Weit mehr als nur „Der Vampyr“

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Die erfreuliche Heinrich-Marschner-Renaissance schreitet voran und die Naxos-Reihe ist nunmehr bei Vol. 3 angelangt (Naxos 8.574483). Wiederum zeichnet der bewährte Dirigent Dario Salvi verantwortlich, der sich mittlerweile zu einer wahren Größe im abgelegeneren Repertoires entwickelt hat. Die ersten beiden Marschner-CDs bestritt Salvi erfolgreich mit dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice bzw. dem Philharmonischen Orchester Hradec Králové. Das Label setzt folgerichtig auch diesmal auf ein Orchester aus Tschechien, nämlich die diskographisch gut dokumentierte Janáček-Philharmonie Ostrava.

Fünf Werke des Komponisten stehen auf der Neuerscheinung im Mittelpunkt: Das Schloss am Aetna (1830-35) Der Bäbu (1837), Die Verlobung vor der Trommel (1843), Lukretia (1821-26) sowie Sangeskönig Hiarne (1857/58). Es handelt sich um Orchesterauszüge aus den jeweiligen Opern, deren Auswahl offenbar einem durchdachten Konzept folgt und die Disc mit 72 Minuten gut füllt. Das auf den ersten Blick auffällige Fehlen zweier der Ouvertüren (Lukretia und Der Bäbu) dürfte nämlich darin begründet liegen, dass Naxos diese auf seinem Entdecker-Sublabel Marco Polo bereits Anfang der 1990er Jahre unter Alfred Walter mustergültig vorgelegt hat (Marco Polo 8.223342). Eine Neuauflage dieser CD wäre wünschenswert. Lukretia, die hier am frühesten entstandene Oper aus der mythologischen römischen Frühzeit, ist mit dem Entr’acte zum sowie dem Triumphmarsch aus dem zweiten Akt berücksichtigt. Chronologisch folgt das faustisch angehauchte Schloss am Aetna, dem nicht weniger als 23 Minuten Spielzeit eingeräumt werden, neben der erhabenen Ouvertüre fünf Nummern aus dem ersten Aufzug, der Fackeltanz aus dem zweiten sowie die Bühnenmusik aus dem dritten. Vom in Kalkutta angesiedelten Bäbu fehlt zwar, wie angedeutet, ebenfalls die Ouvertüre, dafür sind der Marsch der Zwerge und das Komische Ballett der Zwerge (jeweils Akt 1) sowie die Traumszene, die als Entr’acte zum zweiten Akt fungiert, inkludiert. Die Verlobung vor der Trommel, oder Der Mutter Ungedenken – so der sperrige vollständige Titel der Oper, die Adolphe Adams Le Roi d’Yvetôt adaptiert – ist hingegen lediglich mit der Ouvertüre vertreten, welche mit sechseinhalb Minuten eine der kompaktesten von Marschner darstellt. Mit fast 13 Minuten sehr gewichtig kommt hingegen die Ouvertüre zu seiner letzten Oper Sangeskönig Hiarne, oder Das Tyrsingschwert daher. Drei weitere Exzerpte (Verwandlung und Tanz, Großes Ensemble, Friedebrand Marsch) dieses auf der altnordischen Frithjofssage beruhenden Werkes reichern den orchestralen Fundus auf gut 21 Minuten an.

Hier ist also der Marschner von Anfang der 1820er bis Ende der 1850er Jahre, kurz vor seinem Ableben 1861, zu vernehmen. Stilistisch gibt es keine allzu ausgeprägten Unterschiede zwischen der frühen und der späten Phase. Gefällige Musik, die sofort ins Ohr geht, der vielleicht das letzte Fünkchen zum Genialischen fehlt. Auch wenn dies nicht offenkundig betont wird, dürfte es sich bei praktisch allen hier enthaltenen Stücken um Weltersteinspielungen handeln. Hinsichtlich etwaiger Gesamtaufnahmen dieser Opern wird man sich vermutlich noch länger gedulden müssen. Die Aufnahmesitzungen erfolgten zwischen 27. und 29. Mai 2024 im Kino Vesmír in Ostrava. Klanglich ist die Produktion ohne Fehl und Tadel. Daniel Hauser

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Obwohl er einer der führenden romantische Opernkomponisten Deutschlands zwischen Weber und Wagner war, fristet Heinrich Marschner (1795-1861) seit langem ein Schattendasein und wird auf den Bühnen kaum aufgeführt. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der mageren Diskographie aus, wo selbst seine beiden populärsten Opern, Der Vampyr (1828) und Hans Heiling (1833), unzureichend vertreten sind. Wieder einmal ist es Naxos zu verdanken, sich eines zu Unrecht Vergessenen anzunehmen. Die kompletten Ouvertüren und die Bühnenmusik Marschners sollen sukzessive erscheinen. Nun ist bereits Vol. 2 auf dem Markt (Naxos 8.574482).

Eines der früheren Werke Marschners stellt die Bühnenmusik zu Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg dar. 1810 geschrieben, erfolgte die Uraufführung – gekürzt und unter dem Titel Die Schlacht von Fehrbellin (1675) – indes erst 1821, ein Jahrzehnt nach des Autors Suizid. Aus demselben Jahr 1821 stammen die fünf Instrumentalstücke des Komponisten, vier Entr’actes und eine sogenannte Schluss Symphonie. Besonders jenes Vorspiel zum ersten Akt hat mit bald neun Minuten Spielzeit das Gewicht einer echten Ouvertüre. Mit einer knappen halben Stunde Musik könnte man diese fünf Stücke fast als eine Art sinfonische Suite begreifen. Ein genuin romantischer Tonfall ist ihnen ganz unstrittig inhärent. Gekonnt changiert Marschner zwischen einfühlsamer Liebestollheit und aufpeitschender Dramatik.

