Archiv für den Monat: Februar 2021

Stefano Mazzonis de Pralafero

 

Mit einem Gedenkkonzert ehrt die Opéra Royal de la Wallonie den verstoprbenen  Intendanten,Stefano Mazzonis di Pralafera, am 7. März 2021 um 15 Uhr im Livestream Am 7. Februar 2020 verstarb  Stefano Mazzonis di Pralafera. Ihm zu Ehren findet am Sonntag, den 7. März 2021 um 15 Uhr ein Gedenkkonzert statt, das in einem kostenlosen Livestream auf www.operaliege.be abrufbar sein wird. Chefdirigentin Speranza Scappucci hat dieses Gedenkkonzert als einen Moment intensiver Meditation initiiert, bewusst soll vorab kein Programm bekannt gegeben werden. Im Konzert möchten Orchester, Chor und Solist*innenensemble der Opéra Liège – natürlich unter Einhaltung aller Vorschriften zur Pandemiebekämpfung – ihren langjährigen Intendanten und Regisseur Stefano Mazzonis di Pralafera würdigen und allen die Möglichkeit geben, per Stream an dieser Erinnerung teilzuhaben. Seit 2007 stand Stefano Mazzonis di Pralafera dem Königlichen Belgischen Opernhaus als Künstlerischer Leiter und Intendant vor. Unter seiner Leitung hat die Opéra Royal de Wallonie- Liège eine beispiellose Entwicklung in ihrer künstlerischen Qualität, ihrem internationalen Ruf und der öffentlichen Reputation erfahren. Aufgrund seiner hervorragenden Arbeit wurde Stefano Mazzonis di Pralafera vor einigen Jahren zum Ehrenbürger der Stadt ernannt, auch die Stadt
Liège trauert um einen großen Künstler. Die Opéra Royal de Wallonie-Liège ist eines der drei königlichen Opernhäuser Belgiens. Das Jubiläum feiert gleichzeitig eine alte, geschichtsträchtige Oper und ein nach vorne gewandtes Opernhaus im 21. Jahrhundert, das die Zukunft im Blick hat. Der Spielplan des Hauses besticht durch eine abwechslungsreiche Mischung aus Klassikern des Repertoires und spannenden Raritäten. Eine beständig hohe Auslastung weist auf die große Beliebtheit und Treue des heimischen Publikums hin. Die starke überregionale Ausstrahlung des Hauses zieht Besucher aus dem nahen Deutschland, den Niederlanden, Luxemburg und sogar Großbritannien an. Auch dank regelmäßiger Online Übertragungen, realisiert u.a. durch Culturebox und medici.tv, macht das Haus in immer weiteren Kreisen auf sich aufmerksam (Foto ORW)www.operaliege.be

Provinzielles Heimatdrama

 

Mit einer wunderbar atmosphärereichen Inszenierung von Rusalka, die eine Nachbildung einer der historischen Brücken der Stadt Bromberg in den Mittelpunkt gestellt hatte, konnte die Opera Nova der polnischen Stadt unlängst verzaubern, und nun geriet ausgerechnet zum 200. Geburtstag von Stanislaw Moniuszko dessen Nationaloper Halka 2019 zu einer Riesenenttäuschung. Eine billige Ausstattung (Bühne Diana Marszalek, Julia Skrzynecka) aus Massen von Goldpapier und zwei Ebenen für die beiden sozialen Schichten, stoffreiche, aber stillose Kostüme ( Paulina Czernek) eine nicht vorhandene Chorführung, stereotype Gestik und Mimik der Solisten (Regie Natalia Babinska), klischeestrotzende Ballettnummern (Iwona Pasinska) und ein an Kitsch nicht mehr zu überbietender Schluss in Form einer als die Seele von Halka mit Harfenklang ins Jenseits entschwebenden Ballerina (Angelika Wojciechowska) stellten zwar nicht das glücklich wirkende Publikum im Saal, wohl aber den häuslichen Betrachter vor eine arge Geduldsprobe. Und auch drei niedliche kleine Mädchen, die hin und wieder in Gesellschaft Halkas, ihr aber stets wieder entweichend, auftauchten, konnten nicht versöhnen, wirkten allzu sehr als der an den Blondhaaren herbeigezogene Versuch, letztendlich doch etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes auf die Bühne zu bringen. Verdienstvoll ist zwar die Bereitstellung von deutschen Untertiteln, allerdings nicht solchen, die manchmal geradezu lächerlich sinnentstellend  an einer korrekten Übersetzung vorbeigehen.

Als nicht mehr und nicht weniger als solide erweist sich die musikalische Ausführung, so die des Orchesters unter Piotr Wajrak, und auch der Chor unter Henryk Wierzchon macht seine Sache gut. Für die von ihrem adligen Verführer verlassene Halka hätte man sich eine etwas jüngere Sängerin gewünscht als Jolanta Wagner, die reichlich nackte Schultern und Schenkel zeigt, aber wahrscheinlich hätte auch eine kleidsamere Perücke schon das Ihre getan. Der Sopran verfügt über eine tragfähige Mittellage, eine sichere Höhe mit leichten Schärfen und kann besonders in seiner Klage um das verlorene Kind berühren. Einen leichten Mezzo hat Dorota Sobczak für die adlige Rivalin Zofia. Mit durchdringendem Charaktertenor und sympathischer Bühnenpräsenz verkörpert Tadeusz Szlenkier den treuen Jontek, während Lukasz Golinski überzeugend das Hin- und Hergerissensein zwischen Geliebter und Braut darstellt, seinen Bariton aber nicht immer frei strömen lassen kann, auch wenn die Tiefe auffallend präsent ist. Schneidend und durchdringend lässt Szymon Rona den Dudelsackspfeifer zu Wort kommen, weitere tiefe Stimmen sind mit Jacek Greszta als Vater des Bräutigams und Lukasz Jakubczak als Dziemba vertreten. Als Ensembleleistung eines mittelgroßen Theaters kann sich also diese Produktion zwar nicht sehen, aber durchaus hören lassen. Um die Oper kennen zu lernen, dürften hochkarätigere Aufführungen geeigneter sein (Dux 8331). Ingrid Wanja    

 

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Rarität

 

Nicht nur puren Hörgenuss verspricht und hält die neue CD von Daniel Behle, der bereits zum zweiten Mal Lieder von Richard Strauss eingespielt hat, sondern mit dem vorbildlichen Booklet, das das Label Prospero mit der Signatur 0011 vorstellt, werden auch den Augen und dem Intellekt viel geboten. Bereits der Titel UN-ERHÖRT lässt darüber nachgrübeln, ob es sich um Unverschämtheiten handelt, was das Bild des Eulenspiegel auf dem Cover nahelegt und was der freche Text des Krämerspiegel bestätigt. Es könnte damit aber auch der Block mit Texten von Hafis, dem dauerhaft und wohl un-erhört Schmachtenden gemeint sein. Der Eulenspiegel führt zunächst auf den Irrweg der gleichnamigen sinfonischen Dichtung des Komponisten, ist aber zugleich auch das absolut letzte Wort des absolut letzten Lieds, das wiederum mit dem Krämerspiegel-Zyklus den Spiegel gemeinsam hat. Mit einer kleinen Abwandlung kommt man auch auf ein UN-GEHÖRT, das davon kündet, wie selten die meisten der hier aufgenommenen Lieder zu hören sind, die es erst einer Anregung von Brigitte Fassbaender zu verdanken haben, dass sie der Tenor und sein Klavierpartner Oliver Schnyder 2007 für das Richard-Strauss-Festival in Garmisch-Partenkirchen einstudierten und anschließend aufnahmen.

2020 sind die beiden Artikel im Booklet geschrieben worden, in denen der Leser und Hörer im Zusammenhang mit der Geschichte der Malven darüber aufgeklärt wird, dass sich Daniel Behle nicht nur als Sänger betätigt, sondern auch als Komponist mit dem Lied Der Schmetterling in das Programm geschmuggelt hat und in denen, was zum Verständnis des Krämerspiegels mit seinen vielen Anspielungen sehr wichtig ist, über die Entstehung des Zyklus berichtet wird, der als Affront gegenüber Musikverlegern im allgemeinen und dem Verlag Bote&Bock, dem der Komponist noch einen Liedzyklus schuldete, zu sehen ist. So sorgfältig wie die Machart der Texte ist, so gelang auch die Bild- und Fotoauswahl voller Witz und Anzüglichkeit.

Es beginnt mit Winterweihe, und mit dem ersten Ton erfreut der sanfte Tonansatz, der dem Stück eine feine Intimität verleiht, in dem „mild“ und „leise“ tatsächlich so klingen, Apostrophe zur Steigerung der Wirkung auch einmal aufgehoben werden können. Auch Winter-, aber Winterliebe vom selben Autor, dem Expressionisten Henkell, wird in seiner ganz anderen Charakteristik nicht nur erkannt, sondern noch verstärkt. In Demels Waldseligkeit macht sich besonders bemerkbar, wie vom Sänger gleichzeitig einzelne Worte wie „sacht“ (fast verhauchend) „allein“  (mit sehr langem Vokal) oder „dein“ (wie eine Umarmung durch Töne) aus dem Text zwar herausgehoben werden, aber doch stets der Zusammenhang gewahrt bleibt, die Gesamtstimmung durchgehalten wird. Gleichermaßen der Aussage des einzelnen Begriffs verpflichtet wie dem Fluss der Melodie, den Manierismus der einzelnen Lieder noch verstärkend, wird auch das populäre Traum durch die Dämmerung interpretiert. Im flatterhaften Vorspiel und wenn das Piano auch die Stimme quasi flügelschlagend begleitet, imitiert der Sänger den Komponisten mit seinem Der Schmetterling, und in Morgenrot wird der Beweis angetreten, dass auf „Strahl“ auch ein dunkles Glänzen möglich ist, so wie im ersten der Gesänge des Orients nach einem fast unhörbaren „deiner Augen wohnen“ aufbrausend „der Glanz“ zu schönster,strahlender Wirkung kommt. Auch in den folgenden Hafis-Liedern bleibt die Stimme stets schlank, der Eindruck von Volumen erwächst aus dem Agogikreichtum des Singens. Crescendi klingen nie gespreizt (so bei „Lebens“ in Die Allmächtige), ein falsettone lässt den „Himmel“ schwerelos erscheinen, die Höhe kann aber auch wie in Huldigung einer Fanfare gleichen.

