Archiv für den Monat: März 2022

Bruckners Jugendsünde

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Anton Bruckner (1824 – 1896) wollte zeit seines Lebens eine dramatische Oper schreiben. Stücke wie Helgoland (1873) oder Der Germanenzug (1836) sind beredte Zeugnisse für diese Sehnsucht, Offenbach und Beethoven gleich zu tun. Die 1848 (was für ein Jahr!) begonnene tragische Oper Linzertörtchen geht zurück auf eine Lektüre von A. G. Beisensteins Dichtung gleichen Namens, deren Autor ein bekannter niederösterreichischer Schriftsteller und Verherrlicher der alpinen Landschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Bruckner erkannte, erstmals 1846 mit dem Roman vertraut geworden, die potenziellen dramatischen Möglichkeiten und bat seinen engen Freund und Lehrer Simon Schechter um Hilfe, mit dessen Kooperation er das Libretto erstellte, dessen Schwächen nicht zu leugnen sind. Autobiographische (wenn auch peinliche und deshalb stets verdrängte) Erlebnisse haben zweifellos Einzug in die Vorlage gefunden, wurde doch Ähnliches aus Bruckners Kindheit selbst erst vor kurzem bekannt (vergl. Berichte der Brucknerforschung 111, Linz 2006). Das unerwartete Sujet bezieht deutlich Antithese zu der leichtlebigen Wiener Operette, der Bruckner stets abhold war und deren Frivolität er erheblich missbilligte. Statt „Saus´ und Braus´“ wollte er die Abseiten der Wiener Großstadt und deren Verrohung zeigen. Diese sozialkritischen Tendenzen jener Jahre schlagen sich auch in seinen verschiedenen Vertonungen aus der Zeit, so in seinem Vokalwerk Um Mitternacht von 1844 (a capella Männerchor) nieder, das durchaus als Vorstufe auch in musikalischer Sicht zu Linzertörtchen gewertet werden kann.

In eben dieser Oper ist bereits deutlich Bruckners frühe Auseinandersetzung mit Wagners Musiksprache zu erkennen, die auf eine von ihm besuchte Vorstellung des Fliegenden Holländer in Linz zurückging. Deutliche Leitmotivik etwa findet sich in der Verwendung des Cello-Solo für Wuff, auch im Gebrauch des Englischhorn für die idyllisierte Bergwelt des 3. Aktes (1. Teil). Männlich-martialische Themen etwa werden für Harald und Franz verwendet, gebrochene und quasi der Manneskraft beraubte für den alten Buchenau. Aber auch die weit ausschwingende, beinahe „endlose“ Melodie (etwa im Sinne des späten Wagnerschen Tristan) findet für die Schilderung der persönlichen Misere Mitzis Verwendung. Die versöhnlichere D-Dur-Tonart schließlich – so typisch für spätere Bruckner-Symphonik – begegnet uns in dem, trotz des von seiner Tragik überschatteten positiven Schluss eines „neuen Anfangs“.

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mitzi 2Linzertörtchen wurde vom Komponisten nicht zu Ende geschrieben – man mag über die Motive spekulieren: Waren es die für damalige Zeit anrüchigen Szenen, war es das von ihm nur konzipierte Finale, war es vielleicht auch die Verwendung eines Hundes in einer Oper?. Sein Freund Gustav Mahler übernahm, wie bereits im Falle von Webers Drei Pintos, die endgültige Orchestrierung (und fügte zweifellos einige eigene Wendungen mit ein – eine endgültige Überprüfung des originären Brucknerschen Anteils steht immer noch aus; vergl. dazu auch den Aufsatz von Irmtraud Sennemeyer, Bruckner – Mahler: eine intime Männerfreundschaft in: Festschrift zu Anton Bruckners 100. Geburtstag, Linz, 1924). Mahler dirigierte auch die einzige Aufführung, 1896 im Wiener Grabentheater zum Andenken an seinen Freund – eine Benefizvorstellung für die in Armut lebende Witwe des Komponisten. Danach fiel das Werk in Vergessenheit, begünstigt durch den Brand des Theaters und die daraus resultierende Vernichtung des originalen Notenmaterials im Büro des Wiener Musikverlages Rosenthal und Erben im selben Gebäude.

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Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Dabei ist vieles aus dieser Oper durchaus erinnerungswürdig, etwa das schicksalhafte Adagio (auf Motive, die später in Helgoland wieder auftauchen) im letzten Bild, wenn Wuff das Kind retten will. In jüngster Zeit ist eine Zensurkopie der Partitur, wenn auch mit voraussehbar erheblichen Strichen, aus den Archiven der Wiener Polizeipräfektur ans Tageslicht gekommen. Eine Neufassung wurde vom ehemaligen DDR-Verlag Schwäbischer, Leipzig vorbereitet, aber verworfen aus ideologischen Gründen (Margot Honegger sprach sich dagegen aus). Der chilenische Verlag Gomes, Carriba & Wagner hingegen versucht gerade die Rechte für eine Rekonstruktion zu erwerben – der bekannt-kontroverse  lateinamerikanische Regisseur Manuel de Osta plant in Rio de Janeiro eine erste szenische Fassung.

mitzi 1Die Linzer Klangwolke hatte Interesse angemeldet, aber wie das ZDF auch dieses wieder eingestellt – das Sujet, so hörte  man, schade dem Andenken des doch als sehr seriös bekannten Komponisten, zumal auch die Erben und Bruckners Hauptverlag, die Universal Edition, sich dagegen aussprachen. Es bleibt als Alternative nur der Blick über den Atlantik, wo das Caramoor-Festival wohl doch in zwei Jahren an die Realisierung einer kritischen Ausgabe gehen wird, Katja Czellnik ist als mögliche Regisseurin für diese Frauenoper im Gespräch

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Zum Inhalt auch einige musikdramaturgische  Anmerkungen: Prolog – Im Schloss Gräsenberg (Karpaten, K. u. K.) kommt Gräfin Edeltraud (Koloratursopran) gerade dazu, als ihr Mann, Graf Joachim (Tenor), ihren Liebhaber erwürgt, mit dem er, der Voyeur,  sie in der Nacht zuvor beobachtet hat (Melodram). Ihrer ansichtig, flieht er trotz ihrer verzweifelten Rufe in die Berge. Edleltraut beschließt, ihm zu folgen, auch wenn das Kind unter ihrem Herzen vom Studienfreund Gernoth ist, dem intimen Freund des Erwürgten, Harald. Vorhang.

Noch einmal Traude Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper "Draußen im Wiener Wald"/Foto Steckek Erben

Noch einmal Traudel Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper „Draußen im Wiener Wald“/Foto Steckek Erben

Akt 1: In einer Wiener Spritzbäckerei stellt sich eine junge, völlig erschöpfte und heruntergekommene Frau als Aushilfe in der Verkaufsstube vor, sie nennt sich Mitzi. Der Bäckergeselle, Franz (Tenor), wird ihrer ansichtig und verschwindet bleich in der Backstube. Der Inhaber der Bäckerei, Herr Gablonz (Bass), macht Mitzi schöne Augen – auch wenn seine Frau Hedi (Alt) den Braten riecht und sich bereits wappnet, kennt man doch die losen Sitten ihres Mannes und seines Freundeszirkels (heiteres Quartett, allgemeines Ensemble und Schluss).

Auch für Riskanteres war sich Traude Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade - hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette "Frivole Spiele"/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Auch für Riskanteres war sich Traudel Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade – hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette „Frivole Spiele“/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 2: Mitzi allein in ihrer kalten, spartanischen Kammer (großes Solo). Sie beklagt ihr Los in der Großstadt auf der Suche nach Harald, dem Vater ihres Kindes (Saxophonsolo – dies weit vor Massenets Verwendung des Instruments im Wiener Werther!). Um ihren Lebensunterhalt einigermaßen aufzubessern, weil sie ihr bei einer alten Frau verstecktes Kind ernähren muss,  hat sie sich ein paar leichten Dingern angeschlossen, die sie in Wiens lockere Gesellschaft eingeführt haben. Mitzi ist – als Kind vom Land – sofort ein Erfolg, und weil sie in ihrer Unschuld und in prekären Situationen stets ein paar Linzertörtchen bei sich hat und daran knabbert, um ihre Schüchternheit zu verbergen, heißt sie bald nur „Linzertörtchen“. Dabei hat sie es einem reichen alten Grafen, Fürst Buchenau (Bass), besonders angetan, der seinen Bernadiner Wuff mit einem Körbchen voller Linzertörtchen zu ihr schickt, wenn er Verlangen nach ihr hat. So auch nun: Wuff (Tanzpantomime/Schellen und Schlagzeug) kratzt an der Tür, und Mitzi seufzt: Es ist mal wieder soweit. Sie verhüllt ihr Gesicht mit dem neuen Schleier um und will aus der Tür gehen, da stellt sich ihr ein Mann in den Weg – Harald (Tenor). „Wo ist mein Kind?“ schreit er und greift sie an. Der Bäckergeselle Franz mit der langen Narbe auf der Wange springt hinzu. Die Männer raufen, und Mitzi rennt davon, zum Fürsten, weil sie an ihr Kind und das Geld denkt.

Trude Hubelocz-Greifshuber: Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Traudel Hubelocz-Greifshuber: Amerikanisches Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 3: Auf einer Wiese bei Schönbrunn. Mitzi stillt ihr Kind, da stürzt die alte Ziehmutter (Alt) herzu: Polizei (Bariton, Bass/großes Orchester – auch hier starke Ähnlichkeiten zum Vorspiel des Ring von Wagner später – es bleibt interessant zu untersuchen, wer wen befruchtet hat). Mitzi erbleicht, hat sie doch – wie sie meint – den alten Fürsten Buchenau umgebracht, als sie sich nicht anders zu helfen wusste. Sie wird abgeführt. Szenenwechsel.

Im Salon des Palais Buchenau an der Donau. Fürst Buchenau sitzt mit einem Halsverband und einem gewickelten Fuß (Gicht/Solo mit Oboe) am Fenster. Neben ihm Franz, nun nicht mehr Bäckergeselle, sondern sein Neffe, Graf Joachim von Gaisenberg. Herein wird Mitzi geführt, das Kind auf dem Arm. Sie erkennen sich und fallen sich in die Arme. Als er jedoch das Kind anfassen will, schreit sie: „Er ist nicht von Dir!“ Joachim, rasend vor Wut, packt den kleinen Jungen und schleudert ihn aus dem Fenster in die nahe Donau. Wulff jedoch springt hinter dem Säugling her. Man hört Geheul. „Edeltraut, lass uns einen neuen Anfang machen, im April!. April, ja Joachim!“ Evi Rehgert

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Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts helma Huppert/ASO

Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts die Autorin Evi Rehgert/ASO/Sammlung CSO Bogota

Die austro-amerikanische Autorin Evi (Evelyne) Rehgert ist renommierte Feministin mit Schwerpunkt LGBT und Frauen-Literatur (bekannt sind ihre Biographien berühmter  Persönlichkeiten wie Walpurga Leider und Isolde Chamberlain), aber auch über Tagelöhner-Frauen in der österreichischen Wachau, wo sie im dortigen Kloster im Rahmen des Symposiums über Prostitution auf dem Lande im frühen 19. Jahrhundert eine der Entdeckerinnen des verschollen geglaubten Bruckner-Palimpzests war, das unter abenteuerlichen Umständen dorthin gelangt ist – vergl. den Bericht im Wachauer Morgen, Oktober 2011.

Weiters ist Evi Rehgert bekannt für ihre Kurse und Untersuchungen zu Geschlechtskrankheiten infolge zu hoher Zuckerwerte bei lesbischen Sängerinnen des K.u.K-Kaiserreichs, hat auf diesem Feld promoviert und eine Professur an der Universität Bogotà inne. (Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)

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Dem Andenken meines unvergessenen Freundes Jörg Graepel gewidmet!/G. H.

Ehrgeizige Meisterschülerin

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Nach eigenem Bekunden ist Helmut Deutsch seit früher Jugend ein großer Verehrer von Franz Liszt und er findet auch dessen Liedschaffen, obwohl es keine herausragende Rolle in seinem Gesamtwerk einnimmt, immer noch unterschätzt. Seinen Freund Jonas Kaufmann konnte er vor einiger Zeit zu einem Recital überreden (Sony Classical  19439892602), das ausschließlich diesen Liedern gewidmet war. Die Popularität des Tenors versprach dabei erhöhte Aufmerksamkeit für das etwas vernachlässigte Repertoire. Nach meinem Eindruck schien darin – bei allen bekannten Qualitäten des Sängers (vorbildliche Diktion, plastischer Vortrag) – der Heldentenor den Lied-Interpreten etwas zu überlagern.

Deshalb ist die Sopran-Alternative, die uns Deutsch nun mit der jungen Sängerin Sarah Traubel anbietet und die fünf Titel des Kaufmann-Recitals enthält, nicht unwillkommen. Sarah Traubel, eine Großnichte der Met-Primadonna Helen Traubel, hat als Opernsängerin vor allem in Partien von Mozart und Strauss von sich reden gemacht, zählt die Königin der Nacht zu ihren Glanzpartien. Auf dem Gebiet des Kunstlieds ist sie noch relativ unerfahren und bekennt in einem kurzen Geleitwort zum Album, dass die Begegnung und Zusammenarbeit mit Helmut Deutsch ihr „Leben verändert“ habe. In der Loreley lässt sie sich von Liszts Klavierpoesie tragen, in den beiden „Schlagern“ Es muß ein Wunderbares sein und O lieb, so lang du lieben kannst! (bekannter in der Klavierversion als Liebestraum Nr. 3) bezaubert sie mit weiblicher Anmut, ohne in die Nähe des Sentimentalen oder Operettenhaften zu geraten.

Auch in den vier Liebesgesängen von Erich Wolfgang Korngold (Drei Lieder op. 22, Vergänglichkeit op. 27/5) entspricht der vokale Ausdruck dem gesungenen Inhalt und dem nachromantischen Stil. Die Eckpfeiler des Programms, Gustav Mahlers Rückert-Lieder und Vier letzte Lieder von Richard Strauss, stellen dagegen eine echte Herausforderung für die Sängerin dar. Denn genau genommen kommen diese Lieder ihrem Stimmfach des lyrischen Koloratursoprans nicht entgegen und sie kann mit ihren eigentlichen Stärken („kristallklare, gestochene Koloraturen“), die Bernd Hoppe auf dieser Seite anlässlich ihres vorangegangenen Albums „Arias for Josepha“ zu rühmen wusste, hier nicht wirklich punkten.

In beiden Fällen handelt es sich um Zyklen, die vom Komponisten nicht als solche geplant waren. Beide haben sich im Konzertsaal vor allem in der Orchesterversion behauptet. Wobei es sich im Falle von Strauss um reine Orchesterlieder handelt. Die nicht vom Komponisten stammenden Klavierfassungen sind nach Deutschs Auffassung nicht gut und teilweise fehlerhaft, so dass er hier eine eigene Revision vorgenommen hat. Das Ergebnis ist gleichwohl irritierend, denn der Verlust an Klangfarben wird nicht durch strukturelle Klarheit ersetzt. Wir erleben eine skelettierte Version, bei der auch die Sängerin (auf deren Wunsch die Lieder ins Programm genommen wurden!) nicht recht zur Wirkung kommt, denn zweifellos sind diese Lieder für eine Ariadne­- und nicht für eine Zerbinetta-Stimme geschrieben.

Mahlers Rückert-Lieder wiederum sind gemeinhin ein Privileg tiefer Stimmlagen (Mezzosopran oder Bariton) und in den Interpretationen von Christa Ludwig und Dietrich Fischer-Dieskau jedem Musikfreund im Ohr. Einer der fünf diesem Zyklus zugeordneten Titel, Um Mitternacht, bleibt hier ausgespart, weil er „viel eher zu einer Männerstimme paßt“ (Deutsch).

Sarah Traubel gelingen in allen Fällen sehr imponierende Annäherungen an Stil und Inhalt der Musik, wobei die Abschiedsstimmung und Todesahnung in Ich bin der Welt abhanden gekommen (wie später auch in Strauss’ Eichendorff-Adaption Im Abendrot) ihrer stimmlichen Ausstrahlung und wohl auch ihrem Künstler-Naturell nicht unbedingt entsprechen.

Im Gespräch mit Thomas Voigt rühmt Helmut Deutsch seinen Schützling in den höchsten Tönen: „Sie hat mit einer Arbeitswut geprobt, wie ich sie seit Hermann Prey nicht mehr erlebt habe.“ Das Ergebnis bei ihren Mahler- und Strauss-Beiträgen vermittelt eine Ahnung davon. Nach meinem Empfinden hört man hier eine ehrgeizige Meisterschülerin, von der noch einiges zu erwarten ist (Aparté AP 288). Ekkehard Pluta

In Bild und Ton

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Antonio Vivaldis Stabat Mater einmal aufnehmen zu können, war ein lang gehegter Wunsch von Jakub Józef Orlinski, der sich mit diesem ikonischen Meisterwerk seit einer Studienzeit beschäftigt. Nun bekam der polnische Countertenor von seiner Stammfirma ERATO die Gelegenheit dazu und mit der auf historischen Instrumenten musizierenden capella cracoviensis unter Leitung von Jan Tomsz Adamus wirken sogar polnische Musikerkollegen mit. Die Aufnahme entstand im Juli 2020 in Krakow und wurde als CD mit kaum 20 Minuten Spieldauer veröffentlicht (0190295060701). Nicht weniger ungewöhnlich ist die beigefügte Bonus-DVD, welche zur Tonaufnahme der sakralen Komposition ein Video von Regisseur Sebastian Panczyk zeigt. Hauptdarsteller ist der Sänger selbst, der in einem Wald ein brutales Massaker an seinen Freunden erlebt und danach den (oder die) Mörder finden will. Stationen sind ein Wirtshaus mit verängstigen Gästen und ein Spaziergang am See, wo sich ein Liebespaar vergnügt und der Sänger einen Apfel isst, bis die Suche in einem historischen Opernhaus endet, wo sich ein Hirsch unter die Musiker auf der Bühne mischt. Ob dieser Film mit seinen Schreckensbildern und Albtraumvisionen eine adäquate Bebilderung von Marias Leidensgeschichte am Kreuz von Jesu darstellt, sei jedem Zuschauer selbst überlassen. Ich empfehle, sich eher der CD zu widmen. Denn diese behauptet sich mit einer bedeutenden Interpretation souverän in der langen Reihe der existierenden Aufnahmen.

Der Counter beeindruckt mit seinem eindringlichen Schmerzenston, der den Hörer mit bohrender Intensität fordert. Die Stimme lässt viele Facetten hören, ist sinnlich und keusch, besitzt eine imposante Fülle und angenehme Wärme. Dunkel und warm tönt auch das Orchester, erreicht dadurch eine innige Verschmelzung mit der Stimme des Sängers. Besonders deutlich wird das in den Abschnitten 5 („Quis non posset contristari“) und 7 („Eia Mater“).