Von der 1842 entstandenen weltliche Kantate Klänge aus dem Osten kommt die elfeinhalbminütige Ouvertüre zu Gehör. Die weiteren orchestrierten Lieder und Chöre des Werkes heißen sich wie folgt: Zigeuner Gesang, Assat’s Ständchen, Maisuna’s Lied, Räuberchor sowie Kampf der Räuber, Flucht Maisuna’s und Wiederfinden. Wiewohl eigentlich wenig orientalisches Flair verbreitet wird, hat Marschner doch ein beachtliches Instrumentalwerk geschaffen, das auch einer seiner Opern vorangestellt sein könnte.

Einen großen Misserfolg musste Marschner mit seiner ambitionierten hochromantischen Oper Kaiser Adolph von Nassau (1845) hinnehmen, deren Libretto der Geistliche Heribert Rau beisteuerte. Anlass der Komposition war die Vermählung des hannoverischen Kronprinzen (und späteren letzten Königs) Georg mit der Prinzessin Marie von Sachsen-Altenburg. Die Uraufführung fand kurioserweise indes nicht in Hannover, sondern in Dresden statt. Die musikalische Leitung oblag niemandem Geringeren als Richard Wagner. Die auf den ersten Blick erstaunliche Weglassung der monumentalen Ouvertüre in dieser Neuerscheinung erklärt sich offenbar dadurch, dass das zu Naxos gehörige Sublabel Marco Polo diese bereits Anfang der 1990er Jahre in einer mustergültigen Einspielung unter Alfred Walter auf den Markt brachte (Bestellnummer 8.223342). So sind diesmal allein das Ballett aus dem ersten Aufzug sowie der Marsch aus dem zweiten enthalten.

Der Dirigent Dario Salvi/Foto Salvi

Marschners vorletzte Oper Austin wurde zwar bereits in den Jahren 1850/51 fertiggestellt, gelangte indes aufgrund des Todes König Ernst Augusts von Hannover (1851) erst mit sechsjähriger Verspätung zur Erstaufführung. 1857 lediglich sechsmal auf der Bühne, verschwand sie danach in der Versenkung. Der Plot ist im Königreich Navarra des späten 15. Jahrhunderts angesiedelt und behandelt die dortigen Thronwirren. Die relativ überschaubare Einleitung (gut fünfminütig), der prachtvolle Krönungsmarsch (sechs Minuten) aus dem zweiten und das ausgedehnte, knapp viertelstündige Ballett aus dem dritten Akt bilden die musikalische Auswahl. Ein gewisser Einfluss der französischen Grand Opéra lässt sich ausmachen.

Für die formidable künstlerische Umsetzung sorgt einmal mehr der talentierte Dirigent Dario Salvi, längst mehr als ein Geheimtipp. Mit dem Philharmonischen Orchester Hradec Králové (Königgrätz) konnte ein weiterer renommierter tschechischer Klangkörper gewonnen werden. Auch klanglich gibt es keine Beanstandungen zu machen. Die Einspielung entstand im September 2022 im Konzertsaal der Philharmonie in Hradec Králové. Das englischsprachige Beiheft ist informativ genug, um den Wissensdurst des geneigten Hörers hinreichend zu stillen. Daniel Hauser

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Bereits vor geraumer Zeit erschien Vol. 1 der Reihe (Naxos 8.574449). Von den fünf inkludierten Werken sind sage und schreibe vier Weltersteinspielungen. Die einzige Nichtpremiere stellt die kaum fünfminütige Ouvertüre zur Oper Der Holzdieb nach Johann Friedrich Kinds Lustspiel (1823) dar. Mit der Ouvertüre zur Oper Der Kyffhäuser Berg (1816) – adaptiert nach der Volkslegende von August von Kotzebue – legt man erstmals die Einleitung zu Marschners frühestem Bühnenwerk überhaupt vor. Der damals gerade 21-Jährige zeigt indes schon hier eine unbestreitbare Befähigung zur Tonschöpfung. Bei den drei übrigen Werken handelt es sich um Schauspielmusik, wie sie im 19. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte. Von Schön Ella – für Kinds Volkstrauerspiel nach der unheimlichen Ballade Lenore von Gottfried August Bürger – und Ali Baba, oder Die vierzig Räuber – für Karl Gottlob Theodor Winklers Schauspiel – (beide 1823) inkludiert das Label nicht bloß die hörenswerten Ouvertüren, sondern auch weitere Instrumentalstücke, darunter diverse Entr’actes und die recht umfängliche Ballettmusik. Die Ouvertüre zum Liederspiel Die Wiener in Berlin von Karl Eduard von Holtei (1825), humoristisch auf die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Preußen referierend, stellt den Abschluss der mit gut 71 Minuten ordentlich bestückten CD dar.

Eine wirkliche Individualität mag diesen frühen Werken aus des Komponisten Dresdner und Leipziger Phase zwar letztlich noch etwas abgehen, doch sind bereits hier das melodiöse Talent Marschners und sein Einfallsreichtum unverkennbar. Für die Einspielungen zeichnet abermals das sehr bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter dem Dirigenten Dario Salvi verantwortlich. Glücklicherweise tut sich bei den Pardubitzern zu keinem Moment das Gefühl eines zu dünnen Streicherklanges auf, wie es bei Kammerensembles teilweise der Fall ist. Dafür sorgt auch die von der Tontechnik sehr adäquat eingefangene Akustik im Hause der Musik zu Pardubice in der Tschechischen Republik (Aufnahme: 24.-26. und 31. Jänner 2022). Die Textbeilage (nur auf Englisch) ist ausreichend informativ. Daniel Hauser