Archiv für den Monat: Mai 2024

Erstfassung Wien 1762

.

Herzenswunsch eines jeden Countertenors von Rang ist es wohl, Glucks Orfeo zu singen – oder noch besser: die Partie in einer Tonaufnahme zu dokumentieren. Eine schier unüberschaubare Fülle findet sich auf dem Musikmarkt, darunter auch eine ERATO-Einspielung mit Philippe Jaroussky aus dem Jahre 2018. Nun hat die Firma ihrem Exklusivkünstler Jakub Jozef Orlinski seinen Wunsch erfüllt – mit ihm die Azione teatrale per musica im Januar 2023 in Warschau produziert und nun nochmal bei Erato auf einer CD veröffentlicht (5054197897535). Im Unterschied zu Jaroussky, der sich für  die Fassung von Neapel 1774 entschieden hatte, ist nun die Erstfassung Wien 1762 zu hören. Orlinski fungiert in der Neuproduktion als Interpret der männlichen Titelrolle, als Produzent, künstlerischer Leiter und Besetzungschef. Im Fall des Amore hatte er eine besonders glückliche Hand mit der Wahl der ägyptischen Sopranistin Fatma Said. Ihre Stimme besitzt hohen Farbreichtum, Sinnlichkeit und eine bedeutende lyrische Substanz, wie man sie gewöhnlich in dieser Partie nicht zu hören bekommt. Der Amore als Nebenrolle erhält dadurch einen höheren Stellenwert als in den meisten anderen Aufnahmen. Seine Begegnung mit Orfeo am Ende des 1. Aktes, „T´assiste Amore!“/„Gli sguardi trattieni“, wird zu einer Kernszene der Handlung dank des nachdrücklichen und phantasievollen Vortrags der Sängerin. Das rückt die Partie der Euridice fast in den Hintergrund – trotz ihres großen Duos mit Orfeo und der vehementen Arie „Che fiero momento!“ im 3. Akt. Der Sopran von Elsa Dreisig vermag sich aber nicht genügend von dem Fatma Saids abzusetzen. Die Stimme ist in ihrem Charakter lyrisch und ausgewogen, aber weit weniger persönlich als die der Ägypterin. Und in den Rezitativen klingt sie im Bemühen um dramatischen Ausdruck zuweilen schimpfend. Die dramatische Arie wird vom Orchester mit einem Wirbelsturm eingeleitet und gelingt ihr dann auch überzeugend, wenngleich die eingelegten staccati zwar virtuose Elemente der Verzierung sein mögen, aber kaum der existentiellen Situation der Figur entsprechen.

Orlinski stellt seinen Orfeo in einer ausgesprochen introvertierten Lesart vor, gipfelnd in der berühmten Arie „Che farò senza Euridice?“, die er in betont getragenem  Tempo und mit ganz nach innen gewandtem Ausdruck vorträgt. Orfeos erstes Solo, „Chiamo il mio ben così“, erklingt zunächst in schlichter Anmut, wechselt dann aber in weinerliche  Schmerzenslaute. Das Dacapo wird variiert, entbehrt aber gleichfalls nicht der Larmoyanz. In „Mille pene“ im 2. Akt hört man heulende Töne, gelungener ertönt „Che puro ciel“ in purer Innigkeit.

Bei aller Konkurrenz: Die Neuaufnahme kann durchaus mit den besten existierenden Tondokumenten konkurrieren. Das ist vor allem das Verdienst des Orchesters, denn Il Giardino d´Amore unter Stefan Plewniak musiziert mit einer solchen Vitalität, einer derartigen dynamischen Bandbreite und einer Fülle von überraschenden Akzenten, dass man beim Hören geradezu gebannt ist. Das beginnt mit der spannungsgeladenen Sinfonia, zu welcher der folgende, schleppende Gesang des Chores einen starken Kontrast bildet. In der Folge begeistern Chor und Orchester immer wieder mit ihren Nummern – dem furiosen Ballo di furie e spettri oder dem paradiesischen Ballo d`eroi ed eroine negli Elisi. Am Ende hat Il Giardino d`Amore im viersätzigen Ballo noch einmal Gelegenheit, mit graziösen, beschwingten und heiteren Klängen zu glänzen, bevor sich alle zum jubilierenden Schlussgesang „Trionfi Amore!“ vereinen. Bernd Hoppe

Erbangelegenheiten

.

Willy Heinz Müller (1900–1974) gehört zu den Komponisten, deren Oeuvre bislang noch auf seine Entdeckung gewartet hat. In seinem Fall auf einem Stapel neben dem Klavier seiner Urenkelin, der Sopranistin Mélanie Adami. Während der Corona-Pandemie hat sie sich des Stapels angenommen und beschlossen, die Lieder ihres Urgroßvaters, so schreibt sie im Booklet, ›wieder zum Leben zu erwecken‹. Den Bariton Äneas Humm und die Pianistin Judit Polgar hat sie für ihre Mission gewinnen können und mit den beiden ein Album eingespielt. Vergessene Lieder, vergessene Lieb heißt es – übrigens kein Liedtitel von Willy Heinz Müller, sondern von Ernst von Dohnány. Neben den Kompositionen ihres Urgroßvaters hat sich Melanie Adami noch eine Reihe weiterer Lieder und Duette von Komponisten ausgesucht (neben Dohnány auch Béla Laszky, Franz Ries und Eugen Hildach und Carl Götze), die alle in verschiedenen Beziehungen zu ihm standen. Vor allem eint sie aber, dass sie, mit Ausnahme von Ernst von Dohnány vielleicht, eher selten gespielt werden – um es vorsichtig zu formulieren.

Die Kompositionen von Willy Heinz Müller erweisen sich durchaus als Entdeckung: farbenreiche, durch eine ausgefeilte Linearität bestechende Lieder, die unweigerlich an Bergs Jugendlieder, Lieder von Zemlinsky und Schreker erinnern. Typischer musikalischer Jugendstil gepaart mit überwiegend melancholischen Texten von Hugo Binder und Victor Heindl. Mélanie Adami, die unüberhörbar aus dem Opernfach kommt, singt die Lieder ihres Urgroßgroßer mit strahlender, vibrato- und obertonreicher Stimme. Aus den Liedern werden (schwer)gewichtige Arien. Vielleicht ist es der Wille, dem urgroßväterlichen Erbe gerecht zu werden, zu zeigen, dass er ein begnadeter Komponist war – nötig hätten die Kompositionen diesen Zeigefinger nicht gehabt. Schöner wäre es gewesen, wenn sie, so wie es der Pianistin Judit Polgar gelingt, den Farbenreichtum der Lieder in ihrer Interpretation mehr aufgegriffen hätte: mehr dynamische Varianzen, mehr Ausdruck und weniger Schwelgen in jedem Takt. Das von Mélanie Adami hin und wieder angebotene piano ist eher ein mezzopiano und offenbart stimmliche Schwächen, hörbar vor allem in einem verstärkten Anteil von Nebenluft und einer insgesamt raueren Stimme (ich möchte beinahe sagen, Mélanie Adami klingt leicht erkältet). Eine Ausnahme bildet das piano – dieses ist auch in meinen Ohren ein tatsächliches! – im Schluss des im Liedes Lass mich an deine Liebe glauben. Dieses piano dringt, ganz dem Text entsprechend, tief in die Seele ein und zeigt, dass sie durchaus fähig ist, erstklassig piano zu singen. Besonders in der Mittellage fehlt ihrer Stimme aber die Brillanz, die sie in der Höhe besitzt. Es gibt auch hier Nebenluft und die Vokale – die in allen Lagen eine Spur exakter sein dürften, besonders die o-Vokale – wirken flach.

Die Lieder der anderen Komponisten auf dem Album übernimmt beinahe ausschließlich Äneas Humm. Der als großes Nachwuchstalent gehandelte junge Schweizer Bariton ist bekannt dafür, in allen Genres zu Hause zu sein. Hier singt er Lied, häufig im besten Opern- und Operettenstil. Im Falle der Lieder des Komponisten Franz Ries, die ohnehin eine gewisse Nähe zur Operette besitzen, geht dieses Konzept gut auf. In Stücken wie dem titelgebenden Vergessene Lieder, vergessene Lieb von Ernst von Dohnány wirkt seine sehr dramatische Interpretation eine Spur zu pathetisch und damit leider auch weniger glaubwürdig, als man dies von ihm gewohnt ist. Es stellt sich, wie auch bei Mélanie Adami, selbst bei den gut gesungenen sechs Liedern von Franz Ries eine Übersättigung an großen Tönen ein. Wenn mit vollem Pathos vom ›Herzen‹ geschmettert wird, trifft es einen schon gar nicht mehr ins eigene – trotz seines unbestreitbar schönen und samtigen Timbres und seiner großen stimmlichen Möglichkeiten. Dass er sich eines größeren Ausdrucksrepertoires bedienen kann, versprechen kurze, innigere Passagen wie in Abschied von Franz Ries, die leider die Ausnahme bleiben. Im Duett der beiden Sänger verstärkt sich, was schon in den Sololiedern hörbar wird: Es wird nicht zu knapp geschwelgt und mit viel Vibrato und Legato dick aufgetragen. Die Interpretationen wirken insgesamt aus der Zeit gefallen, böse Stimmen würden ›altbacken‹ sagen (Prospero, PROSP0087). Henrike Leißner

Starke Frauen

.

Zwei in eins: Asmik Grigorian, in den letzten Jahren zum Weltstar der Oper aufgestiegen, hat sich der Vier letzten Lieder von Richard Strauss angenommen, die nun wahrlich herausragender Gestaltungskunst bedürfen. Darüber verfügt die litauische Sopranistin zweifellos, wenn ihre kräftige, volltimbrierte  Stimme in allen Liedern aufs Feinste mit den farbenreichen Klängen des Orchestre Philharmonique de Radio France unter der souveränen Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck verschmilzt. Im impressionistisch anmutenden Frühling bewältigt sie problemlos den geforderten großen Umfang von fast zwei Oktaven und die vokalisenhaften Intervalle auf das Wort Vogelgesang. Beeindruckend ist auch die extrem ruhige Stimmführung in allen Lagen über lange Phasen hinweg, wie besonders in September oder im geradezu abgeklärten Im Abendrot deutlich wird. Als nun wirklich nur kleinen Wermutstropfen empfinde ich, dass die im Liedgesang so zwingend notwenige Diktion zu den Endkonsonanten nicht immer zufrieden stellt.