Der erste Interpret des Werkes bei der Uraufführung in Brescia 1712 war mit Sicherheit männlich – ein Altkastrat oder ein Falsettist. Seither haben viele renommierte Countertenöre die sakrale Komposition gesungen und eingespielt.  Jakub Józef Orlinski setzt diese Tradition mit seiner Aufnahme würdig fort. Bernd Hoppe

Glasunow vom Niederrhein

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Unter den wichtigsten russischen Komponistenpersönlichkeiten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geht Alexander Glasunow (1865-1936) zuweilen ein wenig unter. Heutzutage hat es mitunter den Anschein, als erkenne man Glasunows unbestrittene Verdienste vor allen Dingen auf dem pädagogischen Sektor, wirkte er doch zwischen 1899 und 1928 am Sankt Petersburger bzw. Leningrader Konservatorium, dessen Leitung als Direktor er ab 1905 und formal bis 1930 (bereits nach seiner faktischen Emigration) innehatte. Sein vermutlich berühmtester Schüler war tatsächlich Dmitri Schostakowitsch. Eine nachhaltige stilistische Entwicklung hat Glasunow im engeren Sinne nicht durchgemacht, weswegen sich seine Spätwerke kaum von den frühen Kompositionen zu Beginn der 1880er Jahre unterscheiden und zuletzt als veraltet galten. Nicht weniger als acht vollendete Sinfonien entstammen seinem reichhaltigen Œuvre, das neben Orchesterwerken auch Konzerte, Ballette, Schauspielmusiken, Vokalwerke, Kammer- und Klaviermusik sowie Orgelwerke umfasst.

Musikproduktion Dabringhaus und Grimm legt nun eine gut gefüllte Disc mit vier Orchesterstücken Glasunows vor (MDG 952 2235-6). Enthalten ist zum einen die über halbstündige siebente Sinfonie in F-Dur, die Tondichtung Stenka Rasin, das Poème lyrique sowie die Ouvertüre Karneval. Es wird also exemplarisch die breite Aufstellung dieses Komponisten auch innerhalb des orchestralen Bereichs demonstriert.

Die Sinfonische Dichtung Stenka Rasin op. 13 datiert auf 1885 und stellt insofern chronologisch das älteste Werk dar. Sie ist Glasunows Komponistenkollegen Alexander Borodin gewidmet und greift ein nationales Sujet auf, indem sie das aufregende Leben des Donkosaken-Anführers Stepan „Stenka“ Timofejewitsch Rasin (1630-1671) dramatisch und romantisierend nachzeichnet. Tatsächlich war Rasin ein reichlich ruchloser Zeitgenosse, für seine räuberischen Überfälle berüchtigt und soll sogar seine Geliebte, eine persische Prinzessin, während einer Vergnügungsfahrt unter dem Jubel seiner Mannschaft in die Wolga geworfen haben – womöglich als Opfer an den unberechenbaren Fluss –, in deren Fluten sie daraufhin ertrank. Der von ihm initiierte Rasinsche Aufstand gegen Zar Alexei I. führte letztlich zu seinem Untergang, nachdem er, von den eigenen Kosaken ausgeliefert, durch Vierteilung hingerichtet wurde. Glasunow, der sich auf eben diese Wolgafahrt konzentriert, baut das berühmte Lied der Wolgaschlepper geschickt zu Beginn und am Ende seiner Tondichtung ein und illustriert damit die Fahrt auf dem Strom. Daneben werden die Raubzüge in Ortschaften nahe der Wolga farbig geschildert. Auch ein lyrisches orientalisches Thema, angeblich persischen Ursprungs, taucht auf.

Deutlich verinnerlichter kommt das 1887 vollendete Poème lyrique op. 12 daher, das auch als Andantino für großes Orchester bezeichnet ist und einen geradezu intimen Tonfall aufweist. Zugeeignet ist es dem Komponisten Nicolas de Stcherbatcheff. Vom Grundcharakter völlig konträr erscheint die ausgelassen-feierliche Ouvertüre Karneval op. 45, die auf 1892 datiert (gewidmet Herman Laroche). Das Besondere an dieser Ouvertüre stellt die ad libitum und in dieser Einspielung auch eingesetzte Orgel dar, die einen nachdenklicheren Einschub in dem ansonsten sehr vorwärtsdrängenden Stück absolviert.

Die Sinfonie Nr. 7 f-Moll op. 77, auch als Pastorale bezeichnet, stellt die vorletzte von Glasunow komplettierte Sinfonie dar (1902). Widmungsträger ist in diesem Falle der einflussreiche Musikverleger und Mäzen Mitrofan Beljajew. Die Reminiszenz an Beethovens ungleich bekannteres gleichnamiges Werk ist gewiss beabsichtigt. Ganz klassisch indes hier der viersätzige Aufbau mit langsamem zweiten Satz und Scherzo an dritter Stelle. Der recht leichtgewichtige Kopfsatz gemahnt auf dem Höhepunkt der Spätromantik geradezu an die musikalische Klassik. Das darauffolgende Andante erklingt deutlich strenger, stellenweise beinahe zelebriert, und vermittelt tatsächlich, was man in seiner schlichten Erhabenheit als „Glasunow-Stil“ im besten Sinne bezeichnen könnte. Mit giocoso, also fröhlich, vergnügt, ist sodann die Vortagsanweisung bei besagtem Scherzo beschrieben und verkörpert gleichsam den Gegenpol, doch gerät auch dieser tänzerische Einschub würdevoll. Der Schlusssatz schließlich, bezeichnet mit Allegro maestoso, beginnt gewichtig und entfaltet ein zuvor nicht dagewesenes dramatisches Element, um dann neuerlich einer pastoralen Stimmung zu weichen. In der Coda des Finales wird abermals die Opulenz des Satzanfangs aufgenommen und die Sinfonie glanzvoll beschlossen.

Die Niederrheinischen Sinfoniker unter dem estnischen Dirigenten Mihkel Kütson präsentieren sich als sehr guter Klangkörper. Im direkten Vergleich wird indes nicht ganz die Intensität eines Jewgeni Swetlanow (in Sachen Glasunow nach wie vor der Maßstab), Juri Aronowitsch oder Ernest Ansermet (beide bezüglich Stenka Rasin) erreicht. Die tadellose Tonqualität der SACD rundet diese Neuerscheinung klanglich adäquat ab. Das Begleitheft liegt dreisprachig (Englisch, Französisch, Deutsch) bei. Daniel Hauser

Poesie und Wohlklang

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Ohne großes Aufsehen hat Naxos eine Einspielung aller Lieder und Gesänge von Robert Schumann vorangetrieben. Das es sich tatsächlich um eine Gesamtaufnahme handelt, war äußerlich nicht immer sichtbar. Denn die Nummern der einzelnen Folgen fanden sich meist erst im Innern der Booklets. Alle einzelnen CDs haben ein in sich geschlossenes Programm. Indem die Sammlung also nicht als Block auf den Markt gelangt, sondern in Einzelteilen, entsteht kein Zwang, alles auf einmal zu erwerben. Potenzielle Kunden können sich je nach Geschmack und Vorlieben entscheiden. Oft geht es auch darum, Lücken in der eigenen Sammlung zu schließen. Wenngleich mir bei Schumann die Auswahl schwer fiele. Sein Liedschaffen ist reich und vielfältig. Es erschöpft sich nicht in den populären Liedern und Zyklen, die jeder kennt und die immer und immer wieder aufgeführt und eingespielt werden. Stücke, die ehr ein Schattendasein führen, sind aller Entdeckungsfreude wert. Die vertiefte Beschäftigung mit ihnen erleichtert Naxos dadurch, dass die teils seltenen literarischen Vorlagen im Netz heruntergeladen werden können. Schließlich haben sie oft nur durch die Vertonung überlebt.

Romanzen, Balladen und Duette sind auf der Neuerscheinung Vol. 10 – einer Koproduktion mit dem Deutschlandfunk – zu hören (8.574119). Sie werden von drei namhaften Interpreten bestritten, die allesamt deutsche Muttersprachler sind und also keine Probleme damit haben, sich verständlich zu machen. Sie bringen Erfahrungen mit dem Genre ein. Die Sopranistin Caroline Melzer studierte Liedgestaltung bei dem Ulrich Eisenlohr, der die Naxos-Edition am Flügel betreut. Anke Vondung, Mezzo-Sopran, gibt neben ihren vielen Auftritten in Opernhäusern regelmäßig Liederabende. In den 3 Gesängen Op. 25 – drei von Karl Julius Körner ins Deutsche übertragene Gedichte von Lord Byron – schlägt sie hochdramatische Töne an. Der Tenor Simon Bode hatte sich bereits durch die Mitwirkung an der Gesamtaufnahme der Brahms-Lieder bei Hyperion einen Namen gemacht, und es wäre wünschenswert, würde seine Schöne Müllerin, die er im Konzert sang, bald auch auf CD erscheinen. Die Solisten sind gut aufeinander abgestimmt, treten sie doch meist als Ensemble und seltener allein in Erscheinung. Niemand versucht sich auf Kosten des anderen zu profilieren oder hervorzutun. Nur so gelingen Produktionen wie diese. Im Grunde genommen klingen sie selbst zu zweit wie ein intimer kleiner Chor, verbreiten viel Poesie und Wohlklang. Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören.

In der Regel werden in sich geschlossene Werkgruppen geboten. Darunter sind auch die Mädchenlieder Op. 103 nach Gedichten der früh verstorbenen deutsch-russischen Dichterin Elisabeth Kulmann (1808-1825), deren Talent sogar von Goethe und Jean Paul gepriesen wurde. Der literarisch hoch gebildete Schumann hatte bei der Auswahl seiner Textdichter meist eine glückliche Hand. Von 3 Gedichten Op. 29 nach Emanuel von Geibel sind nur zwei, nämlich „Ländliches Lied“ und „Lied“ eingespielt wurden. Das fehlende „Zigeunerleben“ hätte noch zusätzlich einen Bass sowie optional einen kleinen Chor verlangt und wurde wohl deshalb ausgelassen. Sammler, die gern alles komplett beisammen haben, finden es auf der ebenfalls bei Naxos veröffentlichten CD „Die Orange und Myrthe hier“ (8.551381-82). Dass die große dramatische Ballade Des Sängers Fluch Op. 139, für die der Musikschriftsteller Richard Pohl, der auch selbst komponierte, Schumann den Text nach Uhland lieferte, den Rahmen der CD sprengen würde, steht außer Frage. Im Original verlangt sie nach fünf Solisten, Chor und Orchester. Mit Klavierbegleitung führt die Nummer 4, das so genannte „Provenzalische Lied“ ein eigenständiges Dasein im Konzertbetrieb. Simon Pohl singt es mit jugendlichem Charme. Rüdiger Winter

Ironisches für Frankophile

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Viel für das Ballett und sinfonische Werke wie Kammermusik hat der französische Komponist Albert Roussel geschrieben, auch einige Lieder, aber erst in seinen letzten Lebensjahren wagte er sich an ein Bühnenwerk für Stimmen, von ihm Operetta genannt, in den Jahren 1932/33 entstanden, 1936 in tschechischer Sprache in Olomou uraufgeführt, 1937, in seinem Todesjahr, auch in französischer Sprache an der Opéra-Comique Paris, beide Male als Dreiakter, während auf Wunsch der Witwe in den Sechzigern die einzelnen Teile zu einem Einakter zusammengefügt wurden. Mit dieser Version von Le Testament de la Tante Caroline hat der Hörer es auch mit der Aufnahme durch das Orchestre des Frivolités Parisiennes unter dem Dirigenten Dylan Corlay zu tun. Das Libretto des Werks stammt von Nino (Pseudonym für Michel Veber), einem Freund des Musikers, und die Geschichte basiert auf einer bekannten Novelle Guy de Maupassants, L’Héritage, in der von einer an eine unmoralische Bedingung geknüpften Erbschaft die Rede ist. Bei Roussel erben drei Schwestern gemeinsam ein beträchtliches Vermögen von 40 Millionen Franc, dazu Juwelen und Land, allerdings an eine Bedingung geknüpft: Innerhalb eines Jahres muss eine von ihnen ihrerseits einen Erben vorweisen können, sonst geht die Erbschaft an die Heilsarmee. Das erweist sich als schwierig, denn zwei der Schwestern sind seit geraumer Zeit kinderlos verheiratet, während die dritte eine angesehene Position in einem Kloster einnimmt. Das Jahr ist fast vergangen, Betrugsversuche mit Adoptivkindern werden aufgedeckt, das Erbe ist fast verloren, als sich in letzter Minute herausstellt, dass die Klosterfrau ein uneheliches Kind hatte, das adoptiert wurde und im Haus der Tante als Chauffeur Noël gearbeitet hat.

Der Einakter dauert gut eine Stunde, von der die meiste Zeit für gesprochene Dialoge draufgeht. Wenn gesungen wird, dann meistens im Ensemble, und da es kein Textbuch gibt, ist es für Nichtfranzosen recht schwierig, der Geschichte zu folgen. Das Orchester klingt bereits im Vorspiel vollmundig und süffig, flott und geschmeidig und scheint sich in der ersten Szene über die geheuchelte Trauer über den Tod der Tante lustig zu machen. Ansonsten gibt es viel aufgeregtes Geschnatter, an dem sicherlich Muttersprachler ihre Freude haben können. Solostücke sind nur der Magd Lucine vergönnt, der Marie Perbost einen pikanten, spitzzüngigen Charme verleiht, Béatrice, die schließlich glückliche Mutter, für die Marie Lenormand süße, zarte Mezzotöne hat und

Maītre Corbeau (!), dem Till Fechner eine heisere Sprechstimme und eine autoritäre Singstimme zuordnet. Auch der junge Noel kann sich mit einem hellen, prägnanten Tenor, dem von Fabien Hyon, zu Wort melden. Mit einem Textbuch, vielleicht sogar mit einer englischen Übersetzung, in der Hand könnte man dem sicherlich vergnüglichen Werk noch mehr abgewinnen (Naxos 8.660479). Ingrid Wanja

Und noch ein Rameau

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Konsequent verfolgt das Label Château de Versailles die Fortsetzung der Einspielungen von Werken Jean-Philippe Rameaus und tritt damit in Kokurrenz zu älteren Aufnahmen bei Pierre Verany, Coviello oder Erato (vergriffen) – an Rameau war nie ein Mangel. Jetzt veröffentlicht das  Chateau auf drei CDs die Comédie lyrique Les Paladins von 1760, die im Dezember 2020 im Château de Versailles aufgenommen wurde (CVS054). Die Haupthandlung nach La Fontaine erzählt von der jungen Argie, die den jungen Atis liebt, was dessen Vormund Anselme zu vereiteln sucht. Ein zweites Paar findet sich mit Argies Zofe Nérine und Orcan, dem Diener Anselmes. Die in der Erzählung von La Fontaine erscheinende Fee Manto hat Rameau zu einer Travestie-Rolle verändert und sie einem haute-contre anvertraut, was die Figur skurriler macht.

Die Besetzung vereint erfahrene Interpreten der französischen Barockszene, angeführt von Sandrine Piau als Argie. Mit dem Air „Triste séjour“ fällt ihr das erste Solo des Werkes zu, das sie mit tiefer Empfindung und starker Intensität absolviert. Ihr Geliebter Atis ist der renommierte französische Tenor Mathias Vidal, der mit der Ariette vive et gaie „Accourez, amants“ seinen Auftritt hat, den er lebhaft und auftrumpfend gestaltet, auch mit brillanten Verzierungen aufwartet. Gleich danach folgt mit dem Air „Quand sous l’amoureuse loi“ ein inniges Stück, das er mit zärtlichen Klängen ausstattet. Im Duo „Vous m’aimez“ vereinen sich die Sopranistin und der Tenor zu schönster Harmonie. Bevor der 3. Akt mit ausgedehnten Tanzstücken endet, können beide im Duo „Ah, que j’aimerais“ sich noch ewiger Liebe versichern und tun das mit den denkbar lieblichsten Tönen.

Der französische Bariton Florian Sempey machte sich international einen Namen als Hamlet (auch in Berlin) und Posa – der Orcan in dieser Einspielung beweist auch seine Kompetenz in Sachen Rameau. Sein erstes Air, „Ma voix deviendrait plus sonore“, lässt  einen markanten, energisch zupackenden Bariton hören. Neben ihm gibt die Französin Anne-Catherine Gillet die Nérine. Mit der munteren Ariette vive „L’amant peu sensible et volage“ führt sie sich in schönem Kontrast zu Sandrine Piau ein und demonstriert virtuoses Koloraturvermögen. In ihrem Air „Est-il beau comme le jour“ beweist sie aber auch lyrisches Potential. Mit „Non, non, je ne puis dire“ haben der Bariton und der zweite Sopran auch ein keckes Duo, das beide mit Gusto darbieten.

Nahuel Di Pierro als Anselme und Philippe Talbot als Manto komplettieren die Besetzung. Ersterer trumpft in seinen Airs „Vous méditez, perfide“ und „C’est ce poignard“ mit resonantem Bass energisch auf. Auch zu Beginn des 3. Aktes kann er mit zwei Airs beeindrucken – turbulent „Tu vas tomber“, lieblich „Quels jardins délicieux“. In der Travestie-Rolle des Manto wurde mit Talbot in dieser Einspielung ein lyrischer Tenor besetzt, der in seinem Auftritt, der Ariette gaye „Le printemps des amants“, lieblich-weiche Töne hören lässt.