Gleich alle denkbaren Musikverleger, nicht nur Bote&Bock, sondern Schott und Breitkopf&Härtel noch dazu bekommen ihr Fett ab als nimmersatte Ausbeuter der Künstler, auf deren Seite unübersehbar Alfred Kerr, Kritiker in der Weimarer Republik und Vater der Rosa-Kaninchen-Besitzerin, steht. Ganz besonders dankbar hat Strauss diesen Zyklus für das Klavier gestaltet, dass er in  Rosenkavalier- und Schicksals-Sinfonie-Anspielungen schwelgen lässt und das eigentlich ein Widerpart zum stets geistreichen, nie schroff beleidigenden Text für den Sänger ist, dem und damit dem Hörer seine beispielhafte Textverständlichkeit zugute kommt, die er mal mit einem schneidenden „Edelmut“ oder einem kontrastreichen Singen zwischen Pathos und Tändelei zu würzen weiß. Mindestens so viel Spaß wie die Künstler bei der Aufnahme (auch die Fotos künden davon) hat also der Hörer mit dieser so ungewöhnlichen wie rundum gelungenen Aufnahme (2020 Prospero 0011). Ingrid Wanja  

 

Strenger Sänger

 

Kaum eine mythologische Figur wurde so oft in Töne gesetzt wie der Sagen umwobene Sänger Orpheus. Als Orfeo errang er in Kompositionen von Monteverdi. Telemann, Graun, Gluck, Bertoni und Haydn klingende Unsterblichkeit. Auch dem italienischen Tonsetzer Luigi Rossi (1598 – 1653) ist ein Werk dieses Titels zu danken. Seine tragicommedia L’Orfeo in einem Prolog und drei Akten auf Francesco Butis Libretto wurde 1647 in Paris uraufgeführt und markiert die erste speziell für den französischen Hof geschriebene Oper. Neben der bekannten Handlung um den legendären Sänger und seine Gattin Eurydike, die durch einen Schlangenbiss stirbt und von Orpheus au der Unterwelt zurückgeholt wird, gibt es hier einen weiteren Handlungsstrang: Aristeo, Sohn des Apollo, liebt gleichfalls Euridice, doch finden seine Gefühle keine Erwiderung. Um sich an Apollo zu rächen, steht Venere Aristeo bei. Diesen sang bei der Uraufführung in Paris der gefeierte Kastrat Marcantonio Pasqualini.

In der jetzt von GLOSSA auf drei CDs veröffentlichten Neueinspielung (GCD 923903), die im August und Dezember 2019 in Bolzen entstand, wird diese Partie von einem Sopran wahrgenommen. Die sanft, zuweilen gar kindlich klingende Stimme von Paola Valentina Molinari lässt aber in keinem Moment an einen männlichen Helden denken. Auch der Orfeo ist en travestie besetzt mit Francesca Lombardi Mazzulli. Ihr Sopran weckt gleichfalls keine Assoziationen an einen Heroen. Aber Orfeos Arien zu Beginn des 3. Aktes geben im Ausdruck den tiefen Schmerz ob Euridices Tod eindrücklich wieder. Das Trio der Hauptpartien komplettiert ein weiterer Sopran: Emanuela Galli als Euridice. Sie singt mit jugendlicher Stimme von lieblicher Süße. Besonders in ihrer Arie „Mio ben“, in der sie Orfeo ihrer Liebe versichert, kann sie mit Wohllaut glänzen. Als ihr Vater Endimione lässt Alessio Tosi einen weichen Countertenor hören. Er wirkt zudem als betörend singender Apollo mit. Der Counter Alesssandro Giangrande wandelt auf den Spuren von Dominique Visse und liefert ein Kabinettstück als La Vecchia – die als alte Frau verkleidete Venere, die Aristeo in ihre Pläne einweiht. Angenehm dunkle Töne bringt Mauro Borgioni als Satiro ein, ebenso Rocco Lia als Plutone. Mit Clarissa Reali als Nutrice findet sich ein weiterer Sopran, der sich durch lamentierende Effekte abzusetzen versucht, mit der Canzonetta am Ende des 1. Aktes, „Belle Ninfe“, aber auch Gefälliges hören lässt. Sie singt auch die Giunone, bei der sie mit schmerzend bohrenden Tönen aufwartet. Arianna Stornello als keifende Venere und Sara Bino als Amore komplettieren die Sopranriege, letztere mit besonders exaltiertem Gesang. Das macht die Terzette mit ihr sowie Giunone und Apollo für den Hörer zu harten Prüfungen.

Am Pult des Ensembles Allabastrina steht eine Frau – Elena Sartori. Sie kann vor allem in der Ouverture und Sinfonia sowie den Balletten die monotone Stimmung, die sich beim Anhören der Aufnahme einstellt, aufmuntern, denn die Gesangsnummern (Arie, Canzonetta, Duetto, Terzetto, Quartetto) sind durch den durchgängigen Stil des recitar cantando einförmig. Zudem sind die vorwiegend strengen  Sopranstimmen zu monochrom im Klang, als dass sich die Charaktere der Figuren unterscheiden könnten. Die stärksten Eindrücke der Einspielung hinterlassen das mehrteilige, delikat musizierte Ballett im 3. Akt mit Les Passe-pieds d’Artus, Sarabande, Bourée und Bourée Figurée sowie der nachfolgende heitere Choro di Baccanti und der feierliche Choro celeste.. Bernd Hoppe

 

Für Fans des Verstorbenen

 

Ariadne auf Naxos, chronologisch gesehen die sechste Oper von Richard Strauss, war die letzte, die noch zur Zeit der alten Donaumonarchie entstand. Ihre Erstfassung als Abschluss einer Aufführung des Bürgers als Edelmann von Molière fand 1912 in Stuttgart statt; die Zweitfassung, bereichert um ein sogenanntes Vorspiel, welche sich durchsetzen sollte, wurde 1916, mitten im Ersten Weltkrieg also, an der Wiener Hofoper uraufgeführt. Hinsichtlich der Beliebtheit rangiert die Ariadne innerhalb der Strauss’schen Opern weit vorne. Die Diskographie ist ungemein reichhaltig und geht zurück bis ins Jahr 1913 (!). Maßstäbliche Einspielungen erfolgten u. a. unter Herbert von Karajan (EMI, 1954), Rudolf Kempe (EMI, 1968) und James Levine (DG, 1986). Orfeo legt nun einen Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper vom Oktober 2014 unter Christian Thielemann auf CD vor (Orfeo C996202). Die Produktion wird zudem auf DVD und Blu-ray erscheinen (Regie: Sven-Eric Bechtolf).

Es handelt sich keineswegs um Thielemanns erste Beschäftigung mit dieser kammermusikalisch angelegten Oper. Bereits 2012 wurde eine Inszenierung von Brian Large aus dem Festspielhaus Baden-Baden mitgeschnitten und als DVD aufgelegt (Decca). Interessanterweise übernahm die auch in Wien mitwirkende Sopranistin Sophie Koch bereits damals die Rolle des Komponisten. Ansonsten wurde in Wien sängerisch aufgeboten, was seinerzeit möglich war. Die international gefeierte finnische Sopranistin Soile Isokoski verkörpert neben der Titelrolle die Primadonna, der allzu früh verstorbene Johann Botha ist als als Tenor und Bacchus zu hören. Als Zerbinetta wurde Daniela Fally eingesetzt. Daneben hört man u. a. Jochen Schmeckenbecher als Musiklehrer, Norbert Ernst als Tanzmeister und den unverkennbaren Peter Matic, leider auch schon verschieden, in der Sprechrolle des Haushofmeisters.

Als Thielemann im Oktober 2014 fünf Aufführungen der Ariadne an der Staatsoper in Wien übernahm, war dies seine erste szenische Strauss-Oper im Haus am Ring, dem Ort der Erstaufführung der zweiten Fassung. Zuvor hatte er dort vor allen Dingen als Wagner-Interpret für Furore gesorgt. Tatsächlich wurde seine Rückkehr als sensationell gefeiert und – heutzutage überhaupt nicht mehr selbstverständlich – auch die Inszenierung von Bechtolf mit viel Lob bedacht. In sängerischer Hinsicht verwöhnt diese Produktion durchaus. Die Reduzierung auf die Tonspur beweist, dass die Aufnahme auch ohne Bild keine Vergleiche mit den großen Interpretationen der Vergangenheit zu scheuen braucht. Thielemann liegt dieses Werk, das den Gegensatz zwischen großer heroischer Oper auf der einen und profaner Komödie auf der anderen Seite zum Thema hat. Neben der damaligen Gegenwart des ausklingenden Fin de siècle kommen zwei weitere zeitliche Ebenen, die Barockära Molières sowie der antike Ariadne-Stoff, zum Tragen, die ja bereits die größten Opernerfolge von Richard Strauss dominierten (das Barockzeitalter im Rosenkavlier, die Antike sowohl in Salome als auch in Elektra). Zwischen dem leichten Vorspiel im Parlando-Stil der Opera buffa und dem deutlich pathetischeren Stil des eigentlichen Opernaktes á la Opera seria besteht ein merklicher, von Strauss intendierter Unterschied. So konnte er gleichsam beide Formen des älteren Operntypus in aktualisierter Form abbilden, ohne es freilich zur reinen Kopie verkommen zu lassen. So gibt es zwar Anlehnungen an ältere Kompositionen von Mozart, Schubert und den Belcanto, doch keine Direktzitate. Eine Neueinspielung, die der Diskographie eine weitere Facette hinzufügt. Daniel Hauser

Andréa Guiot

 