Im Vergleich zu den originalen Liedern für Sopran und Orchester hat ALPHA eine Fassung für Sopran und Klavier mit dem Pianisten Markus Hinterhäuser vorgelegt. Im Beiheft führt Asmik Grigorian dazu aus, dass die „beiden Versionen jeweils unterschiedliche Klangfarben erfordern, auch wenn es sich um dasselbe Stück handelt“. Zunächst fällt auf, dass sich die beiden Künstler in der Klavierfassung in allen Liedern gegenüber der Orchesterfassung für gedehntere Tempi entschieden haben. Auch werden bei allem pianistischen Können die vielfältigen Farben des Orchesters natürlich nicht erreicht. Abgesehen davon, dass sich die Sängerin hinsichtlich der Lautstärke deutlich zurücknimmt, weil das Klavier eben nicht so stark ist wie der volle Orchesterklang, sind die Klangfarben des Soprans gegenüber der Orchesterfassung kaum verändert. Letztlich bleibt es Geschmackssache, welche Fassung mehr gefällt (ALPHA 1042).

.

.

Ein paar Jahre jünger als die Grigorian ist die bei Erato stark vertretene französische Sopranistin Sabine Devieilhe, die gemeinsam mit dem Pianisten Mathieu Pordoy Lieder von Wolfgang Amadeus Mozart und Richard Strauss aufgenommen hat. Nach welchen Gesichtspunkten die 16 Lieder von Strauss und die 8 von Mozart gegenüber gestellt worden sind, wird nicht immer deutlich, wenn man davon absieht, dass die selten zu hörenden vier Mädchenblumen von Strauss Mozarts bekanntem Veilchen vorangehen. Aber was das neckische Kinderspiel von Mozart mit Strauss‘ Ständchen und dem hoffnungsvollen Morgen (die Solo-Violine aus der Orchesterfassung spielt Vilde Frang) zu tun haben soll, hat sich mir nicht erschlossen. Auch das melancholische Allerseelen (Strauss) passt nicht wirklich zu Mozarts erotisch aufgeladenem An Chloe, aber vielleicht ist der starke Kontrast ja gewollt. Die Sängerin führt ihren klaren, silbrig timbrierten Sopran sicher, stets intonationsrein und mit schön aufblühenden Höhen durch alle Lagen. In partnerschaftlichem Musizieren mit dem souveränen Pianisten gelingen jeweils  ansprechende Interpretationen der sehr unterschiedlichen Lieder, dabei das elegant präsentierte Oiseaux, si tous les ans von Mozart oder das bravourös vorgetragene, mit höchst komplizierten Koloraturen à la Zerbinetta gespickte Amor (Erato 5054197948862). Gerhard Eckels

„Bruckners Welt“

.

Abseits der großen Sinfonik wird auch ein Gigant wie Anton Bruckner unzureichend beachtet, sieht man einmal vom relativ häufig aufgeführten Te Deum ab. Das heurige Jubiläumsjahr bietet insofern einen zweckdienlichen Anlass, den „anderen Bruckner“ mehr zur Geltung zu bringen. BR-Klassik (Bestellnummer 900940) legt eine wirklich nagelneue Studioproduktion vor (aufgenommen erst Anfang dieses Jahres im Münchner BR-Studio). Es zeichnen verantwortlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester unter Peter Dijkstra. Im Mittelpunkt steht dabei die Messe Nr. 2 e-Moll WAB 27, 1866 als Auftragswerk des Linzer Bischofs von seinem seinerzeitigen Domorganisten komponiert und drei Jahre später im Dom zu Linz uraufgeführt. Sie ist, wie ihre Vorgängerin, für achtstimmigen gemischten Chor und Bläserensemble gesetzt. Dem Komponisten gelingt die Symbiose zwischen Anlehnung an den gestrengen palestrinischen Stil der Spätrenaissance und damals zeitgenössischer Romantik. Eingespielt wurde die 1882 revidierte und 1885 erstaufgeführte Zweitfassung der Messe. Ergänzt wird adäquat durch fünf Motetten: Ave Maria WAB 6 (1861), Locus iste WAB 23 (1869), Virga Jesse WAB 52 (1885), Os justi WAB 30 (1879) sowie Christus factus est WAB 11 (1884). Sie künden von der tiefen Verwurzelung Bruckners im katholischen Glauben und sind in den Kontext der Wiedererstarkung der katholischen Kirche im Österreich der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einzuordnen, als die josephinischen Reformen durch das Konkordat von 1855 endgültig ad acta gelegt wurden. Abgerundet wird die einstündige Spielzeit der ersten CD durch die äußerst selten eingespielten zwei knappen Posaunenchoräle aus Bruckners Feder. Dieses als Aequale bezeichnete, beinahe vergessene Genre erlebte durch Bruckner 1847 einen wichtigen Beitrag. Die Stücke weisen schon auf die überlebensgroßen Choralpassagen in seinen monumentalen Sinfonien hin. Gleichsam als Bonus befindet sich auf der zweiten Disc eine fast 72-minütige, ausführliche Werkeinführung von Markus Vanhoefer. Diese widmet sich besagter e-Moll-Messe und ist in drei Teile untergliedert: 1. Herkunft und Selbstfindung, 2. Klangwelten sowie 3. Religion und Lebenskrisen. Als Musikbeispiele werden neben den auf CD 1 inkludierten Werken Ausschnitte aus der Romantischen Sinfonie (unter Mariss Jansons) sowie von Vorspiel und Fuge c-Moll WAB 131 (mit Martin Haselböck an der Orgel) beigesteuert. Der Neuerscheinung liegt ein informatives Booklet in deutscher und englischer Sprache bei, wobei leider auf die Gesangstexte verzichtet wurde. Künstlerisch und klanglich gibt es indes keine Einwände. Daniel Hauser

In Symbiose

.

Es ist keine Seltenheit, dass Duette aus Opern oder Oratorien auf Programmen von Konzerten oder Einspielungen diverser Sängerinnen und Sänger landen. Kunstlieder im Duett werden da schon stiefmütterlicher behandelt – vielleicht, weil sie in ihrer Wohnzimmer- und Salontradition vermeintlich weniger repräsentativ sind. Schade eigentlich, müssen sich zumindest die Sopranistin Katharina Konradi und die Mezzosopranistin Catriona Morison gedacht haben. Mit Ammiel Bushakevitz  am Klavier haben sie ein ganzes Album mit solchen Duetten eingespielt. Echoes heißt es (was dieser Name, über die spontanen Assoziationen im Rahmen der sich ergänzenden Stimmen zweier Sängerinnen hinaus, mit dem Programm zu tun hat, bleibt offen).

Neben den besonders hierzulande ›üblichen Verdächtigen‹, heißt Duetten von Schumann und Brahms, haben die drei auch Duette von Komponistinnen und Komponisten aus Frankreich ausgewählt. Darunter Werke von Ernest Chausson, Gabriel Fauré, Mel Bonis, und der beiden Sängerinnen und Schwestern Pauline Viardot und Maria Malibran. Einziges Auswahlkriterium: die persönlichen Vorlieben der beiden Sängerinnen. Die Kombination aus deutscher und französischer Romantik, impressionistischen Anklängen und spanischem Kolorit, wie in Pauline Viardots Habanera, ergibt ein durchaus reizvolles Programm. Der lange Block mit deutschsprachigen Duetten direkt zu Beginn des Albums erfordert beim Hörer oder der Hörerin trotzdem eine gewisse Vorliebe für dieses Genre. Nach 12 Titeln mit bestem und zweifelsohne mustergültig interpretiertem deutschem Duett samt chronisch unterrepräsentiertem Mezzosopran, ist es, zumindest für meine Ohren, eine große Freude, musikalisch in einen anderen Kosmos einzutauchen.

Hier kommen dann auch beide Stimmen auf ihre Kosten, was besonders erfreulich ist, weil hier zwei Sängerinnen ist Bestform aufeinandertreffen: Katharina Konradi mit brillantem, hellem Sopran, großer Flexibilität in höchsten Lagen und virtuosen Trillern und Catriona Morison mit warmem Timbre, voluminöser Mittellage und einer ebensolchen Höhe (bei Ernest Chausson darf sie die auch zeigen). Die Exaktheit, mit der die beiden Sängerinnen die Duette erarbeitet haben, ist beeindruckend, Legati und kleine Schleifer sind perfekt koordiniert, Diphthonge werden zeitgleich gesprochen, der Text ist allgemein deutlich verständlich. Ermüdend oder uninteressant wird diese Dimension der Perfektion für mich nicht. Einzig Ammiel Bushakevitz hätte sich hin und wieder ein Beispiel an seinen beiden Kolleginnen nehmen können was Witz und Leichtigkeit anbelangt. (Avi Music, 8553547). Henrike Leißner

Absolutes Vergnügen

.

Schwere Kost verspricht das Albumcover der neuen Einspielung des Baritons Samuel Hasselhorn mit dem Poznań Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Dirigenten Łukasz Borowicz: Urlicht. Lieder von Tod und Auferstehung aus der Zeit zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Anteil an Liedern, Balladen und Ausschnitten aus Opern (die hier einfach unter ‹Lieder› subsumiert werden), in denen der Tod im Vordergrund steht, dominiert deutlich, seien es die vom Spielmann besungenen toten Kinder in Humperdincks Oper Die Königskinder, Pfitzners Ballade Herr Oluf, der in der Nacht vor seiner Hochzeit stirbt und nur noch tot von seiner Braut angetroffen wird oder das Schicksal junger Soldaten, wie in den Liedern von Mahler und Braunfels. Bei der Aussicht auf beinahe eine Stunde Tod und Verderben mag dem einen oder anderen, hier schließe ich mich selbst nicht aus, die Vorfreude aufs Album doch etwas getrübt werden. Spätestens nach den ersten 40 Sekunden des Hörens, konkret: beim ersten Einsatz Samuel Hasselhorns, hat sich diese leicht getrübte Vorfreude aber, zumindest in meinem Fall, in freudige Euphorie verwandelt. Was Samuel Hasselhorn und das Poznań Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Dirigenten Łukasz Borowicz abgeliefert haben, ist große Kunst – und bei aller Tragik der ausgewählten Werke deutlich weniger bedrückend, als es hätte sein können.