Am Pult von La Chapelle Harmonique steht Valentin Tournet, der das Ensemble 2017 gegründet hat. Auf historischen Instrumenten spielend, hat es sich besonders auf Werke Rameaus spezialisiert. Die Vertrautheit mit diesem Idiom ist auch in dieser Aufnahme spürbar. Mit der Ouverture très vive, deren Hörnerschall eine Jagdstimmung assoziiert, dem heiteren Menuet und dem ausgelassenen Gai sorgt es für einen munteren Einstieg in die fast dreistündige Komposition. In den Orchesterstücken und Tänzen, wie Entrée de pélerins, Gavotte gaie, Loure, Pantomime, Contredanse, Galop, Ritournelle, Bruit de guerre, von denen es auch einen Anhang gibt, vermag es mit musikantischer Spielfreude und feinsinnigem Gespür für dramatische wie heitere Stimmungen aufzuwarten (23. 02. 22). Bernd Hoppe

Alain Vanzo

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Kaum eine andere Stimme (außer vielleicht George Thill) gilt bei den Tenören so für mich als der Inbegriff der französischen Gesangskunst wie Alain Vanzo, der vor 20 Jahren (am 27. Januar 2002, geboren am 2. April 1928) starb. Seit meinen ersten Opern-Gehversuchen  liebe ich diese hochindividuelle Stimme voller Süße und auch voller gallischer Würze, lyrisch im Grundformat, aber eben auch heldisch wenn verlangt. Sofort wiedererkennbar, makellos in der Diktion und eben: Alain Vanzo. Wie seine Kollegin Andrée Esposito (die 2021 mit 100 Jahren starb und mit der Vanzo oft aufgetreten ist) oder der Bariton Robert Massard verkörpert er für mich das Ideal des französischen Gesangs. Seine wunderbare voix mixte in den hohen Noten bezaubert mich ebenso wie seine elegante Stimmführung, ob nun als Gérald in der Lakmé oder als unübertroffener Des Grieux Massenets. Seine Soloszene im Kloster und die anschließende Verführung durch Manon gehört für mich zu den Höhepunkten französischen Gesangs. Im Duett mit der Esposito hat man l´Opéra francais pur: Kunst und Ausdruck und (immer gezügelte) Emotionen.

Alain Vanzo als Samson/ OBA

Vanzos Repertoire war riesig. So gut wie alle Tenor-Partien im französischen Fach hat er gesungen – bis auf die wirklich heroischen wie Sigurd oder Vervaal vielleicht. Aber sogar einen Samson hat er gewagt und natürlich das ganze Zwischenfach vom sehr lyrischen Postillon Adams bis zu Lalos Mylio oder Meyerbeers Robert le Diable, für den er 1985 nach langer Pause am Haus erstmals wieder und als Einspringer an die Pariser Opéra geholt wurde, mit absolutem Erfolg und in meinen Augen/Ohren wesentlich idomatischer als sein Kollege Rockwell Blake (die eigentliche Besetzung, die nur auf einem düsteren youtube-video zu erleben ist). Es war eigentlich ein Witz, denn davor hatte die bis heute hochnäsige Pariser Oper ihn ebenso wie seine Kollegen Crespin, Gorr, Massard oder Blanc geschniten – Liebermanns Übernahme der Pariser Oper machte das Tor auf für zum Teil lächerliche internationale Besetzungen, während die Einheimischen an den Provinz-Theatern von Lyon oder Marseille auftraten.  Vanzo rettete 1986 die skandalträchtige Pariser Premiere und zeigte, wie man auch im Alter mittels bombensicherer Technik schwierigen Partien beikommt. Dieser Robert le Diable (bei Gala z. B.) ist für mich die ultimative Aufnahme des ohnehin selten dokumentierten Werkes (auch weil mit Michele Lagrange und Samuel Ramey kongeniale Kollegen zu erleben sind). Und nicht vergessen soll man seinen sensationellen Auftritt beim amerikanischen Debüt von Montserrat Caballé als Lucrezia Borgia 1965 in der Carnegie Hall (die problematische Aufführung, deren Titelpartie erst der Sills, dann der Horne und schließlich der Caballé angeboten wurde).

Andere französische Sänger wie der von mir in diesem Fach so sehr geschätzte Roberto Alagna mögen moderner klingen, und gerade Alagna hat in dieser Sparte kaum Konkurrenz. Aber Vanzo ist mir authentischer, mehr der grande tradition verbunden. Mit ihm hört man ein Stück Vor-/Nachkriegskultur eines Thill oder Vezzani, beide die Säulen der Opéra vor dem Krieg. Die groben Tenöre Tony Poncet, Gilbert Py oder Guy Chauvet sind da kein Vergleich für Vanzo.

Es ist bei ihm diese wunderbare Mischung aus äußerst Lyrischen und bei Bedarf Entschlossen, die mich bezaubert. Seine wirklich himmlischen samtenen Noten bei Mireilles Vincent, bei Werther, bei Cellinis Solo („Sur les monts …“) tut sich mir der tenorale Himmel auf, verbreitet der Sänger eine Süße des Tons, die man woanders lange suchen muss. Was ihn nicht abhält, im entscheidenden Moment auch zuzupacken und beim Faust oder auch Don Carlos richtig in die Vollen zu gehen.

Alain Vanzo und Andrée Esposito/ Filmszene aus „Manon“/OBA

Vanzo hat viel, sehr viel eingespielt. Er hatte das Glück, bei kleinen Firmen wie Vega oder Chant du Monde, später Malibran und Musidisc, unendlich viele Arien und méloldies aufzunehmen, eigentlich den ganzen Katalog des französischen Zwischenfach-Tenors. Dazu Vaterländisches mit der Nationalgarde, Gelegenheitsauftritte, Schlager. Unendliches. An Gesamt-Aufnahmen gibt es manches und Maßstäbliches: Lakmé (2 mal), Mireille (3 mal), Don Carlos (in einer aus dem Italienischen rückübersetzten Kurz-Fassung), die Vêpres siciliennes, die Huguenots, Manon, Benvenuto Cellini, Djamileh, Euryanthe, Genoveva, Robert le Diable, André Chenier, Les Contes d´Hoffmann,. Le Ropi d´Ys (mehrfach, mit Andrée Esposito oder Andréa Guiot), Faust, Romeo et Juliette, Werther, La Navarraise (mit der aufregenden Berthe Monmart), Les Pecheurs de Perles (2 mal), Le Pecheur d´étoiles (seine eigene Operette), Richard Coeur de Lion und manche mehr, auch Operetten  (vieles auf youtube) – diese eigentlich „nur“ Radioaufnahmen und mehr oder weniger bei grauen Labels wie Gala etc. veröffentlicht. Italienische Opern sowie Operetten gibt es als Querschnitte bei Vega und den Nachfolgern, aber auch als Radiomitschnitte in Gänze. Ein paar „offizielle“ Aufnahmen sind mit den Pecheurs de Perles (mit Cotrubas bei EMI), Manon (mit Doria) L´Enfance du Christ, der zu späten Lakmé (mit Sutherland) oder Mignon (dto.) bei Decca und CBS erschienen und zeigen Vanzo nicht mehr in Bestform.

Es sind die früheren Radioaufnahmen (viele bei der INA, dem Archiv des französischen Rundfunks) in denen man Alain Vanzo zum Besten erlebt. Physisch wirklich kein Beau sind die Opernfilme mit ihm (Werther, Mireille, Faust, La vie de Bohème, späte Konzerte etc.) für uns heute eher lustig. Da steht ihm für uns Glamourgewohnte seine gewisse südfranzösische Pummeligkeit ihm Wege. Aber die Stimm´… Unvergleichlich. G. H.

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Alain Vanzo und Léna Pastor in „La vie de Bohème“/ Finale/ OBA/ der Film ist immer noch bei Amazon erhältlich

Zur Biography: Alain Vanzo, dessen Vater Mexikaner und dessen Mutter Französin war, sang als Kind in einem Kirchenchor und gründete mit achtzehn Jahren seine eigene Band, La Bastringue, mit der er populäre Lieder in örtlichen Musik- und Tanzlokalen sang. Anschließend studierte er Gesang in Aix-les-Bains und bei Rolande Darcoeur in Paris. Und während seines Musikstudiums spielte er in der Saison 1951/52 als Zweitbesetzung den populären spanischen Tenor Luis Mariano in der Operette Le Chanteur de Mexico am Théâtre du Châtelet in Paris. Sein Durchbruch gelang ihm 1954, als er bei einem Gesangswettbewerb für Tenöre in Cannes den Ersten Preis gewann. Er wurde sofort eingeladen, kleine Rollen in Paris sowohl an der Opéra-Comique als auch an der Opéra zu singen, wo er 1955 an der Uraufführung von Henri Barrauds Oper Numance teilnahm.

Bereits 1956 sang Vanzo Hauptrollen wie den Herzog (Rigoletto) an der Opéra und Gerald (Lakmé) an der Opéra-Comique. Seine Karriere entwickelte sich sowohl an diesen Theatern als auch in der französischen Provinz rasch. Im französischen Repertoire war er u. a. in den Titelpartien in Gounods Faust und Werther, Des Grieux in Massenets Manon, Nadir (Les Pêcheurs de Perles), Roméo (Roméo et Juliette) und Vincent (Mireille) zu hören. Im italienischen Repertoire sang er Alfredo (La traviata), Rodolfo (La bohème) und Edgardo (Lucia di Lammermoor), die er 1957 an der Seite von Maria Callas aufführte.

Internationale Aufmerksamkeit folgte, als Vanzo 1960 die letztere Rolle an der Seite von Joan Sutherland sang, die seinerzeit ihr Debüt an der Pariser Oper gab. Er wurde eingeladen, in Europa am Théâtre de la Monnaie (Brüssel), am Gran Teatro del Liceu (Barcelona), am São Carlos (Lissabon) und an der Wiener Staatsoper zu singen, und in Südamerika am Teatro Colón, Buenos Aires, wo er als Hoffmann (Les Contes d’Hoffmann) einen starken Eindruck hinterließ. Sein Nordamerika-Debüt gab er 1965 als Gennaro (Lucrezia Borgia) an der Seite von Montserrat Caballé in einer legendären Konzertaufführung in der Carnegie Hall, New York, während sein einziger Auftritt am Metropolitan Opera House als Mitglied der Pariser Oper stattfand, als die Kompanie Gounods Faust dort 1977 aufführte.

Alain Vanzo als Werther/OBA

Im Laufe seiner Karriere erweiterte Vanzo sein Repertoire auf schwerere Rollen, z. B. die Titelrolle in Berlioz‘ Benvenuto Cellini, Mylio (Le Roi d’Ys), Robert (Robert le Diable), Raoul (Les Huguenots), Arrigo (I vespri siciliani), Cavaradossi (Tosca) und Gabriele Adorno (Simon Boccanegra). Im letzten Teil seiner Karriere sang er häufig Operette, deren hervorragender Exponent er war, trat weithin in Frankreich auf, beispielsweise in Avignon, Lille, Marseille, Nantes und Nizza, und war auch häufig im französischen Fernsehen zu sehen. Einer seiner bemerkenswertesten späteren Auftritte war 1985 als Meyerbeers Robert an der Pariser Oper. Neben dem Gesang komponierte Vanzo auch Lieder und Bühnenwerke, darunter die Operette Pêcheur d’Étoiles (Uraufführung Lille, 1972) und das lyrische Drama Les Chouans (Uraufführung Avignon, 1982). Er ging niemals offiziell in den Ruhestand und starb an den Folgen eines Schlaganfalls.

Vanzo gehörte zur letzten Generation französischer Sänger, die ihr Repertoire in ihrer Muttersprache erlernten und deren Karriere sich somit weitgehend auf Frankreich beschränkte. Die Fusion der Pariser Oper und der Opéra-Comique im Jahr 1972 und die anschließende Einführung des Stagione-Systems zerstörten die traditionellen Arbeitsplattformen für französische Sänger, die sich nur schwer gegen die folgende Welle des internationalen Wettbewerbs behaupten konnten. Bei diesem bedauerlichen Prozess ging die Kunst des französischen Operngesangs weitgehend verloren, was die Aufnahmen von Vanzo und seiner Kollegen zu unschätzbaren Dokumenten in Bezug auf angemessenen Stil und Technik machte. Vanzo selbst besaß eine Stimme von müheloser Schönheit und großem Charme; er bleibt unvergleichlich in Rollen wie Des Grieux, Gerald, Nadir, Roméo und Vincent (© Naxos Rights International Ltd. — David Patmore: A–Z von Singers, Naxos 8.558097-100). Übersetzung Daniel Hauser

Gelungenes Plattendebüt

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Die Mezzosopranistin Alice Lackner habe ich vor neun Jahren in einer Meisterklasse von Brigitte Fassbaender in Bayreuth, wo ich in beratender Funktion für die Junge Musiker Stiftung tätig war, mit Liedern von Brahms und Wolf zum ersten Mal gehört. Damals war sie 21 und seit vier Jahren in der Ausbildung. In meinem Bericht für Manfred Jung, den künstlerischen Leiter der Stiftung, habe ich seinerzeit notiert: „In allen Fällen ist mir neben einer gewissen Musikalität ein persönlicher, von Herzen kommender Ton positiv aufgefallen. Das läßt für ihre weitere Entwicklung hoffen.“

In der Zwischenzeit hat Alice Lackner nicht nur ihr Gesangsstudium erfolgreich abgeschlossen, sondern auch ein Studium der Soziologie absolviert und ist neben ihren sängerischen Auftritten auch wissenschaftlich für das ZOis (Zentrum für Osteuropa und internationale Studien) in Berlin tätig. Einige ihrer musikalischen Aktivitäten (in Rheinsberg und mit dem von ihr gegründeten Trio meZZZovoce) habe ich in den letzten Jahren auf youtube mit Interesse verfolgt. Trotzdem war ich jetzt von ihrem Debüt-Album bei GENUIN classics sehr positiv überrascht. Es ist schon vom Programm her originell und profitiert zusätzlich von der glücklichen Wahl ihrer Klavierbegleiterin Imke Lichtwark, die mir vorher kein Begriff war.

Das Album Ernsthaft?!, das den Untertitel „Witz und Wahn in Liedern von Zemlinsky, Schönberg und Daigger“ trägt, stellt das Berliner Kabarett „Überbrettl“ ins Zentrum. Es wurde von Ernst von Wolzogen (übrigens dem Librettisten von Richard Strauss’ Feuersnot) 1901 gegründet und war das erste literarische Kabarett, dem im frühen 20. Jahrhundert weitere folgten. Den Begriff hat Otto Julius Bierbaum geprägt, der in seinem Roman Stilpe mit Blick auf Nietzsche ankündigte: „Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären!“ Neben Bierbaum waren Autoren wie v. Liliencron, Dehmel, Schnitzler, Wedekind und Morgenstern für das neue Etablissement tätig. Oscar Straus war der musikalische Leiter des Theaters. Bei einem Gastspiel im Wiener Carltheater noch im Gründungsjahr zeigte sich der dortige musikalische Leiter Alexander von Zemlinsky derart begeistert von dem Unternehmen, dass er die beiden Brettl-Lieder In der Sonnengasse und Herr Bombardil schrieb. Sein Schüler und Freund Arnold Schönberg tat es ihm mit acht weiteren Liedern gleich und wurde von Wolzogen für Berlin als Kapellmeister unter Vertrag genommen.

Die beiden Zemlinsky-Lieder und vier von Schönbergs Beiträgen zum Brettl-Genre (darunter ein Langsamer Walzer auf einen Text von Emanuel Schikaneder) sind in dem Recital von Alice Lackner und Imke Lichtwark zu hören und sie haben, obwohl sie ja sehr ihrer Zeit verhaftet sind,  im pointierten Vortrag der beiden Künstlerinnen auch nach über hundert Jahren keinen Staub angesetzt. Eine Brücke zur Gegenwart schlägt Sven Daigger (* 1984), der hier mit Windgespräch (2013, auf einen Text von Christian Morgenstern) und dem vierteiligen Vereinsamt (2020/21, Text: Friedrich Nietzsche) vertreten ist sowie – gleichsam als „Hinausschmeißer“ – dem witzigen Arno-Holz-Song Abfertigung. Die beiden letztgenannten Titel wurden hier erstmals eingespielt. Daigger arbeitet mit musikalischen Zitaten (Brahms, Schubert) und verdoppelt die Gesangsstimme mit elektronischen Zuspielungen. Die Sängerin kann hier die Möglichkeiten ihres hellen lyrischen Mezzos und ihre Ausdrucksfähigkeit voll ausreizen.

Ganz ernsthaft, ohne jedes Fragezeichen, beginnt das Programm mit Zemlinskys Sechs Gesängen nach Gedichten von Maurice Maeterlinck op. 13, in den Jahren 1910-13 erst in einer Klavierfassung komponiert und später auch in eine Orchesterversion gebracht. Symbolistische Dichtungen, die teils offen, teils verklausuliert um das Thema Tod kreisen. Auch wenn die Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski gelegentlich sehr frei mit dem Original umgeht, wird der Geist der Dichtung in Zemlinskys sehr dichter und harmonisch abwechslungsreicher Vertonung lebendig und Sängerin wie Pianistin treffen die Dämmerlicht-Stimmungen mit ihrem intimen Vortrag bewundernswert gut.

Diese Intimität erreichen sie auch in der Wiedergabe von Schönbergs Vier Liedern op. 2, die der junge Komponist 1899 in einem gemeinsamen Sommerurlaub mit Zemlinsky im niederösterreichen Payerbach begann und in den folgenden Monaten vollendete. Drei Gedichte aus Richard Dehmels erotischem Zyklus Weib und Welt und ein Text von Johannes Schlaf (Waldsonne) trafen wohl den damaligen Gefühlszustand Schönbergs, der noch ganz auf den Spuren der Spätromantik wandelte, und sich gerade in Zemlinskys Schwester Mathilde verliebt hatte, die später seine Frau wurde. Alice Lackner findet für diese Lieder den richtigen Ton zwischen Emphase und sachlicher Gelassenheit und Imke Lichtwark, eine sensible Poetin am Klavier, webt Klanggirlanden voller Zärtlichkeit.

Das Booklet dieses empfehlenswerten Debüt-Albums enthält die Liedtexte, sachkundige und gut geschriebene Werkeinführungen der Sängerin und ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Komponisten Sven Daigger (GENUIN classics GEN 21758). Ekkehard Pluta

 

Sachsen-Coburgs „Santa Chiara“

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Mit Spannung erwartet brachte bereits im Februar 2022 das Meininger Staatstheater die Oper Santa Chiara des Prinzen Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha heraus – die erste Szenische Aufführung in moderner Zeit, nachdem das verdienstvolle Theater Erfurt das Werk am Klavier bereits 2010 vorgestellt hatte. Nun also gab es die Bühnen-Komponente mit Orchester, Chor, Szene und Regie – eine Rezension gestaltete sich schwierig wegen der bekannten Corona-Probleme, mit denen Meiningen wie viele andere Bühnen geplagt ist. Zum Kennenlernen bringen wir den Artikel von Arne Langer zu der Oper 2010 in Erfurt. G. H.

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Prinz Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha/ Wikipedia/ Hampton Court Paintings

Der Komponist: Die beiden Prinzen Ernst und Albert (Victorias späterer Ehemann) von Sachsen-Coburg und Gotha kamen früh mit Musik in Berührung, lernten das Klavierspiel und betätigten sich als Komponisten. Albert komponierte Kirchenmusik und Lieder, auch eine Oper (Hedwig von Linden) soll von ihm stammen. Als Gatte der englischen Königin wurde er ein eifriger Förderer der Musik, wovon bis heute die Royal Albert Hall zeugt. Während seines Studiums in Bonn lernte er u.a. bei dem Musikwissenschaftler Heinrich Carl Breidenstein, der eine Gesangsschule und geistliche Kompositionen veröffentlicht hatte.

