sich in die kalten Fluten, von  den Willis (den Geistern verlassener und verstorbener Mädchen) herabgezogen. Geerd Heinsen

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(Zum Werk und zum Komponisten vergl. auch den Aufsatz von Fernando Battaglia in der Bongiovanni-Ausgabe/GB 2015/6 vom Mitschnitt in Lucca 1982; unbedingt hingewiesen werden muss auf die beiden Bücher über Catalani von David Chandler, Hrsg./Durrant Publishing ISBN 978-1-905946-09-9 und 978-1-905946-26-6, die auch in operalounge.de besprochen wurden.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Die letzte Blaue

Der 1920 als Walter Aptowitzer in Wien geborene Musikkritiker und Komponist Walter Arlen konnte durch seine rechtzeitige Flucht in die USA dem Holocaust entgehen. Dort, und in verschiedenen Europäischen Ländern arbeitete Arlen zeitweilig als Musikwissenschaftler, als Kritiker und als Komponist. Das Label Gramola, das Arlen bereits mit einer Lieder-CD in seiner Reihe exil.arte ehrte, veröffentlicht nun eine Doppel-CD  Die letzte Blaue mit Stücken für Klavier und Liedern für Bariton und Sopran. Diese Werke sind teilweise jüngeren Datums, trotz seiner weitgehenden Erblindung komponiert Arlen auch weiter, fertigt zum Teil auch revidierte Fassungen früherer Kompositionen an.

Der Pianist Daniel Wnukowski und der Geiger Daniel Hope nehmen sich Arlens etwas spröden Stücken mit großem Engagement an. Manche Stücke sind bedeutenden Persönlichkeiten wie Milhaud, Yelena Bonner, u.a. gewidmet. Ein Stück, „Arbeit macht frei“ entstand unter dem Eindruck eines Besuches in Auschwitz. So haben eine Mehrzahl der hier vorhandenen Stücke sehr emotionale Hintergründe, bleiben aber in ihrer musikalischen Sprache eher kühl und distanziert.

Eine Reihe von Liedern wird von dem Bariton Christian Immler und der Sopranistin Rebecca Nelsen interpretiert. Die ausschließlich englischen Texte stammen von  Dichtern wie Mark Strand, Richard Church und Robin Flower. Die Textbehandlung durch die Sänger lässt allerdings durchaus zu wünschen übrig. Immler verfügt über einen angenehmen, warmen Bariton, Nelsen dagegen klingt durchgängig etwas sauer und unfrisch. Das titelgebende letzte Stück „Die letzte Blaue“ ist eine etwas boshafte Hommage an das sentimentale Wiener Lied – Nelsen singt es so schmierig und lasziv, dass einem trotz aller Text-Unverständlichkeit das Lachen vergeht. Insgesamt ein verdienstvolles Projekt, das aber in seiner Sprödigkeit keine rechte Begeisterung aufkommen lässt ( Gramola 98996).

Peter Sommeregger

Edition-Radiomusiken

EditionRadiomusiken: Hinter dem ein wenig sperrigen Titel dieser Box verbirgt sich ein hoch interessantes Projekt der Staatsoperette Dresden, das in Zusammenarbeit mit dem MDR Figaro und Deutschlandradio Kultur sogenannte Radiomusiken aufnimmt.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um die sogenannte Gattung der „Radiomusik“, eine in der Zeit der Weimarer Republik und Frühzeit des Rundfunks  entstandene Schnittstelle der Unterhaltungsmusik und verschiedener Strömungen der zeitgenössischen Musik. Auffällig, dass fast alle auf diesen CDs vertretene Komponisten während des Dritten Reiches Berufsverbot erhielten, oder emigrierten. Diese speziell für das Medium Rundfunk komponierten Stücke sind entsprechend ihrer Verwendung sehr pointierte, eingängige Stücke, deren Entdeckung durchaus lohnt. Geschaffen für ein „Lautsprecherpublikum“ und die Übertragung durch ein einziges Mikrophon folgen diese Stücke zwar keiner stilistisch einheitlichen Form, sind aber doch typisch für das neu entwickelte Genre.

Der erste Band der Radiomusiken bei cpo erschien im vergangenen Jahr (8575714)

Der erste Band der Radiomusiken bei cpo erschien im vergangenen Jahr (8575714).