Ursache dafür dürfte vor allem Samuel Hasselhorns warmes, aber strahlendes Timbre sein. Wenn Samuel  Hasselhorn das Weinen in „Kniet nieder und weint“ aus der Arie ›Verdorben! Gestorben!‹ aus Humperdincks Königskindern plötzlich im zartesten piano singt, ist das musikalisch ein absolutes Vergnügen. (Da verzeihe ich auch gern dem später einsetzenden Kinderchor, dass seine ›Königskinder‹ Konsonanten nur vom Hörensagen her zu kennen scheinen.) Ebenso berührend ist seine Interpretation von Pierrots Tanzlied aus Korngolds Oper Die tote Stadt. Zwar singt hier nicht der Protagonist Paul, der den Tod seiner Frau Marie verarbeiten muss, aber ein unglücklich verliebter und entsprechend betrübter Schauspielkollege von Pauls neuer (und nicht unproblematischer) Liebe Marietta. Die Arie selbst und sicher auch die Art und Weise, wie Samuel Hasselhorn mit hörbarem Genuss crescendi mit sich steigerndem Vibrato auf längeren Notenwerten unterbringt, ist beinahe schon zu viel des Guten. Samuel Hasselhorns Interpretation und vor allem seine Stimme hätten großes Potenzial, in ihrer reinen Klangschönheit die Dramatik der Texte vergessen zu machen und stattdessen ein bisschen zu sehr Traum diverser Schwiegermütter zu sein. Es ist ein schmaler Grat – für mich überschreitet er ihn aber noch nicht. Das gelingt ihm mit seiner breiten Palette stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten und mit einer guten Portion schauspielerischer Begabung.

Die kommt besonders in Pfitzners Ballade Herr Oluf voll zum Tragen, wenn Samuel Hasselhorn neben dem Erzähler auch dem Sohn, dessen Braut und dessen Mutter, und der Tochter des Erlkönigs eine eigene Stimme verleiht, ohne dabei ins Comic-hafte abzugleiten. Ebenso eindrücklich ist die Mordszene aus Bergs Wozzeck, in der die Sopranistin Julia Grüter als mädchenhaft naive Marie Samuel Hasselhorn zur Seite tritt. Viel zu tun hat sie in dieser Szene wahrlich nicht – etwas schade ist hier nur, dass man ihr doch wenigstens noch ein weiteres Duett hätte gönnen können.

Es tut Samuel Hasselhorn hörbar gut, dass er, anders als auf den von ihm in den vergangenen Jahren veröffentlichten Schumann- und Schubertlieder-Alben, ein großes Orchester an seiner Seite hat. Hier kann seine Stimme voll ausschwingen und sich ihr Timbre ganz entfalten. Das Poznań Philharmonic Orchestra bietet Samuel      Hasselhorn aber nicht nur eine farben- und facettenreiche Bühne für seine Stimme. Es treibt ihn an, es brodelt, es kommentiert, es umschmeichelt ihn. Das alles geschmackvoll phrasiert, mit ebenso gewählten Tempi, schönsten Soli, wie dem der Violine im titelgebenden Mahlerlied Urlicht und einer erfreulichen Exaktheit. Der Dirigent Łukasz Borowicz ist ein Glücksfall für sein Orchester und sicher auch die Zusammenarbeit mit Samuel Hasselhorn. Wenn Verzweiflung, Tod und Desillusion doch nur immer so klängen (harmonia mundi france, HMM902384). Henrike Leißner

Wexford Übernahme

.

Weniger als 40 000 Einwohner hat die Stadt Jesi in der italienischen Region Marche, aber eine Piazza Federico, auf der in einem Zelt zu Weihnachten 1194 Konstanze von Sizilien den späteren Kaiser Friedrich II. gebar, und ein Teatro Pergolesi-Spontini, da 1710 Giovanni Battista in und 1774 Gaspare nahe bei Jesi geboren wurden. Das verpflichtet zu einem regen musikalischen Leben, zu dem auch die aus Wexford, wo man immer um Ausgrabungen und Neuentdeckungen bemüht ist, stammende Produktion von Francesco Cileas L’Arlesiana gehört. In Wexford und Jesi wollte man sich weder damit abfinden, dass die Titelfigur nicht auf der Bühne erscheint, noch damit, dass der Tenor nur eine Schmonzette zu singen hat: das Lamento des Federico, den bei der Mailänder Uraufführung Enrico Caruso sang. Um Abhilfe für das Erstere zu schaffen, hatte man Regisseurin Rosetta Cucchi engagiert, die gleich eine ganze Heerschar von Arlesiane die Bühne bevölkern ließ, die, um die Verwirrung vollkommen zu machen, der Vivetta sehr ähnlich sahen. Sie begründet es damit, dass auch die real Existierenden, Madre Rosa, Fratello L’Innocente und die anderen, reine Fiktion des kranken Gehirns von Federico sein könnten. Freudigerer Zustimmung gewiss  kann die Wiederauffindung der zweiten Arie des Federico Una mattina aus dem dritten Akt der ersten Fassung des Werks durch den Tenor Giuseppe Filianoti sein, der diese beim Erforschen der vokalen Kammermusik Cileas entdeckte und bereits 2014 auf einer CD der Gesamtaufnahme des Werks wieder vorstellte.

Die Handlung der Arlesiana ist düster, die Landschaft, in der sie spielt, Daudets Provence, ist heiter, die Bühne in Jesi jedoch durchgehend dunkel, mit viel abweisendem Mauerwerk und vielen Gittern (Bühne Sarah Bacon). Auch die Kostüme lassen eher an einen Trauerfall als an eine immerhin beabsichtigte Hochzeit denken (Claudia Penigotti).

Orchester und Chor sind auch die der alljährlich stattfindenden Sommerfestspiele im Sferisterio von Macerata und stellen unter der Stabführung von Francesco Cilluffo ihre Erfahrung mit italienischer Oper unter Beweis. Das Werk hat durchaus neben der des Federico noch weitere sehr dankbare Rollen. Da ist zum einen Rosa Mamai, eine zweite Mamma Lucia, nur mit sehr viel mehr zu singen, darunter das herzzerreißende „Esser madre è un inferno“, das Annunziata Vestri mit herbem, reifem, etwas dünnem Mezzosopran und tief berührendem Spiel zu einem Höhepunkt der Vorstellung werden lässt. Auch der vom Bariton Stefano Antonucci gesungene treue Hirte und Vertraute Baldassare präsentiert mit seinem großen Auftritt ein schönes Beispiel von vokaler Stilsicherheit. Mit klarem, hellem lyrischem Sopran wirbt Mariangela Sicilia als Vivetta um die Zuneigung des manischen Federico, um deprimiert feststellen zu müssen: „Sono respinta“. Welche Schuld das Aquarium, das sie stets mit sich herumträgt, daran hat, bleibt im Dunkeln. Ein wunderschönes Solo hat der mit einer Spontanheilung frappierende Innocente von Riccardo Angelo Strano, der seinem zweiten Vornamen alle Ehre macht. Furchteinflößend ist der dunkle Bariton von Valeriu Caradja als Nebenbuhler Metifio, schwarz klingt der Bass von Christian Saitta, der einen kurzen Auftritt als Marco, Bruder der Rosa, hat. Und der Tenor? Dmitry Golovnin hat natürlich, wie könnte es anders sein, keine italienische Stimme und ist so zwar ein wackerer Tenor mit viel Durchschlagskraft und Squillo, aber doch zu scharf, zu eng, zu herb und damit zumindest akustisch ein Fremdkörper bleibend. Der Wiederentdeckung des Werks durch auch andere Bühnen dürfte eigentlich nun, noch bereichert um eine weitere effektvolle Tenorarie, nichts im Wege stehen (Dynamic 37688). Ingrid Wanja      

Konzertarien von Haydn, Mozart, Beethoven

.

La Passione nennt sich eine CD und verweist damit auf ein Musikstück von Joseph Haydn, das aber wahrscheinlich gar nicht zu Recht diesen gefühlsbeladenen Titel trägt, es sei denn, es solle, im düsteren h-moll, eigentlich den Trauermusiken vorbehalten die unangenehmsten Seiten der Liebe darstellen. Wie das Booklet zur CD feststellt, ist es wahrscheinlich die Schuld eines Kopisten, dass das Werk den irreführenden Titel trägt, und damit nicht genug der Irrungen und Wirrungen, denn auch das zweite Konzertstück Haydns, das als Ouvertüre fungiert, ist wahrscheinlich in Wahrheit das Finale für eine Sinfonie, von der nur Teile überliefert wurden. Die Akademie für Alte Musik Berlin hat sich beider Stücke in der von ihr gewohnten traditionsbewussten wie hoch engagierten Weise angenommen und ist zugleich kompetenter Begleiter für die Solistin der CD, den deutschen Sopran Christina Landshamer.

