Archiv für den Monat: Mai 2021

Hommagen

 

Passione war eine von Luciano Pavarottis erfolgreichsten Platten – nun bringt DECCA unter eben diesem Titel eine neue CD mit dem britisch-italienischen  Tenor Freddie De Tommaso heraus, die dem großen italienischen Sänger  Franco Corelli anlässlich seines 100. Geburtstages huldigt (485 1509). Aber der Sänger gedenkt mit dieser Veröffentlichung („A Franco“) auch seines Vaters Franco De Tommaso, der 2011 mit nur 56 Jahren starb. Das Programm umfasst vor allem die bekannten italienischen und neapolitanischen Kanzonen, die von allen großen italienischen Tenören (Mario Del Monaco, Giuseppe Di Stefano, Carlo Bergonzi, Franco Corelli, Luciano Pavarotti) interpretiert wurden. Auch Sänger anderer Nationen (Alfredo Kraus, Plácido Domingo, Marcelo Álvarez, Jonas Kaufmann) haben sich erfolgreich diesem Genre gewidmet. So ist die Konkurrenz auf dem Musikmarkt groß und Freddie De Tommaso muss sich dieser stellen. Er macht dabei durchaus gute Figur, wenn seine Stimme im Timbre auch nicht so einzigartig und unverwechselbar ist wie die seiner illustren Vorgänger. 2018 gewann der Tenor den renommierten Francisco Viñas Gesangswettbewerb in Barcelona und etablierte sich auf Anhieb als einer der vielversprechenden neuen Interpreten im lirico-spinto-Fach. Die Stimme ist baritonal timbriert, im Ausdruck emphatisch und passioniert, was sie für dieses Genre natürlich prädestiniert.

Als Auftakt erklingt ein weniger bekannter Titel von Carlo Innocenzi, „Addio, sogni di gloria!“, in einem rauschhaften Arrangement von Henry Mancini. Sogleich hier kann der Interpret mit seinem schwärmerischen Vortrag für sich einnehmen. Die zweite und dritte Nummer, Tostis „Marechiare“ und „L’alba separa dalle luce l’ombre“, sind dagegen allseits beliebter Schlager und werden mit virilem Schwung und generösen Spitzentönen serviert. Später folgt von diesem Komponisten noch „Ideale“ – ein gleichfalls sehr populäres Lied. In diese Kategorie fallen auch „Mattinata“ von Ruggero Leoncavallo,„Core ‚ngrato“ von Salvatore Cardillo und „Musica proibita“ von Stanislao Gastaldon, mit dem De Tommaso ein hinreißender Schlusstitel gelingt. Selten zu hören sind der Bolero „Lolita“ von Arturo Buzzi-Peccia, welcher mit spanischem Temperament erklingt, „Dicitencello vuje“ von Rodolfo Falvo und das schwelgerische „Fenesta che lucive“ von Guglielmo  Cottrau, das lange Zeit Bellini zugeschrieben wurde, aber nach einem traditionellen neapolitanischen Volkslied komponiert wurde. Renato Balsadonna, der diese Aufnahme mit dem London Philharmonic Orchestra dirigiert (entstanden im November 2020 in Watford), hat dafür das Arrangement erstellt, das Anklänge an Norma hören lässt.

Ungewöhnliche Beiträge in einer solchen Anthologie sind zwei Lieder von Puccini, welche Domingo schon in seinem Album Unknown Puccini vorgestellt hatte („Sole e amore“, dessen Motiv der Komponist später im 3. Akt seiner Bohème verarbeitete, und „Mentia l’avviso“, in dem schon die Manon Lescaut anklingt) sowie das schmerzliche „Nebbie“ aus Respighis Tre liriche. De Tommaso beweist hier eindrucksvoll seine Kompetenz für die Gestaltung der großen italienischen Tenorpartien. Natürlich darf auch der Titel gebende Song nicht fehlen. „Passione“ stammt von den beiden neapolitanischen Komponisten Ernesto Tagliaferri und Nicola Valente. Der Tenor singt sie mit Verve und Eleganz. Bernd Hoppe

Am Originalschauplatz

 

Endlich sind die Geister nach Hause gekommen. Die Geister von Marie-Antoinette und Louis XIV. trafen sich im Dezember 2019 in der Opéra Royal im Château de Versailles, wo die Geschichte der Ghosts of Versailles, die John Corigliano und William M. Hoffmann in ihrer zweiaktigen Grand Opera Buffa erzählen, ihren Anfang nahm. Begleitet werden der französische König und seine Gattin vom Grafenpaar Almaviva, Figaro und seiner Susanna, samt den unehelichen Kindern der Almavivas, Florestine und Léon. Mit dabei auch Beaumarchais, der die Geschichte von Rosina und ihrem Grafen zwischen 1775 und 1797 genüsslich in seiner Figaro-Trilogie ausgebreitet hatte. Möglich machte dieses Stelldichein in Versailles eine gemeinsame Produktion der Opéra Royale mit dem Glimmerglass Festival, bei dem die von Joseph Colaneri dirigierte Produktion von Jay Lesenger im Juli 2019 am Vorabend des französischen Nationalfeiertags und 230 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille ihre Premiere hatte. Später reiste nahezu das gesamte Team über den Atlantik, wo es sich in Versailles mit dem Orchestre de l’ Opéra Royal zusammenschloss.

Das Ergebnis präsentiert das Château de Versailles in einer umfangreichen Ausgabe, die neben den beiden CDs, die Coriglianos zweieinhalbstündige Oper beansprucht, zusätzlich die gesamte Aufführung auf DVD und Blu-Ray bereithält (CVS036, dreisprachiges Beiheft, aber ohne Libretto), wobei DVD und Blu-Ray darüber hinaus eine 38minütige Dokumentation über Coriglianos auf dem Höhepunkt der Aida-Krise 1988 entstandene erste Sinfonie Of Rage and Remembrance (Von Zorn und Erinnerung) bieten. Wenige Jahre nach John Conlons ausgezeichneter Los Angeles-Aufnahme aus dem Frühjahr 2015 (bei Pentatone) steht bereits eine weitere Einspielung der 1991 unter James Levine an der Metropolitan Opera uraufgeführten und damit üppig dokumentierten zeitgenössischen amerikanischen Oper zur Verfügung, die zusätzlich mit dem Siegel des historischen Rahmens versehen ist.

Quasi historisch, wie altmodische Molière- oder Beaumarchais-Aufführungen einst an der Comédie Française, mutet Lesengers zurückhaltende Inszenierung an, die das vom Librettisten überkonstruierte und das Verständnis wenig befördernde Stück über eine Liebe zwischen Marie Antoinette und Beaumarchais mit der Halsbandaffaire, einer Theater-auf-dem-Theater-Aufführung von La mére coupable, dem letzten und am wenigsten bekannten Teil der Figaro-Trilogie, und dem Versuch verknüpft, das Schicksal der Königin umzulenken, in fassliche Bilder (Bühnenbild von James Noone und opulente Kostüme von Nancy Leary) quetscht. Ort der in der Gegenwart und im Herbst 1793 spielenden Handlung, die die Geister folgendermaßen kommentieren, „He’s in love, he’s in love, he’s in Love! Beaumarchais is in love with Marie Antoinette! The Queen is sad! She longs for death! She’s been dead fort two hundred years!“, ist das Theater im Petit Trianon.

An der Met sorgte 1979 die Einlage der vielseitigen Marilyn Horne für Stimmung in Coriglianos Oper, die auch als DVD bei DG herauskam/Met Opera Archive/ Operaonvideo/ Rolf Fath besprach zudem die frühere Aufnahme der Oper bei Pentatone für operalounge.de

Man muss sich erst an Coriglianos Musiksprache mit ihrem müden Geister-Gewisper und hurtigen Konversations-Plapperei und der Melange aus Zitat und Gefälligkeit gewöhnen. Bald aber nehmen die gekonnte Ausformung der Arien und Szenen gefangen, darunter die virtuose, orientalisch umkleidete Cabaletta der arabischen Diva Samira, die post-barbersche Süße der Duette, etwa das elegische „Look at the green here in the glade“ zwischen Cherubino und Rosina, welches Beaumarchais und Marie Antoinette zum Quartett erweitern, die nach dem Vorbild der Italiana gezauberten rossinischen Ensembles und die Ironie – „This is no opera!“ behauptet eine Dame im ersten Finale „Wagner is opera!“

Ein Star-Ensemble, wie es der Met mit Stratas, Fleming, Horne, Gino Quilico, Graham Clark und Hagegård oder Conlon in Los Angeles mit Patricia Racette, Lucy Schaufer, Lucas Meachem, Robert Brubaker, Christopher Maltman und Patti LuPone zu Gebote stand, darf in Versailles nicht erwartet werden. Corigliano hat aber so wirkungssicher für die Stimmen geschrieben, dass sich die meisten Sänger, nicht nur Gretchen Krupp, die als pralle Samira naturgemäß abräumt, recht gewinnend präsentieren: Teresa Perrotta singt die beiden großen Szenen der Marie Antoinette, vor allem ihren Abschied („Once there was a golden bird“), mit exquisiter Melancholie und fülligem Sopran, für den Beaumarchais setzte Jonathan Bryan seinen ansprechenden lyrischen Bariton vorteilhaft ein („I risk my soul for you, Antonia“). Ben Schaefer traut man nach seinem Corigliano-Figaro auch die Gegenstücke von Mozart und Rossini zu, Kayla Siembieda ist mit rundweichem Mezzosopran, der sich im Duett mit Rosina reich entfaltet („As summer brings a wistful breezel“) und sprühender Diktion als Susanna ein wahres Bühnentalent, Joanna Latini, deren Rosina im Duett mit Cherubino (Katherine Maysek) von zarter Eleganz ist, und der Tenor Brian Wallin verblassen als Grafenpaar daneben fast ein wenig; ebenso Peter Morgan als König. Als Bösewicht Bégearss setzt Christian Sanders seinen Charaktertenor in der Wurm-Arie „Long live the Worm“ und im Revolutionsgeschehen mit schleuderndem Effekt ein. Joseph Colaneri und das Orchestre de l’ Opéra Royale unterstützen die Sänger durch ein pointiertes, kammermusikalisches Spiel, das auch in den Revolutionsszenen durchsichtig bleibt. Nun soll den Geistern aber auch wieder für eine Weile Ruhe gegönnt sein. Rolf Fath

Vielvertont

 

Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein gen. Wallenstein (1583-1634) war eine der letzten Heldengestalten der Weltgeschichte. Immer wieder stand er auch im Fokus des Interesses von Komponisten, denkt man Bedřich Smetanas Tondichtung Wallensteins Lager von 1859 oder auch Vincent d’Indys sinfonisches Triptychon Wallenstein von 1871, beides nach Friedrich von Schiller, auch die Oper von Jaromir Weinberger (die Aufnahme bei cpo unter Cornelius Meister wurde in operalounge.de besprochen). Ein weiterer Komponist, der sich des legendären Feldherrn des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) annahm, war Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901). Dieser wird aufgrund seiner langen Wirkungszeit in München, wo er ab 1851 lebte, heute häufig fälschlicherweise als deutscher Komponist angesehen, war jedoch tatsächlich ein in Vaduz gebürtiger Liechtensteiner. Zu Lebzeiten hochgeschätzt und dekoriert (Nobilitierung zum Ritter von Rheinberger 1895 durch den bayerischen Prinzregenten Luitpold), steht er mittlerweile im Schatten anderer. In praktisch allen musikalischen Genres tätig, erlangte er besonders auf dem Gebiet der geistlichen Musik Bedeutung (viele Messen, Kantaten und Motetten, drei Requiems und zahllose Orgelwerke), schrieb aber auch zwei Opern und drei Singspiele.

Den 300. Jahrestag der Gründung des Fürstentums Liechtenstein, das in dieser Form seit 1719 besteht, nahm das Label Ars zum Anlass, das Sinfonische Tongemälde d-Moll op. 10 Wallenstein erstmals einzuspielen (ARS38284). Es agiert das Sinfonieorchester Liechtenstein unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Florian Krumpöck. Idiomatischer geht es nicht. Der erst 1988 ins Leben gerufene und einzige professionelle liechtensteinische Klangkörper braucht keine Vergleiche zu scheuen, was auch für die zwischen 28. und 30. Jänner 2019 im SAL (Saal am Lindaplatz) in Schaan entstandene Aufnahme gilt, die als hybride SACD im DSD-Verfahren vorgelegt wird und höchsten klanglichen Ansprüchen genügt.

Wie bei Smetana und d’Indy war es für Rheinberger weniger der historische Wallenstein als Schillers literarische Verarbeitung des Stoffes, die seiner Komposition von 1866 zugrunde lag. Dafür spricht bereits die Bezeichnung der vier Sätze, welche sich gliedern in Vorspiel (gut 14 Minuten), Thekla (gut 10 Minuten), Wallensteins Lager (10 Minuten) und Wallensteins Tod (15 Minuten), zusammen also ein etwa 50-minütiges Werk ergeben. Rheinberger gelang das Kunststück, sowohl die Verfechter der absoluten Musik als auch die Anhänger der seinerzeit in Mode gekommenen Tondichtungen für sich einzunehmen. So firmierte das Stück in seinen ersten Aufführungen als „eine Sinfonie in vier Sätzen“, um in der Druckausgabe doch noch als „Sinfonisches Tongemälde“ durchzugehen. Der Kopfsatz gibt ein farbiges Portrait der Titelfigur, während sich der langsame, sehr verinnerlichte zweite Satz Wallensteins Tochter Thekla (historisch: Maria Elisabeth) widmet. Der durchaus als Scherzo zu bezeichnende dritte Satz kommt marschartig-deftig daher und schildert in seiner lebensbejahenden Leichtigkeit das turbulente Lagerleben im Felde. Im düsteren Finale schließlich deutet sich das unausweichliche Schicksal des Helden bereits früh an, der alle Warnungen in den Wind schlägt und schließlich der berühmten Verschwörung zum Opfer fällt.