Vertreten sind in dieser Box Franz Schreker mit einer Kleinen Suite, die den erfolgreichen Opernkomponisten einmal von einer anderen Seite zeigt. Ernst Toch mit der „Bunten Suite“ op.48, einer originellen, launigen Schöpfung, der die Kritik nach der Erstsendung attestierte, es würde „im Spielerischen seine glückliche Wirkung erzielen“. Max Butting ist mit zwei Stücken vertreten ,der Sinfonietta mit Banjo (Erste Rundfunkmusik) und Heitere Musik op.38 (Zweite Rundfunkmusik). Mischa Spoliansky präsentiert eine gerade einmal sechsminütige Charleston Caprice für Großes Orchester, die hier nach dem Originalmanuskript eingespielt wurde, da sie bis heute keinen Verleger gefunden hat. Last not least Eduard Künneke, dessen Tänzerische Suite für Jazzband und großes Orchester das eingängigste und nach meinem Geschmack beste Stück dieser Zusammenstellung ist. Wie der Komponist eine Jazzband in das große Orchester einbaut, lohnt allein schon das Hören dieses Stückes Fern aller Operettenseligkeit zeigt sich der Komponist hier von einer ganz neuen Seite. Walter Braunfels, dessen Kompositionen in den letzten Jahren eine erfreuliche Renaissance erleben, ist mit einem Divertimento für Radio-Orchester zu hören. Gefallen können die Stücke  ausnahmslo, mit Ausnahme der Komposition Schrekers handelt es sich um Auftragswerke verschiedener Rundfunkanstalten aus den Jahren 1929 und 1930. Es ist bitter, dass die Laufbahn fast aller dieser Komponisten schon bald nach diesen Kompositionen zumindest zu einem vorläufigen Ende kam. Aufträge von Rundfunksendern waren in dem veränderten kulturellen Klima nach 1933 für diese Musiker nicht mehr zu erwarten.

Das Orchester der Staatsoperette Dresden unter Ernst Theis musiziert mit großer Hingabe, vor allem aber mit Schwung und dem nötigen Pepp, den diese Musik verlangt. Die Idee, diese Musik wieder aufleben zu lassen und auf CDs zu dokumentieren, kann man nur begrüßen, und auf eine ähnlich geglückte Fortsetzung des Projektes hoffen ( (Suites & Overtures for the Radio; Edition  (Suites & Overtures for the Radio; Edition RadioMusiken Vol.2,  2 CD cpo 777 838-2)

Peter Sommeregger

 

Dieses spannende Thema wollten wir gerne vertiefen und baten den spiritus rector der EditionRadiomusiken, Steffen Lieberwirth (der u. a. auch für die erfolgreiche Serie Semperoper Edition bei hänssler profil verantwortlich ist, um seine Ausführungen, die wir der website „Rundfunkschaetze“ entnahmen, wo sich Weiteres und Weiterführendes findet.G. H.

Der “Radio-Zauberer” “Der Radioapparat beginnt zu wachsen und zu leuchten. Er wird zum phantastischen Zauberer, der das Märchen erscheinen läßt”, so heißt es in einer Beschreibung der Sächsischen Staatsoper Dresden zur Inszenierung des Ballets “Der Nussknacker” von Peter Tschaikowski 1928.  Figurine-Zeichnung des Bauhauskünstlers Oskar Schlemmer für diese Aufführung in der Semperoper.

Der “Radio-Zauberer”
“Der Radioapparat beginnt zu wachsen und zu leuchten. Er wird zum phantastischen Zauberer, der das Märchen erscheinen läßt”, so heißt es in einer Beschreibung der Sächsischen Staatsoper Dresden zur Inszenierung des Ballets “Der Nussknacker” von Peter Tschaikowski 1928. Figurine-Zeichnung des Bauhauskünstlers Oskar Schlemmer für diese Aufführung in der Semperoper/Rundfunkschaetze

 “Radiomusiken”: Was heißt denn das? “Radiomusiken” waren Kompositionen, die von nahezu allen Sendegesellschaften bei den bekanntesten zeitgenössischen Komponisten mit dem Ziel in Auftrag gegeben wurden, ein eigenständiges Genre zu entwickeln, das den technischen Möglichkeiten des neuen Massenmediums angepasst sein sollten. Auch Komponisten wie Eduard Künneke (dessen Musik einst sogar in den Sinfoniekonzerten der Berliner Philharmoniker gespielt wurde) oder Edmund Nick, die vornehmlich Unterhaltungsmusik schrieben (CD RadioMusik Vol. 1, 8575714), gehören zu diesem Kreis. Doch die Grenzen innerhalb dieser zeitgenössischer Musik sind fließend, wie die Namen zeigen, denn auch Kurt Weill, Paul Hindemith, Pavel Haas, Ernst Toch oder Franz Schreker, die als bedeutende Neuerer ihrer Zeit in die Musikgeschichte eingegangen sind, zählen zum angesprochenen Komponistenkreis.