Im Zentrum der CD stehen Konzertarien von Haydn, Mozart und Beethoven, von denen zwei Komponisten für die mit ihnen befreundete Sängerin Josepha Dusek komponiert haben, so ist die einzige zu seinen Lebzeiten aufgeführte und editierte Arie  Beethovens, Ah perfido, der Schluss- und Höhepunkt der vorliegenden CD. Es beginnt jedoch mit der Haydn-Arie Berenice, che fai, die sich ins geradezu Dämonische steigert und die man deswegen gar nicht mit einem gemütvollen Papa Haydn in Verbindung bringen mag. Der Sopran überzeugt bereits mit der ersten Phrase durch ein apartes Timbre, mit einem schönen Aufblühen der Stimme in der Höhe, ein präsentes Piano und weiß um den Wert und die Bedeutung von Rezitativen. Er ist nicht zart mädchenhaft, sondern lässt eher eine schöne frauliche, charaktervolle Reife vernehmen und kann an exponierter Stelle auch einmal scharf werden. Manchmal wird eine Silbe verschluckt, der Sprung in die Tiefe endet auch einmal im Schattenhaften, aber das kann auch dem „eccesso del dolor“ geschuldet sein. Es folgt des jungen Beethovens Ma tu tremi, o  mio tesoro, eine Schäferidylle noch im Rokokostil, die erst 1948 mit den Korrekturen des Lehrers Salieri publiziert wurde.  Bei Mozarts Arie des Idamante für eine Aufführung von Idomeneo in der Fastenzeit im Palais des Fürsten Auersperg rätselt man bis heute, ob sie für einen Kastraten oder einen Tenor komponiert wurde. Landshamer singt auch den kurzen Einwurf der  Ilia angemessen hektisch, während ihr Idamante sanft sein morrei ausmalt, das Orchester die Stimme schön umspielt. Eine feine Verhaltenheit, aber auch gut gelungene Intervallsprünge und virtuose Läufe kennzeichnen die Darbietung von Haydns Solo e pensoso. Agogigreich und die vielen Stimmungswechsel mit vielen unterschiedlichen Farben unterstreichend,   dazu sicher in der Höhe, bildet Beethovens Ah!Perfido den Schluss- und Höhepunkt. In den Orchesterstücken wie als Begleitung der Sängerin erweist sich die Akademie für Alte Musik als ideale Komponente der CD (PTC 5186 987). Ingrid Wanja   

Der Star ist das Orchester

.Der Star ist und bleibt das Orchester.

Ursprünglich hatte sich Richard Strauss gewünscht, dass sein letztes Bühnenwerk, das Konversationsstück für Musik Capriccio, in Salzburg erstmals gegeben werden sollte. Es kam anders. Die Uraufführung fand am 28. Oktober 1942 im Münchner Nationaltheater statt. Große Szenen wurden aufgenommen und später auf einer BASF-Schallplatte veröffentlicht. Viorica Ursuleac sang die Gräfin. Sie war die Frau des Dirigenten und Librettisten Clemens Krauss, der bei seiner Arbeit auf Vorstudien zurückgreifen konnte, die bis auf Stefan Zweig zurückgingen, der schon das Textbuch für Die schweigsame Frau geliefert hatte. Mit Capriccio sollte die künstlerische Zusammenarbeit mit Strauss fortgeführt werden. Dazu kam es nicht, weil der Schriftsteller 1934 vor den Nationalsozialisten ins Ausland flüchten musste, wo er noch vor der Premiere gemeinsam mit seiner Frau Lotte den Freitod wählte.

Strauss hatte Salzburg vor allen deshalb favorisiert, weil es das im Vergleich mit München intimere alte Festspielhaus für geeigneter hielt. Doch Salzburg kam erst 1950 zum Zuge als Karl Böhm eine Produktion von Rudolf Hartmann mit Lisa Della Casa in der Rolle der Gräfin und Paul Schöffler als Theaterdirektor La Roche leitete, die bisher nicht offiziell auf Tonträger gelangte. Dies war erst der nachfolgenden Inszenierung vergönnt, die Johannes Schaaf 1985 im einstigen Kleinen Festspielhaus besorgte. Sie blieb drei Sommer im Programm, kam bei der Wiederaufnahme 1990 auch ins Fernsehen – nun mit Theo Adam als Morosus – und ist auf YouTube zu finden. Bis auf das Jahr 1987, in dem Anna Tomowa-Sintow als Donna Anna im Don Giovanni unter Herbert von Karajan in Anspruch genommen gewesen war, sang sie durchgehend Gräfin besetzt. Lucia Popp übernahm nur vorrübergehend.

Die Premiere vom 7. August 1985 hat Orfeo nun im Rahmen seiner Festspieledition neu aufgelegt (C239152). Der Star ist und bleibt das Orchester. Horst Stein dirigiert die Wiener Philharmoniker und schafft nicht nur mit den großen orchestralen Passagen – Einleitung, Zwischenspiel und Mondscheinmusik – die Höhepunkte der Aufführung, hinter denen die sängerischen Leistungen etwas zurückstehen. Im bewegten Bühnengeschehen geht manches musikalische Detail unter. Der handlungstragende Streit über den Vorrang von Wort oder Musik in der Oper wird teils heftig ausgetragen. Warum hatte doch Strauss auf Salzburg als Ort der ersten Aufführung gepocht? „Weil ihm das gegenüber München intimere Salzburger Festspielhaus die besserer Wortverständlichkeit zu garantieren schien“, bringt der österreichische Musikjournalist Gottfried Kraus im Booklet in Erinnerung. Gut vierzig Jahre nach Fertigstellung des Werkes sollte dieser Rahmen keine Garantie für die Erwartungen des Komponisten, die sich im Studio am besten würden realisierten lassen, mehr sein. Auch die Gräfin von Anna Tomowa-Sintow, die in dem künstlerischen Wettbewerb entscheiden soll, ist bei ihrem ersten Erscheinen mit keinem Wort zu verstehen. Erst im großen Schlussmonolog, auf den alles hinaus läuft, und der zugleich alles offen lässt, gelangt sie zu großer Form und wurde, wie aus dem Booklet zu erfahren ist, auch von der Kritik einhellig gefeiert. Personifiziert ist die ästhetische Grundsatzdebatte des Werkes durch den Musiker Flamand (Eberhard Büchner) und den Dichter Olivier (Franz Grundheber), die beide die Gräfin auf ihre Weise umwerben. Sie, die „Streiter in Apoll“, müssen sich von Theaterdirektor La Roche die Leviten lesen lassen, der mit seinen kritischen Anmerkungen über das Theater als solches noch immer auffällig modern in Erscheinung tritt. „Ich will meine Bühne mit Menschen bevölkern, lässt er sich vernehmen. Leider ist Manfred Jungwirth, damals Mitte sechzig, über seinen Zenit weit hinaus. Er hält in seiner berühmten Ansprache die Musik zu kurz, indem er sich zu oft in den Sprechgesang flüchtet. Der Bruder der Gräfin (Wolfgang Schöne), die von ihm favorisierte Schauspielerin Clairon (Trudeliese Schmidt), die italienischen Sänger (Adelina Scarabelli und Pietro Ballo) sowie der Souffleur Taupe (Anton de Ridder) verhelfen dem Theater auf dem Theater, das in diesem Konversationsstück für Musik eine zusätzliche Ebenen eröffnet, zu seiner Wirkung.

Mit dem Booklet scheint Orfeo umweltschonende Wege einzuschlagen. Im Vergleich mit der ersten Ausgabe von 1999 ist der Fotozuschnitt teils ein anderer. Leichter und schlichter wirkt das Papier. Der Satz ist auf einigen Seiten derart verrutscht, dass der Textrand wie angeschnitten wirkt. Ohnehin hat man den Eindruck, als sei der Druck unter sehr einfachen Bedingungen erfolgt. Rüdiger Winter

Spätes Verona

.

Die letzte von sieben Opern ist Francesco Cileas Gloria, dessen L’Arlesiana immerhin den Dauerbrenner und damit die allseits beliebte Zugabe des Lamento di Federico und dessen Adriana Lecouvreur eine Bombenrolle für eine Magda Olivero oder Raina Kabaivanska bereit hielt. Ein herberes Schicksal ist seiner Gloria beschieden gewesen, die 1907 in Mailand uraufgeführt, aber bereits nach wenigen Vorstellungen wieder abgesetzt wurde, die er gründlich über- und umarbeitete und die 1932 in neuer Fassung in Neapel wieder aufgeführt wurde. 1938 gab es eine bejubelte Vorstellung in Rom mit Maria Caniglia und Beniamino Gigli in den Hauptrollen und in Anwesenheit von Benito Mussolini, was dem Werk nach 1945 nicht gerade dienlich war. Ein letzter verzweifelter Versuch, seiner Oper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war Cileas Bitte an Maria Callas, die er für die ideale Interpretin der Gloria hielt, sich um eine Aufführung zu bemühen. Sie zeigte keinerlei Interesse daran. Immerhin führte man Gloria 1997 in der historischen Freiluftkulisse der Geschlechtertürme von San Gimignano  mit Fiorenza Cedolins und Alberto Cupido auf und befand sich damit nur wenige Kilometer vom Handlungsort, der ebenfalls toskanischen Stadt Siena, entfernt. Die italienische Firma KIKKO hat diese Aufführung auf zwei CDs verewigt, die man auch bei youtube hören kann.

Nicht oft genug betonen, ja loben kann man das Bestreben des Opernhauses von Cagliari, in jeder Spielzeit mindestens ein unbekanntes Werk aufzuführen, so aus dem italienischen Repertoire Marinuccis Palla de‘ mozzi, Refices Cecilia, außerdem Gomez‘ Lo Schiavo, aber auch in ihren Herkunftsländern mit Missachtung gestrafte Opern wie Webers Euryanthe oder Tschaikowkis Pantöffelchen. Selbst die sardischen Vorfahren, die Erbauer der Nuraghe, wurden bereits gewürdigt.

Es geht um eine Romeo-und-Julia-Geschichte, um die Feindschaft zwischen den Guelfen, den Anhängern der Braunschweiger Welfen, und den Ghibellinen, die auf der Seite der Staufer standen, also um die Nachwehen eines unbedachten Akts Leos III., der Weihnachten 800 in Rom den überraschten fränkischen König Karl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt und damit den späteren deutschen Königen die Verantwortung für Italien auferlegt hatte. Dass Italien wie Deutschland erst im 19. Jahrhundert zur Einheit fand, war die Spätfolge dieses unbedachten Tuns.