Eine wirklich hörenswerte Ausgrabung im weniger bekannten sinfonischen Repertoire der Romantik, die gerade auch aufgrund des historischen Hintergrundes für den Musikfreund von Interesse ist, selbst wenn der ganz große Aha-Effekt ausbleibt. Das beiliegende ausführliche deutsch-englische Booklet ist tadellos und macht Lust auf mehr. Es darf auf eine Fortsetzung aus Liechtenstein gehofft werden. Daniel Hauser

Ruggiero Orofino

 

Das Leben, die Laufbahn und die künstlerischen Verdienste des italienischen Tenors Ruggiero Orofino (28.09.1922 – 20.05.2021) waren in vielerlei Hinsicht außerordentlich: als erstes Mitglied des Chors der Mailänder Scala kehrte er in Hauptrollen an das bedeutendste Haus Italiens zurück – und dies für nicht weniger als 10 aufeinander folgende Spielzeiten. Vom Automechaniker, Elektriker und Marinesoldaten aus dem apulischen Barletta wurde er zu einem der ersten Tenöre weltweit und zum Star im Ensemble der Berliner Staatsoper Unter den Linden. 1976 wurde er zum Kammersänger ernannt, und als einziger Tenor sang er an allen drei Berliner Opernhäusern, als die Stadt durch die Mauer geteilt war. Sein Radamès, sein Pinkerton und sein Rodolfo, die er in allen großen Häusern der Welt gesungen hat, sind unvergessen und halten jeden Vergleich mit wesentlich prominenteren Kollegen aus.

Ungewöhnlich breit war auch Orofinos stilistisches Spektrum: sowohl in Berlin und Hamburg, in München und an der Scala war er ein hervorragender falscher Zarewitsch Dimitri in Boris Godunov. Mussorgskys Meisterwerk sang er zunächst in deutscher und italienischer Sprach, schließlich 1979 unter der Leitung von Claudio Abbado auch im russischen Original. Im Belcanto der italienischen Frühromantik war er als Pollione der Norma der Caballé ein ebenbürtiger Partner an der Scala. Und nicht hoch genug kann seine Interpretation der heiklen Titelpartie von Verdis Ernani geschätzt werden, mit dem er 1970 als Protagonist an der Scala debütierte. Anders als viele Sänger aus dem romanischen Sprachraum bewies Orofino zudem, dass das deutsche Repertoire auch in Originalsprache wie Belcanto gesungen werden kann. Zum einen ist hier sein Lohengrin zu nennen – eine Partie, die er erstmals 1971 innerhalb von wenigen Tagen sowohl in Dublin auf Deutsch wie beim Maggio Musicale Fiorentino auf Italienisch sang, später dann auch an der Berliner Staatsoper und in Madrid. Sensationell ist allerdings, dass er keinerlei Berührungsängste gegenüber der zweiten Wiener Schule hatte. An der Scala sang er den Jungen Mann in Schönbergs Moses und Aron und – wiederum unter der Leitung von Abbado – den Tambourmajor in Bergs Wozzeck, ebenfalls in Mailand und beim Gastspiel der Scala in Paris.

Eine solche stilistische Bandbreite setzt natürlich nicht nur eine außergewöhnliche Stimme sondern auch eine ebenso hervorragende Technik voraus. Der erste Beleg dafür ist zunächst Orfinos außergewöhnliche stimmliche Langlebigkeit. Mit über sechzig Jahren sang er manch jüngeren Cavaradossi oder Radamès an die Wand, und meisterte die Tessitura der kurzen aber extrem hoch liegenden Partie des italienischen Sängers mit Bravour – viele Kollegen verabschieden sich in diesem Alter von der Bühne oder sind zu regelmäßigen Transpositionen gezwungen. Seine Technik erarbeitete sich Orofino im intensiven Studium mit den Repetitoren und Dirigenten der Scala und vor allem bei der großen Mercedes Llopart. Selbst eine bedeutende Sopranistin, ging sie vor allem als Lehrerin von Alfredo Kraus, Renata Scotto, Elena Souliotis, Fiorenza Cossotto und eben Ruggiero Orofino in die Geschichte des Belcanto ein.

Diese technische Souveränität und ein Vortragsstil, der keinerlei veristische Exzesse kennt, machen Orofino zu einem herausragenden Sänger, selbst für das goldene Zeitalter, in dem er seine Karriere begann. Denn trotz seiner dunklen, genuinen lirico-spinto Stimme und seines feurigen Bühnentemperaments war er ein Klassizist unter den dramatischen Tenören seiner Generation. Auf seinen Aufnahmen hören wir eine substanzreiche und vibrante Stimme, die jederzeit perfekt fokussiert sitzt und sich souverän im Passaggio bewegt. Dies zeigen exemplarisch die – in dieser Hinsicht äußerst anspruchsvollen – Arien aus Mascagnis Cavalleria und Iris. Darüber entfaltet sich eine brillante, vollkommen mühelose Höhe bis zum C bzw. Des’’ (im Duett des Herzogs mit Gilda aus Rigoletto). Dramatische Attacken singt Orofino mit Verve, doch niemals wird die Gesangslinie deklamatorischen Akzenten oder veristischen Schluchzern geopfert. Immer bleibt sie klar, liegt die Stimme konsequent auf dem Atem, so dass jederzeit Diminuendi und Smorzandi in die Mezza voce möglich sind. All diese Qualitäten – zusammen mit einer glasklaren Diktion, die den Sinn jeder Phrase und des einzelnen Wortes herausarbeitet – sind auch in den Aufnahmen in deutscher Sprache zu bewundern.

Eine „voce parallela“ (Lauri-Volpi), die dem Gesang und der Stimme Orofinos vergleichbar wäre, wird man unter seinen Zeitgenossen schwer finden. Am ehesten kommt einer der größten Tenöre der Vorkriegszeit dafür in Frage: Giovanni Martinelli, der nach Carusos Tod an der Metropolitan Opera dessen dramatisches Repertoire übernahm. Denn wie Martinelli exzellierte Orofino in Partien wie Radamès, Manrico, Don Carlos, Cavaradossi, Chénier und Calaf. Anders als Martinelli aber erhielt er sich bis in die letzten Jahre seiner Karriere die Fähigkeit, zwischen seinem Spinto-Repertoire und lyrischen Partien wie Duca, Rodolfo oder Pinkerton zu alternieren.

Ganz offensichtlich sind die Parallelen zu Martinelli in den Arien des Calaf, die Orofino mit großzügiger Tongebung und Leidenschaft, dabei mit souveräner Linienbildung singt. Noch enger schließt er mit Verdis Ernani an seinen großen Vorgänger an. Sein Erfolg in der Partie beim Debüt an der Scala in der Eröffnungsserie der Spielzeit 1969/70 reichte an den von Domingo mühelos heran, von dem er die Partie im zweiten Teil der Vorstellungsserie übernahm. Nach Martinelli gehört Orofino zu den ganz wenigen Tenören, die souverän die hohe Tessitura der Auftrittsarie bewältigen, die gruppetti der Cavatina wirklich con eleganza phrasieren und in der Cabaletta Dramatik und Agilität vereinen. Zudem krönt Orofino nicht nur diese mit einem langen hohen B sondern interpoliert in der Kadenz der Cavatina ein stupendes hohes H, das das Publikum der Scala zu  Recht mit einem Beifallssturm beantwortet.

Zwei Jahrzehnte lang war Orofino der unumstrittene Star im italienischen Repertoire an der Berliner Staatsoper, und zahllose Fans in Europa und Übersee (wo er u.a. an der Met und am Teatro Colon mit seinem äußerst anspruchsvollen Publikum sang) erinnern sich noch heute mit Begeisterung an seinen Gesang und seine Interpretationen (wie auf vielen seiner Dokumente bei youtube nachzuerleben ist)/ Foto oben Archivio storico del Teatro alla Scala)Angelo Raciti

Ungewöhnlich

 

Wieder einmal an ihre Geburtsstätte, die Opéra Comique von Paris, zurückgekehrt war Bizets Carmen im Jahre 2009, wovon es jetzt eine DVD bei Naxos gibt. Die recht kleine Bühne wird von Mark Thompson optimal genutzt, indem auf drei Ebenen agiert wird, so im ersten Akt aus der Tiefe kommend die Arbeiterinnen, Auge in Auge mit dem Publikum die Wachsoldaten und auf einer Empore Spaziergänger und der Fluchtweg Carmens. Im dritten Akt ragen dann viele Leitern aus der Schlucht hinaus himmelwärts, und im vierten Akt schließlich lässt sich die Regie von Adrian Noble die Chance entgehen, die drei Ebenen für einen glanzvollen Aufzug der am Stierkampf Beteiligten zu nutzen, stattdessen wird wie wild ins Publikum hinein gewinkt. Insgesamt wirkt die Szene bräunlich vergilbt wie ein altes Bild, es wird duster, wenn es schicksalsträchtig wie beim Blumenwurf wird, Rotlicht herrscht bei Lillas Pastia vor, Blau in der Schlucht, im vierten Akt sollen viele Fahnen für eine angemessene Atmosphäre sorgen. Personenregie findet in bescheidenem Maße statt, nur die Auseinandersetzung zwischen Don José und Escamillo lässt den Zuschauer ahnen, dass er sich im Land der Mantel- und Degenfilme befindet.

John Eliot Gardiner, nach der Pause hemdsärmelig auftretend, setzt mit  dem Orchestre Révolutionnaire et Romatique auf das Filigrane, beiläufig, aber straff Wirkende der Partitur, versucht nie zu überwältigen, selbst der rasante Beginn besticht eher durch Klar- als durch Grellheit. Eine ungetrübte akustische Freude sind die Chöre (Monteverdi Choir und Maitrise des Hauts-de-Seine).

Allround-Sängerin Anna Caterina Antonacci, die sich nie eindeutig zwischen Sopran- und Mezzopartien entscheiden mochte, ist eine beeindruckende Carmen, nicht aufs Exotische oder Verruchte setzend, es gibt weder Hüfteschwenken  noch sinnliches Gurren, aber wenn sie sich ein Zigarillo am nackten Oberschenkel rollt oder stoisch im Kartenterzett ihren nahen Tod voraussieht,  dann ist sie eine Carmen, eine herbe, persönlichkeitsstarke und von jedem Klischee weit entfernte. Vokal ist sie sopranlastig, singt die Habanera wie beiläufig, die Seguidilla dunkel getönt, aber nicht mit Mezzofülle, das Chanson des 2. Akts ohne Rücksicht auf Schöngesang.

Micaela ist Anne-Catherine Gillet mit frischem, klarem Sopran, der in der Höhe aufblühen kann und dies in der großen Arie auch berührend tut. Ihr inniger langer Kuss hätte eigentlich wirksamere Abwehrkräfte gegen die Verführungskünste Carmens aufbauen müssen, als es der Verlauf der Handlung vorsieht.

Einen nicht mehr und nicht weniger als soliden Don José singt Andrew Richards mit wenig einprägsamem Timbre, verdienstvollerweise auch mit feinen Pianissimi, von denen aber übergangslos ins Forte gewechselt wird, insgesamt recht dumpf klingend und die Blumenarie zwar wie von Bizet notiert, aber in der Höhe flach und ohne Glanz singend. Ein schmucker Escamillo ist Nicolas Cavallier, dessen Probleme beim Auftrittslied in der Tiefe liegen, der insgesamt aber gefallen kann. Die neben Carmen vier anderen Komponenten des Schmugglerquintetts bleiben vokal und darstellerisch unscheinbar, dort und im Kartenterzett hätte man sich mehr Prägnanz gewünscht. Ohne die das Ganze mehr noch als rollengerecht dominierende Carmen der Antonacci wäre die Aufnahme eine doch recht trübe Angelegenheit (Naxos 2.110685-86/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Alfred Kalnins‘ „Banuta“

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen. Und dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper sozialpolitische Funktion hat und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber vor allem Bestrebungen nach nationaler Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken zeitnah. Oft in Form der Verwendung von Folklore und/oder nationalem Liedgut, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen, auch in Ivan Zajcs Nicola Subic Zrinski, in dem zwar die Türken besiegt werden aber die Österreicher gemeint sind; gleiches gilt für Pavlo Carrers Marcos Botsaris oder Naumanns Gustav Wasa und natürlich auch Verdis Nabucco).

Anders als in z. B. Carl Maria von Webers Freischütz, der nicht bekanntes Volksgut verwendet, sondern Eigenes in der Nähe des Volkstümlichen erfindet und es wie Langbekanntes klingen lässt, sind viele Opern aus vor allem Süd- und Osteuropa angefüllt mit direkten Zitaten aus der musikalischen Folklore. Jede osteuropäische ethnische Minderheit beherbergt mindestens eine Oper, die als Banner des Nationalstolzes dient.

Alfreds Kalnins um 1920, Fotograf Mārtiņš Lapiņš./ Museum für Literatur und Musik.

Für die Letten ist es Alfreds Kalnins BanutaBanuta ist eine dreistündige Mischung aus Fakten und Mythen aus dem 13. Jahrhundert in vier Akten. Die Protagonisten sind mutig und blutrünstig, die Liebenden aus ihrer Welt entrückt. Und das kriegerische Volk reckt die Fäuste gegen die Unterdrücker – das kennt man aus vielen osteuropäischen Opern der Übergangszeit ins Eigene, von Zajc zu Parma oder Fibich. Banuta wurde 1920 uraufgeführt, und Kalnins lebte bis 1951. Das Quelle der Musik liegt jedoch bei Smetana, Dvorak und Wagner; und nach Kalnins klarem Sinn für Orchestertextur zu urteilen, war es eine slawische Welt, in der er sehr zu Hause war.

Die Musik ist in der Tat trittsicher und stets angenehm, aber man sehnt sich nach einfallsreichen Wendungen und herausfordernden Überraschungen, um die langen Strecken milden Plätscherns zu unterbrechen. Aber es gibt einige – zum Beispiel am Ende der Bestattungsszene oder in den kirchenritualen Feierlichkeiten der Mittsommernacht.

