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Kaum eine andere Stimme (außer vielleicht George Thill) gilt bei den Tenören so für mich als der Inbegriff der französischen Gesangskunst wie Alain Vanzo, der vor 20 Jahren (am 27. Januar 2002, geboren am 2. April 1928) starb. Seit meinen ersten Opern-Gehversuchen liebe ich diese hochindividuelle Stimme voller Süße und auch voller gallischer Würze, lyrisch im Grundformat, aber eben auch heldisch wenn verlangt. Sofort wiedererkennbar, makellos in der Diktion und eben: Alain Vanzo. Wie seine Kollegin Andrée Esposito (die 2021 mit 100 Jahren starb und mit der Vanzo oft aufgetreten ist) oder der Bariton Robert Massard verkörpert er für mich das Ideal des französischen Gesangs. Seine wunderbare voix mixte in den hohen Noten bezaubert mich ebenso wie seine elegante Stimmführung, ob nun als Gérald in der Lakmé oder als unübertroffener Des Grieux Massenets. Seine Soloszene im Kloster und die anschließende Verführung durch Manon gehört für mich zu den Höhepunkten französischen Gesangs. Im Duett mit der Esposito hat man l´Opéra francais pur: Kunst und Ausdruck und (immer gezügelte) Emotionen.
Vanzos Repertoire war riesig. So gut wie alle Tenor-Partien im französischen Fach hat er gesungen – bis auf die wirklich heroischen wie Sigurd oder Vervaal vielleicht. Aber sogar einen Samson hat er gewagt und natürlich das ganze Zwischenfach vom sehr lyrischen Postillon Adams bis zu Lalos Mylio oder Meyerbeers Robert le Diable, für den er 1985 nach langer Pause am Haus erstmals wieder und als Einspringer an die Pariser Opéra geholt wurde, mit absolutem Erfolg und in meinen Augen/Ohren wesentlich idomatischer als sein Kollege Rockwell Blake (die eigentliche Besetzung, die nur auf einem düsteren youtube-video zu erleben ist). Es war eigentlich ein Witz, denn davor hatte die bis heute hochnäsige Pariser Oper ihn ebenso wie seine Kollegen Crespin, Gorr, Massard oder Blanc geschniten – Liebermanns Übernahme der Pariser Oper machte das Tor auf für zum Teil lächerliche internationale Besetzungen, während die Einheimischen an den Provinz-Theatern von Lyon oder Marseille auftraten. Vanzo rettete 1986 die skandalträchtige Pariser Premiere und zeigte, wie man auch im Alter mittels bombensicherer Technik schwierigen Partien beikommt. Dieser Robert le Diable (bei Gala z. B.) ist für mich die ultimative Aufnahme des ohnehin selten dokumentierten Werkes (auch weil mit Michele Lagrange und Samuel Ramey kongeniale Kollegen zu erleben sind). Und nicht vergessen soll man seinen sensationellen Auftritt beim amerikanischen Debüt von Montserrat Caballé als Lucrezia Borgia 1965 in der Carnegie Hall (die problematische Aufführung, deren Titelpartie erst der Sills, dann der Horne und schließlich der Caballé angeboten wurde).
Andere französische Sänger wie der von mir in diesem Fach so sehr geschätzte Roberto Alagna mögen moderner klingen, und gerade Alagna hat in dieser Sparte kaum Konkurrenz. Aber Vanzo ist mir authentischer, mehr der grande tradition verbunden. Mit ihm hört man ein Stück Vor-/Nachkriegskultur eines Thill oder Vezzani, beide die Säulen der Opéra vor dem Krieg. Die groben Tenöre Tony Poncet, Gilbert Py oder Guy Chauvet sind da kein Vergleich für Vanzo.