In Siena, das auf der Seite der Guelfen steht, feiert man die Einweihung eines neuen Brunnens durch die Tochter des Priors Aquilante gemeinsam mit den eigentlich vertriebenen Anhängern der Ghibellinen, die jedoch bei Anbruch der Dunkelheit die Stadt wieder verlassen müssen. Unter ihnen ist Lionetto, Sohn des Anführers der Ghibellinen, der sich in Gloria verliebt und auch von ihr wohlwollend beachtet wird. Als nach Einbruch der Dunkelheit der Tabubruch bemerkt wird, Guelfen und Ghibellinen aneinander geraten, entführt Lionetto Gloria. Im zweiten Akt finden wir Gloria in Gefangenschaft Lionettos, der sie um ihre Hand bittet. Sie stimmt zu, auch um den Frieden zwischen den beiden Parteien wieder herzustellen. Ihr Bruder Bardo fordert sie jedoch auf, den Bräutigam mit einem Schwert, das er ihr überlässt, zu töten. Sie weigert sich, stimmt jedoch zu, ihm Gift zu verabreichen. Als Lionetto berichtet, zum Frieden bereit zu sein, ist sie auch dazu nicht mehr in der Lage, sondern will selbst das Gift trinken, was wiederum Lionetto verhindert. Der dritte Akt führt den Zuschauer in  die Hauskapelle der Bardi, in der die Trauung von Gloria und Lionetto stattfindet. Die Umarmung der beiden Schwager nützt Bardo dazu, LIonetto einen tödlichen Messerstich beizubringen. Danach will er mit Gloria fliehen, die es jedoch vorzieht, mit ihrem Gatten zu sterben.

Wer von Gloria eine Musik voller dolcezza, Eleganz, Geschmeidigkeit und Duftigkeit wie aus Adriana bekannt, erwartet, der wird arg enttäuscht, denn inzwischen hatte der Komponist eine Entwicklung hin zum eher Deklamatorischen vollzogen, Einflüsse von Wagner, dem französischen Impressionismus, manchmal fühlt man sich an Rimski-Korsakov erinnert, sind vernehmbar. Auch wer ein Kolossalgemälde mittelalterlicher Glaubens- und Geschlechterkämpfe erwartet, wird von der Intimität des Stoffes überrascht sein. So hat der Chor zwar einiges zu singen, verhält sich aber optisch eher wie der eines Oratoriums, so wie auch die Protagonisten teilweise nebeneinander aufgereiht vor diesem stehen und dies durchaus zum Charakter des Werks zu passen scheint. Regisseur Antonio Albanese verzichtet auch auf Videoprojektionen, bevorzugt eine quasi holzschnittartige Optik, und auch mit Farben wird sparsam umgegangen, Grau, Beige und Schwarz herrschen vor (Bühne Leila Fteita), und nur das Hochzeitskleid Glorias ist in glühendem Rot gehalten, könnte durchaus auf der Freitreppe von Cannes Aufsehen erregen (Carola Fenocchio).

Den Sängern ist also alle Aufmerksamkeit sicher, und sie sind sie wert. Die mit ihrem Familiennamen erst einmal in die Irre führende Anastasia Bartoli ist nicht die Tochter einer berühmten Mezzosopranistin, sondern die von Cecilia Gasdia, einst ein stilsicherer lyrischer Koloratursopran und inzwischen seit vielen Jahren erfolgreiche Intendantin der Festspiele von Verona. Anastasia trägt den Familiennamen ihres Vaters, eines Fiorentiner Zahnarztes, und auch was ihr Repertoire angeht, wandelt sie nicht auf den Spuren der Mutter, sondern eher auf denen eines soprano drammatico e d’agilità, hat bereits Lady Macbeth gesungen, Lucrezia in Due Foscari und strebt die Abigaille an. Ihr Sopran besticht durch Klarheit, Reinheit, auch eine gewisse Herbheit, sicher in der Höhe, durchaus auch stählern und von der Interpretation dienender Schärfe. Die Optik der schönen, schlanken Sängerin lässt nichts zu wünschen übrig. Eines tenore eroico bedarf die Partie des Lionetto, zu dem sich Carlo Ventre mittlerweile entwickelt hat, dessen Stimme dunkler geworden ist und der über einen bemerkenswerten squillo verfügt. Etwas unglücklich ist seine Optik zumindest im ersten Akt, wenn er wie ein in Paketband eingewickeltes Möbelstück wirkt. Bleichgesichtig verfolgt Franco Vassallo seine üblen Rachepläne und setzt dafür einen in allen Registern präsenten Bariton stupender Höhe ein. Weit ausholen mit autoritär klingendem Bass kann Ramaz Chikviladze als Aquilante, sanft und mild ist Elena Schirru als Senese, sonor Alessandro Abis als Vescovo. Francesco Cilluffo am Dirigentenpult dirigiert das bläserlastige Orchester sängerfreundlich und führt es, so im Vorspiel zum dritten Akt, zu einem Klang voll raffinierter Harmonien. Szenisch zeigt sich die Produktion allzu statisch, als dass sie dazu beitragen könnte, dem Stück trotz vorhandener Qualitäten die Bühne dauerhaft zu erobern (man hofft, dass nun Naxos mit dem Sound-only auf CD herauskommen wird). Dynamic 58004. Ingrid Wanja

.

.

PS.: Zwei weitere Produktionen der selten aufgeführten Gloria sollen nicht unerwähnt bleiben: Von 1969 veröffentlichte Memories (und andere) einen Live-Mitschnitt aus Turin von 1969 mit immerhin Margherita Roberti und dem von mir verehrten Flaviano Labó unter Francesco Previtali, und die tüchtige Verismo-Compagnie Opera Grattacielo New York brachte die Oper 2018 unter Israel Gursky mit Kerri Marcinko und Wesley Morgan in den Hauptrollen (auch hiervon exitiert ein Mitschnitt). G. H.

Franz Schmidts „Fredigundis“

.

Zu allgemeinen Überraschung erschien nun bei Orfeo Franz Schmidts Opernschocker Fredigundis in einer Live-Aufnahme des Österreichischen Rundfunks von 1979 mit Dunja Vejzovic, Werner Hollweg und anderen. Die gab es zwar schon immer bei anderen Labels des grauen Marktes, aber nicht in der fabelhaften originalen Bandqualität. Natürlich haben Fans des Genres diese stets gehabt, aber es ist schön, sie nun offiziell sein eigen zu nennen.

.

Details: Franz Schmidt Fredigundis, Oper in drei Aufzügen nach dem Roman von Felix Dahn (!) mit einem Libretto von Bruno Warden und Ignaz Michael Welleminsky; Besetzung: Fredigundis; Fredigundis Dunja Vejzovic; Chilperich, König der Franken Martin Egel; Landerich, des Herzogs Sohn, später Praetextatus,; Bischof von Rouen Werner Hollweg; Herzog Drakolen Reid Bunger; Rulla Olga Sandu; Drei Bewaffnete Wolfgang Witte Robert Riener; Neven Belamaric; ORF Chor; (Einstudierung | Chorus Master: Gottfried Preinfalk); ORF Vienna Radio Symphony Orchestra; Dirigent Ernst Märzendorfer; Musikverein Wien, Großer Musikvereinssaal, 27.09.1979  live recording;  2 CD Orfeo  4011790380124; dazu ein Einführungsartikel von Hartmut Krones und dankenswert das deutsch-englische Libretto).

.

.

Franz Schmidt: „Fredigundis“ /Theaterzettel der Uraufführung/ Theatermuseum Wien

Franz Schmidt war zu drei Vierteln Ungar und wurde im heutigen Bratislava in der Slowakei geboren. Fredigundis war seine zweite Oper (von zweien, die andere und bis heute berühmtere, wenngleich auch selten aufgeführte ist Notre Dame nach Victor Hugos Roman von 1914. Fredigundis gilt manchen als die bessere der beiden Opern, obwohl die Uraufführung auch die letzte auf der Bühne war (offenbar ein missverstandenes Desaster). Meine Einführung basiert auf der 1979 entstandenen OR-Konzertaufnahme, die anscheinend die einzige Wiederaufführung bis heute bleibt.

Dann wollen wir mal einen Blick auf diese ungewöhnliche Oper werfen, die Handlung zuerst.

Der Schauplatz ist Neustrien (das heutige Nordmittelfrankreich), zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts. Fredigundis (Sopran) ist dieselbe wie die Fredegonde in Guirauds Oper, die von Saint-Saens fünfundzwanzig Jahre früher vollendet wurde. Hier erfahren wir jedoch nichts von ihrem blutigen Konflikt mit Schwägerin Brunhilde, sondern viel von ihrer verrückten Ehe mit Chilperich I. (Bariton). In Schmidts Version ist Fredigundis eine verrückte Heidin, die Chilperich trotz der Warnungen seines Vaters Drakolen (Bass) und der romantischen Annäherungsversuche von Landerich (Tenor, der zum Erzbischof von Rouen wird, nachdem er von Fredegundis verschmäht wurde) verführt. Fredigundis ermordet Chilperichs stumme Frau Galswintha, heiratet ihn und bringt ein kränkliches Kind zur Welt (das kurz nach dem Tod seines Vaters stirbt, weil es versehentlich von Fredigundis vergiftet wurde!) Ich werde den Kontext dieses Teils (und des Finales) für später aufheben, weil das jetzt gerade selbst für ausgebuffte Opernfans zu bizarr wird!

.

Felix Dahns gleichnamiger Roman war die Vorlage zu „Fredigundis“ von Schmidt, berühmt wurde Dahn durch sein Epos „Ein Kampof um Rom“/ Wikipedia

Und jetzt geht´s los – Akt für Akt. 1. AKT: Klippen (?) über den Ufern der Seine. Die Ouvertüre ist eine überraschende und etwas zurückhaltende Komposition. Man soll sich nicht von ihrer Subtilität täuschen, sie ist in Wirklichkeit ein sehr komplexes Stück mit mittelalterlicher Blechbläserfanfare (die sehr oft wiederholt wird und mehr nach Renaissance als nach Mittelalter klingt, als gehöre sie in eine Oper über die Tudors oder so). Das schwebt auf musikalischem Schaum (wie ein Großteil der Partitur) und hat zwei Momente von echter Kraft (Gongs!). Außerdem ist sie durchkomponiert und mündet direkt in die erste Szene der Oper. Die Eröffnung besteht aus einem langen Dialog zwischen Fredigundis und Landerich, in dem sie das ätherischste Gespräch über Sex führen, das man sich vorstellen kann. Diese weist seine Annäherungsversuche wegen ihrer Liebe zu Chilperich zurück. Die königliche Hochzeitsbarke gleitet den Fluss (die Seine, wir sind immer noch in Paris) herunter (noch mehr Fanfarenmaterial aus der Ouvertüre), hauptsächlich zu Landerichs Erzählung. Es folgt ein weiterer Dialog zwischen Fredigundis und Landerich, der in einen Monolog für Fredigundis übergeht. Und dann singt endlich mal jemand anderes als die beiden, weil nun Chilperich auftaucht und nach der feurig-langhaarigen Fredigundis sucht! Sie hat auch etwas zu sagen (es gibt dann einige chromatische Einlagen des Orchesters), was uns den Kontext vermittelt, dass sie eine Zofe im königlichen Haushalt ist, aber davon träumt, selbst Königin zu werden! Das nennt man Ehrgeiz. Die Musik geht melodisch weiter, obwohl es keine Höhepunkte gibt, außer dass alles weiterhin sehr nach guter Richard-Strauss-Musik klingt, als Chilperich Vater Drakolen begegnet, der ihn vor Fredies Machenschaften warnt und versucht, ihn zum Eintritt in ein Kloster zu zwingen. Nach einem leichten Sturm bekommt Fredigundis eine weitere Solopassage, als sie den Wilden Jäger anruft, zu ihr zu kommen. Die Natur gurrt orchestral, sehr wirkungsvoll. Chilperich trifft ein und umarmt Fredigundis leidenschaftlich. Ein Großteil des restlichen Aktes besteht aus ihrem Liebesduett, bis Landerich (am Ende des Aktes wieder auftretend) beschließt, Priester zu werden, nachdem seine Verlobung mit Fredigundis gescheitert ist (sehr dramatisch).