Während Italien und Frankreich sich einer Opern­tradition von fast 400 Jahren erfreuen können, ist Lettlands musikalische Erbschaft hauptsächlich der an die 2000 Jahre alten mündlichen Volkslied­-Tradition verbunden, die nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Hauptstrom west­europäischer Musikentwicklung verfloss. Kein Wunder, dass im Jahr 1920, als die Unabhängig­keit des jungen Staats kaum gewonnen war, Lett­land noch nicht für eine Originaloper bereit war. und Banuta, die nicht der damals allgemein üblichen Verismo-Tradition entsprach, mit einiger Zurückhaltung empfing.

Heute hat sie einen bedeutenden Platz im Repertoire der Lettischen Nationaloper Riga. So war 2020 eine bislang letzte Aufführung in Riga geplant, der die Pandemie dazwischenkam, auch vorher finden sind immer wieder Aufführungen im Heimatland, während auswärtige eher schwer zu finden sind. Daher war die von mir 1984 in Münster erlebte und konzertante Version für ein Kennenlernen im europäischen Raum so bedeutend. Letten aus allen Teilen des westlichen Europas kamen in Scharen.

Uraufführung der „Banuta“ 1920 in Riga, Solisten und Mitwirkende nach der Premiere/Lettische Nationaloper. 28.05.1920 Fotograf Aleksandrs Mednis. Quelle Museum für Literatur und Musik

Kalnins war In Lettland vornehmst als Organist und Kom­ponist lyrischer Lieder bekannt und hatte bisher keine Neigung zur dramatischen Bühne kund­gegeben. Darum ist seine Banuta von 1920 – mehr noch als sein späterer Hamlet – umso mehr bedeutend für ihren dramatischen Inhalt, für ihren Schwung und ihr vollkommenes Beherrschen der Kompositionstechniken. Obwohl Kalnins Volksmelodien benutzt, beson­ders um im 3. Akt das heidnische Mittsommernachts-Ritual hervorzuheben, ist Banuta keine Volksoper im Sinne des Freischütz oder der Verkauften Braut. Sie ist eher dem Genre des romantischen Musikdramas zuzuordnen. Kal­nins verwendet eine gemäßigte Leitmotivtechnik, aber nicht im gleichen Maß wie Wagner. Er verlässt sich auf seine musikalische Erfindungskraft, um Frag­mente des Dramas durch lebhafte symphonische Episoden und mehrere Motive, die in verschiede­nen thematischen Modifizierungen die Oper durch­ziehen, miteinander zu verbinden. Rezitative ahmen weder die italienische „seccco“-Formel nach, noch spiegeln sie Wagners Methode wider, bei der die Stimme eine untergeordnete Stelle zum Orchester einnimmt. In Banuta hat die Stimmenführung einen lyrisch deklamatorischen Charakter. Es gibt nur wenige abgeschlossene Arien, und die Musik fließt sozusagen in einem ungebrochenen, durchkomponierten Atem dahin. Nicht ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Nationalkopern wirkt in Banuta das sehr häufige Auftreten des Chors durch das ganze Werk hindurch. Wie im griechischen Drama erläutert er die Handlung und kommentiert die Protagonisten. Abgesehen von den heldenhaften bzw. leidenschaftlichen Passagen zwischen den Protagonisten ist dies eine Oper, die – wie bereits gesagt – den Chor ausgiebig nutzt, ähnlich wie Boughtons  Queen of Cornwall und Alkestis. Hier liefert der Chor die Volks-Szenen und Kommentare – so wie Mussorgskys Chöre in Kovantschina für das unterdrückte russische Volk sprechen.

„Banuta“/ Uraufführung 1920 an der Nationalen Oper Riga/ Nationale Enzyklopädie

In Lettland hat Banuta viele Regierungen über­lebt, und wie bei Verdis Ballo in maschera hat die die jeweilige Zensur (namentlich in Sowjet-Zeiten) Textveränderungen angeordnet, um den derzeitigen Wünschen jeder Regierung zu entsrechen. Für eine Aufführung im Jahr 1937 musste Kalnins einen Teil der Musik um­schreiben und die ersten zwei Akte umorchestrieren. Zu Beginn der Sowjetbesetzung von Lett­land im Jahr 1940 wurde ein neues, der Sowjetideologie entsprechendes Finale verlangt. Diese Version, mit einem „happy end“ durch die barock­artige Einbeziehung eines „deus ex machina“, wurde bis 1979 verwendet. Spätere Aufführungen in Riga kehrten zum originalen tragischen Finale zurück, aber das Libretto enthält noch immer viele zensurbedingte Änderungen. Für die Konzert­aufführung des Lettischen Chores von New York und der Philharmonia Hungarica in Münster 1984 wurde der Originaltext vom Manuskript des Kom­ponisten verwendet.

Die Erstaufführung der Banuta in den USA fand am 5. 6. 1982 in der Carnegie Hall in New York statt, wieder mit dem Lettischen Chor von New York und dem Bronx Arts Orchestra unter dem Dirigent Andrejs Jansons.

Die Handlung folgt einer tragischen Vorlage, die Romeo und Julia aufgreift. Banuta ist eine gefangene Prinzessin und wird von Prinz Daumants nach Lettland zurückgebracht. Sie soll mit ihm gegen ihren Willen verheiratet werden. Daumants wird von Vizuts, dem Bruder von Yargala, getötet, die von Daumants vergewaltigt worden war, als sie sein Heiratsangebot ablehnte. Banuta verliebt sich in Vizuts und erst als die beiden in Akt 4 ihre gegenseitige Liebe erklären, gesteht Vizuts, Daumants getötet zu haben. Von Schuld und Trauer verfolgt, begehen die beiden Selbstmord, indem sie sich gegenseitig erstechen.

„Banuta“: Maralin Niska sang 1982 in New York und 1984 in Münster die Titelpartie/ oberon´s grove

Es ist dies eine eindrucksvolle große Oper, die die ganze Bandbreite der dramatischen Ereignisse abdeckt und die üblichen Anstrengungen des Zuschauers in puncto Logik der Handlung erfordert. Dafür erlebt man das ganze Arsenal an bewährten Opernelementen:  eine glückliche Heimkehr, Triumphszenen (besonders in Akt 1), natürlich auch den bühnenwirksamen Mord, einen Liebesverbots-Eid, Mittsommer-Capricen à la Smetana, Liebesduette, ein in letzter Minute abgewendetes Menschenopfer – komplett mit Druiden, Wald-Intermezzi, Morgengrauen nebst Vogelgezwitscher (in Akt 4) – und einem gut vorbereiteten, effektvollen Liebestod der beiden Protagonisten.

Es gibt auch atmosphärische Ähnlichkeiten zu Bantocks Omar Khayyam. Die meditative Orchestestimmung nähert sich durchaus an oft Mussorgskys Morgendämmerung an der Newa und Dvoraks Neuer Welt in deren langsamen Passagen an. Der letzte Akt enthält extrem lyrische Musik, die an Fibich erinnert. Tatsächlich könnte diese Oper leicht ein modernes Gegenstück zur Braut von Messina und Sarka von Fibich sein oder zu Madetojas Juha oder Peterson-Bergers Arnljot sein. In Akt 3 greift Kalnins Volkstanz-Traditionen auf, wie sie von Dvorak und Smetana in der Tschechei und Ludolf Nielsen in Dänemark verwendet wurde (und in Erinnerung bleibt auch die Kompositionstechnik des Slowenen Viktor Parma von 1917) – Folklore als Medium der Erweckung eines nationalen Erbes. Oper als Instrument der nationalen Selbstfindung junger Staaten während und nach der Fremdherrschaft: ein bekanntes Phänomen, wie man es in den anderen ehemaligen Sowjet-Trabanten-Staaten findet.  Jörg Graepel/ aktualisiert Geerd Heinsen

„Banuta“: Peteris Gravelis singt auf der CD-Aufnahme den Prinzen Daumants/ Wikipedia

Verbreitung: Nach der Uraufführung auf ein Libretto von Artūrs Krūmiņš am 29. Mai 1920 in Riga wurde Banuta  in Lettland in verschiedenen Bearbeitungen immer wieder gegeben, während das Ausland sie kaum erlebte. 1984 wurde sie im Konzert in Münster gespielt, vorher, 1982, gab es die amerikanische Erstaufführung in der Cargenie Hall von New York, beide unter Andrejs Jansons, mit der amerikanisch-lettischen Sopranistin Maralin Niska in der Titelpartie (mit der wir bereits 2016 ein Interview anlässlich ihres Todes veröffentlichten). Bis heute sind nicht viele Aufführungen bekannt, ein Konzert zum 100 Geburtstag der Oper  2020 in Riga fand nicht statt („In einer Zeit, in der die lettische Kultur und das öffentliche Leben von der durch Covid-19 verursachten Krise überwältigt sind, dem 100. Jahrestag der Oper Baņuta zum 152. Jahrestag der Rigaer Lettischen Gesellschaft und dem 102. Jahrestag der Proklamation der Republik Lettland im November 18, 2020 ist sowohl eine Bestätigung als auch die Kontinuität der ältesten lettischen Organisation – der Rigaer Lettischen Gesellschaft – auch eine moderne Erinnerung an ihre turbulente Zeit vor 100 Jahren – das Frühjahr 1920, als der lettische Staat wuchs und Schwierigkeiten überwand, wenn seine eigenen Das lettische nationale Original wurde zum ersten Mal inszeniert „, äußerten Vertreter der Rigaer Lettischen Gesellschaft“)

Es gibt eine Aufnahme aus Lettland  als CDs 1996 erschienen ist: Aleksandrs Vilumanmis dirigiert den Chor und das Orchester des Lettischen Rundfunks mit Regina Frinberge, Aleksanbdrs Daskovs, Peteris Gravelis und Karlis Zarins in den Hauptrollen (RIGAS SKANU RS010 [CD1 75.06; CD2 75.41]); bei youtube gibt es eine Art von Querschnitt der Uraufführungsbesetzung; bei Sammlern findet man den Mitschnitt des Münsteraner Konzertes von 1984. Geerd Heinsen

.

.

„Banuta“: Regina Frinberga singt die Titelrolle auf der CD-Aufnahme/ Wikipedia

Zum New Yorker Konzert schrieb die New York Times: In dieser Konzertfassung wurde keine visuelle Dramatik angestrebt, abgesehen vielleicht von den ethnischen Kostümen der Frauen. Algis Grigas, Bassbariton, sang mit einer gewissen Souveränität, hatte aber den Nachteil, sowohl den Vater als auch den Sohn zu spielen – und beschränkte sich oft auf musikalische Konversation. Maralin Niska marschierte unerbittlich durch die kämpferische Titelrolle, schwankte etwas in ihrem unteren Register und attackierte Kalnins‘ manchmal übermäßig anspruchsvolle hohe Töne mit einem durchdringend weißen Ton. Frau Niska überwältigte ihren romantischen Partner William Hall, dessen Tenor blutleer und kaum hörbar war, geradezu. Ilga Zenta Paups, Visvaldis Gedulis, Karlis Grinbergs und Peteris Lielzuika teilten sich die anderen Männerrollen. (8. Juni 1982, Abschnitt C, Seite 12 der nationalen Ausgabe mit der Schlagzeile: OPERA: LETTISCHE ‚BANUTA‘)/DeepL

.

Noch ein Wort zum Komponisten: Alfrēds Kalniņš (* 11. August 1879 in Cēsis; † 23. Dezember 1951 in Riga). Alfrēds Kalniņš studierte am Sankt Petersburger Konservatorium. Von 1903 bis 1911 war er Organist und Musiklehrer in Pärnu, danach bis 1915 in Liepāja, bis 1918 in Tartu und schließlich in Riga. Zwischen 1927 und 1933 lebte er in New York. Nach seiner Rückkehr wurde er Dom-Organist in Riga.[1] Von 1944 bis 1948 leitete er das Konservatorium der Stadt. Er komponierte zwei Opern, ein Ballett, eine Orchestersuite, sechs Kantaten, Chormusik, Orgel- und Klavierstücke. Am bekanntesten wurde seine Oper in vier Akten, Baņuta (1920), die als erste national-lettische Oper gilt. Auch sein Sohn Jānis Kalniņš wurde als Komponist bekannt (Hamlet ist eine Oper von ihm).

Obwohl die Familie Deutsch sprach, lernte A. Kalniņš als Kind auch Lettisch im Kontakt mit seiner Umgebung. Er wurde jedoch an deutsche Schulen geschickt. (…)  1894 zog die Familie nach Sigulda und A. Kalniņš trat in die private Rigaer Schule für Klangkunst ein, wo er bei dem schwedischen Pianisten Bror Mellersten Klavier studierte und Opernaufführungen besuchte. Noch wichtiger war der Privatunterricht im Orgelspiel beim Komponisten Oskars Šepskis, einem Sammler von Volksliedern in Kurzeme, dessen Heimatbibliothek auch zeitgenössische Orgelmusik aufführte.

„Banuta“: Karelis Miesniks als Krivukriva in einer Produktion aus den 70ern/ Wikipedia

Die Freundschaft mit lettischen Kunststudenten wurde während des vierjährigen Orgelspiels am St. Petersburger Konservatorium fortgesetzt, wo A. Kalniņš nach seinen eigenen Worten die Malausstellungen noch stärker beeinflusst hat als die Eindrücke von Oper und Konzerten.  Nachdem A. Kalniņš die Orgelspielprüfung bestanden hatte, verließ er nach dem vierten Studienjahr (1901) das Konservatorium ohne Abschluss.

  1. Kalniņš fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine dauerhafte Arbeit im Musikleben von Riga, schrieb jedoch das erste Dutzend Sololieder. Diese und andere wurden bei Konzerten lettischer Solisten mit A. Kalniņš am Klavier populär. Auf der Suche nach Arbeit ließ er sich acht Jahre lang (1903–1911) in Pärnu (Estland) nieder, wo er Gesangslehrer in Turnhallen, Chorleiter, Kirchen- und Konzertorganist war und dauerhafte Kompositionen seiner Jugend. Er erhielt positive Rezensionen in deutschen Musikzeitschriften, die die nationale Originalität der Musik, malerische Texte mit einer reichen und engen Skala von Emotionen, aber reich an Nuancen, feststellten.