Diese Musik entstand, als die deutsche Unterhaltungsmusik ihre letzte Blütezeit erlebte – bevor die Nazis auch diese verfälschten und ihr Ende einleiteten. Die Rundfunkmusiken sind ein Schnittpunkt von Unterhaltungsmusik und verschiedensten Strömungen der zeitgenössischen Musik der Weimarer Republik. Sie zeigen kaum bekannte Facetten einer für das Lautsprecher-Publikum geschaffenen Musik, die ihre Kraft aus den Innovationen der eigenen Zeit nahm. Diese musikalischen Experimente, die für die Live-Übertragung durch nur ein einziges Mikrophon geschrieben wurden, kennen keine musikalischen Grenzen, Tanz und Jazz stehen neben klassischen sinfonischen Formen und avantgardistischen Neuerungen der Zeit. Für das Vergessen dieser Musik sind in vielen Fällen die Verbote und Verfolgungen der jüdischen und politisch nicht konformen Autoren im Dritten Reich verantwortlich.

So bunt und lebendig zu sein, wie das Leben selbst: „Die Aufgabe lautet, einem schier unermeßlichen, aus allen Altern, Ständen und Stufen menschlicher Reife zusammengesetzten Hörerkreise, welcher zum Teil der Natur nahe in einsamen Häusern auf dem Lande, zum Teil dicht aneinandergedrängt – zwischen Eisen und Beton – in den großen Städten lebt, durch das Wunder des Rundfunks das lebendige Leben und die lebendige Kultur des eigenen und aller Völker zu seelischer Erhebung, geistiger Fortbildung und gemütlicher Zerstreuung nahezubringen. (…) Wir wollen in dem, was wir auch immer verbreiten, so bunt sein, wie das Leben selbst (…)“, verkündet ein Postulat aus dem Jahr 1929, entdeckt in einem vergilbt-brüchigen „Jahrbuch des Westdeutschen Rundfunks“.

Und in der Tat, es ist eine spannende Aufgabenstellung, die sich der Rundfunk mit visionärem Blick auf das kommende Jahrzehnt selbst auferlegt hat und deren Umsetzungsstrategien und -Ergebnisse auch heute noch in unserem digital vernetzten Zeitalter zurückblickend neugierig machen …

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth/OBA/hänssler

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth/OBA/hänssler

Ambitioniert selbstbewusst wie elektrisierend visionär ist er, der deutsche Rundfunk, der gerade einmal ein halbes Jahrzehnt existiert, als 1929 eine vom Westdeutschen Rundfunk proklamierte Aufgabenstellung an die zukunftsweise denkenden Komponisten veröffentlicht wird. Warum sollten die hochmotivierten Musikredakteure jenes seinerzeit konkurrenzlosen Massenmediums nicht selbst schöpferisch aktiv werden und breitenwirksamere wie radiogemäßere Programminhalte anbieten? Heinrich Strobel, einer der wichtigsten Berliner Musikkritiker und Wegbereiter der Moderne, benennt die Ursachen, die zum Umdenken in den Rundfunksendern führen sollten: „Zuerst war die Situation so: der Rundfunk übernahm als neues Instrument der Musikübermittlung die landläufigen Praktiken der Musikpflege. Opern wurden übertragen, die Unterhaltungsmusik wurde vom Café, vom Tanzlokal, vom Biergarten bezogen, Konzerte wurden nach bewährtem öffentlichem Muster von den einzelnen Sendegesellschaften veranstaltet. Man wusste, daß es eine Neue Musik gab. Also setzte man von Zeit zu Zeit auch Neue Musik an. Langsam erkannten die hellhörigen Sendeleiter die Anfechtbarkeit dieser sehr bequemen Methode von Standpunkt des Rundfunks aus. Der Rundfunk schafft in jedem Fall eine neue soziologische Situation. Er kann nicht mit dem musikwilligen, traditionsgesättigten Hörer der Opernhäuser und Konzertsäle rechnen. Vor dem Lautsprecher haben die wenigsten die künstlerische Aufnahmebereitschaft, die sie sich im Konzert auf jeden Fall einzureden bemühen. Also musste man die Programme anders anlegen, musste man Rücksicht auf die verschiedenen Ansprüche nehmen, musste man auch einmal überlegen, welche Art Musik im Rundfunk zur sinngemäßen Wirkung kommt und welche nicht. (…) Aber das steht fest: nur eine deutlich konturierte, klar instrumentierte, nur eine reinliche Musik setzt sich im Mikrophon durch.“ (Heinrich Strobel: „Zur musikalischen Programmpolitik des Rundfunks“, 1930)