Mangels weiterer Bilddokumente (die infamer Weise auch von der Bilderkrake Getty belegt sind) hier  zur Oper „Fredigundis“ in freier Aossoziation zur Titelfigur die große Sarah Bernhardt als Lady Macbeth auf dem Gemälde von Franz von Lehnbach/ Wikipedia

2. AKT: Vor dem Schlafgemach von Galswintha, einige Monate später. Gruseliges Präludium, meist auf Ganztönen. Fredigundis lauert in den Schatten herum, während Chilperich die stumme Galswintha in ihr Schlafgemach begleitet. Eine stark chromatische Passage, die etwa sechs volle Minuten dauert. Dann wird es unruhiger, als Fredie Galswintha ermorden will. Sie ist eben nicht nur ehrgeizig sondern auch ruchlos. Landerich tritt auf (jetzt Bischof, das nennt man Karriere) mit Drakolen (der es geschafft hat, eine Locke von Fredigundis‘ Haar an sich zu bringen, nachdem sie die Königin erstochen hatte). Landerich verbrennt die Haarlocke. Chilperich trifft ein, und es herrscht allgemeine Verwirrung (abgesehen von dem seltsam besonnenen, wenn auch liebes-vernarrten Landerich: Verdis Macbeth-Finale A1 grüßt). Ein Frauenchor (der erste in der Oper) tritt auf, und es kommt zu einem Tumult über den Mord an der Königin, der in ein Intermezzo übergeht. Szene 2: Das Hochzeitsbankett. Der Chor der Hochzeitsgesellschaft verwendet das Fanfarenmaterial aus der Ouvertüre als Grundlage. Dies beginnt Wagners Musik für Siegfried zu ähneln (das heroische Material, nicht die Oper). Landerich hat ernsthafte Probleme mit der Krokodil-Tränen weinenden Fredigundis (da er weiß, dass sie ihren Vorgänger ermordet hat, um dorthin zu gelangen, wo sie nun ist). Es folgen weitere triumphale Krönungsgesänge zu Wagnerscher Musik (sehr dramatisch, wie immer). Drakolen kommt herein (wie immer schimpft er, zu Recht, über Fredigundis). Das ist nicht so von dramatischer Wirkung, wie es sein sollte, also er denunziert sie vor dem gesamten Hofstaat als Mörderin. Zur Strafe dafür lässt Chilperich seinen eigenen Vater vor aller Augen blenden (!). Landerich hat jedoch immer noch Probleme damit, die Königin zu krönen. Chilperich nimmt die Krone selbst und setzt sie Fredigundis auf den Kopf. Das Volk jubelt ihr als neue Königin zu.

3. AKT: Ein Zimmer im Palast, eine Wiege sichtbar, mindestens ein Jahr später. Ein weiteres Präludium, diesmal etwas tonaler, wenn auch immer noch auf einer Ganztonleiter. Fredigundis ist über ihr sterbendes Kind gebeugt. Chilperich ist ihr immer noch treu ergeben, aber Fredigundis denkt, dass all das Schlimme, was sie getan hat, in Wirklichkeit eine göttliche Strafe für ihre Sünden ist. Die Musik wandert hier meist etwas amorph umher. Landerich tritt auf, aber erst als Drakolen draußen zu hören ist, nimmt die Handlung richtig Fahrt auf. Fredigundis bittet ihn, für ihr sterbendes Kind zu beten. Landerich versucht, Fredigundis dazu zu bringen, ihre Vergangenheit zu beichten, und sie beschließt mal wieder sehr entschlossen, die Dinge in die Hand zu nehmen und ihn zu vergiften. Er gesteht ihr, dass er sie immer noch liebt, obwohl er weiß, was sie für eiun gemeines Teil ist. Es folgt ein weiterer Mono-Gesang für Fredigundis mit einer üppigen orchestralen Untermalung, diesmal chromatisch. Und es folgt die Fortsetzung des Dialogs mit Landerich. Chilperich kehrt zurück und trinkt schließlich den Giftkelch, den Fredigundis für Landerich bestimmt hatte! Fredigundis flippt aus, und Chilperich beginnt langsam an den Folgen des Giftes zu sterben. Schließlich stirbt er wirklich, mit viel zarter Celesta-Musik im Hintergrund. Dazu hört man Drakolen im Hintergrund, bevor die Szene wechselt..

Die Darstellung Elle Terrys als Lady Macbeth (Gemälde von Sargent/Wikipedia) könnte der Oper Schmidts entnommen sein.

Szene 2: Das Innere der Kathedrale von Rouen, der Sarg von Chilperich in der Mitte. Der Trauermarsch dazu ist das bekannte Intermezzo. Drakolen trauert um seinen Sohn an dessen Sarg. Er geht weg. Fredigundis trifft ein und betet zu ihren heidnischen Göttern, um Chilperich von den Toten auferstehen zu lassen. Sie beginnt, einen heidnischen Ritualtanz aufzuführen (mitten in der Kirche, was für Nerven, aber vielleicht ist ihr jetzt alles egal. Der Deckel des Sarges stürzt auf sie herab und hält sie an ihren langen Haaren am Boden fest. Drakolen kehrt zurück, nachdem er Fredigundis Schreie gehört hat, aber da er blind ist, weiß er nicht genau, wer da in Not ist. Schließlich merkt er, dass es Fredigundis ist, und in dem Glauben, sie sei bereits tot, beginnt er zu jubeln. Aber so weit sind wir noch nicht. Landerich kommt hinzu und ist schockiert, Fredigundis in diesem Zustand zu sehen. Die am Boden eingeklemmte Fredigundis beichtet ihre Sünden und beginnt, während sie stirbt, Visionen von ihrem Mann und ihrem Kind im Jenseits zu sehen. Vorhang mit einem schockierend ruhigen Akkord.

.

Das Libretto: Die Schwächen liegen im Libretto, nicht unbedingt in der Partitur. Die Musik ist üppig, manchmal sogar zu melodiös für das ziemlich brutale Thema, bei dem es um Mord, öffentliche Verblendung, Vergiftung und Tod durch Erdolchen und Erschlagen geht. Der Plot ist einfach: Die Sopranistin wird von den drei männlichen Stimmen umkreist, die jeweils verschiedene Beziehungen zu ihr darstellen: der Tenor steht ihr nahe, kommt aber nicht weiter; der Bariton ist ihr zugetan; der Bass hasst und verabscheut sie wie sie ihn. Das Problem, wenn es denn eines gibt, besteht darin, dass die Sopranistin wild, amoralisch und selbst für Opernverhältnisse bizarr gezeichnet ist. Obwohl die historische Fredegonde selbst ziemlich rücksichtslos war, wird in der Oper eine Frau dargestellt, die an Verrücktheit über die historische Figur hinausgeht. Die bizarre Darstellung der Titelfigur ist eigentlich der Hauptmangel des Werks.

Die Musik klingt sehr nach Richard Strauss (der die Partitur sehr bewunderte), mit ein wenig mehr Chromatik, und Elemente der Handlung scheinen den Schockwert von Salome und Elektra heraufbeschwören zu wollen. Für all dieses Chaos ist Schmidts Musik überwiegend entweder sanft oder stattlich, und beides passt nicht wirklich gut zur Handlung, obwohl alles toll klingt. Hier herrscht „gothischer“ Horror, und manchmal auch grausamer. Aber die Musik ist ein starkes Argument dafür, dass diese Oper Besseres verdient. G. H.

.

.

Und noch einmal Sarah Bernhardt als Lady Macbeth/Atelier Nadar 1895/ Ipernity

Zur Musik selbst schreibt der österreichische Musikwissenschaftler Hartmut Krones im Beiheft zur neuen Ausgabe der Aufnahme bei Orfeo: Dass sich die Musik Franz Schmidts in ihrer Qualität weit über das Textbuch hinaushob, stellte man zwar allgemein fest, doch konnte diese Tatsache das Werk auch nicht wirklich retten. Dies umso weniger, als auch die Tonsprache in ihrer Dichtheit, ihrer kunstvollen Faktur, eher schwer verständlich war und es bis heute blieb. Und wenn Max Springer sie als „ununterbrochenen, nur spärlich durch Gliederungen und Kontraste eingedämmten Fluß“ charakterisierte, so drückte er damit sicher die Meinung vieler aus. Noch prägnanter formulierte es Julius Korngold: „Schwer hängt die kontrapunktische Rüstung an den Schönheiten der Musik“. Die Worte von Richard Strauss, „So schwer muß man es sich doch nicht machen. Ihre Musik erdrückt alles wie ein Lavastrom; ich hätte daraus vier Opern gemacht“, zeigen schließlich genau den Unterschied zwischen den beiden Zeitgenossen. Hier der Erfolgskomponist, der mit sicherem Gespür für den Publikumsgeschmack Oper um Oper verfertigte, dort der schwer um Vollendung ringende, immer höchste Maßstäbe anlegende Meister der Satzkunst, der im Bestreben, keine Musik ohne handwerkliche Vollkommenheit aus der Hand zu geben, vielleicht manchmal wirklich des Guten zuviel tat.