Bei ihm erhielt Ernst Unterricht in der Generalbasslehre. Während der Militärzeit in Dresden verkehrte er mit literarischen Größen wie Ludwig Tieck und Schauspielern wie Eduard und Emil Devrient bzw. Sophie Schröder. Musikalisch prägte ihn vor allem der Hofkapellmeister Carl Gottlieb Reissiger, der als Nachfolger Carl Maria von Webers einen hervorragenden Ruf als Opernkomponist besaß.

Seit 1842 stand Franz Liszt in einem Anstellungsverhältnis am Weimarer Hof und wurde für Ernst offenbar ein wichtiger Ansprechpartner in Sachen Musik. Er gastierte im selben Jahr als Pianist im Coburger Hoftheater und spielte auf Schloss Callenberg mit Ernsts Frau Alexandrine vierhändig Klavier.1846 soll Liszt die Anregung für die Komposition der ersten Oper des Herzogs, Zayre, gegeben haben.

Der Kontakt wurde intensiver, seit sich Liszt 1848 in Weimar niedergelassen hatte. Im selben Jahr lernten sich Liszt und Wagner kennen und standen seitdem in enger Verbindung. Im Oktober 1848 erwähnt Liszt in einem Brief an Wagner Herzog Ernst und spricht darin von dessenintelligence superieure,et sa predilection personnelle pour la musique“.

„Santa Chiara“: die Librettistin Charlotte Birch-Pfeiffer (hier auf einem Foto von Harald Craf von 1850)/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die zweite Oper des Herzogs, Die Vergeltung, hatte geringen Erfolg, so dass kurz darauf eine Neufassung unter dem-Titel Tony entstand, die Liszt bald nach der Coburger Uraufführung auch am Weimarer Hoftheater herausbrachte. Der Herzog, der möglicherweise schon in seiner Dresdner Zeit mit Wagner in Berührung gekommen war, ordnete bald nach seinem Regierungsantritt 1844 an, die Partitur des Rienzi anzukaufen. Eine Aufführung kam zunächst nicht zustande. Sicherlich nahm er auch von den Lisztschen Wagner-Aufführungen in Weimar Kenntnis, der Erstaufführung 1849 von Tannhäuser und der Uraufführung von Lohengrin 1850. Durch Liszt verbürgt ist die Anwesenheit des Herzogs bei der Erstaufführung des Fliegenden Holländer 1853. Kurz darauf beabsichtigte Ernst, Wagner mit der Instrumentation seiner neuen Oper Santa Chiara zu beauftragen. Liszt besuchte 1853 in Gotha auf Einladung des Herzogs eine Aufführung von dessen Oper Casilda und übernahm 1854 das Dirigat der Uraufführung der Santa Chiara. Noch kurz vor Liszts Abgang aus Weimar kam 1859 die letzte Oper des Herzogs, Diana von Solange, dort zur Aufführung.

Noch als Erbprinz trat Ernst 1844 erstmals mit größeren Kompositionen an die Öffentlichkeit. In Gotha erklangen – unter der Leitung von Liszt – die Kantate Allerseelen für Vokalquartett und Orchester und das Geistliche Lied Immer Liebe für Sopran, Bariton, Chor und Orchester. Im selben Jahr erschien auch eine Gruppe von Klavierliedern im renommierten Musikverlag Breitkopf & Härtel.

„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto wie auch oben Christina Iberl

Auch nach seinem Regierungsantritt 1844 betätigte sich der junge Herzog weiter als Komponist. Eine Anregung Liszts führte wohl zur Komposition seiner ersten Oper, Zayre, eine Große Oper nach der Tragödie Voltaires. Der Uraufführung 1846 in Gotha folgte die Erstaufführung in Coburg.

Es war im „Doppelstaat“ Coburg-Gotha die Regel, dass das Hoftheater jeweils zu Jahresbeginn in Gotha und in der zweiten Jahreshälfte in Coburg spielte. Uraufführungen wurden möglichst gleichberechtigt verteilt. In beiden Städten standen moderne miteinander kompatible Theatergebäude, die 1840 noch vom Vater, Ernst I., errichtet worden waren. Während das Coburger Haus bis heute seinem Zweck dient, wurde das Gothaer Hoftheater nach Kriegszerstörung 1958 abgerissen.

Als zweites Bühnenwerk kam1848 in Coburg Die Vergeltung, eine Romantische Oper, heraus. Sie spielt im vom Freischüfz inspirierten Wald- und Jägermilieu. Die Bearbeitung unter dem Titel Tony wurde nach Coburg und Weimar u.a. 1854 auch an der Münchner Hofoper gespielt. Das spanische Sujet des dritten Bühnenwerkes, Casilda, ebenfalls eine Romantische Oper, erinnert an das Schauspiel Preciosa, das mit der Musik von Carl Maria von Weber ausgesprochen populär war. Ernsts Oper wurde nach der Gothaer Uraufführung 1851 an mindestens 15 weiteren Bühnen gespielt, u.a. in Brüssel, Wien, London, Prag, Riga, Weimar und offenbar 1889 auch in Erfurt.

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„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto Christina Iberl

Nun also Santa Chiara: Während der Herzog in seinen ersten Werken mit lokalen Librettisten und musikalischen Beratern zusammenarbeitete, suchte er für die beiden folgenden Opern nach prominentem auswärtigem Sachverstand. Entsprechend groß war das überregionale Echo auf zunächst Santa Chiara und dann auf die Große Oper Diana von Solange. Das Libretto zu Diana schrieb der damals sehr erfolgreiche Wiener Autor Otto Prechtler, der sein eigenes, im historischen Portugal spielendes Drama Adrienne entsprechend umarbeitete. Nach der Coburger Uraufführung 1858 erlebte die Oper mindestens 25 auswärtige Inszenierungen, von Hannover über Dresden, Wien, Warschau, Leipzig, Rotterdam, Prag, Riga, Berlin (Kroll) bis hin zur Metropolitan Opera in New York (1891). Meyerbeer kam im Februar 1860 eigens nach Gotha, um das Werk zu erleben. Viele Jahre später komponierte der Herzog noch zwei Operetten unter Pseudonym, von denen sich kein Aufführungsmaterial erhalten hat: Der Schuster von Straßburg, aufgeführt 1871 im Wiener Strampfer-Theater, und Alpenrosen (1873), angeblich in Hamburg gespielt.

Neben dem Einsatz für seine eigenen Werke interessierte sich Herzog Ernst zeitlebens für das Opernschaffen anderer Komponisten. Die Verbindung zu Giacomo Meyerbeer, dem seinerzeit sicherlich erfolgreichsten Opernkomponisten, wirkte sich auf die Entstehung der Santa Chiara aus und hatte zur Folge, dass die deutschsprachige Erstaufführung von dessen letzter Oper Dinorah 1859 in Coburg stattfand. In späten Jahren wurde Ernst zu einer Schlüsselfigur in der Biographie von Johann Strauß, der sich mit Adele Deutsch neu verheiraten wollte, was im katholischen Wien nicht möglich war. 1886 wurde er auf Bestreben des Herzogs in Coburg eingebürgert, wo dann auch die Ehescheidung und Neuverheiratung amtlich besiegelt werden konnten. Zum Dank widmete Strauß die Werke Simplicius (Wien 1887) und Ritter Pàzmàn (Wien 1892) dem Herzog.

„Santa Chiara“/ das Herzogliche Hoftheater Coburg/ OBA

Kurz vor seinem Tod betätigte sich Ernst noch einmal als Förderer der zeitgenössischen Oper. Nach dem Vorbild des legendären Einakter-Wettbewerbs des Mailänder Verlages Sonzogno, das den Weltruhm der Oper Cavalleria rusticana begründete, initiierte er 1892 einen vergleichbaren Wettbewerb für deutschsprachige Operneinakter. Der Zuspruch war immens, die beiden siegreichen und in Gotha uraufgeführten Werke, Die Rose von Pontevedra von Josef Förster und Evanthia von Paul Umlauft, konnten allerdings keinen dauerhaften Platz im Repertoire erobern.

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„Santa Chiara“: die berühmte Rosina/e Stoltz sang 1856in Brüssel die Berthe (hier als Meyerbeers Fides)/ Wikipedia

Uraufführung und Verbreitung: Die Große romantische Oper Santa Chiara erlebte ihre Uraufführung am 2. April 1854 im Herzoglichen Hoftheater Gotha unter dem Dirigat von Franz Liszt. Die Dekorationen für den zweiten und dritten Akt hatte der später durch seine Arbeiten für Bayreuth und Meiningen berühmte Coburger Hoftheatermaler Heinrich Karl Brückner (* 11. Juli 1805 in Coburg; † 24. Juni 1892 ebenda) gestaltet. Die Titelpartie sang die Sopranistin Anna Falconi (eigentlich Bockholtz), die zuvor an der italienischen Oper in London und an der Mailänder Scala aufgetreten war. Meyerbeer kam auf Einladung des Herzogs nach Gotha zu einer der Folgevorstellungen und vermerkte im Tagebuch:„Der zweite Akt der Oper hat wirklich sehr große musikalische Schönheiten im edlen dramatischen, hochtragischen Stil.“ Ein halbes Jahr später folgte die Coburger Premiere der Oper, dann die Opernhäuser in Frankfurt, Hamburg und Karlsruhe. Spätesten für die prestigeträchtige Erstaufführung in Paris wurde die Oper einer Revision unterzogen. Vor allem im dritten Akt entfielen einige Passagen, andere – wie eine Romanze der Bertha – wurden neu eingefügt. In dieser musikalischen Gestalt, die auch als Klavierauszug gedruckt wurde, ist das Werk in der Folge weitgehend unverändert aufgeführt worden, wie das in der Coburger Landesbibliothek erhaltene Aufführungsmaterial erkennen lässt.

Der Pariser Aufführungin französischer Sprache – gingen intensive Bemühungen des Herzogs voraus, die von Meyerbeer unterstützt wurden. In den vorangegangenen Jahren war Ernst mehrfach in diplomatischer Mission bei Kaiser Napoleon III. gewesen. Ein schon länger schwelender Konflikt zwischen Russland einerseits sowie Frankreich und England anderseits führte schließlich Ende 1854 zum Krim-Krieg. Die profranzösische und zugleich antirussische Tendenz der Santa Chiara-Handlung war in dieser Situation sicher hilfreich. Die Aufführung am 27.9.1855 erfolgte dann kurz nach dem Sieg der Alliierten in Sewastopol in einer Phase nationaler Begeisterung. Noch dazu war gerade in Paris die (Vierte) Weltausstellung eröffnet worden. Die Tenorpartie sang der durch die Uraufführung von Meyerbeeers Le Prophete bekannt gewordene Gustave-Hippolyte Roger. Ebenfalls in französischer Sprache folgte 1856 eine Inszenierung in Brüssel, wo Leopold l., ein Onkel des Herzogs, als belgischer König herrschte und gerade sein Thronjubiläum begangen hatte. Die Charlotte wurde in Brüssel von Rosine Stoltz gesungen, einer der prominentesten Primadonnen ihrer Zeit. Herzog Ernst scheint sie danach besonders protegiert zu haben. 1865 erhob er sie in den Adelsstand, und sie zog für einige Jahre nach Coburg.

1856 gastierte Hector Berlioz als Dirigent eigener Werke in Gotha und stellte dem Programm als Reverenz an den Hausherrn die Ouvertüre von Santa Chiara voran.

„Santa Chiara“: der Tenorstar Gustave-Hippolyte Roger (hier als Meyerbeers Jean van Leyden) sang 1855 den Victor in der Pariser Erstaufführung/ Wikipedia

In den folgenden Jahren ging die Oper über viele große deutschsprachige Bühnen – Dresden, Darmstadt, Wien (Josefstadt-Theater), Leipzig, Bremen, Königsberg. Nach einer längeren Unterbrechung gab es dann ab 1876 noch einmal eine Reihe von Erstaufführungen: Nürnberg, Köln, Straßburg, Augsburg, Chemnitz, Lübeck, Berlin (Kroll-Oper). In Gotha und Coburg kam es immer wieder zu Neueinstudierungen, die letzte Aufführung soll 1927 in Coburg stattgefunden haben – und im Mai 2010 dann in der Reihe „Oper am Klavier“ am Theater Erfurt (Ralph Neubert hatte die musikalische Leitung, in den Hauptrollen hörte man Mate Sölyom-Nagy, llia Papandreou, Stephanie Müther, Richard Carlucci, Vazgen Ghazaryan und Jörg Rathmann sowie Mitglieder des Philharmonischen Chores Erfurt). Arne Langer

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Nun also die szenischen Aufführungen am Staatstheater Meiningen (vom April bis Juni 2022: Charlotte: Lena Kutzner/Deniz Yetim/ Bertha: Marianne Schechtel/Sandra Maxheimer/ Victor: Markus Petsch/Patrick Vogel/ Alexis: Johannes Mooser/ Aurelius: Rafael Helbig-Kostka/ Alphonse: Tomasz Wija/ Herbert: Mikko Järviluoto/ Chor des Staatstheater Meiningen/ Meininger Hofkapelle/ Statisterie/Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach/ Regie: Hendrik Müller/ Bühne: Marc Weeger/ Kostüme: Katharina Heistinger/ Dramaturgie: Claudia Forner; nebst absurder Geisterstimme der Heldin, wie man bei der Radioübertragung verärgert vermerken konnte). G. H.

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„Santa Chiara“: Bühnenbildentwurf der Gebrüder Brückner/ Coburg zum 3. Akt/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die Handlung: Russland 1715 unter der Regierung von Peter dem Großen/ Akt 1 – Prächtiger Saal im Palast des Zarewitschs in Moskau Der Engel der Berge. Die deutsche Prinzessin Charlotte Christina lebt als Gattin des Zarewitschs Alexei am russischen Zarenhof und leidet an der Missachtung durch ihren rohen und gewalttätigen Mann. Sie hatte ihren Vater gebeten, zurückkehren zu dürfen. Am Tage ihres Geburtstages erhält sie nun die Nachricht, dass er ihr schweren Herzens aus politischer Rücksichtnahme die Rückkehr verbietet. Selbst das Wiedersehen mit Victor de St. Auban, einem französischen Edelmann in russischen Diensten, kann sie nicht trösten. Auban war ihr in jungen Jahren in der Heimat zufällig begegnet und ist ihr seither verfallen. Während der höfischen Geburtstagsfeier will Alexei den Plan umsetzen, seine Gattin mit Gift zu ermorden. Dem Leibarzt gelingt es aber, das ihr zugedachte Gift durch ein Schlafmittel zu ersetzen. Das Fest endet abrupt mit dem vermeintlichen Tod Charlottes.

Der Autor: Arne Lange, Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater

Akt 2 – Die Michaelskathedrale im Kreml. Die Totenmesse. An Charlottes Sarg gesteht Victor seine Liebe und schwört Rache für den Mord. Nachdem Alexei den Sarg hat verschließen lassen, erwacht Charlotte. Unbemerkt von der trauernden Menge geleiten sie der Sekretär Herbert und Leibarzt Aurelius aus der Kapelle und ermöglichen ihr die Flucht.

Akt 3 – Heitere Gegend bei Resina am Golf von Neapel. Unerkannt lebt Charlotte fortan in Italien, von den Landleuten als Wohl-täterin „Santa Chiara“ verehrt. Der Zufall führt sowohl Alexei als auch Victor in ihre Nähe. Alexei hatte eine gescheiterte Verschwörung gegen seinen Vater geplant und gelangte auf der Flucht hierher. Victor wiederum war auf Befehl des Zaren dem Flüchtenden gefolgt. Während Charlotte und Victor glücklich zueinander finden, wird Alexei durch den Anblick der tot geglaubten in den Wahnsinn getrieben. Arne Langer

(Der Autor: Arne Lange ist Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater und stellte diese Auszüge aus seinem für das Programmheft 2010 geschriebenen Artikel dankenswerterweise zur Verfügung. Textred.: G. H.)

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Und nun die Rezension der Aufführung in Meiningen: Die beiden Herren müssen sich prächtig verstanden haben. Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818-93) und Georg II. von Sachsen-Meinigen (1826-1914) dürften sich nicht nur bei der Kaiserproklamation in Versailles 1871 begegnet sein, sondern teilten auch weitreichende künstlerische Interessen. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Albert genoss Ernst eine umfassende musische Bildung, wozu neben den obligaten Studienreisen auch eine umfassende musikalische Ausbildung gehörte. Nach Studienjahren in Bonn trennten sich ihre Wege. Albert siedelte als Gemahl der britischen Königin Victoria 1840 nach London über, Ernst, der seine Ausbildung noch in Dresden verfeinert hatte, trat 1844 die Nachfolge seines Vaters an. Immerhin fühlte er sich als Musiker und Komponist hinreichend gerüstet, um u.a. vier Opern zu komponieren. Sein ebenso kunstsinniger Meininger Nachbar lebte seine künstlerischen Ambitionen in der Neuorganisation des Meininger Hoftheaters aus. Schön, dass nun die vierte und erfolgreichste Oper von Ernst II. Santa Chiara am Staatstheater Meiningen ausgegraben wurde.

Santa Chiara ist die Wolfenbütteler Prinzessin Charlotte, die zur Stärkung der russisch-westeuropäischen Beziehungen mit dem Sohn Peter I., dem Zarewitsch Alexej, nach Russland verheiratet wurde. Legenden umwoben ist ihr späteres Nachleben. Offiziell 1715 bei der Geburt des späteren Zar Peter II. gestorben, kamen ein halbes Jahrhundert später Gerüchte auf, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht habe, um dem gewalttätigen Gatten zu entgehen und mit ihrem französischen Verehrer Chevalier Victor  St. Auban ausgewandert sei. Für den Text wählte sich der Herzog die populäre Erfolgsautorin Charlotte Birch-Pfeiffer aus, die als Vorlage Johann Heinrich Daniel Zschokkes Roman Die Prinzessin von Wolfenbüttel vorschlug. Die Idee gefiel dem Herzog. Gut möglich, dass sich Ernst II an das Schicksal einer Tante erinnert hatte, die gleichfalls mit einem Romanow-Zarewitsch verheiratet worden war, nach fünfjähriger unglückliche Ehe in die Heimat zurückkehrte und als geächtete Frau und Mutter unehelicher Kinder ein einigermaßen abenteuerliches Leben führte. Auch darüber hinaus hatte der Herzog nur erste Namen im Blick: Gustav Freytag warf einen letzten prüfenden Blick auf das Textbuch, für die Instrumentation versuchte er vergebens, Wagner zu locken. Meyerbeer durfte das Schlussurteil über das Werk fällen, das so vorteilhaft ausfiel, dass sich Meyerbeer für eine Pariser Aufführung einsetzte, die im Jahr nach der von Franz Liszt 1854 am Hoftheater Gotha dirigierten Uraufführung stattfand. Viele, durchaus renommierte Bühnen schlossen sich an. Ende des 19. Jahrhunderts riss die Erfolgsserie ab, nur die ehemals herzoglichen Hoftheater in Gotha und Coburg, wo es zuletzt 1927 zu einer Aufführung gekommen war, hielten der Santa Chiara die Treue.