Er übernahm die Organistenposition der St. Anna-Kirche und ging (1911) nach Liepāja. Dort dirigierte er die Chöre der Liepāja Musik- und Gesangsvereinigung, organisierte thematische Konzerte und brachte die Musik beider Teile der lettischen und deutschsprachigen Gesellschaft näher zusammen. Außerdem schrieb er den ersten Akt der Oper Indulis und Aria, aber wegen des den Ersten Weltkriegs wurde die Oper nicht abgeschlossen.

Der Krieg erzwang die Flucht im Frühjahr 1915 zunächst nach Sigulda, im Herbst nach Tartu (heute Tartu). Von dort aus unternahm A. Kalniņš viele Konzertreisen mit lettischen Solisten, auch zu Flüchtlingszentren in Russland. Das Thema der Liebe zur Heimat, das sich bisher in den Darstellungen von Natur und Epos manifestiert hat, hatte sich nun auf die Leidens- und Protesttexte kriegsgeschädigter Menschen konzentriert. Nach der Februarrevolution, erschien das bislang dramatischste Werk von A. Kalniņš – die Vokalsinfonie Pastardiena (Rainis) sowie die „Lettische Hymne – 1917“ mit den Worten von V. Plūdonis („Wer möchte Herren in unserer Heimat sein “).

„Banuta“: Besetzungszettel für die Uraufführung 1920/ Nationale Enzyklopädie

Als Tērbata im Frühjahr 1918 ebenfalls unter deutsche Besatzung geriet, kehrten A. Kalniņš und seine Familie in das zuvor besetzte Liepāja zurück. Dort erschien in den Herbstmonaten 1918 ein Entwurf der ersten lettischen Oper Baņuta. Im Juni 1919. Das symphonische Gedicht „Lettland“ wurde ebenfalls fertiggestellt – mit einer Widmung an das erste Kabinett des unabhängigen Staates. Im Herbst 1919 ging A. Kalniņš mit seiner Familie nach Riga, nachdem er eine Einladung erhalten hatte, Leiter der Musikabteilung in der Kunstabteilung des Bildungsministeriums zu werden. Zu Beginn des deutschen Angriffs blieben die Notenbündel der einzigen Kopie von Baņuta mehrere Wochen lang unbeaufsichtigt auf einem Schiff, das auf See Patrouille fuhr. Die Uraufführung dieser Oper am 20. Mai 1920. gilt als Geburtstag der lettischen Oper.

Kalniņš verließ bald die Position eines Beamten (1921), weil er viele negative Verwerfungen in der Kultur- und Wirtschaftspolitik des neuen Staates. Andererseits gab er regelmäßig Orgelkonzerte und organisierte jährliche sogenannte Neuheitsabende, an denen in wenigen Jahren (1921–1924) erstmals rund 100 neue Sololieder aufgeführt wurden. Seine Oper Salinieki (Uraufführung an der Nationaloper im Jahr 1926) stammt aus dieser Zeit.

Andrejs Jansons dirigiert „Banuta“ 1982 in der New Yorker Carnegie Hall/ jauagaita.net

Als die Arbeitsbedingungen in Riga für A. Kalniņš zu eng wurden, wanderte er aus und verbrachte sechs Jahre in New York (1927–1933), wo er als Chorleiter, Organist, Lehrer und Komponist. Allerdings fühlte er sich auch dort nicht kreativ zufrieden, nahm die Einladung an, Organist in der Kathedrale von Riga zu werden und wöchentliche Orgelmusikkonzerte im lettischen Radio zu geben (bis 1945). Nach seiner Rückkehr nach Riga erhielt A. Kalnins unerwartete Auszeichnungen. Er führte neue Produktionen seiner überarbeiteten Oper Salinieki (1933 mit dem Titel „Erneuerung des Vaterlandes“) sowie Baņuta (1937) auf. Während der sowjetischen Besatzung musste A. Kalniņš das vom Moskau geforderte Happy-end neu gestalten, als die Oper für das – für 1941 – geplante „Jahrzehnt der lettischen Kunst“ in Moskau vorbereitet wurde. Während des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung durch die Nazis arbeitete A. Kalniņš als Musikinspektor in der Abteilung für Kunsterziehung der Generaldirektion Bildung und Kultur und komponierte das Ballett Staburadze (Uraufführung 1943).

Nach der zweiten sowjetischen Besetzung von Riga (1944) übernahm A. Kalniņš bis 1948 die Aufgaben des Rektors des Lettischen Staatlichen Konservatoriums, und verließ diesen Posten aus Protest gegen die Auflagen der sowjetischen Kulturpolitik.

Die Kreativität von A. Kalniņš umspannt fast das gesamte 20. Jahrhundert. Die erste Hälfte war eine der vielfältigsten und mit fast 900 Kompositionen eine der reichsten. Ein wesentlicher Teil davon befindet sich noch im heute im lettischen Musikleben. Die Oper Banuta hat seit ihrer Uraufführung 1920 acht Aufführungen in Riga und zwei Konzertauftritte im Ausland erlebt. Fast alle 270 Sololieder wurden in mehreren Konzertzyklen und bis heute gespielt.

In Bezug auf Ästhetik und Stil zeigte A. Kalniņšs Werk eine nationale Besonderheit der Musik, die nicht mehr auf dem Epos der Antike und dem Bewusstsein der patriarchalischen Gemeinschaft beruhte, sondern zum ersten Mal in der lettischen Musik so lebendig war wie ein individuell gefundenes Subjekt lyrisches Gefühl. Stilistisch wurde dies nicht durch das Zitieren von Volksliedern sichergestellt, sondern durch die Auswahl bestimmter Elemente der Volksmusik, der Einflüsse der lettischen Poesiepoetik und exquisiter Harmonien der Spätromantik.

Der zweitwichtigste Beitrag von A. Kalniņš ist die Synthese des musikalischen Ausdrucks mit einer malerischen, wie szenischen Musikzeichnung, die den Eindruck von Musik als Poesie des Klangs erweckt. Das Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung in seiner Musik ähnelt der Verschmelzung von Sinnlichkeit und Dekorativismus in flexiblen Jugendstillinien.

Diese bemerkenswert malerisch orientierte Klangpoesie waren die Merkmale, die A. Kalniņš bereits bei seinen großen Vorgängern und Zeitgenossen Andrejs Jurjāns , Jāzeps Vītols und Emīls Melngailis als eine andere Individualität auszeichnetenMitten in E. Dārziņš in der lettischen Musik gefunden hatte. Diese Merkmale, die in seiner Jugend besonders aktuell waren, wurden im Laufe der Zeit durch dramatische Ausdrucksformen, breitere Musikformen und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ergänzt – mit Merkmalen des expressionistischen Stils, der A. Kalniņš zu einem hellen Innovator der lettischen Musik von machte die Ära. Die bewusste Intellektualisierung und der Konstruktivismus der Musik sind auch in der Kreativität der Jahre der Auswanderung zu spüren, die am Abend des Lebens erneut durch die Dominanz malerischer Texte ersetzt wurde.  (G. H:/ Quelle https://enciklopedija.lv/skirklis/32645/ Übersetzung google/ zur wechselhaften politischen Geschichte Lettlands s. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Lettland)

.

„Banuta“: das Nationale Opernhaus Riga vom Architelten L. Bonstets, nach der Renovierung 1995/ Wikipedia

Alfred Kalnins: Banuta; Uraufführung am 29. Mai 1 920 in Riga.; Banuta — Sopran, Daumants – Baß-Bariton, Val- gudis — Bass-Bariton, Vizuts – Tenor, Maiga – Mezzosopran, Zvantevaitis Bariton, Zauberer Tenor, A Iter Mann — Tenor; Zeit, Ort: 14. Jahrhundert, Lettland

Inhalt: 1. Akt: Auf dem Schloß von König Valgudis wird der Königssohn Daumants begrüßt, der von seiner langen Reise eine Braut mitgebracht hat, Banuta, von der sich Valgudis eine Fortsetzung seines Geschlechts erhofft. Banuta erzählt, wie Daumants ihr Leben und ihre Ehre gerettet hat, als ihre Heimat von fremden Eindringlingen über­fallen wurde. Die Hochzeitsfeier wird von bösen Omen überschattet, die Tod verkünden und Daumants daran erinnern, dass er sich einst an der schönen Jargala vergangen hat, nachdem sie sei­nen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Verstört schickt er Banuta und die Gäste fort und bleibt allein mit seinen quälenden Erinnerungen. Jargalas Bruder Vizuts ist es gelungen, heimlich in das Schloss einzudringen, um seine Schwester zu rächen. Die beiden Männer geraten aneinander: Im Zweikampf unterliegt Daumants und wird von Vizuts getötet.

2. Akt: Banuta und Daumants Schwester Maiga trauern an Daumants Sarg. Das Volk versammelt sich, um Abschied von dem Königssohn zu neh­men. Zvantcvaitis macht den Zauberer, der die Omen gedeutet hatte, für Daumants Tod verant­wortlich und will ihn zusammen mit Daumants Leichnam den Flammen übergeben. Um sich zu retten, gibt der Zauberer aber vor, den Geist des Verstorbenen zu beschwören, der Banuta schuldig spräche; auch der verbitterte König Valgudis wirft Banu­ta vor, Tod in sein Haus gebracht zu haben. An­stelle des Zauberers soll nun Banuta in die Flam­men gehen. Als sich jedoch der Trauerzug in Be­wegung setzt, fällt das Schild Daumants Banuta so vor die Füße, daß ihr der Weg zum Scheiter­haufen versperrt wird: ein Zeichen, dass Dau­mants sie nicht beschuldigt. Der König läßt daraufhin Banuta feierlich schwören, solange nieman­den zu lieben, bis Daumants Tod gerächt sei.

„Banuta“: Sonderbriefmarke zum 100. Gedenktag der Uraufführung 1920

3. Akt: Mittsommernacht. Alle feiern – bis auf Banuta. In der Menge bemerkt sie einen jungen Mann, der eine rote Rose auf den Opferaltar legt. Der Glaube besagt, dass das Mäd­chen, das die Blume dort aufhebt, seine Braut werden wird. Banuta nimmt die Rose und klagt darüber, dass es ihr Eid verbiete, erneut zu lieben. Ein Priester hört die Klage und erlöst sie von dem Eid. Schließlich ruft der Hohepriester alle auf, dem Gott des Donners Opfer darzubringen. Vizuts erkennt seine Rose in Banutas Haar und gesteht ihr seine leidenschaftliche Liebe, die sie erwidert.

4. Akt: Später am Abend erscheinen Banuta und Vizuts auf einer Lichtung im Heiligen Hain; sie versichern sich ihre Liebe. Bald erklingen die Trompeten, die Mitternacht ankündigen. Banuta vertraut nun Vizuts ihr Geheimnis an. Erst jetzt erkennt er, dass sie Daumants Braut war, und Vizuts ge­steht, dass er derjenige sei, der Daumants getötet habe. Beide ziehen es vor, gemeinsam in den Tod zu gehen, um nicht getrennt weiterleben zu müs­sen; sie erstechen sich mit Banutas Dolch. Das Volk, das auf die Lichtung strebt, um die auf­gehende Sonne zu begrüßen, findet die toten Lie­benden und bittet die Götter, ihnen ewigen Frie­den zu gewähren. (Quelle Programmheft zur Aufführung in Münster 1984)

Auch für diesen Artikel gibt es – ähnlich wie bei dem über Viktor Parmas Oper Zlatarog – viele Väter, namentlich die Nacionala enciklopedija Lettland, die lettische Wikipedia und zahlreiche andere wie Zeitschriften-Archive etc., die alle waren naturgemäß in lettischer Sprache, daher der google-Übersetzer, der für europäische Sprachen erstaunlich gut funktioniert. Foto oben Sonderbriefmarke zum 100. Jubiläum der Erstaufführung von Banuta in Lettland.G. H.

Die kleinen Dinge versteckt

 

Ein neues Italienische Liederbuch von Hugo Wolf ist bei Spektral erschienen. Es singen Anke Vondung und Werner Güra, am Klavier begleitet von Christoph Berner (SRL4-20182). Wer sich diesem Werk – ob im Studio oder live – zuwendet, trifft auf harte Konkurrenz. Es herrscht überhaupt kein Mangel an Aufnahmen. Einzelne Titel gelangten schon vor neunzig Jahren auf Schellack. Damals begann der britische Musikproduzent Walter Legge damit, vorsichtig den Plattenmarktwert des Komponisten zu erkunden. The Hugo Wolf Society nannte sich die Sammlung von Alben für einen erlesenen Käuferkreis, die nach und nach als Subskription veröffentlicht wurden. Sie haben sich bis in die Gegenwart erhalten und waren zuletzt noch bei der EMI herausgegeben worden. Ohne Legge, der von Wolf besessen war und prophetisch für ihn kämpfte, dürfte das Werk dieses Komponisten, das hauptsächlich aus Liedern besteht, nicht seinen verdienten Platz im internationalen Kunstbetrieb gefunden haben. In besagte Edition ist der Zyklus nicht komplett eingegangen. Von den 46 Liedern wurden nur achtzehn berücksichtigt. Als Solisten waren unter anderen Elena Gerhardt, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis gewonnen worden. Der Pianist Michael Raucheisen bedachte Wolf in seiner legendären Liededition beim Reichsrundfunk in Berlin mit einem beträchtlichen Kapitel.