In Frankreich war sie eine Institution, den deutschen Opernfreunden ist sie im allgemeinen nur als Micaela in der 1964 entstandenen „Carmen“-Aufnahme mit Maria Callas ein Begriff: Andréa Guiot, die am 15. Februar im Alter von 93 Jahren in Nîmes verstorben ist, war im Fach des lyrischen Soprans eine der wichtigsten Zeuginnen französischer Gesangstradition. Am 11. Januar 1928 im südfranzösischen Garons nahe Nîmes geboren, kam sie dort schon im frühen Kindesalter mit der Oper in Berührung, wodurch ihr Wunsch, Sängerin zu werden, geweckt wurde. Nach einigen Jahren Privat-Unterricht erhielt sie ihre weitere Ausbildung am Conservatoire de Paris, wo Janine Micheau zu ihren Lehrern zählte. 1955 gab sie ihr Debut in Nancy als Marguérite in „Faust“ und kam ein Jahr später an die Opéra comique (Antrittspartie: Antonia in „Hoffmann“), der sie bis 1972 angehörte. Von 1959 bis 1978 war sie auch Ensemblemitglied der Opéra, wo sie wiederum als Marguérite ihren Einstand gab. Mit dieser Partie und in anderen französischen Rollen wie Mireille, Micaela und Manon begann in den 60er Jahren ihre internationale Karriere, die sie auch in die Vereinigten Staaten (Chicago, Philadelphia, San Antonio) und nach Südamerika führte. In Buenos Aires sang sie 1965 Madame Lidoine in Poulencs „Dialogues des Carmélites“; von dieser Aufführung existiert auch ein Audio-Mitschnitt. Im deutschsprachigen Raum ist sie offenbar kaum aufgetreten. Ich konnte nur eine einzige „Faust“-Aufführung an der Wiener Staatsoper eruieren. In Strasbourg, also an der deutschen Grenze, war sie allerdings oft und vor allem in italienischen Partien zu erleben – als Desdemona, Elisabetta in „Don Carlo“ und Butterfly. 1977 übernahm sie als Nachfolgerin ihrer im Jahr zuvor verstorbenen Lehrerin Janine Micheau eine Professur am Conservatoire de Paris, der sich Lehraufträge an anderen Hochschulen anschlossen. Zu dieser Zeit begann sie sich schrittweise von der Bühne zurückzuziehen.

Auch wenn die erwähnte “Carmen” ihre einzige internationale Schallplattenproduktion blieb, so sind ihre wichtigsten Rollen doch auf Tonträgern (vor allem der französischen EMI) dokumentiert. Von „Mireille“ und „Faust“ gibt es Querschnitte, ebenso von „Guillaume Tell“ (mit Nicolai Gedda) und „Hérodiade“. Dazu eine gekürzte Version von Reyers „Sigurd“, wo sie die Rolle der Brunehilde singt. Beim Label Malibran kann man sie daneben als Donna Elvira, Desdemona und Liù erleben. Auch auf dem Gebiet der Operette hat sie sich hervorgetan. Nicht nur mit französischen Titeln, sondern auch in französisch gesungenen Querschnitten von „Die lustige Witwe“, „Land des Lächelns“ und „Csardasfürstin“, wobei Lehár und Kálmán ihrer Stimme und ihrem Temperament mehr liegen als Offenbach. Wie sie auf der Bühne gewirkt hat, kann man einem Video des „Falstaff“ aus der Pariser Oper von 1970 entnehmen (bei youtube eingestellt), wo sie in der etwas groben Regie von Tito Gobbi, der auch die Titelrolle singt, mit gediegen-bürgerlicher Ausstrahlung und einigem Spielwitz die Alice verkörpert. Diese Produktion ist auch wegen Christiane Eda-Pierre als Nanetta und Fedora Barbieri als Mrs. Quickly sehenswert. Guiot war ein lyrisch-dramatischer Zwischenfachsopran mit den Qualitäten eines „Falcon Soprans“, d.h. mit fundierter Tiefe und großer Leuchtkraft in der Höhe. Das kann man besonders in Brunehildes „Salut splendeur du jour“ und Mathildes „Sombres forêts“ bewundern. Der gesangliche Glanz verbindet sich hier mit einer emotionalen Intensität, die auch ihren Vortrag von Donna Elviras Arie „Mi tradì quell’alma ingrata“ zum Erlebnis macht (Foto Pinterest). Ekkehard Pluta  

Barries Bekenntnisse

 

Am besten liest man zuerst das Gespräch mit dem Titel More Ecstasy, das der (sehr einfühlsame) Übersetzer von Barrie Koskys Büchlein On Ecstasy geführt hat und das am Schluss steht. Man erfährt, dass es in einer Zeit der „Heimatlosigkeit“, Wien war bereits verlassen, Berlin noch nicht neues Zuhause, im Jahr 2007, entstand und dass es durchaus, so erfragt es Ulrich Lenz, Chefdramatrurg an der Komischen Oper Berlin, auch danach noch Zustände der Ekstase für den australischen Regisseur gegeben hat. Der Begriff selbst wird auf der ersten Seite des Buchs erklärt, für Kosky scheint Ekstase aus Sinneseindrücken, die sich ins fast Unerträgliche steigern und dann in eine neue Qualität münden, zu entstehen, und das können Tasten wie Hören, Schmecken wie Sehen und ebenso Riechen sein, so dass der Duft der Hühnersuppe der polnischen Großmutter (ihr und der zweiten, der ungarischen, ist das Buch gewidmet), ebenso zur Ekstase führt wie das Jahrzehnte später stattgefunden habende japanische Festessen, dem Kind und jungen Mann Barrie Kosky außerdem die Musik Mahlers, die  nassen Jeans auf einem strammen Hinterteil, der Geruch in einer Umkleidekabine  oder die erste Regie, die einer jüdischen Legende um den Dybbuk, Zustände der Ekstase erlauben. Auch die Stimme von Renata Tebaldi, die er in Australien als Butterfly erlebte, verhilft zur Ekstase, das Betasten der Tierfelle im Pelzgeschäft des Vaters beweist, dass auch der fünfte der Sinne ekstasefähig ist, wenigstens bei einem so sensiblen Kind, wie es Kosky gewesen sein muss. Der weiß davon so knapp wie anschaulich, so ehrlich wie den Leser zielsicher in seine Welt hineinziehend, zu erzählen, und am Schluss ist der erstaunt, wie viel er auf so relativ wenigen Seiten erfahren hat.

Erst im Nachwort erfährt man, dass Bayreuth kein Stimulans für Ekstase war, dass Kosky sich als Intendant zur Objektivität, zur Analyse verpflichtet sieht, als Regisseur jedoch dem Diktat der in die Ekstase führenden Sinne gehorchen darf, wenn er in der bei ihm blinden Elsa unterstellt, durch das Hören, Isolde durch das Schmecken, Senta durch das Sehen in den Zustand der Ekstase zu geraten. Da kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass auch das Wieder- und Nacherleben bestimmter Situationen bei der Regiearbeit erneut in einen Ausnahmezustand geraten lässt, so wenn sich Kosky an Regiearbeiten wie Medea und den Mord an ihren Kindern, den von sterbenden Meerjungfrauen und einem überlaufenden Abort umgebenen Bariton in Ligetis Oper erinnert.

Interessant zu erfahren ist auch, dass der Regisseur sich  eines kleinen Dämons, der ihm Antisemitisches ins Ohr flüsterte, dadurch entledigte, dass er in Bayreuth inszenierte, sich selbst davon befreien konnte, einen Zusammenhang zwischen Wagners Musik und seinen antisemitischen Schriften herzustellen.

Nicht jeder Leser wird einige Schlussfolgerungen nachvollziehen können, die Kosky aus seinen Interpretationen zieht, so wenn Senta den Holländer ermordet. Sympathisch aber wird es jeder finden, dass Misserfolge zugegeben werden, so der Ring in Hannover, und dass Kosky einen neuen Anlauf nehmen wird mit der Neuinszenierung der Trilogie in London 2023.  Das Buch jedenfalls hat wegen seiner Unmittelbarkeit durchaus die Qualität, in Ekstase zu versetzen, weiterhin interessiert zu verfolgen, was wie Rameau oder die Weimarer Operette und einiges andere, Ekstase-Erzeugungsqualitäten hatte und hoffentlich haben wird (101 Seiten, Verlag Theater der Zeit 2021; ISBN 978 3 95749 342 2). Ingrid Wanja          

Peter Arnold Heises „Drot og Marsk“

Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel. Zwar schlagen sich zwar wichtige politische Ereignisse meist nur mit Verzögerung in den Opernplots nieder, aber auch aktuelle Bestrebungen nach nationaler Einheit und Identität ((und dem Verlust derselben) finden sich in vielen Werken ganz aktuell, oft in Form der Verwendung von Folklore und/oder nationalem Liedgut, oft auch durch Reaktivierung glorioser Siege in der ferneren Geschichte des jeweiligen Landes (so zum Beispiel bei Gounod oder Saint-Saens um die Schmach des deutsch-französischen Krieges vergessen zu machen, auch in Ivan Zajcs Nicola Subic Zrinski, in dem zwar die Türken niedergemacht werden aber die Österreicher gemeint sind; gleiches gilt für Pavlo Carrers Marcos Botsaris oder Naumanns Gustav Wasa und natürlich auch Verdis Nabucco).

Kurz nach der kürzlich besprochenen Kleopatra von August Enna erscheint jetzt bei derselben Firma mit Peter Arnold Heises Drot og Marsk, also König und Marschall, (Dacapo 6.200006 im Vertrieb von Naxos) das zweite zentrale Werk aus der Anfangszeit der dänischen Oper, die nach ihrer Umklammerung durch deutsche Komponisten wie Kunzen, Kuhlau und Gläser ein eigenes Idiom entwickelte. Eigentliche gilt Drot og Marsk als die dänische Nationaloper schlechthin, zum einen, weil Heise (1830-79) der erste Däne war, der eine Nationaloper im Blick hatte, vor allem aber auch, weil er ein großes nationales Thema aufgriff und den einzigen Königsmord in der dänischen Geschichte behandelte: Am 22. November 1286 wurde der 37jährige König Erik V., genannt Erik Glipping, während der Jagd in der Nähe von Viborg durch 56 Messerstiche getötet. Ungeklärt ist, ob es auch Rache für eine Vergewaltigung oder aus politischen Gründen geschah. Neun Adelige wurden angeklagt und für vogelfrei erklärt; sie flohen nach Norwegen. Teil der Adelsverschwörung war auch Stig Andersen, auch Marsk Stig genannt, ein zunächst dem König treu ergebener Marschall, der sich bald mit ihm überwarf. In den späteren literarischen Überlieferungen wurde Marsk Stig zum Königsmörder stilisiert, der Rache für die Vergewaltigung seiner Frau Ingeborg nahm. Das Verbrechen blieb bis ins 19. Jahrhundert ein Thema der Malerei und Bühne, wobei die gegenüber einer Adelsverschwörung wirkungsvollere Verführung von Stig Andersons Frau durch den König in den Mittelpunkt rückte.