Nun also neuerlicher Anlauf für Santa Chiara in Meiningen (29. April 2022). Der letzte Versuch sechs Wochen zuvor scheiterte an einer kurzfristigen Corona bedingten Absage der Aufführung. Dem Staatstheater Meinigen muss man das Kompliment machen, dass es sich nicht bequem zurücklehnte, sondern mit Kay Metzgers spannender Inszenierung des Fliegenden Holländers einen guten Ersatz einschob (10. März). Zusammen mit dem Lohengrin (20. April) am Abend vor der jetzigen Santa Chiara eröffnet sich ein kulturgeschichtlicher Horizont und werden „lokale“ kunst- und kulturgeschichtliche Bezüge deutlich, die die Oper des Herzogs nochmals in einem anderen Licht erscheinen lassen. Interessanterweise ist Lena Kutzner, die Senta und Elsa, auch eine der beiden Besetzungen der Santa Chiara. Eine Jugendlich-Dramatische, um die jedes Haus Meinigen beneiden muss.  Höhensicher und mit schönen leuchtenden Bögen, innig im Ausdruck. Überzeugend als Senta, die bei Metzger tagtäglich im altmodischen Kino ihren Kaffee nimmt, um anschließend ihren Star in einem  Fluch der Piraten-Aufguss zu erleben. Wunsch und Realität vermischen sich sehr packend. Und sie sitzt noch immer da. Inzwischen ein altes Weiblein am Gehstock. Noch eindrucksvoller gelingt Kutzner die Elsa, die sie in Ansgar Haags hochromantischer, um Böcklins „Toteninsel“ kreisender Inszenierung sehr leidenschaftlich und packend singt und auf ideale Weise erfüllt. Ein Ideal auch ihr Schwanenritter, den Magnus Virgilius mit silbern metallischem Stahl, unerschöpflich schlanker Kraft und glühendem, im Brautgemach zwischen Unerbittlichkeit und Resignation sich aufreibendem Ausdruck so beeindruckend sang, wie man ihn nicht oft hört.

Handelt es sich bei Santa Chiara um ein vergessenes Juwel der romantischen Oper, das man hinter die beiden 1843 und 1850 in Dresden und Weimar uraufgeführten Wagner-Opern einreihen darf oder nur eine interessante Fußnote zur regionalen Musikgeschichte? Ernst II. beginnt seinen Dreiakter  mit einer geheimnisvoll schwermütigen, reich instrumentierten Ouvertüre, die geradewegs in die dunklen Räume des Kremls zu führen scheint, wo die deutsche Prinzessin unter ihrem gewalttätigen Mann und dessen Mätressen leidet. Dann lichtet sich das Dunkel.  Ernst II. nimmt die hüpfende Tanzlaune Neapels vorweg, wo Charlotte im dritten Akt  als Wundertäter verehrt wird. In dieser zehnminütigen Zusammenfassung seiner Oper kehrt Ernst II. von der Elisir d’amore– oder opéra-comique-Beschwingtheit wieder zu den dunklen Grabesklängen zurück. Trotz aller Originalität wirkt die Ouvertüre kunstsinnig zusammengeflickt, kommt nicht richtig in Schwung, was leider für die gesamte Oper gilt, die sich zwischen französischen und italienischen Vorbildern nicht so recht zu entscheiden vermag.

Am ursprünglichsten wirkt Santa Chiara, wenn Ernst II. in den Rezitativen einen gemütlichen Lortzing-Ton anschlägt, der eigentlich gar nicht zu den französischen Adeligen am russischen Hof passt, und gemütvolle deutsche Romantik anstimmt. Beispielhaft zu Beginn die große Szene des Victor und seine Romanze „Am blum’gen Rain“, die sich wie eine schöne Kopie von Nicolais Fenton und Flotows Lyonel ausnimmt: liedhaft gefällige Schwärmereien, die den hier höhenstark geforderten Tenor in Bedrängnis bringen. Patrick Vogel singt den Victor mit nicht ungefährdetem, manchmal fast brechendem Ton, aber mit einer Operettenleichtigkeit, die hier gut am Platz ist, und mit so viel Charme, dass er, der im dritten Akt mit einer schönen Arie seiner Angebeteten folgt, fast zur Hauptfigur in diesem kruden Schwenk von Moskau nach Neapel wird, in dem keine der Figuren ein Gesicht erhält .

Santa Chiara ist noch eine Nummernoper, „aber wir haben es hinbekommen, dass es mehr ineinanderfließt“,  erzählt GMD Philippe Bach im Programmheft, „Besonders bei den Rezitativen, die nicht nur das kompositorisch schwächste Teil sind, sondern auch zu lang, habe ich den Rotstift angesetzt“. Was auch immer wegfiel, der Rest hängt irgendwie in der Luft, denn aus den kurzen Ensembles und Chornummern, in welche die Gesellschaftsszenen des ersten Aktes aufgelöst sind, lässt sich keine Geschichte filtern. Da hilft es auch wenig, wenn Charlotte eine innere Schauspielerinnen-Stimme zur Seite gegeben wird, die mehr zur Verwirrung denn Klärung beiträgt. Vor allem die Titelgestalt wird nicht greifbar, scheint sich von Anfang an wie ein Phantom durch den Kreml zu schleichen und ihre spätere Legendenbildung vorzubereiten. Mit gebrochen, gezackter Gesangslinie tut sich Deniz Yetim in den kurzen Ariosi und disparaten Attacken schwer, allenfalls ihm Duett mit der Charlotte liebenden Gräfin Bertha besänftigt sie ihren wilden Sopran so weit, dass er in der Sterbeszene recht vorteilhaft klingt. Der zweite Akt mit der Alexejs Giftanschlag um Opfer gefallenen und aufgebahrten Charlotte ist ganz Grand Opéra: die Cavatine der Bertha, in der sie ihr verlorenes Glück beklagt, entspricht vollkommen dem Schema, das an dieser Stelle der zweiten Sängerin eine bravouröse Nummer zuteilt, dazu die anspruchsvolle Tenorszene des Victor, kurze Intrigen des Zarewitsch, der in der Oper immer Czarowitsch genannt wird, vor allem die Gesänge des Archimandriten von Moskau, sakrale Klanggesten und Orchesterraunen – wozu die Regie ein Foto Bruckners aufgestellt hat – und das im Hintergrund erklingende „Requiem“ zeigen, wie genau sich Ernst II. in der weiten Welt der Grand Opéra umgesehen hatte. Musikalisch runder wird die Oper, nachdem Charlotte, die erst in der letzten Zeile als „Santa Chiara“ gefeiert wird, im Süden Asyl gefunden hat.

Idyllische Gesänge, nochmals hübsche Nummern für den Mezzosopran, wobei Sandra Maxheimer als Bertha einen lyrischen Mezzo von angenehmer Wendigkeit zeigte, endlich eine große, kloraturenverzierte fast bellinihafte Arie für Charlotte, die Yildim mit kangvoll, vibratoreichen Sopran angeht. Noch ein Abschiedsduett mit dem Tenor, dann – recht unvermittelt – der Auftritt des Charlotte gefolgten Alexej, der zuvor bestenfalls durch das blaue Ballkleid auffällig wurde, mit dem er auf dem Bett neben dem Sarg mit seiner Gattin tanzte. Nun wird er angesichts der Ereignisse wahnsinnig. Mit seinem leichten Spielbariton kann der spielmächtige Johannes Mooser die Dimensionen der Figuren nur andeuten. Hendrik Müller unterstrich die Ungleichartigkeit der Musik bzw. die vielfältigen stilistischen Einflüsse, die Buntscheckigkeit und Sprunghaftigkeit der Handlung durch eine Inszenierung, die Revue und Show und Zirkus mit ironischer Distanz und parodistischer Leichtigkeit verbindet. In der Charlottes Teddybär ebenso seinen Platz findet wie der Schmerzensmann mit der Dornenkrone, der die Tote im Sarg berührt, worauf sie wie Schneewittchen plötzlich die Augen aufschlägt. Wo Alexejs Mutter und Geliebte als stumme Nebenfiguren auftauchen oder eine neue Glaubensgemeinschaft glückselig taumelt. Wie auf einem Karussell lässt Marc Weeger dazu in den beiden ersten Akten die pompejanisch roten Zimmerfluchten des Kremls rotieren, in denen Müller eine überzeichnete, affektierte Gesellschaft zeigt, in deren Mitte Alexej und Victor als Paradiesvögel  stolzieren. Nicht weniger schillernd das sich drehende Zirkusrund im Süden, wo die durchgehend als weiße Bräute gekleideten Chormassen (Kostüme: Katharina Heistinger) mit den hier besonders auffälligen Plattitüden der Birch-Pfeiffer ihrer Führerin huldigen, die wie eine Operettendiva aus der Kuppel herunterschwebt.  

Zwischen zwei Lohengrins überließ BGM Bach die Aufführung am 30. April Andrey Doynikov, der die wunderbar eingestimmte Meininger Hofkapelle und den Chor und Extrachor so gewinnend durch den 2 ¼ stündigen Abend führte, dass Brüche und Schwächen des Werks wenig spürbar wurden. Großer begeisterter Jubel für diese Prinzessin, die nun wieder für ein Jahrhundert in einen Dornröschenschlaf versinken wird. Für die nächste Spielzeit hat Meiningen bereits eine weitere Beschäftigung mit russischer Geschichte vorgesehen und als Novität die szenische Uraufführung von Bizets fünfaktigem Ivan IV. angekündigt. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.

 

Paderewskis „Manru“

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„Da hast du ihn“, schreit Urok und stößt Manru den Dolch ins Herz. Er nimmt blutige Rache für Manrus Frau Ulana, die sich zuvor selbst getötet hat. Ein knalliges, auch etwas konventionelles Ende für die von Anfang an zum Scheitern verurteilte Liebe zwischen dem Roma Manru und Ulana, der Tochter von Tatra-Bauern. Leoncavallos Pagliacci scheinen nicht weit. Doch Manru ist mehr als ein aufgewärmter Verismo-Schocker, der zufällig im einem Dorf im Tatra-Gebirge spielt, hat ihn doch Ignacy Jan Paderewski einmal als „erste Oper über das Problem der Rassen“ bezeichnet: ein Ehe- und Gesellschaftsdrama, das Paderewski mit slawischer Volksmusik und Musik der Roma musikalisch genau ausdifferenzierte. Mögen auch manche der Melodien, die er 1883/ 84 bei der von städtischer Zivilisation unberührten Bevölkerung im Süden Polens in den Karpaten sammelte und aufzeichnete aus zweiter Hand sein.

Ignacy Jan Paderewski, 1900, photo collections of United States‘ Library of Congress

Vor allem die beiden Außenakte, bei der Hochzeitsfeier von Ulanas Schwester und bei der Roma-Sippe der  Erumanels, quellen über von Tänzen und Liedern. Der Zigeuner Manru hat Ulana geheiratet und ihr zuliebe seine Gemeinschaft verlassen, die ihn als Abtrünnigen betrachtet. Zugleich bleibt er auch in Ulanas Dorf ein Außenseiter, wo Ulanas Mutter Hedwig, in deren hartherzige Phrasen sich Gabriella Guilfoil verbeißt als sei sie eine Schwester von Janáčeks Kabanicha, gegen den Schwiegersohn hetzt. Obwohl sie ein Kind haben, verlässt Manru Ulana, erliegt der Liebe zur seiner Ex Asa und den Geigenklängen seiner Leute und kehrt zu den Zigeunern zurück. Ulana erkennt, dass sie Manru verloren hat und bringt sich um. Der sie heimlich liebende Urok rächt sich und tötet im Gegenzug Manru. Das liest sich wie die direkte Kopie eines veristischen Stoffes. Tatsächlich könnte man, ungeachtet der Sprache, den durchkomponierten Manru mit seinem kraftvollen Zugriff auf den Text und der leidenschaftlichen Singdeklamation für eine veristische Oper halten. Doch daneben kultiviert Paderewski einen spätromantischen Jahrhundertwendrausch mit vielen überdeutlichen Wagner-Reminiszenzen vom Wälsungen-Liebespaar über Jung-Siegfried, Tristan und Isolde bis Kundry, die ihren Höhepunkt im Liebesduett Ulana/ Manru im zweiten Akt finden, und lässt Asa wie eine in die Karpaten umgesiedelte Carmen klingen.

Paderewskis „Manru“ in Halle/ Szene/ Foto Federico Pedrotti

Die Lücke, die in der polnischen Oper zwischen den Werken Moniuszkos und Szymanowskis König Roger klafft, – Władysław Żeleńskis Goplana von 1896 blieb eine Rarität und wurde erst 2015 von der Warschauer Opern rehabilitiert – schließt Ignacy Paderewski mit seinem Manru. Beim zweiten Blick ist es gar nicht so erstaunlich, dass die auf Jozef Ignacy Kraszewskis Roman Die Hütte am Rande des Dorfs basierende Oper mit dem deutschen Libretto von Alfred Nossig in Dresden 1901 herauskam. Dabei spielte weniger eine Rolle, dass Kraszewski nach dem Januaraufstand von 1863 in die Emigration ging und rund zwanzig Jahre im bei polnischen Exilanten belieben Dresden lebte, wo auch seine Sachsen-Romane entstanden. Vielmehr dürften dabei die weitreichenden Kontakte Paderewskis und seine Bekanntschaft mit allen Persönlichkeiten des europäischen Musiklebens von Vorteil gewesen sein. Um die vorletzte Jahrhundertwende war Paderewski (1860-1941) vor allem der weltweit konzertierende Klaviervirtuose; 1915-22 schlug er zusätzliche eine politische Karriere ein, war Mitglied der polnischen Exilregierung, wurde 1919 zum ersten Ministerpräsident Polens und Außenminister ernannt, vertrat Polen auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 und unterzeichnete für sein Land den Versailler Vertrag. Nachdem er 1922 seine politische Tätigkeit aufgegeben und sich wieder seinen Konzertauftritten gewidmet hatte, kehrte er 1939 nochmals in die Politik zurück.

 

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Und nun Rolf Fath zur Auffüherung in Halle, erstmals in deutscher/originaler Sprache: An der Oper Halle, wo Manru erstmals (am 19. März 2022) seit der Uraufführung an der Dresdner Hofoper vor 120 Jahren wieder an einem deutschen Haus gespielt wird, verzichtet Katharina Kastening auf diesen ganzen folkloristischen und dörflichen Zierrat und trennt die jeweils anderen durch eine undurchsichtige milchige Scheibe, die Ausstatter Gideon Davey ganz geschickt auf der nahezu leeren Drehbühne installiert hat. Keiner sieht hinter die Scheibe, keiner kennt den anderen. Die Dorfbewohner feiern. Was dahinter stattfindet bleibt ihnen verschlossen. So entsteht Ausgrenzung. Umgekehrt genauso. Die politischen und gesellschaftlichen Implikationen werden nicht feingezeichnet. Ulana und Manru ziehen sich in ihre mit „Zigeuner“ beschmierten Plexiglasboxen zurück. Die Scheibe dreht sich. Die Ausgelassenheit bei den Roma sieht genauso wie im Dorf von Ulanas Mutter aus, nur die Röcke sind etwas kürzer, die Kleider greller und glitzernder. Manru lässt sich durch seine alte Liebe Asa und die Macht der Musik zum Bleiben verlocken und wird schließlich zum neuen Anführer gekürt, auch wenn ihm die Lederjacke des Herrschers zu eng geworden ist. Ohne konkret zu werden, führt Kastening das alles schmucklos und stringent, in den Chorszenen durchaus bravourös und überzeugend heutig vor, auch die Halluzinationen, in die Manru stürzt, nachdem ihn Ulana durch einen Liebestrank an sich zu fesseln versuchte, und seine Fieberträume, in denen er ständig einen Manru-Doppelgänger mit seiner kleinen Tochter sieht, wirken plausibel.

Paderewskis „Manru“: Marcella Sembrich war die erste Ulana/ Foto Ipernity

Das wird auch als Koproduktion mit der Opéra National de Lorraine in Nancy nocht gut wirken. Im Opernhaus Halle gab es für das Regieteam unverdientermaßen Buhs, während der musikalische Teil über die Maßen gefeiert wurde. Mit dem durchaus reifen Liebespaar Romelia Lichtenstein und Thomas Mohr setzte Halle bewusst nicht auf feurige Leidenschaft und jugendlich unbekümmertes Außenseiterum. Romelia Lichtensteins Sopran weist mittlerweile manche Schwächen auf, klingt nicht in allem Lagen gleichermaßen präsent und sicher, hat aber in der Höhe, so in Ulanas Wiegelied zu Beginn des zweiten Aktes, einen zarten Zauber und kann in den wagnerischen Pucciniaufschwüngen immer noch energisch durchgreifen. Mit robust geradlinigem, trompetenhellem Tenor steuert Thomas Mohr sicher durch die, so der Dirigent, zwischen Cavaradossi und Siegfried angesiedelte Partie und kann dank seiner Routine und vorbildlichen Textdeutlichkeit Akzente setzen. Daneben Levent Bakirci mit dem rechten knarzig schrägen Charakterbariton als faszinierend zwielichtiger Urok, Franziska Krötenheerd mit hart geschliffenem Sopran als brav ungefährliche Asa und Ki-Hyun Park als entthronter Anführer Oros. Mir kam der mit zwei Pausen weit über drei Stunden dauernde Abend deutlich zu lang vor, was vermutlich nicht an Michael Wendebergs musikalischer Leitung und der Staatskapelle Halle lag, schon gar nicht an den ausgezeichneten Chören mit Kinder- und Jugendchor. Paderewskis Hang zum weitschweifigen Kolorieren führt gelegentlich zu einem suppig unnuancierten Orchesterklang, dem Wendeberg entgegensteuert, indem er durchaus die Modernität und Vielfalt der Musik unterstreicht.

Die Buhs zielten sicher nicht auf den mit dem Regieteam erschienen Dramaturgen Boris Kehrmann, denn um Manru und das Thema Integration hatte er neben dem ungemein profunden Text im Programmheft ein Rahmenprogramm aus Ausstellung (Über Ausgrenzung, Assimilation, Homogenisierung), Lesung und Konzert aufgestellt. Vor allem ein zweitägiges Symposium, dessen Themenstellungen mich teilweise an das aktuelle Straßburger Arsmondo Festival Tsigane erinnerten, das sich um den Doppelabend Das Tagebuch eines Verschollenen und El amor brujo rankt und als Hommage an das reiche kulturelle Erbe der Sinti, Roma, Calé, Manush versteht.