Vollständig ist das Liederbuch erst relativ spät entdeckt worden. Bei den Salzburger Festspielen im Heimatland des Österreichers Hugo Wolf, wagten 1958 Irmgard Seefried und Dietrich Fischer- Dieskau die erste Aufführungen. Edith Mathis und Peter Schreier folgten 1976 nach. Dann dauerte es fast vier Jahrzehnte, dass Diana Damrau und Jonas Kaufmann 2018 mit dem Liederbuch gastierten. Plattenfirmen waren tüchtiger. Nachdem Elisabeth Schwarzkopf und Fischer-Dieskau 1959 unter der Obhut von Legge das Liederbuch in London eingespielt hatten, das bis heute Referenzstatus hat, ging es Schlag auf Schlag. Inzwischen haben sich an die zwanzig Aufnahmen angesammelt, die mit einigen Mühen alle noch zu haben sind – Erna Berger und Hermann Prey (Vox) sind darunter, Ileana Cotrubas und Thomas Allen (Enchant), Janet Baker und John Shirley-Quirk (ICA Classics),Elly Ameling und Tom Krause (CBS), Julia Kleiter und Christoph Pregardien (Challenge), Barbara Bonney und Hákan Hagegard (Teldec), Christiana Oelze und Hans Peter Blochwitz (Edel Records), Ruth Ziesak und Andreas Schmidt (RCA), Soile Isokoski und Bo Skovhus (Ondine) sowie bei Deutsche Grammophon Christa Ludwig und Fischer-Dieskau, der – wen wundert’s – am häufigsten auf Besetzungszetteln genannt wird.

Wer angesichts dieser Fülle nicht übersehen werden will, muss einiges zu bieten haben. Anke Vondung und Werner Güra haben es durchaus. Gemeinsam mit ihrem Pianisten verlassen sie die vom Komponisten gewollte Reihenfolge der Lieder. Nicht die „kleinen Dinge“, die uns auch entzücken können, stehen am Beginn. Los geht’s es mit „Ein Ständen, euch zu bringen“. Dieses Lied rutscht von der letzten Stelle des ersten Teils an den Anfang und macht dort als Entree durchaus Sinn. Lediglich sechs Lieder – und zwar die Nummer 27 sowie die letzten fünf behalten ihre angestammten Plätze. „Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen“ ist als Rausschmeißer unangefochten. Versöhnlicher kann das Liederbuch gar nicht ausklingen. Grund für die neue Reihung ist der Versuch, der Sammlung einen vor allem an den Texten orientierten Zusammenhalt zu geben. „In zahlreichen Konzerten erprobt, soll sie den dramaturgischen Bogen, das aufeinander Zugehen und sich im Streit wieder voneinander Abwenden der beiden Liebenden noch schärfen – und damit das theatralische Element, das in den 46 Mini-Dramen steckt, verdeutlichen“, so Pianist Berner im Booklet. Bei der Arbeit habe man sich die Kulisse eines toskanischen Städtchens ausgemalt. Auch dort entfalteten „Gegensätze ihr kreatives Potenzial“. Die Muttersprachlichkeit beider Solisten garantiert ein hohes Maß an Wortverständlichkeit. Anke Vondung und Werner Güra kosten die Texte aus, indem sie deren lyrisches Potenzial genauso erkunden wie die freche Ironie. Sie werfen sich die Bälle nur so zu, dass es eine Freude ist, ihnen zuzuhören. Sie treten als ein Paar in Erscheinung, das seine Erfahrungen gesammelt hat, das also weiß, wovon es redet, worüber es sich streitet und warum es sich wieder versöhnt. Die kurzen anonymen Gedichte hatte Paul Heyse (1830-1914) auf dem toskanischen Dialekt ins Deutsche übertragen. Heyse, der als erster Deutscher den Literaturnobelpreis erhielt, hatte Italien für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts neu entdeckt. Es galt nach eigenem Bekunden als sein zweites Vaterland. Er war in seiner Zeit ungemein populär, und seine Bücher und Übersetzungen fehlten in keinem Bücherschrank. Rüdiger Winter

Aus Wiener Schatztruhen

 

Die Opern des österreichischen Barockkomponisten Johann Joseph Fux (1660 – 1741) sind heute nahezu vergessen. Einzig als Schöpfer sakraler und instrumentaler Werke ist der Musiker, der ab 1698 bis zu seinem Tod als Wiener Hofkomponist tätig war, noch bekannt. Umso verdienstvoller ist die Initiative von PAN CASSICS, mit einem Recital (aufgenommen im September 2020 im österreichischen Stift St. Florian) an das musikdramatische Schaffen des Tonsetzers zu erinnern. Am Wiener Hof dominierte er neben Bononcini, Ariosti und Caldara das Musikleben, seine Arien wurden von legendären Primadonnen (wie Maria Landini-Conti, Kunigunda Sutter, Regina Schoonians, Faustina Bordoni, Ursula Theresia Holzhauser) gesungen. Neun Sopranarien aus Opern und Oratorien sind auf dem neuen Album, das mit  Arias for the Emperor betitelt ist, versammelt (PC 10425). Interpretiert werden sie von Maria Ladurner, einer auf Alte Musik spezialisierten Sängerin. die das Biber Consort begleitet. Das neunköpfige Ensemble hat in der einleitenden Sinfonia aus Giunone placata (1725) Gelegenheit für differenziertes Musizieren zwischen Lyrismen und Affekten. In der Arie der Emilia, „Sì, vendetta io voglio far“, aus Julo Ascanio, der ersten erhaltenen Oper von Fux (1708), kann es mit dramatisch erregten Figuren aufwarten, welche die Gefühle der zwischen Hass und Liebe gespaltenen Heldin widerspiegeln. Und die Solistin der CD vermag mit expressiver Gestaltung und fast veristischen Einwürfen ein plastisches Profil der Figur zu umreißen. Die historische Interpretin dieser Partie, Kunigunda Sutter von Rosenfeldt, war 17 Jahre am Wiener Hof tätig und wirkte im Uraufführungsjahr von Julo Ascanio in sieben weiteren Fux-Produktionen mit, darunter in der Pastorale Eroico von 1710 La decima Fatica d’Ercole, aus dem die wehmütige Arie der Clori „Qual’ il sol in prato“ erklingt. Bemerkenswert ist, dass der Komponist dafür erstmals eine Besetzung für die Instrumente Chalumeau und Theorbe vorschrieb. In einem Primadonnenwettstreit traf die Sutter hier auf Maria Landini-Conti, die in allen Opern von Fux auftrat. Sie wiederum musste sich in Dafne in Lauro (1714) mit Regina Schoonians messen, die von 1717 bis 1740 am Wiener Hof angestellt war und in insgesamt zehn Bühnenwerken von Fux  mitwirkte. Daraus ist die Arie der Diana, „Il voler vincer Amore“, zu hören, die im französischen Stil komponiert ist und Dianas Botschaft an Apollo enthält, sich von seiner Liebe zu Dafne zu befreien. Mit klarer, obertonreicher Stimme vermittelt die Solistin eindringlich diese Botschaft. Eine von der Landini kreierte Partie ist die Titelheldin in Orfeo ed Euridice (1715), aus der „Rondinella, che tal volta“ ertönt – eine Gleichnisarie, die den flatternden Flug der Schwalben nachahmt. Die Sängerin kann hier mit brillanten Koloraturen ihr virtuoses Vermögen beweisen. Die legendäre, 1725 noch junge Faustina Bordoni brachte die Titelfigur in Giunone placata zum Leben. Deren Arie „Io non potea soffrir“ verzichtet gänzlich auf virtuose Koloraturen, setzt dagegen auf inniges Gefühl. Mit entsprechend starker Empfindung und reicher Farbigkeit singt Ladurner dieses Stück.

Drei Beispiele aus Oratorien ergänzen die Auswahl. Das früheste stammt aus dem Jahre 1716 und trägt den malerischen Titel Il Fonte della Salute aperto dalla Grazia nel Calvario. Die allegorische Figur in diesem Stück, La Grazia, war wiederum der Schoonians anvertraut. Zu hören ist die Arie „Vedi, che il Redentor“, mit Chalumeau und Altposaune erneut ungewöhnlich besetzt. Die expressiven Ausrufe sind an den Sünder gerichtet, der seine Schuld bereuen soll. Das späteste Werk (von 1728) nennt sich La Deposizione dalla Croce di Gesù Cristo Salvator Nostro und wird hier mit der Arie der Maria Maddalena, „Caro mio Dio“, vorgestellt. Deren Seufzerfiguren symbolisieren die impulsive Hinwendung zu Gott, die Begleitung der Stimme nur mit Oberstimmen ohne Bass verleiht ihr eine überirdische Leichtigkeit. Ladurner findet in ihrem Vortrag zu Keuschheit und Entsagung. Als letzter Titel erklingt eine Arie der Santissima Vergine („Sì tempra il mio martir“) aus Il Testamento di nostro Signor Gesù Cristo sul Calvario. Auch hier finden sich flehende Ausrufe, die Begleitung für Solovioline und Basso continuo ist von asketischer Strenge. Ladurners Stimme in berührender Innigkeit und mit leuchtenden Obertönen setzt damit einen stimmungsvollen Schlussakkord.

Die Musikauswahl bietet ein eindrucksvolles Zeugnis von der Pracht des Wiener Musiklebens am Hofe der Kaiser Leopold I., Joseph I. und Karl VI. Letzterer wurde 1723 auch zum Kaiser von Böhmen gekrönt. Die aus diesem Anlass in Prag aufgeführte Festoper Costanza e Fortezza fehlt hier leider – sie wäre in ihrer Monumentalität ein interessanter Kontrast zu den vorgestellten Werken gewesen. Bernd Hoppe

 

Aktuell

 

Eher Kurze Geschichten von Opern als eine Kurze Geschichte der Oper in 35 BIldern sind die zweite Auflage von Hans-Klaus Jungheinrichs Opernführer, die der Autor nicht mehr selbst vollenden konnte. Vor zehn Jahren erschien das Werk unter dem Titel „Hohes C und tiefe Liebe“, hatte nicht den gewünschten und erhofften Erfolg und erscheint nun immerhin neu bearbeitet, mit zusätzlichen Kapiteln zu Henze und Rihm und einem aufschlussreichen Nachwort von Wolfgang Molkow.

Jeweils eine Oper wird in den einzelnen Kapiteln vorgestellt, wobei der Belcanto keine Rolle spielt, das 19.Jahrhundert  recht schnell verlasen wird mit nur einer Verdi- und einer Wagneroper, Slawisches mehr vertreten ist als Italienisches, Unbekanntes genauso häufig wie übermäßig Bekanntes.

Einleitend stellt der Verfasser fest, dass moderne Regie wie die von Neuenfels die Oper von dem Vorwurf befreit habe, sie beschäftige den Geist nicht angemessen, dass die Händelrenaissance erst im zweiten Anlauf glückte und durch Übertitel ein erheblicher Fortschritt erzielt worden sei.  Offensichtlich ist seine Position eine zwischen Profilneurotikern und Werktreue-Orthodoxen, er streift das Thema Homosexuelle als Opernpublikum oder die Optik als Hinwegtäuscher über stimmliche Mängel anhand von Felsensteininszenierungen und den vokalen Leistungen der Sopranistin Anja Silja. Seine 35 Lieblingsopern hat der Autor in das Buch aufgenommen, der sich in jeder Zeile seines Buchs als der Gattung leidenschaftlich zugetan erweist und der zu Recht betont, dass sein Buch keinen Opernführer ersetzen kann und nichts für unvorbereitete Leser ist. Und keinesfalls sollten diese darauf hoffen, sie könnten die Geschichte der Oper durch das Betrachten von Fotos erfahren. Davon gibt es kein einziges.

Über den einzelnen Kapiteln steht neben dem Titel der jeweiligen Oper entweder eine kurze Meinungsäußerung, ein Hinweis auf einen aktuellen Anlass oder ein bestimmtes Ereignis, das mit ihm zusammenhängt, als Einstimmung.

Nach dem Lesen der ersten Kapitel wird klar, dass im Mittelpunkt der Betrachtungen weniger die Musik als das Libretto, die Entstehungs- oder Rezeptionsgeschichte stehen, im Fall von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“  sogar die Entstehung der Gattung als solcher. Besetzungsfragen wie die Untersuchung der Formelemente, die Rolle der Götter in den frühen Werken werden anschaulich und unterhaltsam dargestellt.  Bei Glucks Orphée stehen generell der Orpheus-Mythos, der Begriff „Reformoper“ und Fragen der Tonartencharakterisierung im Vordergrund. Persönliche Kindheitserfahrungen fließen in die Ausführungen zur Zauberflöte ein, heutige Steine des Anstoßes wie Frauenfeindlichkeit- und das N-Wort war beim Erscheinen der Erstauflage wohl noch nicht der Verdammung anheimgefallen. Unterschiedliche Regieansätze  spielen eine Rolle und Hinweise wie der auf Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Wird das Kapitel über Fidelio zur Lobpreisung des schlichten Librettos, so das über die Meistersinger  zur Feststellung der Fatalität der C-Dur-Tonart.  Eher vage ist die Stellungnahme zum Schlussmonolog des Sachs, da versagt sich der Autor immerhin nicht dem allgemeinen Bedenkenäußern, ohne dass es heute mehr denn vor zehn Jahren nicht geht.

Kritisch wird es mit dem Übergang zu italienischen Opern, die der Verfasser nicht so gut kennt wie das sonstige Repertoire, denn sonst könnten folgende Irrtümer nicht Eingang in das Buch gefunden haben: Gilda im Rigoletto geht keinen „passiven Schmerzensweg“, sondern opfert sich sehr aktiv für den treulosen Duca, der Messner in Tosca wiegelt die Ministranten nicht gegen Cavaradossi auf, Musetta ist nicht damenhaft, Anna in Le Villi ist nicht Heilige und Hure, Liù lässt sich nicht abschlachten, sondern tötet sich selbst, Butterfly hat Pinkerton nicht viele „glühende Liebesbriefe“ geschrieben, Sharpless ist nicht „schwammig wie sein Name“, sondern nimmt mehrmals gegen Pinkerton Stellung, nicht die Ehe wurde für 99 Jahre geschlossen, sondern der Mietvertrag, Pinkerton hat durchaus Vornamen, nämlich Benjamin Franklin, das Kind tritt nicht nur einmal, sondern zweimal auf. Und dass Kate Pinkerton  unfruchtbar ist, dürfte nach so kurzer Ehe auch nicht erwiesen sein. Das alles mögen kleine Ungenauigkeiten sein, die aber doch das Vertrauen des Lesers in den Text, soweit er dessen Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann, etwas mindern.