Heise: „Drot og marsk“: Szene der mitgeschnittenen Aufführung bei Dacapo/ Hansen, Schgou, Weller/ Booklet Dacapo

1850 erlebte der 20jährige Peter Heise am Königlichen Theater in Kopenhagen eine Aufführung von Marsk Stig des auch von Ludwig Tieck geschätzten Carsten Hauch. Ein Vierteljahrhundert später, nachdem er sich  vornehmlich durch seine Romanzen einen Namen gemacht und mit dem Singspiel Die Tochter des Paschas den Schritt auf die Bühne gewagt hatte – eine günstige Heirat enthob ihn der Mühe des Geldverdienen – erinnerte er sich an das dramatische Potenzial des Themas und überredete seinen Freund Christian Richardt auf der Basis von Hauchs Drama, einem Entwurf seiner mit dem Dichter und Politiker Carl Ploug verheirateten Schwägerin Elise Ploug und alten Balladen ein Libretto anzufertigen. 1877 war die Oper fertiggestellt. Die Uraufführung verzögerte sich wegen leidiger Besetzungsfragen, die viel über den Ehrenkodex des Theaters im 19. Jahrhunderts verraten, da sich der vor Heise vorgesehene ältere Tenorsänger des Erik weigerte als König von einem wesentlich jüngeren Kollegen auf der Bühne umbringen zu lassen. Die Partie des Erik wurde daraufhin einem Schauspieler anvertraut.  G. H.

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„Drot og Marsk“: Paul Wiedemann als Erik und Else Schioetz als Ingeborg in der Produktion der Königlichen Oper Kopenhagen 1940 (Foto Mydtskov Archiv/KOK/OBA)

Dazu einen Artikel unseres wunderbaren, verstorbenen  Kollegen Jörg Gräpel: Ein vergessener Komponist und seine einzige tragische Oper. Peter Heises Ruf – wie der der meisten seiner komponierenden und dichtenden Kollegen – ist kaum über Dänemarks Grenzen hinausgedrungen. Was sicher vor allem an der im Ausland kaum kursierenden Sprache liegt. Dabei zählt der 1830 in Kopenhagen geborene Komponist, der über 200 Lieder schrieb, zu den fruchtbarsten Komponisten dieses Genres. Als Schüler von Niels W. Gade konnte er 1852 zur Fortsetzung seines Musikstudiums nach Leipzig gehen, wo er bei Moritz Hauptmann lernte. Zurückgekehrt arbeitete er als Musiklehrer. Wie viele nord­europäische Künstler trieb ihn die Sehnsucht nach Italien und vor allem nach Rom, das er in fünf ausgedehnten Reisen kennenlernte; dort schloss er Freundschaft mit anderen Musikern, u. a. mit dem Cellisten Furino, für den er einen großen Teil seiner Kammermusik schrieb. Seiner Theaterliebe folgend schrieb Heise viele Werke für die Bühne, weniger Opern (neben Drot og Marsk komponierte er ein Singspiel, Paschaens datter, das1869 in Kopenhagen uraufgeführt wurde) als Theatermusiken, so zu Oehlenschlägers Tragödie Palnatoke, Ibsens Kongsemnerne und Reckes Bertran de Born.

Hauchs poetisches Drama um den König Erik und seinen Marschall Stig hat ihn schon seit seiner Jugend fasziniert. Zu diesem Werk schrieb er früh eine Musik zum Fest im l. Akt und 1856 eine Ouvertüre, die Gade 1858 in seinen Kopenhagener Konzerten auf­ führte. Das Andante dieser Ouvertüre verwandte er als Einleitung für seine zwanzig Jahre später entstandene Oper wieder. Heises langjähriger Freund Christian Richardt arbeitete in enger Anlehnung an Hauchs Drama das Libretto aus, das schon vor der Vollendung der Oper in mehrfacher Auflage Verbreitung fand und noch heute als bestes dänisches Libretto gilt. Richardt, ein begabter Dichter, straffte die Handlung, schuf verständliche Charaktere mit psychologischer Motivation, brachte die Geschichte in acht knappen Bildern zielgenau zur Katastrophe. Dabei bediente er sich einer ausgeprägt poetischen Sprache, die die balladesken Züge des Stoffes aufgreift und zusammen mit Heises Musik (z.B. in Aases Gesängen) einen künstlerisch überhöhten Volkslied ton einbringt, der zurecht als typisch dänisch begriffen wurde und die Oper in ihrer Gesamtheit zu einem Nationalwerk machte.

„Drot og Marsk“: Szene aus der Kopenhagener Prroduktion von 1954, 2.A kt,2. Bild (Foto Mydtskov Archiv/ KOK)

Kurzer Ausflug in die dänische Geschichte. Die in Heises Oper im Mittelpunkt stehende Ermordung von König Erik V., genannt Glipping, hat tatsächlich am 22. 11. 1286 in einer Scheune bei Finderup stattgefunden. Dieser Vorfall forderte seitdem in dänischen Geschichtsbüchern, Balladen, Gedichten, Dramen und Chroniken immer wieder zu Deutungen und Legenden heraus, denn ein Motiv ließ sich nie eindeutig finden, obwohl immer sicher war, wer die Mörder waren. Wahrscheinlich ist eine politische Motivation des Mordes, Rache des Adels an einem Herrscher, der ihre Rechte beschneiden wollte. Erst in späteren Überlieferungen kommt das David-und-Bathseba-Motiv der Verführung der Frau des Marschalls hin­ zu, wurde aus dem König eine Art mittelalterlicher Don Juan, dem die Jagd und die Frauen Lebensinhalt waren. Im 19. Jahrhundert, in einer Zeit romantischer Rückbesinnung auf die nationale Geschichte, nicht nur in Dänemark, wurde die legendenreiche Ermordung des Königs Erik wieder zum Inhalt einiger Dramen. Auch Dänemarks Nationaldichter Adam Oehlenschläger schrieb 1843 eine Tragödie über König Erik, Erik Glipping, die aber mit ihrer unverhohlenen Sympathie für den Souverän in eine ungünstige Zeit fiel, denn nach längerem Kampf wurde 1849 die dänische absolute Monarchie in eine konstitutionelle umgewandelt; Parteinahme für einen König war unangebracht. Zur gleichen Zeit hatte Carsten Hauchs Dramatisierung, Marsk Stig, den moderneren Ansatz, in­ dem der König hier gewissenlos und seinen Trieben blind gehorchend dargestellt wurde, obwohl auch seinem Stück kein Publikumserfolg beschieden war.

 

„Dot og Marsk“ Ib Hansen und Irene Graaener als Stig und Ingeborg/ Kopenhagen 1971/ Mydtskov Archiv/ KOK

Wer sich die Handlung von Drot og Marsk ansieht, wird verblüffende Parallelen zu einer anderen, berühmteren Oper feststellen: Verdis Ballo in Maschera. Es ist sicher, dass Heise diese Oper in Italien kennengelernt hat, so wie er auch andere Opern Verdis kannte. Musikalischen Einfluss hatten sie kaum, allerdings verstand auch Heise den Aufbau sich steigernder Ensembles, effektvoll an Aktschlüsse gestellt. Seine Studienzeit in Leipzig spie­ gelt sich in einem Klangbild, das die deutsche romantische Oper um Marschner und den frühen Wagner antizipiert. Auch Jahre nach dem Tod Mendelssohns prägte seine Musiksprache die Schüler und Lehrer des Leipziger Konservatoriums, so auch Heise, zumal der Däne Gade, ein Freund Heises, Nachfolger Mendelssohns war. Dennoch wäre es falsch, Heise als eklektischen Komponisten zu bezeichnen, denn die durchkomponierte Oper Drot og Marsk besitzt eine eigene, ja, eigenartige Tonsprache, die auf einem dunklen Streicherteppich spröde-schöne Volksliedmelodik mit chromatischer Motivik verarbeitet. Es ist, als seufze das Orchester beständig, kaum ein hellerer Gedanke leuchtet in dieser düsteren Musik-Saga. Das dunkle Klangbild schafft eine von Anfang an bedrohliche Stimmung, wie überhaupt die atmosphärische Dichte der Komposition Vorrang vor eingängiger Melodik hat. Dabei gab Heise einem lyrischen Sopran (Aase), einem lyrischen Tenor (Erik), einem dramatischen Sopran (Ingeborg), einem dramatischen Bariton (Stig) und einem Charaktertenor (Rane) dankbarste Partien, die auch schauspielerisch interessant sind, denn anders als z. B. Verdis Amelia ist Ingeborg ein aktiver und starker Charakter, Erik ein romantischer Nachklang des Don Giovanni, Stig in seinem Gewissenskonflikt ein nordisches Pendant vieler Verdi-Baritonpartien.

„Drot og Marsk“: Poul Elming und Tore Norholt als Erik und Aase, in Aarhus 1984/ Foto Jo/ DJO

Verbreitung: Die Kopenhagener Uraufführung der Oper am25.9. 1878 (der Komponist starb nur ein Jahr später, 1878) war begreiflicherweise ein großer Erfolg, denn nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen (1864) und dem unaufhaltsamen Verlust der politischen Machtstellung Dänemarks im nordeuropäischen Raum im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, bot diese Oper mit ihrem nationalen Sujet und Kolorit eine dankbar angenommene Identifikationsmöglichkeit (vergleichbar mit den französischen Opern-Sujets für ein gedemütigtes Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts nach Versailles). Sicherlich ist dies aber nicht der einzige Grund für die regelmäßigen Wiederaufführungen in Dänemark, wo die Oper 1909, 1922, 1940, 1954 und 1971 in Kopenhagen, 1964 und auch 1984 (mit Poul Elming, Lars Waage, Gertrud Spliid, Ole Hedegaard und Tove Norholt) bei der Jyske Opera, Aarhus, aufgeführt wurde. Die deutsche Erstaufführung fand 1906 in Stuttgart statt. Neuere Aufführungen außerhalb Dänemarks sind mir nicht bekannt, was kaum zu glauben ist, denn die Oper ist mit ihrer span­nenden, geradlinigen Handlung und ihrer elegisch-schönen Musik von einem außergewöhnlichen Reiz, der auch heutige Zuhörer faszinieren wird.