Franz Schmidts Musik zu „Fredigundis“ steht gleichsam am Endpunkt der Entwicklung, welche die sogenannte „klassisch-romantische“ Periode durchzieht. Auf dem Gebiet der Harmonik macht sich das in erster Linie durch zahlreiche Chromatismen und eine bis an die Grenzen der Tonalität vorstoßende Ausweitung des Dur-Moll- Systems bemerkbar. Der Bezug zum Zentrum, zum Grundton, ist zwar immer vorhanden, bisweilen aber derart verschleiert, dass er nur mehr mit der Partitur in der Hand wahrgenommen werden kann. Dissonanzauflösungen sind dabei durch das Einführen neuer akkordfremder Töne oft nur für den wirklichen Kenner hörbar. Und auch die Melodik weist durch chromatische und dissonante Führungen ähnliche Merkmale auf, was vor allem die Realisation der Gesangspartien vor überaus große Schwierigkeiten stellt. Dichte Kontrapunktik, perfekte Satzkunst und konsequente Notierung im Tonsystem (was zu extrem vielen Vorzeichen führt) sind weitere Charakteristika (und Probleme) des Werkes.

Der Autor, em. o. Univ.-Prof. MMag. Dr. Hartmut Krones, ist Emeritierter Universitätsprofessor des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung Wien und renommierter Musikwissenschaftler/Foto Schertberger

Dennoch muss gesagt werden, dass die Oper „Fredigundis“, was die Musik betrifft, ein überzeugendes Beispiel für jenen spätromantischen Standpunkt darstellt, wie ihn Franz Schmidt wie wohl kein zweiter im frühen 20. Jahrhundert einnahm. Die Befassung der Gegenwart mit durchaus schwerer verständlichen Werken der Moderne sollte aber auch dem Verständnis für diese Schöpfung förderlich werden. Hartmut Krones/Orfeo (mit Dank an den Autor!)

.

.

Die Handlung der Oper ist derart bizarr, dass ich die Gelegenheit nutzte eine (stark bedankte) Anleihe bei philsoperaworld zu machen. Das ist die erfrischend respektlose website eines Amerikaners namens Phil, der eine lange Reihe von Opernbesprechungen (in Englisch) veröffentlicht hat, die in ihrer bodenständigen Direktheit nicht nur Einsichten vermitteln sondern auch das Zwerchfell reizen. Wie nun auch hier bei Schmidts zweiter Oper (zu eben diesem s. auch Wikipedia, da ist das meiste gesagt; auch unser Korrespondent Daniel Hauser hat sich zu Franz Schmidt als sinfonischem Komponisten in operalounge.de geäußert). Phils Artikel beruht auf der genannten Ton-Aufnahme und auf zwei Videos (?), die der kompletten Orchesterpartitur von Fredigundis folgen.  Abbildung oben: die Schauspielerin Sarah Bernhardt als Lady Macbeth in einem Gemälde von Franz von Lenbach 1892/ Ausschnitt/Wikipedia)

.

.

.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

.

 

Der Liebe heitere Seite

.

Dem päpstlichen Verbot von Opernaufführungen verdankt die Nachwelt eine Reihe von Kantaten, mit deren Komposition der junge Georg Friedrich Händel, il bello Sassone, in seiner frühen, italienischen Phase im Dienste römischer Adelsfamilien wie der des Marchese Ruspoli der Vergnügungssucht des Publikums entgegenkommen konnte. Als er später in London die Möglichkeit hatte, den Engländern ganze  Opern vorstellen zu können, gab er diese Kompositionsform fast völlig auf. Der italienische Sopran Francesca Aspromonte hat gemeinsam mit Boris Begelman und dem Arsenale Sonoro einige Kantaten für das Label Pentatone aufgenommen und sich dabei nach eigener Aussage auf diejenigen beschränkt, die sich nicht nach Art einer Didon oder Ariadne mit Wehklagen über treulose oder vom Unglück behaftete Liebhaber befassen, sondern ein sehr selbst- und seines Wertes bewusstes Frauenbild zeichnen. Manchmal gibt es sogar einen Wechsel innerhalb eines Stücks, wenn zunächst durchaus die treue, in weiteren Rezitativen und Arien hingegen die freie Liebe gefeiert wird, so in Un‘ alma innamorata. Die Fotos im ausschlussreichen Booklet sprechen sogar, so neckisch, wie sich die beiden Solisten darstellen, von Übermut und Tollerei.

Es beginnt mit Mi palpita il cor, eingeleitet von einem Seufzer und im Rezitativ mit gestochen scharfen Koloraturen erfreuend, das kleine Orchester umschmeichelt die Stimme elegant, die leider zunehmend verwaschen klingt, so dass man froh ist, den Text im Booklet nachlesen zu können. Dabei ist die zarte, weiche Mädchenstimme, die sich allerdings eines Mannes, der eine Cloris anbetet, annimmt, von schöner, sanfter Melancholie, in den Höhen auch einmal nur wie hingetupft wirkend. Auch in Un’alma innamorata werden viele Konsonanten verschluckt zugunsten eines weichen bis verwaschenen Klangs, die Stimme macht oft den Eindruck eines weiteren Instruments, das aber durchaus den bereits erwähnten Umschwung in der Haltung der Liebenden, den vom Leiden zum Aufbegehren, deutlich machen kann. Markant wird es in E pur benché egli veda, ausgesprochen spritzig klingt die Arie Io godo, rido spero, schön gerundet klingt Ben impari come s’arma. Da ist nicht nur der Text eine Kampfansage an den untreuen Fileno.

Tu fedel, tu costante ist keine erfreute Feststellung, sondern eine empörte Anklage und pure Ironie. Da wird ein wahrer Don Juan beschrieben, eher tränensatt als überlegen spöttisch, aber immer wieder auch über Silben hinweg huschend, doch kann auch nicht umhin, immer wieder die Leichtigkeit der Emission zu bewundern. Ma il tuo genio incostante erweist sich als neckisches Spiel, ein Selbstgespräch mit einem zweiten Ich, S’un un di m’appago ist eine Weltpremiere als Einspielung und lässt den Schalk in jeder ihrer Phrasen aufblitzen.

Das Orchester ist nicht nur ein kompetenter Begleiter, sondern erweist sich in der Violin Sonata in G Minor und in der Sonata a tre in G Minor als vorzüglicher Händelinterpret, dem man gern zuhört (Pentatone PTC 5187 083). Ingrid Wanja

Unverzichtbar

.

Die nunmehr 16. „aktualisierte und erweiterte Auflage“ des Handbuchs der Oper, 1952 ins Leben gerufen von Rudolf Kloiber, fortgeführt von Wulf Konold und inzwischen, ab 2002, verantwortet von Robert Maschka und zunächst vom Bärenreiter Verlag allein, inzwischen auch von Metzler herausgegeben, ist nunmehr erschienen und kann die frohe Nachricht verkünden, dass in sie zum ersten Mal auch 22 Operetten in den mehr als 1000 Seiten umfassenden Band aufgenommen wurden (Handbuch der Oper/ Kloiber Konold Maschka/Bärenreiter/Metzler 16. Auflage 2024; 1025 Seiten; ISBN 978 3 76187300 7). Damit will man der Feststellung, dass Opernhäuser sich mittlerweile auch dieser Gattung widmen, Rechnung tragen, scheint sich allerdings, wie das Vorwort zur neuesten Ausgabe verrät, auch mit Gewissensbissen geplagt zu haben wegen der strengen Moralkeule, die gegenwärtig über dem Lachen über die Komische Alte oder der Verwendung des Begriffs Zigeuner geschwungen wird. Da ist es dem Buch hoch anzurechnen, dass es die „humoristischen Wirkungsmöglichkeiten“ der Gattung nicht bewertet, sondern nur dokumentiert, jedoch nachvollziehbar den heiteren Ton für „nicht durchhaltbar“ findet und stattdessen über die Verfolgung der zu einem großen Teil jüdischen Autoren und Komponisten berichtet. Dass man geradezu erleichtert feststellt, die Volksgruppe der Sinti und Roma sei in der Operette nur mit durchweg positiven Figuren vertreten, wirft ein recht grelles Licht auf die wohl verbreitete Besorgnis, etwas Falsches zu sagen oder gar nachweisbar zu schreiben.

Es ist gut, dass auch das Vorwort zur vorletzten Ausgabe von 2016 im neuen Band enthalten ist, denn mit diesem gewinnt man einen weit besseren Einblick in das Vorhaben und die im Verlauf der Jahrzehnte erfolgten Änderungen. 327 Opern von 135 Komponisten waren vertreten, der Opernführer spiegelte das Opernleben wider, indem er sich an den Aufführungszahlen und dem Kanon der Opernhäuser orientierte, und er sieht sich als „praktische Orientierungshilfe“. Vor acht Jahren teilte man dem Benutzer des Handbuchs mit, dass zwar das komische Genre des 18. Und 19. Jahrhunderts, dazu dürfte auch ein Lortzing (nur noch mit Wildschütz und Zar und Zimmermann vertreten) gehören, an Platz eingebüßt , dafür aber der italienische Belcanto gewonnen habe und die Oper der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker vertreten sei. Es ging jedoch nicht nur um Streichungen oder Neueinsetzungen, sondern auch Ergänzungen, die sich durch ein anderes Schriftbild identifizieren lassen, wobei Gestrichenes noch auf Links auffindbar ist.

Das Werk beginnt, soweit es die Opern betrifft, mit Adams‘ Nixon in China, dem knapp fünf Seiten gewidmet sind, und endet mit Udo Zimmermanns Die weiße Rose, der gut eine Seite zugedacht wurde. Das taugt zum Beweis dafür, dass jüngeren Werken nicht weniger Platz eingeräumt wird, weil sie etwa noch nicht über eine lange Aufführungstradition verfügen, denn auch eine Oper wie Kaija Saarahos L’amour de loin, die vielleicht in der nächsten Ausgabe gar nicht mehr vertreten sein wird, bringt es auf fünf Seiten, von denen besonders viel Platz der mittelalterlichen Dichtung eingeräumt wird. Händels Tamerlano bringt es wegen einer ausufernden Handlung immerhin auf mehr als fünf Seiten. Jeder Artikel schließt mit dem Kürzel des jeweiligen Verfassers.