Es ist bei ihm diese wunderbare Mischung aus äußerst Lyrischen und bei Bedarf Entschlossen, die mich bezaubert. Seine wirklich himmlischen samtenen Noten bei Mireilles Vincent, bei Werther, bei Cellinis Solo („Sur les monts …“) tut sich mir der tenorale Himmel auf, verbreitet der Sänger eine Süße des Tons, die man woanders lange suchen muss. Was ihn nicht abhält, im entscheidenden Moment auch zuzupacken und beim Faust oder auch Don Carlos richtig in die Vollen zu gehen.
Vanzo hat viel, sehr viel eingespielt. Er hatte das Glück, bei kleinen Firmen wie Vega oder Chant du Monde, später Malibran und Musidisc, unendlich viele Arien und méloldies aufzunehmen, eigentlich den ganzen Katalog des französischen Zwischenfach-Tenors. Dazu Vaterländisches mit der Nationalgarde, Gelegenheitsauftritte, Schlager. Unendliches. An Gesamt-Aufnahmen gibt es manches und Maßstäbliches: Lakmé (2 mal), Mireille (3 mal), Don Carlos (in einer aus dem Italienischen rückübersetzten Kurz-Fassung), die Vêpres siciliennes, die Huguenots, Manon, Benvenuto Cellini, Djamileh, Euryanthe, Genoveva, Robert le Diable, André Chenier, Les Contes d´Hoffmann,. Le Ropi d´Ys (mehrfach, mit Andrée Esposito oder Andréa Guiot), Faust, Romeo et Juliette, Werther, La Navarraise (mit der aufregenden Berthe Monmart), Les Pecheurs de Perles (2 mal), Le Pecheur d´étoiles (seine eigene Operette), Richard Coeur de Lion und manche mehr, auch Operetten (vieles auf youtube) – diese eigentlich „nur“ Radioaufnahmen und mehr oder weniger bei grauen Labels wie Gala etc. veröffentlicht. Italienische Opern sowie Operetten gibt es als Querschnitte bei Vega und den Nachfolgern, aber auch als Radiomitschnitte in Gänze. Ein paar „offizielle“ Aufnahmen sind mit den Pecheurs de Perles (mit Cotrubas bei EMI), Manon (mit Doria) L´Enfance du Christ, der zu späten Lakmé (mit Sutherland) oder Mignon (dto.) bei Decca und CBS erschienen und zeigen Vanzo nicht mehr in Bestform.
Es sind die früheren Radioaufnahmen (viele bei der INA, dem Archiv des französischen Rundfunks) in denen man Alain Vanzo zum Besten erlebt. Physisch wirklich kein Beau sind die Opernfilme mit ihm (Werther, Mireille, Faust, La vie de Bohème, späte Konzerte etc.) für uns heute eher lustig. Da steht ihm für uns Glamourgewohnte seine gewisse südfranzösische Pummeligkeit ihm Wege. Aber die Stimm´… Unvergleichlich. G. H.
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Zur Biography: Alain Vanzo, dessen Vater Mexikaner und dessen Mutter Französin war, sang als Kind in einem Kirchenchor und gründete mit achtzehn Jahren seine eigene Band, La Bastringue, mit der er populäre Lieder in örtlichen Musik- und Tanzlokalen sang. Anschließend studierte er Gesang in Aix-les-Bains und bei Rolande Darcoeur in Paris. Und während seines Musikstudiums spielte er in der Saison 1951/52 als Zweitbesetzung den populären spanischen Tenor Luis Mariano in der Operette Le Chanteur de Mexico am Théâtre du Châtelet in Paris. Sein Durchbruch gelang ihm 1954, als er bei einem Gesangswettbewerb für Tenöre in Cannes den Ersten Preis gewann. Er wurde sofort eingeladen, kleine Rollen in Paris sowohl an der Opéra-Comique als auch an der Opéra zu singen, wo er 1955 an der Uraufführung von Henri Barrauds Oper Numance teilnahm.