heinrich strobelDie politische und wirtschaftliche Situation ist günstig: Der Rundfunk ist „vom ersten Augenblick seines Daseins an eine wirtschaftliche Macht. In einer Zeit allgemeiner finanzieller Depression war hier ein Unternehmer entstanden, der durch seine regelmäßigen und so gut wie sicheren Einnahmen die Möglichkeit hatte, einen Teil der notleidenden Künstlerschaft durch Engagements zu unterstützen. Im Lauf von fünf Jahren hat sich der Rundfunk zu einem Opern- und Konzertinstitut allergrößten Stils entwickelt, dessen Abonnentenzahl in Deutschland in die Millionen geht. (…)“

Finanziell ist der Rundfunk so gut ausgestattet, dass er es sich Ende der 1920er Jahre leisten kann, als Mäzen und Multiplikator für Musiker und Komponisten in Erscheinung zu treten. So vergeben Monat für Monat alle deutschsprachigen Sender Kompositionsaufträge an jene Komponisten, die sich für das neue Medium Radio interessieren und Kompositionen erschaffen wollen, „deren besondere Rundfunkeignung daraus resultieren sollte, dass die für die Übertragung von Musik gewonnenen Erfahrungen gleich bei ihrer Entstehung ausgenützt würden“, so der Leipziger Radiojournalist Ernst Latzko.

der anbruchUnd weiter erfahren wir von ihm in seiner „Rundfunk-Umschau“, dass diese Aufträge geeignet seien, das Schaffen in eine „bestimmte Bahn“ zu lenken, Werke ganz „besonderer Eigenart“ hervorzubringen: „Die von Max Butting propagierte Idee einer ‚Rundfunkmusik‘ wird hier aufgegriffen und einer Verwirklichung nähergeführt. Der Rundfunk begnügt sich nicht mehr mit der allgemeinen Musikliteratur, die er seinen besonderen Gesetzen entsprechend interpretiert, sondern er fördert die Entstehung einer neuen Musik, die nicht erst rundfunkgemäß wiedergegeben sondern gleich rundfunkgemäß konzipiert sein will. Nicht der Kapellmeister soll die in fünf Jahren gemachten Erfahrungen verwerten, sondern der Komponist. Damit ist der Grundstein gelegt zu einer Literatur, die in Inhalt und Form nicht rein musikalischen sondern funkischen Gesetzen folgt. Diese Gesetze werden die zeitliche Ausdehnung der Werke einengen, sie werden gewisse Formen gegenüber anderen bevorzugen – so ist es kein Zufall, dass bisher ein Konzert und eine Suite auf diesem Gebiet entstanden sind, beides Formen, deren Eigenart den Forderungen des Rundfunks entgegenkommt – diese Gesetze werden sich ganz besonders bei der Instrumentation auswirken, die hier wesentlich andere Regeln befolgen muß, sie werden Phrasierung und Dynamik beeinflussen und zu allererst den Stil der Werke bestimmen indem sie eine Musik ins Leben rufen, der Form und Zeichnung wichtiger ist als Farbe, Technik wichtiger als Ausdruck. (…)“