Besonders im Kapitel über Carmen wird deutlich, dass der Autor durchaus zu Recht den Anspruch erheben kann, als Wissenschaftler ernst genommen zu werden, dass aber auch zum Vorteil des auf Unterhaltung bedachten Lesers starke essayistische Tendenzen in seinem Text enthalten sind. An Nietzsches Seite stellt er sich, wenn er in der französischen Oper einen Gegensatz zum Tristan und zu den Meistersingern, „mühevoll und handwerksfleißig“ entstanden, sieht. Und stammen Don José und Micaela aus dem Baskenland? Das wäre eine lange Reise für das junge Mädchen gewesen, dessen Tracht unmissverständlich im Libretto Navarra zugeordnet wird.

Interessant sind die Ausführungen zum Thema, warum gerade die Dialoge der Karmeliterinnen einen Platz im Repertoire gefunden haben, inwieweit Opern aus anderen Schreckenszeiten eine besondere Art der „Bewältigung des Ausschwitzsyndroms“ sein könnten, welche Vergleichsmöglichkeiten es zwischen Poulenc und Julien Green  geben könnte, beide katholisch und homosexuell. Auch in diesem Kapitel geht es weniger um die Musik als um die Werkstruktur.

Weit mehr Raum als auf den Spielplänen wird der zeitgenössischen Oper im Buch eingeräumt, was Henze betrifft nicht nur einem, sondern dem Gesamtwerk. Vom Jungen Lord bis zum L’Upupa reichen die Ausführungen, die in Henze einen Komponisten sehen, der „jungen Wein in alten Schläuchen“ hervorbrachte. Des Komponisten Dichterlibrettisten  stehen auch hier eher im Mittelpunkt als die Musik, die Spiegelung zeitgenössischer Probleme im Spiel von Verkleidung und Entlarvung.

„Hineingewachsen in das Altern der neuen Musik“ ist für den Autor der Komponist Lachmann, dem „Wiederholungsverbot der Moderne“ unterworden. In diesem Kapitel geht es sehr viel um die Musik, um das Andersen-Märchen als Metapher für Gudrun Ensslin, und der Verfasser meint, solange es „Theater gibt, die Werke wie diese sich und ihrem Publikum zum Prüfstein machen, ist die Opernkultur noch am Leben.“

Sehr interessant ist das Nachwort, auch weil es gleichermaßen zur Zustimmung (lieber Cornelius‘  Barbier  als zum 100.Mal der Rossinis) wie zum Zweifel (Lohengrin und Tannhäuser kitschverdächtig) anregt und weil der vielgescholtene Richard Strauss gegenüber Adorno in Schutz genommen wird. Im Buch ist er übrigens mit drei Werken vertreten (Wolke Verlag 2021, 295 Seiten, 2. erweiterte Auflage; ISBN 978 3 95593 254 1). Ingrid Wanja  

Verfluchtes Pack

 

„Ständig saufen, fressen, Karten kloppen. Ja, das können sie, während wir schuften.“ Mit der Klage der Köchin Bejlja gibt Ulrike Patows deutsche Übersetzung den Ton der Palastrevolution im Haus der reichen Madame vor. Wir da unten, die da oben. Schon Nestroy hatte in seiner Lokalposse Zu ebener Erde und erster Stock arme Schlucker und Millionär während der Vorbereitung zu einem Ball einander gegenübergestellt. Scholem Alejchems jiddischer Einakter Mazel Tov! von 1889, der Eingang in die Spielpläne jiddischer Theater in Moskau und Warschau fand, konzentriert sich auf die Dienstbotenperspektive, die Mieczyslaw Weinberg in seinem gleichnamigen, auf Deutsch mit Wir gratulieren! übersetzten Kurz-Zweiakter genüsslich und mit viel jiddischen Musikeinsprengseln und Klezmerklängen ausmalt. Im Gegensatz zu seinen bekanntesten Opern, der posthum uraufgeführten Die Passagierin und dem erst 2013 in Mannheim komplett gegebene Idiot, gelangte die 1975 entstandene Kammeroper Wir gratulieren! noch zu Lebzeiten Weinbergs 1983 an der Moskauer Kammeroper zur Uraufführung. Großzügig auf zwei CDs verteilt präsentiert Oehms Classics jetzt den 80minütigen Zweiakter als Mitschnitt der deutschen Erstaufführung in Henry Kochs Fassung für Kammerensemble aus dem Berliner Konzerthaus von 2012 (2 CDs OC 990).

Bejlja (die Altistin Olivia Saragosa) also klagt über die verflossenen Jahre und darüber, dass sie keinen Mann hat. Der Tonfall nobler Prosodie und die ausgepicht instrumental geschickte und kunstvolle Umkleidung sind bekannt. Dann erscheinen der arme Buchhändler Reb Alter (der Tenor Jeff Martin), anschließend treffen Chaim, der Diener aus dem Nachbarhaus (der Bariton Robert Elibay-Hartog), und Fradl, das von ihm angebetete Dienstmädchen der Madame (die Sopranistin Anna Gütter), ein. Die Verteilung der Paare ist klar: während die Madame das Personal an die Verlobung ihrer Tochter erinnert, inszenieren die Dienstboten ihre Doppelhochzeit, „Ob wir arm sind oder reich, Ehr‘ gebühret allen gleich!“ Die im liedhaften Konversationston und locker geflochtenen Parlando gehaltenen Gespräche um Essen und Wein, Reichtum und Literatur sind ein wenig betulich und im ersten Akt weitschweifend, dabei völlig undramatisch, und werden nur durch Weinbergs pointierte und immer wieder überraschende Instrumentation und die Walzer-, Polka- und Hüpftanzmosaike aufgefangen. Die Partitur hat er Schostakowitsch gewidmet. Den zugespitzten Witz und die grotesken Dimensionen seines Lehrers erreicht er, beispielsweise mit dem Zitat von Chatschaturjans Säbeltanz, erst im zweiten Akt, der mit dem pfiffigen Vaudeville „Geld regiert nicht mehr die Welt“ endet. Vladimir Stoupel und die Kammerakademie Potsdam halten das seiner Zeit musikalisch hinterherhinkende Stück in einem dursichtigen Schwebeton, der hohe Textdeutlichkeit sichert, und stellen die Soloinstrumente, die Flöte der Ouvertüre, das Reb Alter zugeordnete Fagott oder ein Violinsolo, vorteilhaft aus. Das Ensemble ist ausreichend gut aufgestellt, voran Jeff Martin, der mit trefflicher Diktion und geschliffenem Tenor im Grabgesang auf Scholem Alejchem oder dem Bänkelgesang „Zu Hause waren wir zehn Jungen“ ins Zentrum der Aufführung rückt; nur Katia Guedes besitzt als Madame nicht genügend Format, um durch deftige Ausfälle, „Die Pest über dich!“ oder „Verfluchtes Pack! Elende! Alles Unglück über euch!“, die Wendung der Handlung glaubhaft zu machen.  Rolf Fath.

Vermitteln, was wichtig ist

 

Der englische Bariton Benjamin Hewat-Craw, gerade mal 28 Jahre jung (er kam mit 22 nach Deutschland), machte nicht nur mit seiner jüngsten CD mit Schuberts Winterreise und deren ungewöhnlchem Cover bei ARS einen interessanten splash. Auch im Gespräch mit Ruth Wiedwald hat man es mit einem interessanten, denkenden Künstler und Menschen zu tun, der zudem gerade Deutschland als seinen festen Wohnsitz gewählt hat – ein willkommener Post-Brexit-Import.

 

Im vergangenen Herbst (2020) kam Ihre Debüt-CD heraus: Schuberts Winterreise im Duo mit dem Pianisten Yuhao Guo. Wie haben Sie nach diesem Kraftakt der Aufnahme (und während des Lockdowns) die vergangenen Monate verbracht? Wir haben in der letzten Woche vor dem ersten Lockdown aufgenommen. Es war eine knappe Sache, aber wir waren natürlich sehr froh, die Aufnahme damals schon fertig gemacht zu haben. Danach sind wir ins Gespräch mit unterschiedlichen Labels gekommen, und wir sind sehr glücklich, dass wir uns für ARS Produktion entschieden haben. Wir fühlen uns dort sehr unterstützt und planen schon unsere nächste CD mit dem Label. Yuhao und ich hatten Konzerte in der Zeit, als der Lockdown nicht so extrem war. Wir sind damals im Theater Mönchengladbach und im DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst aufgetreten, was sehr besonders war, da wir die CD in eben jenem Kloster aufgenommen hatten. Wir haben uns auch auf Wettbewerbe vorbereitet – den Hugo Wolf Wettbewerb in Stuttgart und Das Lied in Heidelberg. Trotz des Lockdowns hatten wir also immer etwas zu tun!

Benjamin Hewat Craw und Begleiter Yuhao Guo/ Foto BHC

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie für Ihr Debüt ausgerechnet Schuberts Winterreise gewählt haben? Wir wollten unsere Ankunft in der internationalen Liedszene mit einem Knall ankündigen. Deshalb haben wir uns für die Winterreise entschieden. Einerseits glaube ich nicht, dass es einen ikonischeren Liederzyklus gibt als die Winterreise. Anderseits wollten wir unsere jugendliche Energie in die Interpretation des Stücks einbringen. Wir fanden es sehr spannend zu zeigen, wie anders unser Blickwinkel auf das Werk vielleicht ist.

Yuhao Guo und ich hatten schon seit drei Jahren zusammen als Lied-Duo musiziert und uns besonders intensiv mit der Winterreise beschäftigt. Wir haben uns schon relativ früh vorgenommen, davon eine Aufnahme zu machen.

Was bewegt Sie als jungen Menschen und Sänger an den Stücken besonders? Ich glaube, in ihrer Jugend sind Menschen eher extremer in allem was sie tun. Das Leben ist weniger bequem und man entdeckt die Grenzen vom Leben in diesen Lebenszeiten. In diesem Stück entdeckt der Protagonist seine psychischen und körperlichen Grenzen.

Sinn für Spass: Benjamin Hewat-Craw und Yuhao Guo/ Foto BHC

Ich kann zwar nur für mich sprechen, aber ich konnte mich mit diesem Zyklus immer stark identifizieren. Die musikalische Ergründung der dunkleren Seiten des Menschen haben mich fasziniert, seit ich die Winterreise vor zehn Jahren zum ersten Mal gehört habe.

Warum würden Sie heute jungen Leuten empfehlen die Winterreise zu hören? Ich empfehle jungen Leute den Zyklus zu hören, weil er sehr gut zu unserem Zeitalter mit seinen Herausforderungen passt. Wir leben in einer Zeit, in der wir sehr viel Zeit allein verbringen, nicht nur wegen der Coronakrise, sondern auch wegen der sozialen Medien. In dem Zyklus erleben wir, wie der Protagonist mit seiner Einsamkeit umgeht. Ich glaube, das kann sehr vielen jungen Menschen Mut geben und zeigen, dass sie eben nicht allein sind, sondern dass wir alle gemeinsam allein sind. Jeder, der sich auf das Werk einlässt, wird erleben: Es gibt den Menschen das, was sie wirklich brauchen. Diese Musik und diese Dichtkunst können etwas vermitteln, was wirklich wichtig ist. Das wollen wir ganz direkt zu den Menschen bringen.

Für das Cover Ihrer Debüt-CD haben Sie und Yuhao Guo sich in ein Fuchsfell gehüllt und außergewöhnlich gestyled. Eigentlich sehr entgegengesetzt dem romantischen Anspruch der Lieder. Lieben Sie das Unkonventionelle im Konventionellen? Wir möchten junge Leute in unserem Alter ansprechen, die Facebook und Instragram nutzen. Das gesamte Paket muss stimmen. Viele Leute kaufen nach Aussehen – um dann etwas Schönes darin zu entdecken! Wir denken, wir können etwas Neues und Interessantes dazu beitragen. Es ist so wichtig, den Reichtum der klassischen Musik an die nächsten Generationen zu vermitteln. Auch deswegen haben wir uns für ein etwas schrilles Cover-Design entschieden. Die Optik macht erst einmal neugierig – aber dann folgt die echte Überraschung: Hinter der hippen Verpackung steht absolut seriöse Kunst, die höchsten Ansprüchen gerecht wird, die emotional und intensiv ist.

Genauso ungewöhnlich ist es sicherlich, dass Sie im Alter von 22 Jahren entschieden haben, Ihre Heimat Großbritannien zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Was hat Sie dazu bewegt? Ich habe zu dieser Zeit von einem Bariton Unterricht bekommen, der in Deutschland gelebt hat. Ich kam nach Deutschland, um mehr von ihm zu lernen und intensiver mit ihm zu arbeiten. Im Nachhinein war es schon schwierig, hier ein neues Leben aufzubauen, aber ich war zu einem gewissen Punkt blauäugig und das hat interessanterweise geholfen. Es war leichter damals, mit so einem Umzug mehr zu riskieren.

Was schätzen Sie an Deutschland? Ich liebe allgemein die Wertschätzung der Kulturszene. Ich weiß, in diesen Coronazeiten hat die Regierung zurecht viel Kritik bekommen. Opernhäuser und Konzertsäle sind zu, und das ist sehr schade. Ich verstehe die Ernsthaftigkeit der Situation, aber immerhin werden die Arbeitnehmer in den Theatern weiter finanziell unterstützt und es gibt großzügige Zuschüsse für die freie Kulturszene von der Regierung. International gesehen ist Deutschland immerhin ein Paradies für die Kunst im Vergleich zu anderen Ländern in Europa. Ich versuche das Gesamte hier positiv zu bewerten, weil allgemein die Situation hier vergleichsweise sehr gut ist.