Eine gut gesungene Schallplattenaufnahme neueren Datums verschaffte einen positiven Höreindruck, es gab sie längere Zeit bei Unicorn in der Serie „Dansk Musik Antologi“, mit dem Gemälde von Otto Bache auf dem Cover; John Frandsen dirigiert die dänischen Rundfunkkräfte, es singen Ole Jensen den König, lb Hansen den Marschall, Inga Nielsen die Aase, lrene Graaner die Ingeborg und Tonny Landy den Rane. Michael Schönwandt digierte 1993 für Chandos eine weitere Einspielung mit Poul Elming, Bent Norup, Eva Johansson und Inga Nielsen in den Hauptrollen am Pult des Dänischen Nationalen Radioorchester (Bild oben: Otto Baches Gemälde der Verschwörer, 1892/ WikipediaCommons). Jörg Gräpel

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Peter Arnold Heise schuf die Dänische Nationaloper „Drot og Marsk“/ Wikipedia

Zur Neuaufnahme bei Dacapo schreibt Rolf Fath: Die gesanglichen Anforderungen bleiben, auch ohne diesen Hintergrund, insgesamt nicht ungewöhnlich. In dem Vierakter, den Heise ein „Dramatisches Singdrama“ nannte, fließen die Szenen unaufgeregt ineinander, d.h. ohne herausgehobene Arien und entsprechende Virtuosität, was das Publikum mehr verstört haben dürfte als die fehlenden großen Ensembles; dagegen wertete Heise das Orchester beträchtlich auf. Obwohl die Aufnahme geteilt war, blieb das Werk der dänischen Opernbühne weitgehend erhalten (wovon mehrere ältere Aufnahmen zeugen), wo es zuletzt von Kasper Holten im April 2019 am Kongelige Teater in Szene gesetzt wurde. Im Zuge der Aufführungsserie entstand auch der Livemitschnitt unter Michael Schønwandt, der bereits im August 1992 mit dem Dänischen Rundfunkorchester eine mit Poul Elming als König Erik, Bent Norup als Stig Andersen, Eva Johansson als Ingeborg, Inga Nielsen als Aase und Kurt Westi als Rane ungleich prominenter besetzte Aufnahme vorgelegt hatte.

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In der Neuaufnahme spürt man den dramatischen Atem des Live-Erlebnisses, nicht nur wegen des Applauses. Die 2 ½ Stunden wirken spannender und oftmals leidenschaftlicher als es das Werk vermutlich ist, dem man vorwarf, dass es die Beziehung zwischen dem König und Ingeborg nicht hinreichen dramatisch vertiefe. Der erste Akt nach der zu einer Opernouvertüre verkürzten Konzertouvertüre Mars Stig von 1856 wirkt mit der kristallin dünnstimmigen Sofie Elkjaer Jensen als Köhlermädchen Aase und dem unverkennbaren, ein traditionelles Tanzlied zwitschernden Gert Henning-Jensen als Königlichem Quartiermeister Rane Johnsen wie die idyllische Einleitung zu einem Bournonville-Ballett, die Heise mit Volksszenen, Tanz und hübschen Nummern folkloristisch harmlos umspielt. Obwohl der u.a. 1852/53 in Leipzig ausgebildete Heise kein Wagner-Bewunderer war, denkt man im Folgenden eher an Wagner als an die von Heise bei seinen Italien- und Paris-Aufenthalten bewunderten Verdi oder Meyerbeer, insbesondere die schöne Szene zwischen dem Marschall und seiner Frau zu Beginn des zweiten Aktes bevor er in den Kampf aufbricht und sie der Obhut des König übergibt, lässt an den Lohengrin denken; hier spielt Johan Reuter als Stig seine Präsenz und Bühnenerfahrung aus und singt mit Überzeugungskraft, und Sine Bundgaard ist eine dunkel eindrucksvolle Ingeborg.

Zu Heises Drot og Marsk“/ Szene aus der Kopenhagener Aufführung, die nun bei Dacapo mitgeschnitten ist/ Kongl Operan/ Dacapo booklet/ Hansen,Schou, Weller

Die Szene der Verschwörer zu Beginn des dritten Aktes, zu der Verdi und Meyerbeer Vorlagen bieten, zeigt Heise auf dem Höhepunkt seiner deklamatorisch-dramatischen Kraft. In der Profilierung der Situationen zu einer politischen Intrige, einem Komplott der Adeligen zwischen Rache und Zwang wird auch Schønwandts Vertrautheit mit dieser Musik deutlich, die mit dem machvollen Royal Danish Orchestra Tiefe und Schärfe erreicht und wo die Männerchöre bedrohliche Wucht entfalten. Schønwandt gelingt es, Heises Musik, die sich nicht immer auf diesem Niveau einpendelt, als packendes Musikdrama und durchgehend interessant erscheinen zu lassen. Relativ wenig Profil gewinnt der skrupellose Verführer Erik, der anfangs Aase erobert, die ihn treu begleitet und dem Sterbenden sein Schwert auf die Brust legt, während dessen letzte Worte Ingeborg gelten. Das liegt auch an Heise, der für diesen Bruder des Herzogs von Mantua nicht die rechte Sprache findet, denn Peter Lodahl besitzt einen angenehmen, höhenklar durchdringenden Tenor und geht achtsam mit den Worten um. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Wiederverwertung

 

Sechs Aufnahmen von Gluck-Opern hat Orfeo in den Jahren 1964 bis 1990 herausgebracht, teilweise in bizarrer, teilweise in spektakulärer und manchmal in einer Besetzung, die beide Attribute miteinander vereint. Die Highlights aus diesen sind nun als Gluck- Opera Gala auf zwei CDs vereint (im Vertrieb von Naxos)..

So bestellt ist es um die Alceste, in der zwei absolute Weltstars miteinander vereinigt sind, die so gar nicht zueinander passen wollen, wobei jeder in seiner Art eine Ausnahmeerscheinung ist. Jessye Norman singt ein dunkel loderndes „Divinetes du Styx“ die Unterwelt erschütternd, mit hochpräsenten Pianissimi, Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Serge Baudo unterstützen sie dabei und zeigen Qualitäten, die dem Orchester in anderen Aufnahmen abgehen. Die französische Sprache sorgt für edle Prägnanz (andere Aufnahmen sind auf Italienisch), Nicolai Gedda ist stilsicher wie immer und elegant. Luxuriöser geht es eigentlich nicht, und doch scheint im Duett und insgesamt kein Feeling zwischen den beiden Stars zu entstehen, was man natürlich besonders im Duett bedauernd bemerkt, wenn ein kostbar üppiges, höchst persönliches und ein eher anonymes Timbre aufeinander stoßen.

Es geht weiter mit Iphigenie en Tauride und der Kombination Franco Bonisolli und Dietrich Fischer-Dieskau, die schon eher verzeihlich ist, da sie kein Paar, sondern einander in Gegnerschaft verbundene personaggi zusammenführt. Zwischen beiden steht Pilar Lorengar in der Titelpartie mit 1982 bereits unkontrolliertem Vibrato. Der italienische Tenor ist sein stimmprotzendes, sich keinen Deut um stilistische Feinheiten kümmerndes Selbst, der deutsche Bariton verbindet Noblesse mit gelegentlichem, rollengerechtem Auftrumpfen. Fast wie ein Tenor klingt Walton Grönroos als Oreste. Lamberto Gardelli kann mit dem gleichen Orchester wie dem der Alceste nicht Gleichwertiges erreichen. Die letzten beiden Tracks bringen Ausschnitte aus Le Cinesi mit einem sanftstimmigen Thomas Moser als Silango.

Die älteste Aufnahme ist die von Orfeo ed Euridice aus dem Jahre 1964. Da hatte Dietrich Fischer- Dieskau längst eine deutsche Version eingespielt, die damals bei der Examensvorbereitung in den knapp bemessenen Pausen besonders mit „So klag‘ ich ihren Tod“ und „Welch reiner Himmel deckt diesen Ort“ der Rezensentin ein willkommener Trost und eine Aufmunterung und immer wieder mit Andacht gehört war. Hier nun klingt die Stimme sehr dunkel, betört mit drei unterschiedlichen „Euridice“, zu der mit der von Elisabeth Söderström eine füllig farbige Sopranstimme mit rührenden Piani gehört. Das berühmte  und allzu bekannte „Che farò senza Euridice“ zeigt die hohe Kunst des mezza-voce-Singens, der feinen Crescendi und einen Gestaltungswillen, der  noch mehr in der deutschen Fassung überzeugte. Ein frischer Amor ist Ruth-Margret Pütz. Ferdinand Leitner dirigiert die Capella Coloniensis.

Statt eines empfindsam Liebenden tritt uns Franco Bonisolli im italienischen Paride ed Elena vor allem als um Stimmvergrößerung, wenig disziplinierter Paride entgegen, den ein italienischer Kritiker in diesem Zusammenhang „un bulletto di pereferia“ betitelte. Ihm steht im Vergleich dazu eine recht piepsig, aber wesentlich kultivierter  wirkende Elena mit Ileana Cotrubas gegenüber, Sylvia Greenberg fehlt das Maliziöse des Amore, aber sie singt nette Verzierungen, als Pallas kann Gabriele Fontana Temperament entfalten. Lothar Zagrosek und das ORF Symphonie Orchester hätten eine homogenere Besetzung verdient.

Zum Schluss wird es noch einmal komisch mit  Les  Pélerins de la Mecque und einem ungewohnt wattig klingenden Jan- Hendrick Rootering und einigen Ensembleszenen unter Leopold Hager und dem Münchner Rundfunkorchester (OrfeoMP2001  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Ingrid Wanja

Peter Alexander

 

Peter Alexander, der wohl größte Entertainer Europas, ist vor nun schon 10 Jahren (am 12. Februar 2011) im Alter von 84 Jahren gestorben. Seine Karriere war beispiellos. Mit Charme und einer gehörigen Portion lausbübischem Schalk begeisterte er ein Millionenpublikum.