Max Butting/Wikipedia

Max Butting/Wikipedia

Eine wesentliche Hilfestellung zu musikalisch technischen Voraussetzungen des neuen Genres „Radiomusik“ können schließlich 1929 alle interessierten Tonsetzer einer Veröffentlichung der „Baden-Badener Kammermusik“ entnehmen. Als einer der Pioniere der „Radiomusik“ erklärt der Komponist Max Butting erstmals die gestellten Anforderungen: „1.) Dem Wirkungskreis der Rundfunkübertragung, die sich an Hörer verschiedenster Schichten und Bildung in ihrem eigenen Heim wendet, ist im Charakter des Werkes Rechnung zu tragen. 2.) Zu berücksichtigen sind die technischen Eigenschaften des Mikrophons als Übertragungsinstrument: a.) Die Orchesterwerke müssen eine klare Struktur aufweisen. Rauschender, breiiger Orchesterklang ist ungeeignet für das Mikrophon. Zu dick gesetzte und eng gelegte Akkorde sind zu vermeiden. b) Die Klangfarbe der einzelnen Instrumente wird durch das Mikrophon verschieden wiedergegeben. Die Streichinstrumente kommen gut durch. Zu vermeiden sind nur enge Akkorde in mittlerer und tiefer Stimmlage. (* Die Holzblasinstrumente erklingen ausnahmslos klar und deutlich, ohne von ihrem Klangcharakter viel zu verlieren. Das starke Hervortreten der Flöte, besonders in der höheren Lage, ist zu beachten. Im Übrigen ist die solistische Behandlung der Holzbläser vorzuziehen. * Auf vorsichtige Hornbehandlung ist zu achten, weil sich bei nicht erstklassig geblasenem Horn Unsauberkeiten durch das Mikrophon besonders bemerkbar machen. Enger Satz von mehreren Hörnern und ff im Horn ist zu vermeiden. * Die Trompete ist in jeder Lage, auch mit Dämpfer, verwendbar. * Harfe klingt gut, besonders in höherer Lage. * Vorsichtige Schlagzeugbehandlung, insbesondere Vermeidung der großen Trommel; auch die kleine Trommel bekommt einen vollständig veränderten Klangcharakter. Möglichst kein Becken, nur im ff zu besonderer Charakterisierung in einzelnen kurzen Schlägen. * Pauke in einzelnen Schlägen rhythmischer Natur gut, Paukenwirbel im Tutti ist zu vermeiden. * Sehr gut verwendbar sind Holzschlaginstrumente, Xylophon und Holztrommel.) 3.) Was im Rundfunk aufgeführt wird, erhält eben seinen Charakter einmal durch die technisch-musikalische Einschränkung der Mikrophonübertragung; viel mehr aber durch das Gerichtetsein an alle. Und dies erzwingt nun bestimmte Stilprinzipien: * Verständlichkeit am Empfänger * Prägnanz und Kürze * Sinnfälligkeit und Übersichtlichkeit * Der Ort der Handlung ist immer das Alltagszimmer von jedermann.“ („Anbruch“, Januar 1929)

Spielerische Leichtigkeit – das so schwer Umzusetzbare! Über den Beginn des ambitionierten “Entdeckungs-Projektes” schrieben die “Dresdner Neuesten Nachrichten”:  “Anlässlich einer Operettengala der Dresdner Staatsoperette 2005 hörte MDR FIGARO-Musikchef Steffen Lieberwirth den ersten Satz der ‘Tänzerischen Suite’ von Eduard Künneke. Er war von der Musik und ihrer Wiedergabe so begeistert, dass er die Suite für den Rundfunk produziert wollte, und zwar vollständig!”

Der Dirigent Ernst Theis/Foto prosceniium.at

Der Dirigent Ernst Theis/Foto proscenium.at

Mit der Radioausstrahlung landete der Mitteldeutsche Rundfunk dann auch einen wirklichen Volltreffer. Wir erlebten Schlüsselwerke der Zwanziger Jahre. Kurz: wir fühlten und atmeten den Puls jener Zeit. Mehr noch, wir spürten, wie tagesaktuell und lebendig auch nach 80 Jahren noch diese bislang unbekannte Musik ist. Von 2005 bis 2011 nahm sich das Orchester der Staatsoperette Dresden unter der Leitung seines langjährigen Chefdirigenten Ernst Theis in fester Kooperation mit MDR Figaro und seit 2008 auch mit Deutschlandradio Kultur diesem völlig zu Unrecht vergessenen Genre an und spielte ein Reihe dieser sogenannten Radiomusiken für das ihnen zugedachte Medium neu ein. Und das – wie auch seinerzeit – teilweise aus dem original erhaltenen handschriftlichem Aufführungsmaterial.

Das Redaktionsteam: Die „Edition RadioMusiken“ ist eine gemeinschaftliche Dokumentationsreihe der Staatsoperette Dresden, des Kulturkanals des MITTELDEUTSCHEN RUNDFUNKS [MDR FIGARO] mit DeutschlandRadio Kultur sowie des Archivs der Akademie der Künste Berlin mit dem Klassik-Label cpo; Projektleitung: Steffen Lieberwirth, MDR; Autoren und Historical Research: Uwe Schneider, Ernst Theis, Jens Uwe Völmecke, Steffen Lieberwirt; Recording Supervisor & Digital Editing: Eric Lieberwirth; Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Steffen Lieberwirth [MDR]; Cover Painting: Marcellus Schiffer, C Stiftung Archiv der Akademie der Künste; Co-Produktion: cpo / MDR FIGARO / DeutschlandRadio / Staatsoperette Dresden / Archiv der Akademie der Künste Berlin; Recording: Börse Coswig 2006+2007 / Lukaskirche Dresden 2009 / Alter Schlachthof Dresden 2010/ Hochschule für Musik “Carl Maria von Weber” Dresden 2011