Bereits 1956 sang Vanzo Hauptrollen wie den Herzog (Rigoletto) an der Opéra und Gerald (Lakmé) an der Opéra-Comique. Seine Karriere entwickelte sich sowohl an diesen Theatern als auch in der französischen Provinz rasch. Im französischen Repertoire war er u. a. in den Titelpartien in Gounods Faust und Werther, Des Grieux in Massenets Manon, Nadir (Les Pêcheurs de Perles), Roméo (Roméo et Juliette) und Vincent (Mireille) zu hören. Im italienischen Repertoire sang er Alfredo (La traviata), Rodolfo (La bohème) und Edgardo (Lucia di Lammermoor), die er 1957 an der Seite von Maria Callas aufführte.
Internationale Aufmerksamkeit folgte, als Vanzo 1960 die letztere Rolle an der Seite von Joan Sutherland sang, die seinerzeit ihr Debüt an der Pariser Oper gab. Er wurde eingeladen, in Europa am Théâtre de la Monnaie (Brüssel), am Gran Teatro del Liceu (Barcelona), am São Carlos (Lissabon) und an der Wiener Staatsoper zu singen, und in Südamerika am Teatro Colón, Buenos Aires, wo er als Hoffmann (Les Contes d’Hoffmann) einen starken Eindruck hinterließ. Sein Nordamerika-Debüt gab er 1965 als Gennaro (Lucrezia Borgia) an der Seite von Montserrat Caballé in einer legendären Konzertaufführung in der Carnegie Hall, New York, während sein einziger Auftritt am Metropolitan Opera House als Mitglied der Pariser Oper stattfand, als die Kompanie Gounods Faust dort 1977 aufführte.
Im Laufe seiner Karriere erweiterte Vanzo sein Repertoire auf schwerere Rollen, z. B. die Titelrolle in Berlioz‘ Benvenuto Cellini, Mylio (Le Roi d’Ys), Robert (Robert le Diable), Raoul (Les Huguenots), Arrigo (I vespri siciliani), Cavaradossi (Tosca) und Gabriele Adorno (Simon Boccanegra). Im letzten Teil seiner Karriere sang er häufig Operette, deren hervorragender Exponent er war, trat weithin in Frankreich auf, beispielsweise in Avignon, Lille, Marseille, Nantes und Nizza, und war auch häufig im französischen Fernsehen zu sehen. Einer seiner bemerkenswertesten späteren Auftritte war 1985 als Meyerbeers Robert an der Pariser Oper. Neben dem Gesang komponierte Vanzo auch Lieder und Bühnenwerke, darunter die Operette Pêcheur d’Étoiles (Uraufführung Lille, 1972) und das lyrische Drama Les Chouans (Uraufführung Avignon, 1982). Er ging niemals offiziell in den Ruhestand und starb an den Folgen eines Schlaganfalls.
Vanzo gehörte zur letzten Generation französischer Sänger, die ihr Repertoire in ihrer Muttersprache erlernten und deren Karriere sich somit weitgehend auf Frankreich beschränkte. Die Fusion der Pariser Oper und der Opéra-Comique im Jahr 1972 und die anschließende Einführung des Stagione-Systems zerstörten die traditionellen Arbeitsplattformen für französische Sänger, die sich nur schwer gegen die folgende Welle des internationalen Wettbewerbs behaupten konnten. Bei diesem bedauerlichen Prozess ging die Kunst des französischen Operngesangs weitgehend verloren, was die Aufnahmen von Vanzo und seiner Kollegen zu unschätzbaren Dokumenten in Bezug auf angemessenen Stil und Technik machte. Vanzo selbst besaß eine Stimme von müheloser Schönheit und großem Charme; er bleibt unvergleichlich in Rollen wie Des Grieux, Gerald, Nadir, Roméo und Vincent (© Naxos Rights International Ltd. — David Patmore: A–Z von Singers, Naxos 8.558097-100). Übersetzung Daniel Hauser