Vier Jahrzehnte stand er ganz oben an der Spitze. In über 40 Filmen, oft mit Gunther Philipp an seiner Seite, wirkte er mit (darunter auch die Operettenfilme „Im weißen Rössl“, „Saison in Salzburg“, „Die Fledermaus“, „Die lustige Witze“ und „Hochzeitsnacht im Paradies“). Seine Fernsehshows (von 1969 bis 1996) waren eine einzige Erfolgsgeschichte. Dort begrüßte er internationale Showstars wie Liza Minelli, Nana Mouskouri, Caterina Valente, Johnny Cash, Tom Jones und viele andere.

Seine Schallplatten verkauften sich millionenfach. Neben Schlagern präsentierte er in seiner unvergleichlichen Art besonders Wiener und böhmische Lieder, aber auch Operetten (mehrfach unter der Leitung von Robert Stolz, früher auch in vielen Marszalek-Querschnitten), Musical-Songs oder internationale Hits. Alexander war übrigens auch ein hervorragender Pianist und hätte gern einmal eine Jazzplatte gemacht. Doch dazu ist es leider nie gekommen.

Peter Alexander war ein Künstler, der einfach alles konnte. Seine Vielseitigkeit war unvergleichlich: Ob Schlager, Operette oder Musical – seine Auftritte und Shows waren stets perfekt. Und er war ein begnadeter Parodist, wie er oft im Fernsehen oder auf seinen Tourneen bewies. Diese Tourneen (1969 bis 1991), die er zunächst mit dem Orchester Johannes Fehring und später mit Paul Kuhn bestritt, waren stets ausverkauft. Seine Live-Auftritte zeigten sein ungeheures Können und seine Bühnenpräsenz.

Paul Hörbiger und Peter Alexander und Anneliese Rothenberger beim Heurigen. Dreharbeiten für den TV-Film >Wiener Geschichten<. 1977. Photographie.

Peter Alexander liebte auch die Oper (in den siebziger Jahren war er sogar als Papageno für die Salzburger Festspiele im Gespräch). Die Liste der Opernsänger, die in seinen Sendungen auftraten, ist beeindruckend: Agnes Baltsa, Grace Bunbry, Montserrat Caballé, Lisa Della Casa, Ingeborg Hallstein, Peter Hofmann, Rene Kollo, Christa Ludwig, Anna Moffo, Lucia Popp, Hermann Prey, Anneliese Rothenberger, Rudolf Schock, Peter Schreier und andere.

Nach dem Tod seiner Frau zog sich Peter Alexander völlig zurück. Den Unfalltod seiner Tochter Susanne (2009) hat er kaum verkraftet. Auch sein Sohn Michael ist inzwischen (2019) verstorben.

„Peter der Große“ wurde er liebevoll genannt. Und er ist bis heute unvergessen. Einen wie ihn hat es nicht wieder gegeben (Foto cr-website). Wolfgang Denker

Verliebter Heroe

 

In der Nachfolge Claudio Monteverdis war Francesco Cavalli einer der berühmtesten und einflussreichsten italienischen Komponisten in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Von Kardinal Mazarin wurde er beauftragt, ein ganzvolles Werk zur Hochzeit des Sonnenkönigs Louis XIV. mit der spanischen Infantin, welche nach 25 Jahren Krieg den Frieden zwischen den Bourbonen und dem Habsburgischen Königreich sichern sollte, zu schaffen. Der Abbé Francesco Buti verfasste das Libretto mit dem Titel Ercole amante – ein großes Barock-Spektakel in einem Prolog und fünf Akten, das 1662 in Paris uraufgeführt wurde. Danach kam es zu keiner weiteren Produktion in der französischen Hauptstadt, erst 1981 inszenierte es Louis Martinoty im Châtelet mit Michel Corboz am Pult. Auf zwei DVDs gibt NAXOS nun eine spektakuläre Neuinszenierung aus der Pariser Opéra-Comique vom November  2019 heraus, die in Koproduktion mit dem Château de Versailles und der Opéra National de Bordeaux entstand (2.110679-80). Die aufwändige Produktion verantworteten Valérie Lesort und Christian Hecq (von der Comédie-Française).

Nach dem Prolog, in welchem das anwesende Königspaar anlässlich der Hochzeit mit Gesang und Pantomime begrüßt wird, führt das Geschehen in die griechische Mythologie. Ercole liebt Iole, Geliebte seines Sohnes Hyllo, und bittet Venere um Hilfe. Giunone will die Verbindung zerstören und lässt sich von den Winden zum Schlafgott Somno tragen. Während Ercole vernimmt, dass sein Sohn Hyllo sein Rivale ist, behauptet dieser plötzlich, Iole nie geliebt zu haben. Diese wiederum verspürt unerklärliche Zuneigung für Ercole. Auf Weisung Giunones versenkt Somno Ercole in den Schlaf. Iole soll ihn töten, doch Hyllo entreißt ihr die Waffe. Der erwachende Ercole lässt seinen vermeintlich schuldigen Sohn in den Kerker werfen. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten im Tempel überreicht Iole Ercole ein vergiftetes Gewand, wodurch er verbrennt. Giunone verkündet, dass er in die Schar der Götter aufgenommen werde und Bellezza zur Gattin erhalte. Die himmlische Hochzeit erinnert alle Zuschauer an die irdische.

Zum spartanischen Bühnenbild von Laurent Peduzzi, das vor allem hohe weiße Mauern und Stufen zeigt, kontrastieren Vanessa Sanninos Kostüme von überbordender Phantasie. Sie erdachte monströse Fabelwesen und stattete die Personen mit originellen und witzigen Attributen aus.

Die Musik ist bei Raphaël Pichon am Pult des Orchestra PYGMALION in besten Händen. Er lässt ihre Festlichkeit mit Bläserglanz aufstrahlen und bringt ihren tänzerischen Rhythmus zu starker Wirkung. Nahuel Di Pierro als Titelheld profitiert von seiner attraktiven Erscheinung und einem substanzreichen Bass. Das großspurige Wesen des Mannes, den ein imposanter Helm mit Federbusch schmückt, zeichnet er stimmlich auftrumpfend und mit Raum greifender Gebärde. Seine Todesszene im vergifteten Gewand gestaltet er in existentieller Not. Seine Gattin Deianira im plissierten griechischen Gewand singt Giuseppina Bridelli mit klangvollem Mezzo. In ihrem Schmerz und ihrer Würde ist sie eine Figur in der Nähe von Monteverdis Ottavia.

In einem Blütenkokon fährt Venere (Giulia Semenzato mit farbigem Sopran) aus der Tiefe hervor. Später schwebt sie vom Himmel in einem wunderlichen Gefährt mit Flügelchen herab. Der über und über mit Grünpflanzen und Algen bewachsene Nettuno fährt in einem U-Boot aus der Tiefe hervor – Luca Tittoto verleiht ihm profunde Basswürde. Die im Belcanto- und Barock-Repertoire erfolgreiche Anna Bonitatibus ist Giunone mit doppeltem Augenpaar, die aus den Lüften herabsteigt, später auf einem Pfau reitet oder in einem Ballon hereinschwebt und mit ihrem expressiven wie sinnlichen Mezzo ein vokales Glanzlicht setzt. Vier Tänzer begleiten ihren Auftritt und illustrieren auch die stürmische Sinfonia, die zum 2. Akt überleitet.

Diesen eröffnet das junge Paar – Krystian Adam als Hyllo mit lyrischem, aber auch dramatisch ausladendem Tenor und Francesca Aspromonte als Iole mit lieblichem, aber auch strengem Sopran –, auf Säulen aus dem Boden herausfahrend mit dem gefühlvollen Zwiegesang „Amor ardor più rari“. In einem Käfig gefangen, hängt Hyllo zu Beginn des 4. Aktes über einem Meer aus barocken Theaterwellen in der Luft. Im Wasser tummeln sich Schwimmer in gestreiften Badeanzügen, in der Luft sorgen Springer für akrobatische Einlagen. Den munteren Pagen im Renaissance-Kostüm, der Iole Ercoles Einladung zu einem gemeinsamen Spaziergang überbringt, gibt der Countertenor Ray Chenez mit angenehmer, jugendlicher Stimme. An seiner Seite ein Urgestein der Barockszene mit Dominique Visse als Ercoles Diener Licco mit glänzender Kugel auf dem Haupt. Der  Countertenor ist vor allem bizarrer Charakter und bedient sich eines grotesken Sprechgesangs. In commedia dell’arte-Manier vereinen sich die beiden Counter am Ende des 3. Aktes vor dem Vorhang zu einem komischen Zwiegesang. Im Fatsuit mit Zipfelmütze wird der stumme Somno hereingefahren, seine Gattin Pasithea im Gouvernanten-Outfit ist Eugénie Lefebvre mit lieblichem Sopran. Die Schlussszene zeigt die Hochzeit von Ercole und Bellezza, die in Sternenwagen durch die Lüfte herein schweben und vom Chor gebührend gefeiert werden. Bernd Hoppe

Roussets Verführungskünste

 

Die Geschichte der Königin und Zauberin Armida wurde in der Historie der Oper mehrfach vertont – man denke an die Werke von Lully, Gluck, Rossini, Haydn und Dvorák. Nun erweitert APARTÉ diese Liste um ein weiteres, gänzlich unbekanntes Werk mit diesem Titel –  Antonio Salieris Dramma per musica – und bringt es auf zwei CDs als Weltpremiere heraus (AP244 in eleganter Ausstattung). Die Aufnahme entstand im Juli 2020 in Paris.

Salieris Oper auf ein Libretto von Marco Coltellini wurde 1771 im Wiener Burgtheater erfolgreich uraufgeführt. In den Hauptrollen der Armida und des Kreuzritters Rinaldo wirkten die Sopranistin Catharina Schindler und der Kastrat Giuseppe Millico in der Hosenrolle mit. Beider Weggang aus Wien verhinderte dann eine Wiederaufnahme, doch fand  das Werk schnell auch ein begeistertes Publikum in Kopenhagen, St. Petersburg und Hamburg.

Die Solisten der APARTÉ-Aufnahme sind hierzulande weniger bekannt. Einzig die Mezzosopranistin Teresa Iervolino in der Partie von Armidas Vertrauter Ismene ist auch in unseren Breiten ein Begriff. Pesaro und Salzburg erprobt, nimmt ihre reich timbrierte Stimme in den Arien für sich ein und erzielt auch die nötige Aufmerksamkeit in den expressiv vorgetragenen Rezitativen.