Von jeder Oper gibt es ein Personenverzeichnis mit Stimmfach, wobei man sich an die 1952 eingeführten Fächer gehalten hat, dann folgen Schauplätze, Zeit der Handlung, Gliederung und Spieldauer. Ausführlich wird die Handlung dargestellt, für Lucia di Lammermoor anderthalb Seiten, darauf folgen Stilistische Stellung, Textdichtung, Geschichtliches, wozu auch die Nennung berühmter Interpretinnen gehört. Das  lässt deutlich werden, dass das Werk weit über gängige Opernführer hinausgeht und ihm tatsächlich eine Sonderstellung zu Teil werden kann, es zu Recht vor allem, aber nicht nur für enger an die Gattung Oper gebundene Personen gedacht ist. Eine besondere Bedeutung kommt dabei natürlich der Rubrik Stilistische Stellung zu, aber auch die Inhaltsangaben gehen weit über das  von einem Opernführer Gewohnte hinaus.

Mozart ist mit allen , auch den frühesten des Knaben Wolfgang Werken vertreten, von Verdi hingegen fehlen Oberto, Un Giorno di Regno, Alzira, Stiffelio und Araldo sowie Giovanna d’Arco, was nicht durchweg bedauerlich ist, wohl aber in Bezug auf die einzige Komödie außer Falstaff und Giovanna d’Arco, die eine Art Renaissance nicht zuletzt durch die Interpretin Anna Netrebko erlebte. Dem Belcanto widerfuhr zwar inzwischen mehr Gerechtigkeit als in früheren Ausgaben, doch vermisst man noch Bellinis Beatrice di Tenda, Donizettis Maria di Rohan und bei seiner Lucrezia Borgia hätte  schon ein Hinweis auf die 2023 erfolgte Uraufführung von Dalinda, eine Umarbeitung des zensuranfälligen Stoffs durch die Berliner Operngruppe erfolgen können. Auch die Bemühung der Deutschen Oper Berlin um Giacomo Meyerbeer trug keine Früchte, denn von ihm sind nur Der Prophet und Die Hugenotten zu finden, nicht einmal Die Afrikanerin oder Vasco da Gama. Schien da der Titel zu heikel zu sein?

Nun hat jeder, auch jeder Opernfreund seine Vorlieben und hält für der Vernachlässigung wert, was anderen teuer ist. Trotz kleiner Einwände bleibt Das Handbuch der Oper eines der wichtigsten, wenn nicht gar das allerwichtigste Nachschlagewerk für alle, die sich professionell oder als Liebhaber der Gattung verbunden fühlen.

Im umfangreichen Anhang findet man die Rubriken Besetzungsfragen, Fachpartien, Register zum Opernteil, geordnet nach Komponisten, Operntiteln und Librettisten, das Gleiche gibt es für die Gattung Operette. Ingrid Wanja

Stilles Vorüberziehen

.

Unter dem Titel Ich sehe still vorüberziehen ist bei Ars ein Debüt-Album von Yvonne Prentki und Benedikt ter Braak mit Liedern von Richard Strauss, Josephine Lang, Nadia Boulanger und Ethel Smyth herausgekommen. Die Sopranistin und ihr seit Studientagen ständiger Klavierbegleiter forschen schwerpunktmäßig nach Werken von Komponistinnen der Romantik. So stehen hier neun ausgewählte Lieder von Josephine Lang im Fokus der Aufnahme, die tieferen Einblick in die „Gebrauchsmusik im Alltag des bürgerlichen Salons“ der damaligen Zeit geben sollen. Mit ihrer gleichmäßig durch alle Lagen geführten Stimme, die in der Mittellage besonders rund und weich klingt, gelingen Yvonne Prentki hübsche Stimmungsbilder von schlicht eingängigen bis zu hoch virtuosen Melodien: Auf das heitere Lied An sie folgt differenziert wiedergegeben das nachdenklich expressive Ob sie meiner wohl gedenkt. Im Lied Nichts über Ruh wird mit unruhig hämmernder Klavierbegleitung klar, dass es eigentlich nicht weit her ist mit der Ruhe. Zu Die scheidende Braut schrieb Josephine Lang den Text selbst, so dass in der Musik ihre positiv vorwärts drängenden Gedanken hörbar werden. Besonders gelungen ist die Justinus-Kerner-Vertonung Stummsein der Liebe, die mit rasanter Klavierbegleitung beginnt und nach einem ruhigeren, atemschöpfenden Mittelteil mit neuem virtuosem Aufschwung endet. Mit großem Tonumfang wartet die Sängerin in Am Grabe auf. Nach einer längeren Schaffenspause entstanden später weitere interessante Lieder, wie das schlicht und natürlich empfundene Auf dem Felsen und Das ist die wehmuthvollste Zeit, aus dem der titelgebende Vers „Ich sehe still vorüberziehen“ stammt, sowie das einfühlsame Liebeslied Einziger Trost.

Diesen Kompositionen werden zwei Lieder von Nadia Boulanger und Ethel Smyth’s kurzer Liederzyklus Three Moods of The Sea – eine ihrer letzten Kompositionen – gegenübergestellt: In Soir d’Hiver  zeigt die Sängerin erneut ihre klaren, sauberen Höhen; in der Interpretation des ebenfalls von Nadia Boulanger stammenden Textes wechseln Hoffnung und Entsetzen gekonnt. Puren Spätimpressionismus in Frankreich verrät La Mer mit ruhig fließenden Wellenbewegungen. In den drei englischen Liedern erkennt man die Herausforderungen eines Seefahrers-Tages: In Requies gelingt es den Interpreten morgendliche mystische Ruhe herzustellen, bevor dann mit Before the Squall böiger Sturm mit aufpeitschenden Wellen heranrollt, toll gemacht auch von dem Pianisten; als erlösender Schluss folgt mit After Sunset ein ruhiger Tagesausklang.

Warum ausgerechnet der frühe Liederzyklus Mädchenblumen von Richard Strauss nach Gedichten von Felix Dahn die CD ergänzt, die so auf Komponistinnen abgestimmt ist, hat sich mir nicht erschlossen. Vielleicht liegt es daran, dass diese schlichten Blumenlieder – eigenwillige Charakterisierungen von vier Frauentypen – unterschätzt und selten geboten werden. Zum Einstieg in einen Liederabend können sie durchaus als Bereicherung gelten. An der stets aufeinander eingehenden Darbietung der beiden Künstler kann man die lange Zusammenarbeit erkennen. Positiv ist zu vermerken, dass das Beiheft interessante Anstöße gibt, sich weiter mit den Komponistinnen zu beschäftigen; leider sind nicht alle Texte der Sopranistin gut zu verstehen, so dass bei diesen noch unbekannten Liedern der Abdruck der Texte sinnvoll gewesen wäre (ARS 38656).  Marion Eckels

Jahrhundertfrage

.

Wieder überrascht das Label Château de VERSAILLES mit einer barocken Rarität: André Campras Opéra-Ballet Le Destin du Nouveau Siècle, uraufgeführt 1700 im Collège Louis-le-Grand, einer bedeutenden Jesuitenschule von Paris. Das Stück in einem Prolog und drei Erzählungen (récits) behandelt die Kardinalfrage Frieden oder Krieg. Die Befürworter des ersten wollen Kunst, Kultur und auch Komfort, die des zweiten Ruhm und Prestige.

Im Prologue bereitet sich Gott Saturne darauf vor, der Welt ein neues Jahrhundert zu schenken. Das Volk ist gespalten in zwei Parteien – die eine bittet um Krieg, die andere um Frieden. Zur ersten gehören Mars, La Gloire (der Ruhm), Vulcain und Bellonne. Der Erdgeist (Le Génie de la Terre) lädt den Frieden (La Paix) ein, vom Himmel herabzusteigen. Vergnügen, Spiel und Überfluss begleiten ihn. Mehrere Völker preisen die Vorteile des Friedens. Saturne rät den uneinigen Völkern, sich an die Göttin der Weisheit Pallas zu wenden. Diese befiehlt dem Himmelreich, ein Jahrhundert zu bilden, in dem sich Frieden und Krieg abwechseln. Die Völker danken der weisen Göttin. Ihre Lösung mögen wir heute als fragwürdig empfinden, doch entsprang sie wohl der Einsicht, dass der Mensch in seinem Wesen wahrscheinlich nie zur Vernunft kommen wird.

Die Einspielung stammt vom Januar 2021 aus der Opéra Royal du Château de Versailles und wurde auf einer CD veröffentlicht (CVS061). Das Ensemble La Tempesta musiziert unter Leitung von Patrick Bismuth. 2017 hatte es die seit 1706 verschollene und erst 2015 aufgefundene Komposition in moderner Zeit wiederbelebt. Diese besteht zur Hälfte aus Tänzen, Gigue, Rigaudon, Musette, Menuet, Chaconne, womit die Musik Rameaus Gipfelwerke des Genres vorwegnimmt. Der Dirigent ist selbst Komponist, zudem Geiger und Sprachwissenschaftler, und er hat das rechte Gespür für Campras Klangwelten. Er favorisiert forsche Tempi, setzt auf Verve und Temperament. Ein Ensemble von stilistisch erfahrenen Sängern ist versammelt – alle in mehreren Rollen besetzt. Der Baritenor Marc Mauillon gibt den Mars und Saturne mit resonantem Klang und Autorität. Der in diesem Repertoire renommierte Matthias Vidal ist Le Génie de la Terre mit stilistischer Kompetenz und tenoralem Wohllaut. Der Sopranistin Claire Lefilliâtre sind sogar drei Rollen zugeordnet – die Pallas, Bellonne und La Gloire. Sie singt sie mit recht larmoyantem Ton. Auch Florie Valiquette ist eine Sopranistin und mit La Paix sowie Une Parque (Eine Parzin) besetzt. Ihre klare, reine Stimme ist angenehmer zu hören. Der Bariton Thomas Van Essen komplettiert die Besetzung als Vulcain und Un Guerrier mit resolutem Bariton. Bernd Hoppe (15. 05. 24)