Paderewskis „Manru“ in Halle/ Szene/ Foto Federico Pedrotti

Manru stellt den Höhepunkt von Paderewskis kompositorischem Schaffen dar, das um 1900 bereits nahezu vorständig vorlag. Die Dresdner Uraufführung am 29. Mai 1901 dirigierte Ernst von Schuch, es sangen Annie Krull (Ulana), die acht Jahre später die Elektra kreierte, und der erste Heldentenor des Hauses Georg Anthes den Manru, dazu Karl Scheidemantel den Urok. Zehn Tage später folgte in Nossigs Geburtsstadt Lemberg die polnische Erstaufführung. Manru wurde vielfach nachgespielt, 1902 sogar in New York gegeben, wo unter Walter Damroschs Leitung Marcella Sembrich die Ulana war, und steht in Polen bis heute auf den Spielplänen. In Bydggoszcz/ Brombeg entstand 2006 eine Aufnahme (DUX), neue Aufführungen aus Posen und Warschau gibt’s auf youtube oder DVD (alle stets in Polnisch). Nach Deutschland ist der (deutsche) Manru indes gar nicht bzw. 1987 in Dresden nur als Gastspiel aus Lodz zurückgekehrt. Nun also Manrus Heimkehr, die in Halle mit mehr Respekt als Bewunderung zu erleben ist (Dankenswerter Weise gab es einen Radiomitschnitt im Deutschlandradio Kultur/ Foto oben: Aleksander-Brückner-Zentrum/ zu Manru).    Rolf Fath

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Die polnisch-deutschen Schwierigkeiten nicht nur in den kulturellen Nachkriegs-Beziehungen beleuchtet die Oper Manru Paderewskis geradezu exemplarisch. Die Zögerlichkeit der polnischen Theater, den deutschen Anteil des kulturellen Erbes anzuerkennen und sogar vorzustellen mündet in einem sehr langsamen Prozess der Aufarbeitung. Ignaz Paderewski (Ignacy Jan Paderewski Herb Jelita, GBE * 6. bezw. 18. November 1860 geb.  in Kuryłówka; † 29. Juni 1941 in New York), dessen Oper Manru im Paderewski-Jubiläums-Jahr 2018 an der Oper Posen Premiere hatte und der sich gelegentlich auf den nationalen Spielplänen wiederfindet (so in Krakau, Bytom und Breslau) ist natürlich in Deutsch komponiert worden. Da liegt bis heute das Problem wie bei vielen anderen deutsch geschriebenen Werken. Erst die mutige Chefin der Breslauer Oper wagte es bislang, die Oper in Deutsch aufzuführen (zu hören bei DUX). (Inzwischen gibt es ,2023, auch eine deutschsprachige Aufführung aus Nancy. G.H.)

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Paderewkis „Manru“: Theaterzettel für die Aufführung an der Met 1901/Org.

Paderewskis Oper wurde 1901 erst in Dresden, dann im selben Jahr in Krakau und an der alten Metropolitan Opera New York mit Marcella Sembrich aufgeführt (wie auch an den anderen genannten Orten in deutscher Sprache, das soll nicht vergessen sein – tun sich die Polen doch immer noch sehr schwer mit der Anerkennung der deutschen Wurzeln mancher Kulturerscheinungen, und der neue Manru in Posen wurde natürlich in der polnischen Übersetzung gegeben). Paderewski spielte zudem in Amerika und im europäischen Ausland eine enorme Rolle im Kampf Polens um seine Unabhängigkeit auf dem Wege zu einem eigenen Staat, weg von Deutschland, Russland, Litauen und der Ukraine – wir wissen viel zu wenig über die Frustrationen und Verletzungen des polnischen Volkes im Laufe seiner leidvollen Geschichte der Fremdherrschaft und Kujonierung durch andere Staaten. Es ist kein Wunder, dass die eigene Sprache und die katholische Religion bis heute eine solche Bedeutung für Polen haben.

Die nachfolgenden Artikel von Peter-OIiver Loew und Marcin Gmys umreißen die Umstände der Entstehung der Oper, aber vor allem die politischen Dimensionen des Wirkens Paderewskis, den wir heute außerhalb Polens eher nur durch seine pianistische Aktivität erinnern. Dass er ein glühender Freiheitskämpfer war, der sein ganzes Gewicht als Künstler für die Sache eines freien Polens einsetzte, ist für uns Ausländer ebenso erstaunlich wie eindringlich. Wie sein Kollege Monisuzko und andere begriffen sich Polens Künstler in erster Linie als politische Menschen in einem Klima von Unterdrückung und Fremdherrschaft. Geerd Heinsen

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Peter-Oliver Loew: Überlegungen zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Es muss ein erhabenes Gefühl gewesen sein: Am 25. Dezember 1918 stand der weltberühmte Pianist und Komponist an der Reling des britischen Kreuzers HMS Concord, rechts glitt die Halbinsel Hela vorbei, und voraus war bereits die grandiose Silhouette der Stadt Danzig zu erahnen. Den gesamten Krieg über hatte der charismatische Musiker für die polnische Sache gekämpft, war kreuz und quer durch Nordamerika gereist, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Polen als unabhängiger Staat wieder entstehen müsse. Er hatte Zugang zu Präsident Woodrow Wilson gefunden, der in seinen berühmten 14 Punkten für das künftige Polen „einen freien und sicheren Zugang zur See“ verlangt hatte. Wo, wenn nicht hier, in der Danziger Bucht, sollte sich dieser Zugang befinden, hier, wo Polen mehrere Jahrhunderte lang ans Meer gegrenzt hatte? Der kalte Wind zerzauste Paderewskis berühmte Mähne, einst ein leuchtender Rotschopf, mittlerweile war er ergraut. Doch er fühlte sich stark wie selten zuvor, er spürte, dass seine Ankunft in Polen etwas bewirken könnte. Zwar war im einstigen russischen Teilungsgebiet bereits ein neuer Staat entstanden, die deutsch-österreichischen Besatzungstruppen hatten die Waffen gestreckt, aber Danzig oder auch Posen, Teile des historischen polnischen Staatsgebietes, standen nach wie vor unter deutscher Verwaltung.

In Danzig verbrachte der Musiker einen Abend in Gesellschaft von Vertretern der kleinen hier ansässigen polnischen Bevölkerungsgruppe, dann ging es weiter nach Posen. Paderewskis Frau Helena erinnerte sich wenig später an die Stimmung, die ihnen in Danzig von deutscher Seite entgegengeschlagen war: „Die grimmige und feindliche Haltung der Deutschen, nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilisten, begann sich auf meine Nerven auszuwirken. Ihr Hass auf die Polen war so stark und so verbissen (…), dass man befürchten konnte, einige von ihnen könnten einen Anschlag auf das Leben des Menschen verüben, der die Mission verfolgte, das Land wieder zu errichten.“

Auch Ignacy Paderewski hatte damals schon längst Distanz zu Deutschland gewonnen, und in seinen Lebenserinnerungen vom Ende der 1930er Jahre stilisierte er seine Distanz zu Deutschland – ähnlich wie zuvor seine Frau – sogar ganz deutlich: „(…) ich bin entschieden ein Feind Deutschlands“, schrieb er, um aber gleich danach zu präzisieren: „ (…) eigentlich bin ich nicht feindlich gegenüber allen Deutschen eingestellt, sondern ausschließlich gegenüber den Preußen, denn alle unschönen Merkmale, die wir heute in Deutschland beobachten, wie Rücksichtslosigkeit, Brutalität, Hochmut und Arroganz, wurden ihm von den Preußen aufgezwungen“.

Doch ohne Deutschland, ohne Preußen wäre Paderewskis Karriere gar nicht möglich gewesen. Sein Leben ist im Grunde ein gutes Beispiel für die vielfältigen Verflechtungen zwischen der polnisch- und der deutschsprachigen Welt, für deren Erforschung sich schon seit den 1970er Jahren der vor wenigen Wochen verstorbene Osteuropahistoriker Klaus Zernack stark gemacht hat. In seinem Konzept der „Beziehungsgeschichte“ ging es ihm darum, die Beziehungen zwischen historisch eng verknüpften Staaten bzw. Nationen in ihrem Verlauf zu untersuchen. In einem solchen Blick werden die gegenseitigen, grenzüberschreitenden Bedingtheiten staatlicher oder nationaler Entwicklungen sichtbar, die in der traditionellen Geschichtsschreibung entweder kaum berücksichtigt werden oder lediglich ein holzschnittartiges Stereotyp bilden.

Paderewskis „Manru“/ Szene aus der Aufführung 2018 an der Oper Posen/ Teatr Wielki Poznan

Der 1860 geborene Ignacy Jan Paderewski war im ostpolnischen Podolien aufgewachsen, doch schon mit zwölf Jahren schickte sein Vater das musikalisch begabte Kind zur Ausbildung nach Warschau. 1881 zog es den jungen Musiker schließlich nach Berlin, wo er sein kompositorisches Können vervollständigen wollte. Drei Jahre lang hielt er sich – mit Unterbrechungen – in der deutschen Hauptstadt auf, hier machte er als Komponist auf sich aufmerksam, hier fand er auch seinen ersten Verleger, die bekannte Firma Bote & Bock, und vom musikalischen Leben der Großstadt war er begeistert. Was Paderewski nicht gefiel, war die ihm zufolge in Deutschland herrschende Überzeugung, dass Musik keine nationale Färbung besitzen dürfe, schon gar keine polnische.

Noch mehrmals machte Paderewski Erfahrungen im Deutschen Reich, die er negativ interpretierte. So schrieb er Ende 1885 aus dem elsässischen Straßburg, wo er kurzzeitig am Konservatorium lehrte: „Gewaltige Arbeit, dafür gibt es eine elende Entlohnung, das Leben ist teuer, fast keine Privatstunden, nur Langeweile, Traurigkeit und Kopfzerbrechen bis über beide Ohren.“ Nach seinem sensationellen pianistischen Durchbruch in Paris 1888 spielte er zwar mehrmals in Deutschland, oft mit großem Erfolg, doch ein katastrophales Konzert in Berlin 1890, als Orchester und Dirigent versagten und einige Kritiker ihn verhöhnten, oder auch die negative Bewertung seiner kurz vor dem Weltkrieg vollendeten Symphonie in deutschen Rezensionen (kein Wunder, hatte er sie doch Polonia genannt), verfolgten ihn bis an sein Lebensende. Erfolge wie die sehr gut aufgenommene Uraufführung seiner Oper Manru in Dresden 1901 und manche gefeierten Konzertauftritte verloren für ihn an Bedeutung, ja er stilisierte sich zu einem Opfer des deutschen (Kultur-)Imperialismus. Das wertete ihn in den Augen der polnischen Nationalbewegung auf, und daran war ihm offensichtlich sehr gelegen.

Paderewskis “ Manru“/ Szene aus einer Aufführung an der Opera Wroclaw/ Breslau/Foto Maria Behrendt/ die Dux-Aufnahme der Oper Wroclaw stammt von 2013 und wurde in operalounge.de besprochen.

Sein Publikum suchte Paderewski sich nun vor allem in Nordamerika, wo er sich – nicht zuletzt mit der Interpretation von Chopins Werken – ein sagenhaftes Vermögen erspielte. Immer stärker sah er sich in einer politischen Rolle, als Botschafter einer geteilten Nation in der freien Welt. Als er 1910 das Krakauer Denkmal zum 500. Jahrestag der Schlacht bei Grunwald/Tannenberg stiftete und kurz darauf in Lemberg eine vielbeachtete Rede zum 100. Geburtstag Chopins hielt, in der er eine nationale Kunst forderte, machte ihn dies auch in Polen zu einer der wichtigsten politischen Stimmen.

Dieser Ignacy Jan Paderewski reiste also Ende Dezember 1918 unter britischem Schutz von Danzig nach Posen. Noch musste er dazu das preußische Staatsgebiet nicht verlassen, aber er fühlte sich bereits fast wie in Polen, auf vielen Bahnhöfen machten ihm Vertreter der ansässigen Polen die Aufwartung. In Posen bereitete ihm die polnische Bevölkerung einen grandiosen Empfang: „Ein geliebter König, der nach vielen Jahren der Verbannung zurückkehrt, oder ein von Liedern und Legenden besungener Nationalheld hätten sich keine eindrucksvollere, keine anrührendere Begrüßung erwarten können als die, welche die Posener Paderewski zuteilwerden ließen“, erinnerte sich Helena Paderewska kurz darauf. Tatsächlich war sein Aufenthalt der spontane Auslöser für den insgeheim zwar vorbereiteten, doch eigentlich erst für später geplanten Großpolnischen Aufstand: Die Scharmützel gegen oft unmotivierte, in den Bann der Revolution gezogene preußische Einheiten sowie hastig aufgestellte Freikorps dauerten einige Wochen und forderten viele tausend Tote.

Paderewskis „Manru“: Der Autor Peter-Oliver Loew ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor im wissenschaftlichen Bereich des Deutschen Polen-Instituts.

Als nach wenigen Tagen die Kämpfe in Posen abebbten, begab sich Ignacy Jan Paderewski nebst Gattin am Neujahrstag des Jahres 1919 mit dem Zug auf die Reise nach Warschau. Hier übernahm er kurz darauf als über den Parteien stehende Weltberühmtheit für ein knappes Jahr das Amt des Ministerpräsidenten, um Polens Interessen auf der Pariser Friedenskonferenz zu vertreten. Danzig konnte er zwar nicht für Polen gewinnen, aber immerhin einen polnischen Zugang zum Meer.

Paderewski hatte sich bemühen müssen, um die Nähe zur deutschen Musikkultur in den Augen der polnischen Öffentlichkeit abzuschütteln. Aber auch wenn man die vielschichtigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen Deutschland und Polen aus der Geschichte heraus zu erzählen versuchte, so sind sie über alle Brüche hinweg bis heute ein fundamentaler Bestandteil europäischer Lebenswelten geblieben. Ihre Erforschung im Sinne Klaus Zernacks bietet noch Arbeit für Generationen. Peter Oliver Loew/ Dialog Forum 11/01/2018

 

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Und nun ein Ausschnitt aus dem Artikel des polnischen Musikwissenschaftler Marcin Gmys zur Oper selbst (aus dem Programmheft zur Aufführung 2018 an der Oper Posen) (…) Nach einer triumphalen Tournee durch England beschloss Paderewski 1893, auf dem Höhepunkt seiner Virtuosenkarriere, zur Überraschung der Welt, obwohl er sehr unzufrieden mit den äußerst quälenden Schmerzen in seinen Händen war, seine Aufführungen in der kommenden Spielzeit einzustellen, um ernsthaft zu komponieren. Wie er in seinen Tagebüchern erwähnt: „Der Grund dafür war folgender: Ein polnischer Dichter und Schriftsteller, Alfred Nossig, schlug lange Zeit vor, einen Text zu schreiben, der als Libretto für eine Oper dienen würde. Ich habe einen seiner Entwürfe ausgewählt. Er hat es für mich geschrieben und, obwohl noch nicht ganz fertig, Ende 1893 an mich geschickt. Es diente als Grundlage für das Libretto für Manru.“ Dazu gehörten der Ballettentwurf Mittsommernacht und der Entwurf der Oper Schloss der Sirenen, der die Handlung in der imaginären Burg des Kastellans Syreniecki am Morskie-Oko-See unter Beteiligung einer Gruppe von „Hochlandräubern“ verlegt und – ja, tatsächlich – die Protagonistin Maryla tötet, die schließlich Selbstmord begeht, indem sie in den See springt. (Übrigens dürfen wir nicht vergessen, dass Alfred Nossig, der sich im 20. Jahrhundert der Idee des Polentums und dann des Zionismus und Pazifismus verschrieben hatte, in die entgegengesetzte Richtung ging wie der patriotische Paderewski: Bereits während des Ersten Weltkrieges im Verdacht, die Deutschen zu bevorzugen, wurde er 1943 im Warschauer Ghetto von Mitgliedern der Jüdischen Kampforganisation wegen seiner beschämenden Zusammenarbeit mit den Besatzern erschossen.)

Paderewskis „Manru“/ Szene aus der Aufführung an der Schlesischen Oper/ Opera Slaska Bytom/ Org.

Paderewski wollte sein Werk in Italien schreiben, wo er zum ersten Mal in seinem Leben war, aber er musste wegen Problemen mit seinem kranken Sohn nach Paris zurückkehren. In Frankreich mietete er heimlich ein Haus in Passy, ​​um sich zu beruhigen und Abstand von der immer lauter werdenden „Paddy–Manie“ zu gewinnen (seine Pariser Wohnung wurde täglich von Freunden und Bewunderern belagert), wo er Privatsphäre und die Gelegenheit dazu erhielt, sich auf kreatives Denken konzentrieren. Infolgedessen vollendete er in den nächsten sechs Monaten die Originalfassungen des ersten und zweiten Aktes sowie den Beginn des dritten Aktes. Leider stellte sich bald heraus, dass der Künstler wieder seinen Lebensunterhalt verdienen musste: „Ich brauchte Geld (…) – meine zehn Finger waren mein ganzes Vermögen.“ Das Komponieren weiterer Fragmente, die manchmal für mehrere Monate unterbrochen wurden, dauerte bis 1901. Doch wurde Paderewski bereits 1897 bekannt, dass in Dresden – der Stadt, die er wegen ihrer Offenheit gegenüber den Novemberaufständischen, die in den 1830er Jahren aus ihrer Heimat flohen, sehr mochte – eine Oper auf seine Partitur wartete. Der Komponist korrigierte seine Partitur praktisch bis zur Uraufführung. Diese Modifikationen waren nicht nur mit einem Gefühl der Unzufriedenheit mit der musikalischen Form des Werkes verbunden, sondern – und mindestens ebenso oft – mit der Überzeugung, dass der von Nossig zur Verfügung gestellte Text zuweilen elementare dramaturgische und sprachliche Mängel aufwies.

 

Kraszewskis Prototyp und das Libretto von Nossig: Die Hütte außerhalb des Dorfes wurde in den Jahren 1854–1855 von Ignacy Jan Kraszewski verfasst, eine Reihe populärer Romane dieses Schriftstellers, die von Anfang an eine große Leserschaft anzog. Die Tatsache, dass es im Laufe des Lebens des Schriftstellers insgesamt dreimal veröffentlicht wurde, wurde nicht nur – wenn auch wahrscheinlich zu einem großen Teil – durch das melodramatische Thema bestimmt, sondern auch durch seine innovativen Merkmale: eine Einführung in die literarischen Salons des Themas Zigeuner als eine Gruppe, die die kulturelle Vielfalt und die sozialen Folgen dieser Tatsache symbolisiert.