In der Titelrolle ist die Sopranistin Lenneke Ruiten zu hören – ein dunkel getönter Sopran mit starkem Nachdruck in ihren Gesangsnummern, wie in der Arie „Tremo, bell’ idol mio“ zu vernehmen ist. Auch in der von starker innerer Erregung geprägten  Arie im 2. Akt, „Ah mi tolga almen la vita“, zeichnet sie den Zustand der Figur plastisch, lässt aber auch forcierte Spitzentöne hören. Mit der Arie „Io con voi la nera face“ beendet sie die Oper in Verzweiflung und rasendem Zorn. Die Sängerin riskiert hier eine stimmliche Überforderung durch die extreme Dramatik, mit der sie die Nummer angeht, was aber den Effekt nicht verfehlt.

Den Rinaldo gibt die Sopranistin Florie Valiquette mit hellerem, lieblichem Stimmklang, den man nicht unbedingt mit einer Hosenrolle assoziieren würde. Mit der stürmischen, an Koloraturen reichen Arie „Vedo l’abisso orrendo“ beendet der Kreuzritter den 2. Akt.

Beide Soprane haben ihren ersten Auftritt zu Beginn des 2. Aktes in ihrem Duett „Qui’l regno è del contento“, in welchem sie sich ihrer Liebe versichern. Die Stimmen verblenden sich in perfekter Harmonie und sind auch versiert in der Koloraturtechnik. Die Stimmen vereinen sich auch im 2. Akt zu einem Duett („Dilegua il tuotimore“), das zunächst lyrisch-empfindsam tönt und im Schlussteil an Fahrt aufnimmt. An Grenzen stoßen sie im Terzett des 3. Aktes mit Ubaldo, „Strappami il cuor dal seno“.

Der Bariton Ashley Riches komplettiert die Besetzung als Kreuzritter Ubaldo mit viriler, energischer Stimme. Die Arie am Ende des 1. Aktes, „Finta larva“, besitzt starken Nachdruck, die im 2., „Come in un momento“, auftrumpfende Vehemenz. „Torna schiavo infelice“ im 3. Akt offenbart Mühen mit der Bewältigung der Verzierungen.

Ihre Meriten empfängt die Einspielung durch die Mitwirkung des renommierten Ensembles Les Talens Lyriques unter seinem Leiter Christophe Rousset, der die Musik in ihrer Vielfalt hinreißend auffächert. Schon bei der Sinfonia erzeugt er eine enorme Spannung durch ein reiches Farbspektrum und die pulsierende Dramatik. Kontrastierende Effekte erzielt er in den  Ballettmusiken, welche eine galante, graziöse Stimmung einbringen. In den zahlreichen Chorszenen, die in ihrem kantablen Melos nicht selten an Gluck erinnern, überzeugt der Choeur de chambre de Namur (Thibaut Lenaerts) mit klangvollem und expressivem Gesang. Wunderbar die Einleitung zum 3. Akt, welche Rousset mit düster-fahlen Farben ausmalt und der Chor mit ernsten Tönen das prophetische „Chi sorde vi rende“ anstimmt. Bernd Hoppe

Anita Cerquetti

 

Anita Cerquetti  – was für eine wunderbare Sängerin und Frau. Ganz unverstellt: Es gibt zwei Sängerinnen, deren Kunst und Stimme ich verfallen bin – Anita Cerquetti und Sena Jurinac(Pace: auch Maria Callas, aber eher vom Intellekt als von der rein emotionalen Anrührung her, davon später) Das sagt vielleicht mehr über mein Alter und meine musikalische Lernstrecke als über Objektivität und mein journalistisches Credo, aber wenn ich zu einer „Geliebten Stimme“ befragt würde, wären es diese beiden, die ich spontan nennen könnte. Namentlich die Cerquetti-Norma ist von solcher Kraft und majestätischen Würde, dass ich diese sogar über die in ihrem unvergleichlichen, interpretativen Willen natürlich einzigartigen Callas-Dokumente stellen würde. Die strömende Würde, die hohe Menschlichkeit, die Unangefochtenheit der vokalen Mittel – all das paart sich mit der blühenden Schönheit des Tons, der Großzügigkeit der Kommunikation. Dem unmittelbaren Eindringen in meine Seele.

Anita Cerquetti Mitte der 80er/ Azzali

Für mich ist sie die ideale Norma (wie man auf den Dokumenten aus Rom vor allem neben einem strahlenden Corelli und auf technisch schwierigeren aus Neapel nachhören kann). Die Fülle des Tons, dieses Gestalten nur aus der Musik heraus, die Würde der bedeutsamen, aber sich nicht selbstständig machenden Deklamation, dieses instinktive Wissen um Betonung und vor allem das Rezitativ – das findet man fast nur bei ihr. Eine Spinto-Stimme des großen Zuschnitts ohne die veristischen Momente einer Caniglia. Und ihre Gioconda: ebenfalls von tiefer Würde, von Kommunikation aus der Vorgabe der Musik heraus. Keine wie sie (vielleicht noch die Jurinac im anderen Fach) hat das so vorgelebt. Ihre Dokumente sind einigermaßen zahlreich, zum Teil (wie die Abengeraci vom Theater selbst aus Florenz soger erstaunlich, Don Carlo und Forza, Mosé und  Oberon sehr anständig bei den verschiedenen Firmen. Aber die Krönung bleibt die Norma – ein glorioses Dokument einer großen Künstlerin und der gesungenen Menschlichkeit.

Ich hatte das ganz große Glück, sie noch vor ihrem Tod zu erleben – sie empfing mich in ihrer kleinen, engen Wohnung im römischen Olympiaviertel EUR, wo neben der Wäsche die Nachbarn aus dem Fenster hingen und lautstark unseren Besuch kommententierten („Anita, sono i giornalisti…!“, „Ma guarda, Tedeschi!“), und wo sie raumverdrängend präsidierte, die starke Physis mit einem unvergleichlichen, majestätischen Gesicht krönend, schüchtern zu Beginn, dann mit tiefer Stimme aus dem dto. tiefen Nähkästchen ihrer Erinnerungen Anekdoten und auch ein bisschen Tratsch holend („Tutto era tanti anni fa… quelle memorie“).

Anita Cerquetti/ OBA

Ich werde diese Begegnung bei Wein und Gebäck nicht vergessen. kann mich an ihren Mann nur dunkel erinnern, aber er muss noch gelebt haben und war sicher dabei. Ich hatte mein Aufnahmegerät nicht dabei, wollte das  Gespräch nicht so „kommerzialisieren“. Und das kam auch nur durch Zufall durch meine Freundin Mietta Sighele zustande, die ja in Rom wohnte und deren Mann in der römischen Oper gerade Rossini sang. Beide waren mit der Cerquetti befreundet und wussten von meiner tiefen Bewunderung zu ihr. Eine Überraschung also, eine unvergessliche und mir kostbare.

Und da wir bei operalounge.de beschlossen haben, in dieser Serie „Meine geliebte Stimme“ unserer ungezügelten Adoration freien Lauf zu lassen, gibt es nun ein auch historisches Interview mit dieser in jeder Hinsicht großen Frau von 1995, das unsere Kollegin Gina Guandalini in Rom mit der Cerquetti gemacht und uns liebenswürdiger Weise überlassen hat. Die Cerquetti wurde am 13. April 1931 in Montecosaro/Macerata  geboren und lebte in Rom, nach ihrer Karriere zurückgezogen, aber unvergessen. Sie starb am 11. Oktober 2014 im Alter von 83 Jahren in Perugia. Diese Hommage an sie ist ein Zeichen unserer Dankbarkeit an sie als Künstlerin, als Monument wunderbaren Gesangs und als hinreißende Frau voller Humor und Güte. G. H.

 

Anita Cerquetti mit Ehemann Elio Feretti/ Trovato/Azzali

Nun also Anita Cerquetti und O-Ton: Heute unterrichte ich, reise herum, halte Bühnen- und Meisterklassen ab, bekomme Preise und Anerkennungen überreicht. Ich nehme an Jurys von Gesangswettbewerben teil, aber jetzt nur noch auf nationaler Basis. 1987 war ich in der Jury des Rosa­-Ponselle-Wettbewerbs in New York, und sie luden mich für das kommende Jahr wieder ein, aber ich fand das einfach zu weit zum Reisen. Im letzten Jahr machte ich einen Film mit Werner Schröter mit dem französischen Titel Poussieres d’amour („Staub der Liebe“, auf DVD erhältlich).  Werner beteuerte mir immer, dass es in seinem Leben nur zwei Lieben gibt, die Callas und Anita! Ich habe unseren Film noch nicht gesehen, ein  Kritiker  schrieb, dass der eigentliche Titel Anita Cerquetti “ lauten sollte. Abgesehen davon: Ich bin kein unruhiger Geist und bleibe lieber zu Hause bei meinem Mann und meiner Tochter.

Stimmen: Wenn Sie mich nach den heutigen Stimmen fragen – ob sie nun vorhanden  sind oder  nicht -, dann finde  ich das ein sehr komplexes Thema. Ich denke, dass die Stimmen zu verschiedenen Zeiten verschieden üppig ausfallen.  Es gibt Epochen  mit besonders vielen Dichtern und Musikern, und es gibt unfruchtbare, tote, wo sich nur geringe  künstlerische  Schaffenskraft  findet, und das bisschen, das es dann gibt, ist substanzlos  und nur unzureichend  zu  einer künstlerischen Vollendung geführt. Die Lehrer sind dann schlecht, die Schüler oft auch.

Anita Cerquetti als Norma 1963 mit Widmung/ OBA

Ich betone  immer,  dass  man  am  Anfang Demut braucht, und viel davon. Heutzutage existiert „Demut“ gar nicht. Diese Kinder gewinnen Wettbewerbe  und glauben, dass  sie es dann  „geschafft“  haben, während sie doch in Wirklichkeit nicht einmal mit der  harten Arbeit angefangen  haben. Sie sollten bescheiden genug sein, auf den Rat anderer zu hören, andere Künstler zu erleben und diese nicht zu imitieren. Jemanden nachzumachen stellt sich als der schlimmste Fehler überhaupt heraus, wissen Sie. Und sobald ich merke, dass meine Schüler nicht auf Ratschläge hören, lasse ich sie fallen .

