Erstfassung Wien 1762

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Herzenswunsch eines jeden Countertenors von Rang ist es wohl, Glucks Orfeo zu singen – oder noch besser: die Partie in einer Tonaufnahme zu dokumentieren. Eine schier unüberschaubare Fülle findet sich auf dem Musikmarkt, darunter auch eine ERATO-Einspielung mit Philippe Jaroussky aus dem Jahre 2018. Nun hat die Firma ihrem Exklusivkünstler Jakub Jozef Orlinski seinen Wunsch erfüllt – mit ihm die Azione teatrale per musica im Januar 2023 in Warschau produziert und nun nochmal bei Erato auf einer CD veröffentlicht (5054197897535). Im Unterschied zu Jaroussky, der sich für  die Fassung von Neapel 1774 entschieden hatte, ist nun die Erstfassung Wien 1762 zu hören. Orlinski fungiert in der Neuproduktion als Interpret der männlichen Titelrolle, als Produzent, künstlerischer Leiter und Besetzungschef. Im Fall des Amore hatte er eine besonders glückliche Hand mit der Wahl der ägyptischen Sopranistin Fatma Said. Ihre Stimme besitzt hohen Farbreichtum, Sinnlichkeit und eine bedeutende lyrische Substanz, wie man sie gewöhnlich in dieser Partie nicht zu hören bekommt. Der Amore als Nebenrolle erhält dadurch einen höheren Stellenwert als in den meisten anderen Aufnahmen. Seine Begegnung mit Orfeo am Ende des 1. Aktes, „T´assiste Amore!“/„Gli sguardi trattieni“, wird zu einer Kernszene der Handlung dank des nachdrücklichen und phantasievollen Vortrags der Sängerin. Das rückt die Partie der Euridice fast in den Hintergrund – trotz ihres großen Duos mit Orfeo und der vehementen Arie „Che fiero momento!“ im 3. Akt. Der Sopran von Elsa Dreisig vermag sich aber nicht genügend von dem Fatma Saids abzusetzen. Die Stimme ist in ihrem Charakter lyrisch und ausgewogen, aber weit weniger persönlich als die der Ägypterin. Und in den Rezitativen klingt sie im Bemühen um dramatischen Ausdruck zuweilen schimpfend. Die dramatische Arie wird vom Orchester mit einem Wirbelsturm eingeleitet und gelingt ihr dann auch überzeugend, wenngleich die eingelegten staccati zwar virtuose Elemente der Verzierung sein mögen, aber kaum der existentiellen Situation der Figur entsprechen.

Orlinski stellt seinen Orfeo in einer ausgesprochen introvertierten Lesart vor, gipfelnd in der berühmten Arie „Che farò senza Euridice?“, die er in betont getragenem  Tempo und mit ganz nach innen gewandtem Ausdruck vorträgt. Orfeos erstes Solo, „Chiamo il mio ben così“, erklingt zunächst in schlichter Anmut, wechselt dann aber in weinerliche  Schmerzenslaute. Das Dacapo wird variiert, entbehrt aber gleichfalls nicht der Larmoyanz. In „Mille pene“ im 2. Akt hört man heulende Töne, gelungener ertönt „Che puro ciel“ in purer Innigkeit.

Bei aller Konkurrenz: Die Neuaufnahme kann durchaus mit den besten existierenden Tondokumenten konkurrieren. Das ist vor allem das Verdienst des Orchesters, denn Il Giardino d´Amore unter Stefan Plewniak musiziert mit einer solchen Vitalität, einer derartigen dynamischen Bandbreite und einer Fülle von überraschenden Akzenten, dass man beim Hören geradezu gebannt ist. Das beginnt mit der spannungsgeladenen Sinfonia, zu welcher der folgende, schleppende Gesang des Chores einen starken Kontrast bildet. In der Folge begeistern Chor und Orchester immer wieder mit ihren Nummern – dem furiosen Ballo di furie e spettri oder dem paradiesischen Ballo d`eroi ed eroine negli Elisi. Am Ende hat Il Giardino d`Amore im viersätzigen Ballo noch einmal Gelegenheit, mit graziösen, beschwingten und heiteren Klängen zu glänzen, bevor sich alle zum jubilierenden Schlussgesang „Trionfi Amore!“ vereinen. Bernd Hoppe