Paderewskis „Manru“: Aleksander Bandrowski war der erste Titelsänger, auch an der Met New York/ Foto Museum Paderewski, Morges/Schweiz/ Foto Mazur, Dawid (?-1916)

Bei der Beschreibung der Adaptionsarbeiten von Nossig und Paderewski, in deren Verlauf diese zahlreiche Änderungen erforderten (z. B. die Erweiterung der beiden ursprünglichen Akte, die ein instrumentales Intermezzo benötigten, in die dreiaktige Struktur), sollten wir zunächst auf oberflächliche Änderungen achten. Im Zuge von Änderungen begannen die Autoren damit, die Namen der Helden zu ändern: Die fiktiven Charaktere Tumra und Motruna wurden in Manru und Ulana umbenannt. Ulana – der Name stammt übrigens aus einem der ersten Kraszewski–Volksromane, die in den frühen 1840er Jahren geschrieben wurden – ist eine tragischere Heldin als Motruna; Sie stirbt nicht auf natürliche Weise, sondern wie Moniuszkos Halka – indem sie ins Wasser springt, einen See oder Fluss (Kraszewskis Ulana begeht auch wegen unerwiderter Liebe Selbstmord). Zwei weitere wichtige Modifikationen sind: Der fiktive Krüppel Janek, der Motruna im Libretto unterstützt, verwandelt sich in einen Zwerg namens Urok (Charme), Chef der Zigeuner. Aprasz in Oros, während Motrunas Vater Lepiuk, eine Figur von Zigeunerherkunft, in der Oper durch Ulanas Mutter Jadwiga ersetzt wird, die nichts mit den Zigeunern zu tun hat und ihnen gegenüber offen ihre Feindschaft ausdrückt.

Jede Dramatisierung eines umfangreichen Romans – Dramaturgie, Film und insbesondere Oper, in der etwa 2/3 weniger Platz für Wörter vorhanden ist – erfordert Abkürzungen, Vereinfachungen und Verweise auf gängige Muster. Bei der Beziehung zwischen Die Hütte außerhalb des Dorfes und Manru war das nicht anders. Beim Betrachten und Anhören dieser Oper darf das für Kraszewski so wichtige Herrenhausmotiv von Paderewski und Nossig nicht außer Acht gelassen werden, oder die Tatsache, dass wir nur den letzten Teil der Geschichte der Ehe des Hochlandfrau und des Zigeuners auf der Bühne sehen. Ulana und Manru, die mit ihrem kleinen Sohn (Motruna und Tumrym hatten eine Tochter) in der titelgebenden Hütte am Rande der Hochlandgemeinde leben, haben es satt, weiter ums Überleben und die elementare Würde zu kämpfen. Ulana, in der Arbeit von Nossig und Paderewski ein bisschen Pappfigur, die ihr Schicksal sanftmütig trägt, und die innerlich zitternde und viel interessantere (auch musikalisch) Manru werden als Ausstrahlung ihrer jeweiligen Gemeinschaften dargestellt: etwas farblose Hochländer und faszinierende Zigeuner mit ihren mysteriösen Bestrebungen und ihrer Bereitschaft, ihren natürlichen Instinkten zu folgen.

In den ersten Jahrzehnten fand die Oper von Paderewski – worauf später noch eingegangen wird – weltweit großen Anklang. Und in Polen führte es indirekt zu einer temporären „Kraszewski–Mode“ unter den Komponisten, da 1907 die Uraufführung von Die alte Erzählung von Wladyslaw Żeleński nach einem Libretto von Aleksander Bandrowski und 1909 von Boleslaw der Tapfere nach Ludomir Różycki stattfand, ebenfalls nach dem Libretto von Bandrowski (wahrscheinlich der wichtigste Darsteller der Rolle von Manru in der Geschichte) nach dem Roman mit dem Titel Boleszczyce.

 

Paderewskis „Manru“: Marcella Sembrich war die Ulana an der Met/ Foto Ipernity

Musik: Aktuelle Trends gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die ersten Kommentatoren von Manru wiesen darauf hin, dass Paderewski als Opernkomponist einen viel stärkeren Einfluss Wagners spüren ließ als in seinen anderen Werken. Für zeitgenössische, insbesondere ausländische Kritiker, war es in der Regel ein Grund, den polnischen Künstler zu komplementieren, da er sich auf den „heißesten“ Komponisten der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bezog, dessen Einfluss auf die Musik in den folgenden Jahrzehnten überwältigend zu sein schien. In Polen wurde diese Tatsache mit weniger Enthusiasmus akzeptiert, aber auch die Musik Wagners brauchte mehr Zeit, um ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Der Wagnerismus in Manru wird in der Regel nicht diskutiert, ist aber nicht das einzige Zeugnis für die Übernahme bewährter Opernmodelle. Wenn man sich die Partitur des Werkes ansieht, kann man mit gebührender Vorsicht feststellen, dass Paderewski drei allgemeine Prinzipien von Wagner übernommen hat: die dramatische Wirkung auf Dialoge und Rücknahme der großen Ensembles, die Verwendung der Leitmotivtechnik und bestimmte Instrumentierungslösungen. Die Zurückhaltung dieser Meinung ergibt sich aus der Tatsache, dass für die dramatische Wirkung des Werkes auch die Chorszenen eine wichtige Rolle spielen, die – in diesen Größen – in den Musikdramen Wagners fehlen. Auch die Leitmotivtechnik erscheint problematisch, denn obwohl jeder der Protagonisten ein eigenes Thema hat, werden sie nur selten ähnlich dargestellt wie beim Autor von Tristan und Isolde – in dieser Hinsicht war Paderewski anderen Komponisten näher, insbesondere den Franzosen: Gounod, Saint–Saëns, Charpentier und Thomas, aber auch den Italienern (Puccini und Leoncavallo), Russen (hauptsächlich Tschaikowski) und Tschechen (Dvorák).

Leitmotive in Paderewskis Werken haben so weitreichende Assoziationen, dass sie ihre Einzigartigkeit verlieren. Dies ist der Fall, wenn die Oboenphrase die Oper in g–Moll eröffnet (was übrigens an Beginn von Moniuszkos Halka erinnert) oder wenn sich Jadwiga (Mezzosopran) über das Schicksal einer Mutter beschwert, deren Tochter von einem Zigeuner verführt wurde. Dieses Motiv wird schnell als Gesangspart vom Chor übernommen, der fortan den Verlauf des ersten Aktes bestimmt. Das Thema der Ulana (Sopran) wiederum erinnerte einige Kommentatoren (etwas übertrieben) an das sehnsüchtige Leitmotiv des wagnerischen Tristan und hat auch eine gewisse Beziehung zur Melodie von Jadwiga.

Paderewskis Manru: Ein Beleg für den Starstatus, den Paderewski in Amerika und Europa hatte, ist der Film „Moonlight Sonata“; Wikipedia schreibt: „Moonlight Sonata“ is a 1937 British drama film directed by Lothar Mendes and written by E. M. Delafield and Edward Knobloch. The film stars Ignacy Jan Paderewski, Charles Farrell, Marie Tempest, Barbara Greene and Eric Portman. The film was released on 11 February 1937, by United Artists and re-released in 1943 as „The Charmer“ (shortened). / Foto google-art-culture

Der Protagonist Manru (Tenor) ist mit zwei Motiven ausgestattet. Das erste, das auch als Stütze der gesamten Zigeunergemeinschaft gesehen werden kann, ist ein charakteristisches Volksthema, das in sehr charakteristischen rhythmischen Werten des Quintoletts eingeschlossen ist: Es erklingt zum ersten Mal im ersten Akt, als Manru noch nicht sichtbar ist auf der Bühne und Urok (Charm) zu Ulana die bedeutungsvollen Worte sagt: „Du machst dir selbst etwas vor, weil Zigeuner niemals Bauern sein dürfen“ (Manrus Quintolett fällt offensichtlich auf das Wort Zigeuner und kann daher auch als musikalisches Symbol der nomadischen Gemeinde angesehen werden, zu der Ulanas Ehemann gehört). Das zweite Manru–Thema dominiert den zweiten Akt in seiner Schmiede und ist oft eng mit den Klängen des Hammers verbunden, der auf den Amboss schlägt.

An diesem Punkt erreichen wir die Rolle des Orchesters, das der Komponist offensichtlich mit musikalisch–dramatischer Spannung angereichert hat. Die Beziehung zum ersten Akt des Siegfried im Ring des Nibelungen wurde zum Beispiel schon vor langer Zeit als offensichtlicher Stempel Wagners herausgestellt: Die Szene mit Manru in der Schmiedewerkstatt sollte das Bild des Schwertes Nothung wiederaufleben lassen. Es scheint gibt eine weitere Assoziation in einer kurzen letzten Szene – zum Abschluss dieses Aktes –, in der Jadwiga nach Rache ringt, beim Abschied zischt: „Lass die Verdammten gehen. Sie sollen Aussätzige im Dorf sein.“

Wenn wir im zweiten Akt die Geige des Zigeunermusikers Jagu hören, der eine klagende Melodie spielt, singt Ulana irgendwann die Worte „Das ist mein Tod“ mit vier (obwohl dies wiederum in den rhythmischen Partituren von Beethovens Schicksalsmotiv zum Ausdruck kommt!) fallenden Geräuschen und im tiefen Register der Skala ihrer Stimme. Eine eigentümliche Umkehrung dieser Linie erklingt im dritten Akt, wenn Manru bei den Zigeunern ist: Dasselbe Motiv mit den Worten „Das ist mein Triumph“ ist in der aufsteigenden Fassung zu hören, die von Aza in ekstatischen Tönen gesungen wird.

Paderewski wählte beim Schreiben von Manru bewusst Töne, die etwas bedeuteten. Zum Beispiel ordnete er g–Moll den Zuständen der Melancholie zu (die traurige Jadwiga zu Beginn des ersten Aktes), As–Dur einer etwas fröhlicheren Stimmung (Ulanas Wiegenlied im zweiten Akt), A–Dur den Hirtenszenen (Refrains zu Beginn des ersten Aktes) und c–Moll wahrscheinlich aus Beethovens Fünfter abgeleitet, dem dunklen – trotz aller Sinnlichkeit –, vom Tod geprägten Zigeuneruniversum (die letzte Szene der Oper!).

 

Paderewskis „Manru“: Theaterkritik zur Uraufführung in New York 1901/ google-arts-6-culture

Konfrontation zweier Welten und Kulturen: Die Hauptkonfliktachse in Manru, die sich auf das Stereotyp der mangelnden Akzeptanz der der Andersartigen (hier: eine gemischte Hochländer– und Zigeunerfamilie) durch die neidische Mehrheit (hier: die Gemeinschaft der Hochländer) konzentriert, schwingt offensichtlich mit in der musikalischen Ebene der Partitur. Und hier taucht ein axiologisches Problem auf: Es ist schwer zu leugnen, dass Paderewski – wie wir uns erinnern, der Autor des Tatra–Albums – die Audiosphäre der Hochländer umreißt (wie zuvor Moniuszko in Halka, doch der Vater der polnischen Nationaloper kannte das Hochländer–Original nicht so gut wie sein Nachfolger). Er schreibt ihnen eine erweiterte Ballettsequenz mit Chorstimmen in den folgenden vier Abschnitten zu: Schnelles Vivace (ähnlich der berühmten „Sabałowe–Note“), der sogenannte doppelte „Hochländer“–Tanz, der die Fortschritte eines Jungen hinsichtlich eines fliehenden Mädchens illustriert (aber ohne die charakteristische „Verdrehung“ am Ende) und die letzten beiden Teile, die eine Art Zusammenfassung der zuvor vorgestellten Themen und Motive darstellen.

Zur Abwechslung wird die Zigeuner–Folklore in zwei aufeinander folgenden Akten suggestiver und breiter umrissen. Es ist wahr, dass diese Musik den Eindruck einer fernen Inspiration von einigen ungarischen Rhapsodien von Franz Liszt erweckt, die dem populären Original nicht so nahe kommen, aber dank der Violinsoli (das wehmütige „Lied ohne Worte“, das manchmal an ein von Jagu gespieltes Miniatur–Violinkonzert erinnert) und – vor allem – das Hackbretts. Die Musik lässt keinen Zweifel daran, wer sich gegen die Hochländer in der Oper stellt (eine andere Sache ist, dass das Hauptthema der Zigeuner Geige mit Hackbrett – wahrscheinlich wegen der kulturellen Distanz zu den Volksquellen – heute sogar einige Assoziationen an die Mitte des 20. Jahrhunderts von Astor Piazzolla entwickelte Sprache des melancholischen Tangos aufkommen lassen könnte).

Paderwskis „Manru“: Der Autor Marcin Gmys: Musikwissenschaftler und Musikjournalist, Assistenzprofessor, Professor am Institut für Musikwissenschaft der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan, Direktor des Polnischen Radios Chopin. Sein Buch Harmonie and dissoancnes. Young Polish music to other arts (Poznan 2012) gewann den Hauptpreis im Wettbewerb des Nationalen Kulturzentrums für das beste schriftliche Werk in der Geschichte der polnischen Musik (2010-2014). Er hat kürzlich zwei weitere Monographien vorgelegt: Karol Kurpiński and Romantic Europe (Editions Spotkania/ Grand Theater − National Opera, 2015) sowie Not just “Rota”. Feliks and his music (PWM, Kraków 2017).

Beide Welten und auch die mit dramatischen Situationen verbundenen psychologischen Profile sind zu Beginn des zweiten Aktes auf äußerst interessante Weise polarisiert. Dann beginnt Manru seine Beschwerden über die Welt, die von melancholischer Stimmung durchsetzt sind und schlägt mit dem Schmiedehammer auf den Amboss. Seine Zuneigung wird durch Ulanas Gesang hervorragend untermauert – und dies ist eine der schönsten Seiten der gesamten Partitur, die Paderewskis Klavieredelsteinen wie den Melodien in G–Dur oder der Nocturne in B–Dur ebenbürtig ist – ein zartes Wiegenlied für seinen Sohn. Die Zigeuneridentifikation von Manru, die in dieser Passage des Werks in akustischer Hinsicht leicht wahrnehmbar ist, ist ein Anlass zum Nachdenken, wenn wir feststellen, dass das Unisono–Thema, das den zweiten Akt auf dem Gebiet der Instrumentierung und Tonalität eröffnet, auf Paderewskis anfängliche Quasi–Polonaise der Polnischen Fantasie in gis–Moll für Klavier und Orchester verweist. Wollte der Komponist vorschlagen – im Libretto von Nossig nicht präsent –, dass Manru trotz allem in die Kultur und Sitten der Hochländer passte, unter denen er lebte? Wir können nicht ausschließen, dass dies die Absicht des Komponisten war.

Volksmedizin gegen Volksmusik: Ein anderes wichtiges Motiv, das zuvor nicht erwähnt wurde (hauptsächlich aus Tristan und Isolde stammend) und das auch aus dem beliebten Liebestrank von Gaetano Donizetti abgeleitet werden könnte, ist der aus Liebstöckel hergestellte Liebestrank Uroks für Manru, den Ulana fordert, um die kühlen Gefühle ihres Mannes wieder zu entfachen. Dieser Trank ist wirksam, auch wenn er sich als kurzlebig erweist. Nach dem Triumph der Uraufführung im Königlichen Opernhaus in Dresden am 29. Mai 1901 (Georg Anthes sang den Manru, Annie Krull die Ulana) und der ebenfalls herzlichen Rezeption der Oper in ihrer polnischsprachigen Fassung unter Stanislaw Rossowski (unter der strengen Aufsicht des Komponisten) am 8. Juni 1901 in Lemberg (mit dem charismatischen Paar Aleksander Bandrowski und Janina Korolewicz-Waydowa) nahm das Werk ein Dutzend andere europäische und amerikanische Bühnen im Sturm ein, insbesondere die Metropolitan Opera in New York, das Opernhaus, an dem sich niemals zuvor oder danach eine polnische Oper im Standardrepertoire halten konnte. Die Begeisterung für Manru – dies muss ehrlich zugegeben werden – sank ab den 1930er Jahren rapide und auch heute wird diese wirklich aufführungswürdige Partitur – nach wie vor zu selten – durch polnische Theater dargeboten.

Die Schulden, die wir Padereweski Manru bezahlen müssten, sind noch immer nicht beglichen:  Das Werk ist trotz seiner Verfügbarkeit auf CD (Oper Wroclaw) and DVD (Opera Nova in Bydgoszcz) noch nicht ausreichend bekannt. Und es ist nicht nur so, dass die Auswahl an Aufnahmen immer noch sehr schlecht ist, sondern auch, dass diese beiden Aufnahmen (insbesondere aus Wroclaw) keine Ehrfurcht vor dem Partitur haben, was zu drastischen Kürzungen führte. Hoffen wir, dass die jüngste Inszenierung der erste Schritt in Richtung einer würdigen Präsentation des Opus magnum des herausragenden Künstlers sein wird. Wir schulden dies einfach Ignacy Jan Paderewski im Jahr des hundertjährigen Bestehens der polnischen Unabhängigkeit. Marcin Gmys ( Übersetzung aus dem Englischen Daniel Hauser)

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Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Übernahme des ersten Aufsatzes bei  Peter-Oliver Loew und Arkadiusz Szczepanski vom Dialog Forum, wo der Artikel vom Peter-Oliver Loew erstmals 2018 erschien; und bei Piotr Tkacz vom Pressebüro des Teatr Wielki Poznan für die Genehmigung, den Artikel von Marcin Gmys aus dem Programmheft zum Manru an der Oper Posen 2018 in Deutsche übersetzen und hier verwenden zu dürfen. Redaktion G. H. 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Turqueries Galantes

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Eine reizvolle Platte mit der kanadischen Sopranistin Florie Valiquette bringt das Label Château de VERSAILLES heraus (CV5058). Begleitet vom 2019 gegründeten Orchestre de l’Opéra Royal unter dem französischen Dirigenten Gaétan Jarry stellt sie ein Programm mit dem Titel La Captive du Sérail vor, das im Oktober 2020 im Château de Versailles aufgenommen wurde. Die Arien und Orchesterstücke von André Grétry, Wolfgang Amadeus Mozart, Christoph Willibald Gluck, François-André Danican Philidor, Pierre-Alexandre Monsigny und Paul-César Gibert huldigen sämtlich der im 18. Jahrhundert gängigen Türken-Mode. Das Programm beginnt mit einem Block von Grétry-Kompositionen. Aus La Caravane du Caire – einem Meisterwerk des à la Turque-Genres – sind die Ouverture, die Danse générale und die Ariette der Esclave française „Ne suis-je pas aussi captive“ zu hören. Die Sopranistin besitzt eine weiche, lyrische Stimme, die feine Triller und Verzierungen mühelos absolviert, darüber hinaus auch mit koketten Tönen erfreut. In den orchestralen Kompositionen kann der Klangkörper der Opéra Royal gebührend auftrumpfen, aber auch delikate und orientalisch anmutende Klänge hören lassen. Aus Zémire et Azor, einem Opéra Ballet, erklingt das Air der Titelheldin „La fauvette“. Später gibt es aus diesen beiden Werken noch mehr Ausschnitte – aus der Caravane die Danse Égyptienne in reizvoller Fremdartigkeit und eine weitere, liebliche Arie der Esclave française („Nous sommes nés pour esclavage“) sowie aus Zémire et Azor Zemires zärtliches „Rose Chérie“ und den munteren Passepied.