Und nun mal seriös: Benjamin Hewat-Craw/ BHC

Wie sind Ihre weiteren Pläne? Geht es mit der Winterreise auf Tour (sofern es wieder möglich sein sollte) oder haben Sie bereits neue Projekte, über die Sie uns etwas verraten können?  Eine Winterreise-Tour haben wir auf jeden Fall vor. Auftritte in Berlin und Hamburg sind in der Planung. Unsere nächste CD wird eine mit englischen Liedern. Sie wird drei Zyklen von Vaughan Williams, Butterworth und Gurney enthalten, die alle in den zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurden. Der Titel der CD wird Never such innocence again sein, was auf Deutsch soviel heißt wie Niemals wieder eine solche Unschuld. Erscheinen wird sie im März 2022. Das Gespräch führte für operalounge.de Ruth Wiedwald  (alle Fotos @Benjamin Hewat-Craw; https://www.benjaminhewatcraw.com/).

Immer wieder Brahms

 

Nach Eins kommt bekanntlich Zwei. Zur höchst erfreulichen Einspielung der ersten Sinfonie von Johannes Brahms mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter seinem Ehrendirigenten Herbert Blomstedt gesellt sich nun die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 (Pentatone PTC 5186 851). Geplant ist ein kompletter Zyklus.

Tatsächlich legte das Label Querstand bereits einen Mitschnitt dieses Werkes in derselben Kombination aus dem Jahre 2000 vor. 19 Jahre später (die Neuaufnahme entstand im Oktober 2019 im Gewandhaus zu Leipzig) wurden die Tempi des damals sage und schreibe bereits 92-jährigen Dirigenten gar noch ein klein wenig flotter, freilich nie übereilt (21:04 – 9:37 – 5:04 – 9:06). Die Klangqualität übertrifft die bereits sehr gut klingende Vorläuferin; störende Nebengeräusche gibt es trotz des explizit erwähnten Live-Charakters mitnichten.

Diese D-Dur-Sinfonie ging aufgrund ihrer lebensbejahenden Heiterkeit als „Brahmsens Pastorale“ in die Musikgeschichte ein. Anders als die Vorgängerin in c-Moll, von der sie sich insgesamt stark unterscheidet, entstand sie in einem kurzen Zeitraum im Jahre 1877. Ihre Uraufführung in Wien unter Hans Richter geriet zum Triumph für den Komponisten. Eduard Hanslick sah das Werk als Beweis dafür, „daß man (freilich nicht jedermann) nach Beethoven noch Symphonien schreiben kann“.

 Ungemein süffig und natürlich im besten Wortsinne gelingt Blomstedt der große Kopfsatz, sowohl in den lyrischen wie auch in den dramatischen Passagen schlechterdings idealtypisch. Eine Rückbesinnung auf die Grundstimmung „Zurück zur Natur“ der Beethoven’schen Pastorale lässt sich kaum leugnen. Das darauffolgende Adagio, eine Mischung aus Lied- und Sonatensatz, darf als einer der bezwingendsten langsamen Sätze im Schaffen von Brahms gelten. Man kann sich Jörg Peter Urbachs Auffassung im Beiheft anschließen, dass hier eine ungewohnt starke Nähe zum Antipoden Anton Bruckner nachweisbar ist. Schön rein von den Dimensionen her hat der tänzerische dritte Satz das geringste Gewicht. Ein wirkliches Scherzo hat Brahms hier jedenfalls nicht intendiert. Im Schlusssatz wird neuerlich das Hauptthema des ersten Satzes aufgegriffen. Dieses Finale mit all seinen kunstvollen Variationen kann als ein absoluter Höhepunkt in der spätromantischen Sinfonik gelten, Applaus gleichsam mit komponiert.

Abgerundet wird die Neuerscheinung durch eine feurige Darbietung der zehnminütigen Akademischen Festouvertüre c-Moll op. 80, die trotz ihrer nominellen Grundtonart zum Inbegriff einer feierlichen Jubelstimmung wurde und die zweite Sinfonie adäquat ergänzt. Anders als ihre Schwester, die Tragische Ouvertüre, genießt sie bis zum heutigen Tage hohe Wertschätzung beim Publikum. Besonders das populäre Studentenlied Gaudeamus igitur als theatralischer Maestoso-Abschluss trägt dazu sicherlich einen ganz erheblichen Teil bei. Entstanden ist sie im Sommer 1880, anderthalb Jahre nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Breslau an Brahms am 11. März 1879.

Eine hochwillkommene Fortsetzung dieses brandaktuellen Zyklus, der damit bereits die halbe Wegstrecke zurückgelegt hat. Künstlerisch und klanglich ausgezeichnet. Man freut sich auf die noch ausstehenden Sinfonien Nr. 3 und 4. Daniel Hauser

 

Herbert Blomstedt, der bescheidende Amerikaner mit schwedischen Wurzeln, der mittlerweile im sage und schreibe 94. Lebensjahr steht, ist ein Phänomen. Zurecht der Nestor unter den heutigen Dirigenten, erlebt er im hohen Alter, nicht ganz unähnlich weiland Otto Klemperer, seinen Indian Summer, obwohl er freilich seit den 1950er Jahren irgendwie immer präsent war, ohne jemals den Status eines „Stardirigenten“ anzustreben. Dazu ist Blomstedt zu honorig und seriös. Dass die Musik des Norddeutschen Johannes Brahms unter seiner Stabführung bestens aufgehoben ist, liegt insofern praktisch auf der Hand. Gleichwohl musste er die neunzig überschreiten, ehe er nun endlich eine offizielle Einspielung der großen ersten Sinfonie von Brahms auf dem dem stets für Überraschungen guten Label Pentatone vorlegen kann (PTC 5186 850).

Wie der Kenner weiß, ist es natürlich keine Erstbegegnung, hat sich Blomstedt doch schon vor Jahrzehnten mit Brahms‘ Werken auseinandergesetzt und bereits während seiner Zeit in San Francisco (1985-1995) das Deutsche Requiem, von der Kritik gefeiert, bei Decca vorgelegt. Noch vor seiner Berufung zum Gewandhauskapellmeister in Leipzig spielte er sodann 1996 die vierte Sinfonie ein, wiederum für Decca. Das Label Querstand veröffentlichte einen Mitschnitt der zweiten Sinfonie aus dem Jahre 2000 und in der nur als Online-Download erhältlichen Reihe Decca Concerts erschien eine Live-Aufnahme der dritten Sinfonie, 2007 aufgezeichnet. So schließt sich nun gewissermaßen der Kreis, indem jetzt endlich auch die Erste folgt, die zwar chronologisch am Anfang steht, aber in gewisser Weise doch den Höhepunkt des sinfonischen Schaffens Brahmsens darstellt.

Beinahe jeder Dirigent von Rang hat sich irgendwann im Laufe seiner Laufbahn mit der c-Moll-Sinfonie op. 68 auseinandergesetzt, die Hans von Bülow als Beethovens Zehnte adelte. Kaum eine Sinfonie dürfte einen langwierigeren Entstehungsprozess gehabt haben als dieses Werk. Sage und schreibe vierzehn Jahre mussten vergehen, ehe sie 1876 endlich zur Uraufführung bereit war. Es gibt eine interessante Parallele zum seinerzeit ebenfalls bereits 90-jährigen Leopold Stokowski, der die Erste von Brahms in seinem spektakulären Rückkehrkonzert in London 1972 noch einmal aufführte. Auch wenn der Dirigententypus, den Stokowski verkörperte, kaum unterschiedlicher sein könnte, so ist es doch gleichsam ein verbindendes Element zum greisen Blomstedt. Die erste Sinfonie von Brahms ist mitnichten ein Werk für Anfänger. Und der altersweise Zugriff, den Blomstedt diesem Opus magnum angedeihen lässt, spricht vollumfänglich für sich. Mit 50 Minuten Spielzeit wählt er die adäquaten Zeitmaße, bei denen sich Tempofragen gar nicht erst stellen. Vom ersten bis zum letzten Takt klingt es schlicht und ergreifend richtig. Der monumentale Kopfsatz, hier 17 Minuten lang, mit einem der einprägsamsten Auftakte in der gesamten Sinfonik weist bereits den Weg. Keine noch so kleine Phrasierung ist hier zufällig, alles durchdacht und in sich überzeugend. Obwohl der Interpretation eine norddeutsche Ernsthaftigkeit nicht abzusprechen ist, ist sie doch gleichwohl keineswegs von einer kühlen akademischen Strenge, die jedwedes Gefühl im Ansatz unterdrückt. Blomstedts Brahms ist ein zutiefst menschlicher, nahbarer, was gerade im träumerischen langsamen zweiten Satz hervorsticht. Die Leichtigkeit des kurzen dritten Satzes, der nicht wirklich ein Scherzo darstellt, bildet den idealtypischen Kontrast zum titanenhaften Finale. Dunkel timbriert, erzielt das exzellente Gewandhausorchester den für Brahms mustergültigen Tonfall. Blomstedt lässt sich nicht dazu verleiten, in der Adagio-Einleitung das Tempo anzuziehen. Erst nach ziemlich genau fünf Minuten erklingt der einprägsame Hymnus als Hauptmotiv und wiederum behält der brillante Dirigent die Zügel fest in der Hand. Die Coda gerät selbstredend zum Höhepunkt, wobei das Choralthema eindeutig protestantisch-asketische Züge hat. Großartig die Detailarbeit bis zum Schluss, wo die hier oft untergehenden Blechbläser noch einmal auftrumpfen können. Die zurecht gerühmte Akustik des Gewandhauses zu Leipzig unterstützt dies kongenial. Als Beigabe rundet die Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81 die Compact Disc ab. Sie steht zu Unrecht im Schatten der berühmteren Akademischen Festouvertüre. In ihrem dunkel-festlichen Charakter ist dieses Stück sicherlich näher an der ersten Sinfonie denn an der zweiten, nach welcher sie im Jahre 1880 entstand, insofern ist die von Pentatone gewählte Kombination sinnig. In Blomstedts Interpretation verliert auch diese Ouvertüre etwas von ihrer Schwere und erklingt mustergültig. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

Pathos ohne Kitsch

 

Dass Artur Rodziński (1892-1958), der polnische Dirigent mit österreichisch-ungarischen Wurzeln, heutzutage etwas aus dem Blickfeld verschwunden ist, kann man angesichts seiner Qualitäten nur bedauern. Es ist von daher hoch erfreulich, wenn Sony Music nun die 16 CDs umfassende Box Artur Rodziński / New York Philharmonic – The Complete Columbia Album Collection (19439787752) vorlegt.

Die größten Spuren hinterließ der gebürtige Europäer tatsächlich in Amerika, wo er 1925 Assistent von Leopold Stokowski in Philadelphia wurde. 1929 übernahm er sodann als Musikdirektor zunächst das Los Angeles Philharmonic, um 1933 in selber Funktion zum Cleveland Orchestra zu wechseln. Dort blieb er ein Jahrzehnt und legte die Basis für den späteren Welterfolg des Orchesters unter seinem Nachfolger George Szell. Den endgültigen Karrieresprung machte Rodziński dann im Jahre 1943, als er das seit John Barbirollis Abgang 1941 ohne formalen Chefdirigenten agierende New York Philharmonic übernahm, eines der damaligen sogenannten Big Three (neben Boston und Philadelphia; erst in den 1950er Jahren wurde es endgültig zu den heute geläufigeren Big Five, als man Chicago und Cleveland ebenfalls in diese oberste Liga aufnahm). Konflikte mit dem Orchestermanager Arthur Judson kennzeichneten Rodzińskis New Yorker Engagement von Anfang an. Nicht zuletzt aufgrund dieser Problematik endete sein Vertrag bereits 1947. Im selben Jahr wechselte er nach Chicago, doch auch dort gab es ernsthafte Differenzen mit dem Direktionsgremium, so dass Rodziński nach nur einer Spielzeit hinwarf und fortan nur mehr als Gastdirigent auftrat. In seinem letzten Lebensjahrzehnt entstanden noch zahlreiche Einspielungen, machten sich aber auch zunehmende gesundheitliche Verfallserscheinungen des Dirigenten bemerkbar. Dies ging soweit, dass ihm ärztlich dringend von weiteren Dirigierverpflichtungen abgeraten wurde. Freilich scheint sich Rodziński nicht daran gehalten zu haben und übernahm nach seiner Rückkehr nach Chicago Wagners Tristan an der Lyric Opera (übrigens sein einziger dortiger Auftritt). Kurze Zeit später, am 27. November 1958, starb Artur Rodziński im Alter von 66 Jahren in Boston.

Freude für die Fans: die CD-Hüllen mit den originalen Plattencovern der alten LPs 

Seine diskographische Hinterlassenschaft ist ausgesprochen reichhaltig und erstreckt sich auf mehrere Labels. So spielte er in Cleveland und New York für Columbia Records ein, wechselte in Chicago zu RCA Victor, um später neuerlich für ein paar New Yorker Nachzügler abermals zu Columbia zu wechseln. Es folgten Produktionen für Westminster (1954-1956) und ganz zuletzt für EMI (1957-1958), die sämtlich mit europäischen Orchestern, nämlich dem Wiener Staatsopernorchester, dem Royal Philharmonic Orchestra sowie dem Philharmonia Orchestra zustande kamen. Dergestalt nimmt es nicht wunder, dass nur die EMI-Aufnahmen und ein kleiner Teil jener für Westminster bereits in Stereo festgehalten wurden.

Die hier nun vorgelegten Einspielungen entstanden größtenteils zwischen 1944 und 1946, als Rodziński Musikdirektor des New York Philharmonic war, bereichert um ein paar Aufnahmen von 1950 mit dem studioeigenen Columbia Symphony Orchestra. Gemessen am enormen Alter, ist die klangliche Aufbereitung wahrlich gut gelungen (24-bit/192 kHz-Remastering von den Originalbändern). Die meisten dieser Einspielungen erleben hier gar ihr verspätetes CD-Debüt.

