.
Unter den wichtigsten russischen Komponistenpersönlichkeiten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geht Alexander Glasunow (1865-1936) zuweilen ein wenig unter. Heutzutage hat es mitunter den Anschein, als erkenne man Glasunows unbestrittene Verdienste vor allen Dingen auf dem pädagogischen Sektor, wirkte er doch zwischen 1899 und 1928 am Sankt Petersburger bzw. Leningrader Konservatorium, dessen Leitung als Direktor er ab 1905 und formal bis 1930 (bereits nach seiner faktischen Emigration) innehatte. Sein vermutlich berühmtester Schüler war tatsächlich Dmitri Schostakowitsch. Eine nachhaltige stilistische Entwicklung hat Glasunow im engeren Sinne nicht durchgemacht, weswegen sich seine Spätwerke kaum von den frühen Kompositionen zu Beginn der 1880er Jahre unterscheiden und zuletzt als veraltet galten. Nicht weniger als acht vollendete Sinfonien entstammen seinem reichhaltigen Œuvre, das neben Orchesterwerken auch Konzerte, Ballette, Schauspielmusiken, Vokalwerke, Kammer- und Klaviermusik sowie Orgelwerke umfasst.
Musikproduktion Dabringhaus und Grimm legt nun eine gut gefüllte Disc mit vier Orchesterstücken Glasunows vor (MDG 952 2235-6). Enthalten ist zum einen die über halbstündige siebente Sinfonie in F-Dur, die Tondichtung Stenka Rasin, das Poème lyrique sowie die Ouvertüre Karneval. Es wird also exemplarisch die breite Aufstellung dieses Komponisten auch innerhalb des orchestralen Bereichs demonstriert.
Die Sinfonische Dichtung Stenka Rasin op. 13 datiert auf 1885 und stellt insofern chronologisch das älteste Werk dar. Sie ist Glasunows Komponistenkollegen Alexander Borodin gewidmet und greift ein nationales Sujet auf, indem sie das aufregende Leben des Donkosaken-Anführers Stepan „Stenka“ Timofejewitsch Rasin (1630-1671) dramatisch und romantisierend nachzeichnet. Tatsächlich war Rasin ein reichlich ruchloser Zeitgenosse, für seine räuberischen Überfälle berüchtigt und soll sogar seine Geliebte, eine persische Prinzessin, während einer Vergnügungsfahrt unter dem Jubel seiner Mannschaft in die Wolga geworfen haben – womöglich als Opfer an den unberechenbaren Fluss –, in deren Fluten sie daraufhin ertrank. Der von ihm initiierte Rasinsche Aufstand gegen Zar Alexei I. führte letztlich zu seinem Untergang, nachdem er, von den eigenen Kosaken ausgeliefert, durch Vierteilung hingerichtet wurde. Glasunow, der sich auf eben diese Wolgafahrt konzentriert, baut das berühmte Lied der Wolgaschlepper geschickt zu Beginn und am Ende seiner Tondichtung ein und illustriert damit die Fahrt auf dem Strom. Daneben werden die Raubzüge in Ortschaften nahe der Wolga farbig geschildert. Auch ein lyrisches orientalisches Thema, angeblich persischen Ursprungs, taucht auf.
Deutlich verinnerlichter kommt das 1887 vollendete Poème lyrique op. 12 daher, das auch als Andantino für großes Orchester bezeichnet ist und einen geradezu intimen Tonfall aufweist. Zugeeignet ist es dem Komponisten Nicolas de Stcherbatcheff. Vom Grundcharakter völlig konträr erscheint die ausgelassen-feierliche Ouvertüre Karneval op. 45, die auf 1892 datiert (gewidmet Herman Laroche). Das Besondere an dieser Ouvertüre stellt die ad libitum und in dieser Einspielung auch eingesetzte Orgel dar, die einen nachdenklicheren Einschub in dem ansonsten sehr vorwärtsdrängenden Stück absolviert.
Die Sinfonie Nr. 7 f-Moll op. 77, auch als Pastorale bezeichnet, stellt die vorletzte von Glasunow komplettierte Sinfonie dar (1902). Widmungsträger ist in diesem Falle der einflussreiche Musikverleger und Mäzen Mitrofan Beljajew. Die Reminiszenz an Beethovens ungleich bekannteres gleichnamiges Werk ist gewiss beabsichtigt. Ganz klassisch indes hier der viersätzige Aufbau mit langsamem zweiten Satz und Scherzo an dritter Stelle. Der recht leichtgewichtige Kopfsatz gemahnt auf dem Höhepunkt der Spätromantik geradezu an die musikalische Klassik. Das darauffolgende Andante erklingt deutlich strenger, stellenweise beinahe zelebriert, und vermittelt tatsächlich, was man in seiner schlichten Erhabenheit als „Glasunow-Stil“ im besten Sinne bezeichnen könnte. Mit giocoso, also fröhlich, vergnügt, ist sodann die Vortagsanweisung bei besagtem Scherzo beschrieben und verkörpert gleichsam den Gegenpol, doch gerät auch dieser tänzerische Einschub würdevoll. Der Schlusssatz schließlich, bezeichnet mit Allegro maestoso, beginnt gewichtig und entfaltet ein zuvor nicht dagewesenes dramatisches Element, um dann neuerlich einer pastoralen Stimmung zu weichen. In der Coda des Finales wird abermals die Opulenz des Satzanfangs aufgenommen und die Sinfonie glanzvoll beschlossen.
Die Niederrheinischen Sinfoniker unter dem estnischen Dirigenten Mihkel Kütson präsentieren sich als sehr guter Klangkörper. Im direkten Vergleich wird indes nicht ganz die Intensität eines Jewgeni Swetlanow (in Sachen Glasunow nach wie vor der Maßstab), Juri Aronowitsch oder Ernest Ansermet (beide bezüglich Stenka Rasin) erreicht. Die tadellose Tonqualität der SACD rundet diese Neuerscheinung klanglich adäquat ab. Das Begleitheft liegt dreisprachig (Englisch, Französisch, Deutsch) bei. Daniel Hauser