Weitere Beiträge französischer Komponisten stammen von Philidor (die innige Arie der Zeila „Oh Ciel“ aus La Belle Esclave, Monsigny (Andante, Gigue et Contredanse aus Aline, reine de Golconde) und Gibert (die Arie der Roxelane „Oh, vous que Mars rend invincible“ aus Soliman II ou les Trois Sultanes. Bei Monsignys Opéra Ballet hat das Orchester Gelegenheit für subtile und rhythmisch rasante Beiträge. Die feinsinnige Arie von Gibert steht am Schluss des Programms und lässt die Stimme der Solistin noch einmal hell erstrahlen.

Mit Gluck findet sich der erste bekannte Komponist in dieser Anthologie. Aus seiner Oper Les Pélerins de la Mecque gibt es nicht weniger als vier Ausschnitte – die lebhafte Ouverture, die Arien der Amine („J’ai perdu mon étalage“) und der Rezia („Ah! Qu’il est doux de se revoir“) sowie das Duett Ali/Rezia „Qu’il est doux de partager ses chaines“, bei dem der recht buffonesk tönende Tenor Nicholas Scott Partner der Sopranistin ist. Während die Amine den Soubrettenpart des Werkes bedient, ist die Rezia von lyrischem Gewicht und mit anspruchsvollem Zierwerk ausgestattet. Valiquette verleiht beiden Partien die passende Kontur. Schließlich findet sich mit Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail auch ein wirklich populäres Werk in der Sammlung – hier in der französischen Version als L’Enlévement au Sérail. Zu hören sind die Arie der Konstanze „Loin de l’objet de ma tendresse“ („Ach, ich liebte“) und das Duett Konstanze/Belmonte „Je te savais“ („Meinetwegen sollst du sterben!“). Der jugendliche Sopran der Valiquette ist im Ausdruck für die Konstanze vielleicht noch nicht reif genug und eher noch dem Blondchen zugehörig, doch singt sie mit viel Empfindung und ohne Frage mit hoher Virtuosität. Beim Duett ist wieder der Tenor Nicholas Scott beteiligt ist – auch er mehr ein Pedrillo denn ein gültiger Belmonte (18. 02. 2022). Bernd Hoppe

Michail Jurowski

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Das Radio Sinfonie Orchester Berlin schreibt: Der 1945 in Moskau geborene Michail Jurowski starb am 19. März 2022 in Berlin (* 25. Dezember 1945 in Moskau). Er war der Sohn des Komponisten Wladimir Jurowski, Enkel des Dirigenten David Block, und Vater der Dirigenten Vladimir und Dmitri Jurowski. Michail Jurowski wuchs im Kreis international anerkannter Künstler der ehemaligen Sowjetunion wie Ojstrach, Rostropowitsch, Kogan, Gilels und Chatschaturian auf. Dmitri Schostakowitsch war ein enger Freund der Familie und er und Michail sprachen nicht nur oft, sondern spielten auch Klavierstücke zu vier Händen zusammen. Daher ist es kein Zufall, dass Michail Jurowski heute einer der führenden Interpreten der Musik Schostakowitschs ist. 2012 wurde Michail Jurowski mit dem dritten Internationalen Schostakowitsch-Preis der Schostakowitsch-Gohrisch-Stiftung ausgezeichnet.
Michail Jurowski studierte am Moskauer Konservatorium Dirigieren bei Leo Ginsburg und Musikwissenschaft bei Alexei Kandinsky. Während seines Studiums assistierte er Gennady Rozhdestvensky am Großen Sinfonieorchester des Allunionsradios und des zentralen Fernsehens Moskau. Er leitete das Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater in Moskau und während seiner letzten Jahre in der Sowjetunion regelmäßig Aufführungen am Bolschoi-Theater.
Ab 1978 war Michail Jurowski regelmäßig Gastdirigent an der Komischen Oper Berlin und 1989 verließ er mit seiner Familie die UdSSR, nachdem er eine feste Anstellung an der Semperoper Dresden angenommen hatte. Zudem war er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie; Chefdirigent der Oper Leipzig; Chefdirigent des WDR Rundfunkorchesters Köln; Chefdirigent der Deutschen Oper Berlin; Erster Gastdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin; Erster Gastdirigent der Janáčkova filharmonie Ostrava, Sinfonia Iuventus und Tonkünstler-Orchester Niederösterreich.
Als Gastdirigent leitete Michail Jurowski u.a. das Gewandhausorchester Leipzig, die Dresdner Philharmonie, Staatskapelle Dresden, Oslo Philharmonic, Bergen Philharmonic, das London Philharmonic Orchestra, die St. Petersburg Philharmonia, das MDR-Sinfonieorchester, die Königliche Kapelle Kopenhagen, das Orquestra Sinfónica do Porta Casa da Música und das Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo.
Neben Fernsehübertragungen und Rundfunkaufnahmen in Stuttgart, Köln, Dresden, Oslo, Norrköping, Hannover und Berlin hat Michail Jurowski Aufnahmen mit u.a. dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und dem L’Orchestre de la Suisse Romande gemacht. Seine Diskografie umfasst Schostakowitschs Oper „Die Spieler“, Schostakowitschs gesamten sinfonischen Vokalstücke und Rimsky-Korsakows Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ sowie Orchesterstücke von Tschaikowsky, Prokofjew, Reznicek, Meyerbeer, Lehár, Kálmán, Nicolai, Rangström, Pettersen Berger, Grieg, Svensen, Kantcheli und viele andere.
1992 und 1996 erhielt Jurowski den Preis der deutschen Schallplattenkritik und 2001 eine Grammy-Nominierung für 3 CD-Produktionen mit Orchestermusik von Rimsky-Korsakow mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Zuletzt erhielt er 2017 erneut den Preis der deutschen Schallplattenkritik für seine CD mit Musik von Schostakowitsch, Pärt und Weinberg, die live mit der Staatskapelle Dresden beim Internationalen Schostakowitsch-Festival in Gohrisch aufgenommen wurde. (Foto rsb/Quelle rsb-online)

Feuerwerk und Halle Luja

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Als einziger Musiker liegt „unser Händel“ als  George Frederic Handel in Londons Westmister Abbey begraben, „in der sogenannten Poet´s Corner, neben den großen Dichtern unweit der Gräber der englischen Könige… einer im Bereich der Musik damals noch singulären Erinnerungskultur.“ So schreibt der renommierte Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen in seinem so fundamen­talen wie profunden Essay über den „Mythos Händel“, der gewissermaßen das Rückgrat der opulent bebilderten Publikation ist (100 Jahre Händel-Festspiele¸ Henschel Verlag, ISBN 978-3-89487-835-1, 192 S.

Er spannt den Bogen von Händels Zeit an Hamburgs Gänsemarkt-Oper, seine glänzende monetäre Verwöhntheit wie Geschäftstüchtigkeit, Händels „Selbstinszenierung“ am Ende seines Lebens über die Händel-Literatur (Klopstock schrieb schon 1766 von „Händels Zaubereyen“ bis hin zu heutigen Händel-Musik-Zelebrierung der Champions League mit einer Komposition von Tony Britten, „in Anlehnung an Händels Coronation Anthem ‚Zadok the Priest‘. Dass Händels Musik somit auch den Mythos des Populären ohne Weiteres zu bedienen vermag, verdankt sich ihrer besonderen Affinität zur Darstellung des Festlichen, Majestätischen und Erhabenen.“ Selbst ein Massenphänomen wie der Fußball vereinnahmt den englischen Komponisten Hallescher Abstammung.  Sowohl im Dritten Reich wie in der DDR hab er eine „kulturpolitische Stellvertreterrolle für den ideologisch weitaus problematischeren Johann Sebastian Bach“ eingenommen. Spätesten seit der Händel-Renaissance in den 20er Jahren war Händel gefeierte Projektionsfläche wie gefeierter Repräsentationskomponist.

Clemens Birnbaum, gegenwärtiger Direktor des Händelhauses sowie Leiter der Händelfestspiele Halle spricht denn auch in seinem eröffnenden Beitrag zur großen publizistischen Feier des 100sten Jubiläums dieses Festivals von einem „Händel-Bild für jede Zeit“. 1922 wurden die Händelfestspiele Halle vom damalige Oberbürgermeister Rive als zunächst lokales Event gegründet. Zurecht betont Birnbaum, dass das Festival heute zu den größten Barockmusikfesten Europas zählt. „Beim Rückblick auf eine hundertjährige Geschichte lassen sich Kontinuitäten und gleichermaßen Diskontinuitäten Feststelle.“ Davon handelt die Publikation bei Henschel, deren 18 Kapitel unterschiedlichste Aspekte des Festivals in den Fokus rücken: historische, politische, ideologische, werk-, aufführungs- und theatergeschichtliche, aber auch Fragen der Wissenschaft und Händelforschung, aufgelockert von 17 vorwiegend erlebnisorientierten, subjektiven Beiträgen unterschiedlichster Couleur. Auch fehlen die Grußworte und Statements einiger Lokalpolitiker und Sponsoren Sachsen-Anhalts nicht. Lorbeeren und Streublümchen dürfe nicht fehlen in einer Jubiläumsfestschrift. Aber es gibt auch Substanzielles.

Annette Landgraf beschreibt die Geschichte der Händelaufführungen in Halle bis zum ersten Händelfest 1922.

Hanna John etwa, ehemalige Leiterin der Händel-Festspiele blickt in einem Interview zurück auf die Zeit vor Ihrer Intendantur (als sie aber schon beim Festival angestellt war): „Rückblickend muss ich sagen: Das war eine Gratwanderung. Zum einen wünschte die sozialistische Kulturpolitik nicht, dass zu viele westliche Interpreten in Halle auftraten, auch die Valuta zur Bezahlung dieser Künstler Waren recht knapp. Zum anderen wollte man aber Trotzdem ein internationales Fest und Besucher aus dem Ausland. Es sollte gezeigt werden, welch hohen Stellenwert die Kultur in der DDR hat.“ Nun davon ist das heutige Festival weit entfernt.

Der rührige Kulturmanager und Konzertgestalter Folkert Uhde reflektiert ausgehend von Händels grandiosem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ über den „Triumph der Musik Händels an sich. Dorothea Schröder wirft ein Schlaglicht auf die Feuerwerkskunst, die für Händelaufführungen einst wie jetzt nicht unwesentlich war und ist.

Darauf, dass es immer wieder auch einzelne Säger- bzw. Sängerinnen Persönlichkeiten waren, die den Rum Händels mehrten weist Graydon Beeks am Beispiel Jenny Linds hin, einer der gefeiertsten Sopranistinnen des 19. Jahrhunderts.

„Zu Geschichte und Themenfeld der Historische Aufführungspraxis“ hat Hartmut Krones ein Kapitel geschrieben. Ein musikwissenschaftlicher Gelehrtenbeitrag zur Chronologie der „historisch informierten“ Aufführungspraxis, von der, an heute ehr spricht. Das vertieft ganz konkret Edwin Werner. Er nimmt die „Aufführungspraxis Alter Musik in Halle zwischen 1922 und 1993“ ins Visier, nennt Namen und würdigt detailliert Ereignisse des Musiklebens. Über Händel-Schallplatten-Einspielungen der DDR berichtet Bernhard Schrammek. Martin Elste (bis 2018 Medienkurator im Musikinstrumenten-Museum Berlin sowie Vorsitzender des Preises der deutschen Schallplattenkritik) erläutert am Beispiel des „Messiah“ kenntnisreich und differenziert die diskologische Interpretation- und Rezeptionsgeschichte dieses Werks, das als Paradebeispiel für den Erfolgszug Händels „von Großbritannien aus in die Welt“ gelten kann.

Der Karlsruher Musikwissenschaftler Thomas Seedorf beschreibt den „Einzug des Countertenors in Halle“.

Es gibt differenzierte Werkbetrachtungen Beschreibungen legendärer Inszenierungen. Die Musikwissenschaftlerin, Händelpreisträgerin und Autorin des Händel-Opernlexikons, Silke Leopold fragt in einem anspruchsvollen Aufsatz nach der „Neapolitanischen Drahtpuppendramatik“ Händels, was ein Licht wirft auf „Erzählweisen und Charakterentwürfe,“ und das Bemühen „Barockoper dem Publikum … schmackhaft zu machen“.

Natürlich wird (vom Händelexperten und Tübinger Professor Matthew Gardner) die große Bedeutung der Hallischen Händel-Ausgabe gewürdigt, die 33 Jahre nach den ersten Festspielen in Halle erschien, erstmals die Fassungsproblematik wissenschaftlich aufgearbeitet hat und damit die Aufführungspraxis veränderte.

Sehr interessant sind die Aufklärungen Juliane Riepes (Expertin für die Rezeptionsgeschichte Händels) über die Geschichte der „Händel-Tage in der NS-Zeit (1935-1944)“, die veranschaulichen, wie „bemerkenswerte kulturelle Leistungen und eine menschenverachtende Ideologie und Politik durchaus miteinander vereinbar sind“.

Der Fall Händel zeigt einmal mehr, wie eng Musik und Politik ineinander verschlungen sind. Dieser Jubiläumsband macht es deutlich.

Das so gehrte wie unterhaltsame, weitausholende Panorama der Händelfestspiele Halle wird von nützlichen Personen-, Werk- und Aufführungs-Registern sowie einer Zeittafel zur Geschichte des Festivals abgerundet. Dieter David Scholz

Wunderbar

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Als wollten sie das gebeutelte Publikum für eine inzwischen bereits Jahrzehnte andauernde Qual, verursacht durch armselige Bühnenbilder, Sänger entstellende Kostüme zwischen Trenchcoat und Schiessers Feinripp und sinnlose, aber vorzugsweise brutale Handlungen auf der Opernbühne mit einer einzigen Produktion entschädigen, haben sich Regisseur Daniele Finzi Pasca, Bühnenbildner Hugo Gargiulo und Kostümbildnerin Giovanna Buzzi ins Zeug gelegt und Wunderwerke an das Herz berührender Schönheit auf die Hamburger Opernbühne gewuchtet. Es ging im September 2021 mitten in Corona-Zeiten um Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, und um das Glück inzwischen auch des Blu-Ray-Betrachters vollkommen zu machen, war auch das Sänger Ensemble zumindest teilweise sensationell, das Dirigat Kent Naganos beeindruckend durch Feinfühligkeit, Eleganz und atmosphärische Dichte. Sollte eine durch Corona trübe Realität das Verlangen nach einem Ausgleich durch die Kunst so sehr verstärkt haben, dass es sich zunehmend als zwingender erweist als das der modernen Regie, vor den Augen des mehr oder weniger angewiderten Zuschauers alle Scheußlichkeiten dieser Welt auf der Opernbühne aufzutürmen? Auch in Dresden gab es kürzlich eine Aida, die hoffen lässt, selbst wenn sie eher einen Verzicht auf Absurditäten darstellt als das Positivum einer Alternative.

Was Bühnenbildner, Kostümbildner, Gewandmeister, Perückenhersteller und alle, die sich in der letzten Zeit heillos unterfordert sehen mussten, leisten können, wenn man sie denn lässt, beweisen die wunderbaren Bühnenbilder: Ein Giulietta-Akt mit den Wahrzeichen Venedigs, Taubenkostümen für den Chor und herrlichen Rokokokostümen für die Solisten oder ein Kabinett voller aufgespießter Schmetterlinge, als deren einer Antonia selbst in einem wunderschönen Kostüm auftritt- alles in einem sanften bleu mourant, der Erfindung der Berliner Porzellanmanufaktur und von Friedrich dem Großen geliebt. Ähnlich phantasievoll sind auch die anderen Schauplätze, Luthers Weinkeller und die Schatulle, in der die Puppe Olympia aufbewahrt wird, gestaltet. Nicht satt sehen kann man sich an den kunstvollen  Hintergrundprospekten. Und auch die Technik wird gefordert, wenn Muse oder Mutter bzw. deren Doubles auf die Bühne schweben. Das alles ist so phantasievoll, wie es die Phantasie anzuregen versteht, und es gibt genügend Anlässe zum Nachdenken, so darüber, warum im ersten und letzten Bild die Komparsen zweigeteilte, halb Anzug, halb Kellnerkostüm, Gewänder haben.

Sein Rollendebüt in der Titelpartie gab der französische Tenor Benjamin Bernheim, ein junger, munterer Geselle, nicht zerquält wie weiland Dauer-Hoffmann Neil Shicoff oder ein Klein-Zack-Imitat wie Kenneth Riegel, sondern ein romantischer, wenn auch als Liebhaber scheiternder und letztlich doch als Künstler  triumphierender Held mit der timbrereichsten, geschmeidigsten und mit perfekter voix mixte auftretenden Stimme, die man sich für die Partie wünschen kann. Ihm zur Seite steht mit Angela Brower eine Muse bzw. ein Nicklausse der charmantesten Art mit hellem, flirrendem Mezzosopran. Immer heikel ist die Besetzung aller vier Frauenrollen mit einer Sängerin. Olga Peretyatko ist als Stella so schön wie als Antonia, Olympia oder Giulietta, vokal perfekt aber nur als Olympia, ansprechend als Antonia, aber enttäuschend als zu hellstimmige Giulietta. Am dämonischsten am vierfachen Bösewicht sind bei Luca Pisaroni die überlangen Spinnenfinger, dazu ist er ein sehr guter italienischer Bariton, dem man etwas mehr vokale Düsternis für di Partien wünschte. Angemessen unterschiedlich gestaltet Andrew Dickinson die drei Dienerpartien und amüsiert das Publikum mit seinem Couplet als Franz. Martin Summer ist so sonor als Luther wie ganz besonders als unglückseliger Crespel. Einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt hat Kristina Stanek als Mutter. Der Exberliner Eberhard Friedrich hat den Chor auf seine vielfältigen Aufgaben bestens vorbereitet.  Kurz und gut: Ob im Theatersaal oder vor dem Fernsehschirm ist ein beglückender Abend garantiert (DG 2068594). Ingrid Wanja