Was aber ist nun konkret enthalten? Schwerpunkte umfassen die Komponisten Brahms (Sinfonien Nr. 1 und 2), Rachmaninow (Sinfonie Nr. 2 und Klavierkonzert Nr. 2 mit György Sándor), Tschaikowski (Sinfonie Nr. 6, Nussknacker-Suite, Mozartiana-Suite) und vor allem Wagner (dritte Szene des ersten Aufzuges und kompletter dritter Aufzug der Walküre, Siegfried-Idyll, diverse Auszüge aus Tristan und Lohengrin). Opern-Aficionados dürften frohlocken angesichts der Besetzung: Helen Traubel als üppig-opulente Sieglinde, Brünnhilde und Isolde, der fast vergessene, aber betörend heldische Emery Darcy als Siegmund sowie Herbert Janssen als vielleicht etwas heller Wotan stehen im Zentrum.

In die Edition wurden auch das Columbia-Album mit dem kompletten dritten Aufzug der „Walküre“ und diversen anderen Szenen mit Helen Traubel und Herbert Janssen übernommen.

Trotz des historischen Klanges sind eigentlich enthaltenen sinfonischen Darbietungen Rodzińskis ungemein packend, so dass sich die Faszination auch nach fast 80 Jahren einstellt. Er kostet trotz ziemlich rasanter Tempi süffig, jedoch nie ohne einen Anflug von Kitsch das den Werken innewohnende Pathos aus, so gerade in der Pathétique von Tschaikowski, die er für Westminster etwa ein Jahrzehnt später noch einmal, klanglich geringfügig besser (jedoch auch noch in Mono) einspielen sollte. Überhaupt ist Rodziński im russischen Repertoire ungemein stark, wie man auch in den ebenfalls inkludierten Bildern einer Ausstellung von Mussorgski in der Ravel-Orchestrierung oder in Prokofjews fünfter Sinfonie erfahren kann. Vom damals noch lebenden Sibelius ist interessanterweise als einziges die seinerzeit selten gespielte vierte Sinfonie berücksichtigt, bei der Rodziński besonders im düsteren Kopfsatz punkten kann. Ansonsten ist das französische Repertoire gut abgedeckt mit dem vierten Klavierkonzert von Saint-Saëns (am Piano niemand Geringerer als Robert Casadesus) und Saties Trois morceaux en forme de poire (Robert und Gaby Casadesus). Weiterhin die Sinfonie C-Dur sowie das Vorspiel zum dritten Carmen-Aufzug von Bizet, die Suite française von Milhaud und die exotisch angehauchte sinfonische Suite Escales von Ibert.

Verbundenheit zum amerikanischen Repertoire zeigt Rodziński mit Werken von Morton Gould (Spirituals for Orchestra), Copland (Lincoln Portrait; Erzähler: Kenneth Spencer) und Gershwin (An American in Paris). Gewissermaßen als Zugabe sind die beiden sogenannten Twilight Concerts von 1950 mit dem Columbia Symphony Orchestra anzusehen, wo Gassenhauer wie die Guillaume Tell– und die Orphée aux enfers-Ouvertüre und weitere kurze Stücke, oft Auszüge aus kompletten Werken, zum Besten gegeben werden. Alle CD-Hüllen sind den originalen Covern nachempfunden. Die mit vielen Fotos versehene und Textbeigabe ist sehr gediegen. Insgesamt eine ausgesprochen ansprechende Box für jeden Liebhaber legendärer Dirigenten der Vergangenheit ohne Berührungsangst vor edlem Monoklang (Foto oben: Serge Koussevitzky, Music director of the Boston Symphony from 1924-1949/ Courtesy of the Boston Symphony Orchestra). Daniel Hauser

Maria Kouba

 

Maria Kouba (geborene Strobl, gesch. Boshart, geb. 2. 2. 1922)  österreichische Sopranistin, verstarb an 15. Mai 2021 nach kurzer Krankheit im 100. Lebensjahr in Voitsberg. Aus ihrem umfassenden Repertoire bleibt sie vor allem mit ihrer Glanzpartie – der Salome von Richard Strauss in Erinnerung. Mit dieser Partie feierte sie ihr vielbeachtetes Bühnendebut 1957 an der Oper Graz sowie Erfolge an allen großen Bühnen von Wien bis New York. An die 400 Auftritte als Salome inklusive eigenem Schleiertanz sind selten in der Geschichte dieser Oper.

Als Maria Sofie Strobl am 2.2.1922 in Altenmarkt/Steiermark geboren, früh vom Vater im Geigen-, Cello und Saxophonspielen unterrichtet, schlug sich Maria und die Familie als Musikanten in der Kriegs- und Nachkriegszeit durch. Ihre spätere Gesangsausbildung bei Maria Salmar in Graz finanzierte Maria mit Ihrem Gehalt als Sekretärin der Krankenkassa Voitsberg. 1946 heiratete sie den tschechischen Dirigenten Stefan Kouba und lebte danach 8 Jahre lang hinter dem Eisernen Vorhang in der damaligen Tschechoslowakei, wo das Ehepaar an den Opernhäusern von Ostrava und Bratislava als Kapellmeister bzw. als Choristin tätig war.

1956 gelang dem Ehepaar die Rückkehr nach Österreich. 1957 erfolgte das überraschende Bühnendebut als Salome  in einer Neuproduktion der Oper Graz. Maria Kouba sprang kurzfristig während der Proben ein und feierte einen Sensationserfolg. Sie erhielt einen Vertrag der Grazer Oper, wo sie rasch zu einem Publikumsliebling wurde. In den folgenden drei Saisons sang sie an 133 Abenden 16 verschiedene Hauptrollen in 11 Premieren – am häufigsten die Saffi im „Zigeunerbaron“, gefolgt von Puccinis Butterfly und Verdis „Troubadour-Leonore“ sowie viele andere Partien. 1960 folgte sie dem Ruf an die Städtischen Bühnen Frankfurt, wo sie 23 Jahre lang Ensemblemitglied war und ein breites Repertoire pflegen konnte. Sie kehrte aber auch immer wieder gerne für Gastspiele an die Grazer Oper zurück.

Maria Kouba trat zudem an vielen großen Opernhäusern der Welt – von Wien, München, Berlin, London, Paris bis Sydney und New York auf. Nach ihrem Aufsehen erregendem Debut an der Metropolitan Opera New York 1965 als Salome (unter Karl Böhm) wurde sie in den USA und Kanada fortan als „Sexbombe der Opernbühne“ gehandelt. Sie verkörperte beinahe alle Sopranpartien von Verdi und Puccini – von der Traviata bis zur Tosca, von Mozarts Donna Anna bis Wagners Eva, Senta, Sieglinde und Ortrud – aber auch die „Fidelio“-Leonore, die Belcanto-Partie der „Maria Stuarda“ und Partien in zeitgenössischen Werken wie die Frau in Schönbergs „Erwartung“ oder die Renata in Prokofievs „Der Feurige Engel“. Ihre alles überstrahlende Glanzpartie war aber bis Mitte der 1970er Jahre die Salome!  Heute noch geraten Opernfreunde darüber ins Schwärmen.

In Maria Kouba begegnete man einer ästhetischen Bühnenerscheinung und Singschauspielerin ersten Ranges. TV-Produktionen von „Salome“, „Jenufa“ und „Cavalleria Rusticana“ sowie zahlreiche Rundfunkaufnahmen dokumentieren die Glanzzeit der Künstlerin in den 1960er Jahren. Unverständlich ist hingegen, dass es keine offiziellen Plattenaufnahmen dieser vielseitigen Sängerin gibt.

Maria Kouba arbeitete mit Dirigenten wie Karl Böhm, Georg Solti, Carlos Kleiber, Lovro von Matacic, Josef Keilberth, Heinrich Hollreiser, Peter Schneider und Regisseuren wie Rudolf Hartmann, Günter Rennert, Wieland Wagner und Otto Schenk um nur einige zu nennen.

Sie galt als eine der zuverlässigsten Sängerinnen – stets perfekt vorbereitet ist sie unzählige Male für Kolleginnen eingesprungen – selbst hat sie nie abgesagt. Trotz vieler Auszeichnungen und Preise – etwa dem ersten Preis des Gesangswettbewerbs des Österreichischen Rundfunks und des „Belcanto-Wettbewerbs“ in Brüssel – beide 1957 – sowie dem „Grand Prix des Nations“ 1963 in Paris als beste Sängerin aus 22 Nationen blieb sie stets bescheiden. Nach allem Unbill des Kriegs und der schwierigen Anfangsjahre war Maria Kouba immer dankbar ihren Lebenstraum als Sängerin erfüllt zu haben.

Nach ihrem Bühnenabschied 1982 übersiedelte sie mit ihrem zweiten Ehemann nach Kanada, kehrte aber 10 Jahre später alleine wieder in die steirische Heimat zurück. Die Familie war immer ihr Rückhalt. Die letzten Jahre verbrachte sie im Seniorenheim in Voitsberg stets liebevoll umsorgt von ihrem Neffen Reinhold Haring und seiner Familie. Am 15.05.2021 trat sie von der Bühne des Lebens ab. (Quelle Otto Krcal; Weiterführende Informationen und Foto oben www.mariakouba.at)

Hörst du den Ton?

 

Die Probleme des Komponisten Fritz trieben Franz Schreker, der wenige Jahre nach der Uraufführung von Der ferne Klang als einziger legitimer Nachfahre Wagners gehandelt wurde, nicht um. Es scheint, als habe er diesen Klang, der ihm treu blieb, bis er aufgrund der Diffamierung seiner Werke durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung aus seinen Ämtern 1933 in Vergessenheit geriet, schnell gefunden. Der Komponist Fritz reißt sich von seiner Geliebten Grete los, denn „Ein hohes, hehres Zeil schwebt mir vor Augen, doch frei muss ich sein“. Er wird nicht Ruhe finden, „Eh ich ihn nicht habe und halte, den rätselhafte weltfernen Klang“ und „Künstler von Gottes Gnaden“ bin. Dann will er zu Grete zurückkehren. Grete, die bezeichnenderweise Graumann heißt, entflieht, nachdem sie der trunksüchtige Vater im Spiel an den Wirt verlor, ebenfalls der Enge des Elternhauses hat und steigt, verführt von einer geheimnisvollen Alten, zur Edelkurtisane in einem venezianischen Bordell auf. Dort trifft zehn Jahre später der erfolglose Fritz neuerlich auf sie und stößt sie von sich. Nochmals fünf Jahre später: Greta ist zur gewöhnlichen Dirne verkommen und besucht die Premiere der neuesten Oper von Fritz Die Harfe, die sie wegen eines Schwächeanfalls vorzeitig verlässt. Die Oper fällt durch. Fritz erhält die Möglichkeit, den letzten Akt zu überarbeiten, fühlt sich aber zu schwach und begreift im Gedanken an Grete, die er im Zuschauerraum erkannt hat, dass er sie wegen seines Ehrgeizes verließ und warum, er „das Glück nicht besingen kann“. Er vernimmt den „fernen Klang“ und fühlt sich stark genug, seine Oper neu zu gestalten. Greta findet zu ihm und will bei ihm bleiben. Er stirbt in ihren Armen.

Franz Schrekers erster Bühnenerfolg, der in den 1910er und 20er Jahren prominent besetzt und viel gespielt wurde, kehrte im März 2019 an die Frankfurter Oper zurück (Oehms Classics 3 CDs OC 980/ Vertrieb NAXOS), wo er 1912 seine Uraufführung erlebt hatte. Im Zuge der in den 1970er Jahre einsetzenden Schreker-Renaissance trug 1984 eine faszinierende Inszenierung am Ort der Handlung, in Venedig, in der ich die schillernde Sylvia Sass als leuchtenden Stern der venezianischen Halbwelt erlebt habe, wesentlich zur Neuentdeckung des Fernen Klangs bei. Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, die andeuten, warum Dirigenten wie Bruno Walter, Fritz Reiner, Otto Klemperer, Erich Kleiber und Alexander Zemlinsky von dieser Musik angetan waren, umkreisen den fernen Klang, auf dessen Suche sich alle Komponisten des anbrechenden Jahrhunderts machten, in oszillierenden, sowohl impressionistisch durchlässigen wie spätromantisch gebremsten Klängen, die im Vogelkonzert-Zwischenspiel des dritten Aktes zum sinnlichen Stimmungsbild geraten. Die Faszination, welche die Oper einst ausstrahlte, stellt sich nicht ein. Die eigentliche Hauptfigur dieses Künstler- und Dirnendramas ist nicht, wie man meinen könnte, Fritz, sondern Greta. Im ersten Akt ist Jennifer Holloway eine patente Greta, ohne der Figur ein Gesicht zu geben. Daneben verschafft sich die Alte, trotz der Blessuren, die Nadine Secundes Sopran davongetragen hat, mehr Aufmerksamkeit. Bei seinem Europa-Debüt zeigt der Amerikaner Ian Koziara in der großen, mit fiebriger Intensität gesteigerten Szene im zweiten Akt „Schuldbeladen und reuig steh‘ ich vor dir“ einen strapazierfähigen, in der Höhe begrenzten Tenor und vermittelt vor allem in den introspektiven Momenten des dritten Aktes die Zerrissenheit des auf der Suche nach musikalischer Originalität scheiternden Fritz. Im Mittelakt gewinnt auch Holloways Sopran Wärme und Farbigkeit, souverän reizt sie die Dimensionen der Partie aus, singt im dritten Akt genau und auffallend textdeutlich. Die richtige Partie scheint die Greta dennoch nicht für sie zu sein. Zum Konkurrenten von Fritz wird der melancholische Graf, mit dem Greta aus Venedig aufbricht und dessen Ballade von der glühenden Krone Gordon Bintner mit aufrichtigem Gefühl singt, während das von Theo Lebow als Chevalier effektvoll vorgetragene Lied über das Blumenmädchen von Sorrent tenoraler Zierrat für das klanglich bunt montierte Freudenfest in der Casa di Maschere ist. Aus dem breit aufgestellten Ensemble ragt der prächtige Bariton von Jurii Samoilov als Schmierenschauspieler hervor, dazu die markanten Episoden von Dietrich Volle als Dr. Vigelius und Sebastian Geyer als Fritz‘ Freund Rudolf.     R.F.