Im Wesentlichen unterrichte ich Bässe, Baritone. Eben nicht nur die Mädchen. Sie sind alle ziemlich viel älter, als wir damals zu Beginn waren. Heute verbringen sie fünf Jahre am Konservatorium – reine Zeitverschwendung, meiner Meinung nach. Und wenn sie das hinter sich haben, geht alles noch mal von vorne los. Sie müssen einen Korrepetitor finden, um  die Partituren zu lernen usw. Viele Soprane kommen zu mir und imitieren die Callas.  Aber warum nur? Sie hatte einen so besonderen, faszinierenden Ton, sie war zudem in der Lage, ihre Unzulänglichkeiten in ganz besondere Qualitäten zu verwandeln. Aber die, die sie imitieren, können ja  nur die Aspekte der negativen Jahre am Konservatorium betonen und machen sich so einfach lächerlich. Nein, die Callas war einzigartig.

Das ultimative Buch über Anita Cerquetti gibt es im Azzali-Verlag von Elio Trovato, voll mit schönen Fotos und seriöser Berichterstattung, leider ohne ISBN, aber noch bei Bongiovanni und anderen zu haben

Erinnerungen: Aber ich war so unerfahren und grün damals! Ich hatte ja nie zuvor eine Oper gesehen! Die Aida in Spoleto war die erste überhaupt für mich. Danach machte ich bei anderen Wettbewerben mit, bei der RAI in Mailand im Trovatore, und bekam als Preis ein Konzert im Radio. Dann begann ich mit Tourneen in Italien, und diese Erfahrungen waren absolut unerlässlich. Die alten Maestri, die Dirigenten, waren für uns von unschätzbarem Wert, denn sie gaben einem alles; sie sangen ganze Rollen vor, um ihre verschiedenen Gestaltungs-Vorschläge zu demonstrieren. Ich erinnere  mich mit besonderer Wärme an Tullio Serafin, der für mich sogar seine Anweisungen niederschrieb. Ich versuchte eben, so viel wie möglich von allen zu absorbieren, zu lernen, Ratschläge anzunehmen. Heute sind die  Dirigenten nur noch am Orchester interessiert – die Sänger kommen erst ganz zum Schluss.

Manche Begegnungen waren schöne als andere, aber an wirkliche Schrecken kann ich mich nicht erinnern. Mitropoulos, was für ein Musiker! Wie sein Orchester mich im Ernani begleitete – ich erinnere mich an seinen Zeigefinger, der das Tempo angab, er dirigierte ohne Stock. „Wofür brauche ich den?, sagte er, Ich habe zehn Taktstöcke!“ Ich war aber auch eine disziplinierte Sängerin, und man arbeitete gut mit mir. Meine Einstellung war stets die, dass man alles einstecken musste, auch Kritik.

In Chicago erinnert man sich besonders liebevoll an mich, ich hatte dort ein wunderbares Debüt und fühlte mich wie zu Hause. Damals war Carol Fox Direktorin dort, Tito Gobbi und Boris Christoff auch. Ich sang Ballo und Don Carlo mit Bergonzi und Björling! Publikum und Presse waren enthusiastisch, man verglich uns mit der Ponselle und Caruso. Die Ponselle hörte mich im Radio und hinterließ mir nach ihrem Tod eine herrliche Brosche mit den Initialen R. P. und der Anweisung, dass ich in der Jury des von ihr gegründeten Wettbewerbs sitzen sollte. Während meines ersten Aufenthaltes mochte ich das Essen dort nicht, also nahmen mein Mann und ich im folgenden Jahr alle diese wunderbaren italienischen Sachen mit: Spaghetti, Parmesan, Olivenöl, na, Sie wissen schon. Nicola Rossi Lemeni, der ein enger Freund von  uns  und ein sehr kultivierter, intellektueller  Mann war, amüsierte sich erst darüber, aber dann roch er meinen selbstgemachten sugo und lud sich selbst zum Essen bei uns ein …

Gianni Poggi: Enzo neben Cerquettis Gioconda in Florenz/Trovato/ Azzali

Rollen: Ich liebte immer Verdi – tutto! Alles und jedes von Verdi. Ich begann mit Aida, und Verdi ist mein Favorit geblieben. Und dann diese starken, komplexen Rollen – Norma! Ich liebe auch die Gioconda (aber ich hätte sie noch mehr geliebt, hätte Verdi sie geschrieben). Leider habe ich nichts von Donizetti  gesungen, das  bedaure  ich. Mario Missiroli, der damalige Direttore Artistico der Arena di Verona, schickte mir einen Blankovertrag für die Turandot – ich hätte die Gage, den Dirigenten und alles andere bestimmen können. Aber ich liebte diese kalte, undankbare Rolle nicht und sprach darüber mit Bergonzi, der meinte: Ich glaube nicht, dass Du eine Turandot bist, und ich glaube auch nicht, dass sie viel zu Deiner Karriere beitragen würde.“ Karajan wollte mich als seine lsolde (!!!), und ich hätte sie gerne in Italienisch gesungen. Denn ich muss einfach jedes einzige Wort, das ich singe, verstehen, nicht nur die allgemeine Bedeutung der Wörter im Libretto – wie  hätte ich das je  auf Deutsch lernen können. Ich spreche kein Deutsch und für uns Italiener ist es ja fast unmöglich, das akzentfrei zu singen. Also wurde nichts daraus. Serafin wollte mich auch als Violetta, er bestand absolut darauf. Und es war mir sehr unangenehm, ihm absagen zu müssen. Ich sagte, ich sei physisch zu gewaltig und szenisch ungeeignet. Serafin konterte: Er würde nur voluminöse Sänger neben mir engagieren. Und ich sagte, ich würde darüber nachdenken. Aber es wurde nichts daraus, und das tut mir heute leid.

Das originale LP-Cover neben der späteren Gioconda, die sie hier im Kostüm zeigt, der ersten und einzigen offiziellen Cerquetti-Decca-LP/OBA

Zumindest hätte ich die Traviata für die Schallplatte aufnehmen sollen. Aber die Carmen und Violetta lehnte ich zumindest nicht aus stimmlichen Gründen ab. Dokumente: Meine Beziehung zu den Aufnahmestudios ist schnell erzählt (Decca nahm mit mir ein Arien-Programm/nun bei Preiser und die Gioconda auf). Zu meiner Zeit musste man erst einmal berühmt sein, um Schallplatten-Angebote zu bekommen. Heute ist es anders herum. Und ich selber ziehe Live-Aufnahmen vor – sie sind echterauthentischer.  Außerhalb Italiens gibt es einen großen Markt für meine eigenen Live MitschnitteErnaniMosèForzaTellDon CarloNormaVespriBallo, verschiedene Konzerte – ich glaube, meine Stimme ist ganz gut repräsentiert. Und da gibt es auch noch den Oberon für die RAi mit ganz gutem Klang. (Ein Blick zu jpc und zu Amazon zeigt, was noch auf dem Markt ist, seitdem die Live-Firmen verschwunden sind. Redaktion Geerd Heinsen)

 

 

 

 

West-östlicher Divan

 

Ein für westeuropäische ungewohntes Bild bietet das Cover der ersten CD von Fatma Said, einer ägyptischen Sängerin, die an der Berliner Hanns-Eisler-Hochschule ausgebildet wurde, denn neben dem Namenszug der Sängerin finden sich, wohl als Titel gedacht, ein El Nour, was so viel wie Guten Morgen heißt, und ein arabischer Schriftzug, der wahrscheinlich dasselbe meint. Einen Track des gleichen Wortlauts gibt es auf der CD zwar nicht, aber der Hörer kann sich der Vorstellung hingeben, eine junge Künstlerin begrüße ihn frohen Mutes als Teil eines zukünftigen Publikums, dessen eine Gruppe wohl aus dem arabischen Raum stammen sollte, denn auch das Booklet und die Übersetzungen der Liedtexte berücksichtigen ein Publikum aus dem Morgenland.

Das Booklet spart denn auch nicht mit lobenden Attributen für das Unternehmen, wenn gleich in den ersten Zeilen des informationsreichen Artikels Vokabeln wie „Offenbarung“, „ungeheuer talentiert“, „denkwürdig“, „charismatisch“,“ virtuos“ und „außergewöhnlich“ auftauchen und den Leser fast einschüchtern. „Auf eine frische Art“ will die CD westliche und nahöstliche Musik präsentieren, die „erweitert“ wurde durch „Elemente, die uns stimmig erschienen“. Damit ist vor allem die Begleitung der  mehr oder weniger orientalische Themen benutzenden Werke europäischer Komponisten durch orientalische Instrumente wie Ney oder Kanun gemeint, die ihnen ein zusätzliches orientalisches Flair verleiht.

Fatma Said findet gleichermaßen in ihrem modischen Stil, einem Mix aus orientalischem Schmuck und westlicher Abendrobe, wie in der Art ihres Singens zu einem gelungenen Ausgleich zwischen ausgebildeter Opernstimme und volksliednahem Ton, dort wo er sich anbietet.

Es beginnt mit Ravels Shéhérazade, di sich in zart flirrendem Klang äußert, sich flexibel bewegt zwischen einer gut ausgebildeten Mittellage und einer Höhe, die wohl absichtlich stellenweise leicht gepresst klingt, scharf bis schneidend werden kann. Im zweiten Beitrag innerhalb des kleinen Zyklus gibt es ein reizvolles Wechselspiel zwischen Stimme und Flöte, lasziv verführerisch wird im abschließenden Track die Mittellage eingesetzt.

In De Fallas Schwarze Augen preisendem Chanson wiegt sich die Stimme herausfordernd auf der Begleitung durch Burcu Karadag, verspielt unterschiedliche Farben annehmend, nimmt sie sich Serranos Zarzuela “Marinela, Marinela“ an, und BerliozZaide klingt gewollt fremdartig, wenn sie nicht mit aufblühender, sondern scharf werdender Stimme in die Höhe klettert. Philippe Gaubert komponierte Le Repos en Égypte, während derer die Sängerin „l’air bleu“ wie einen sanften Hauch erscheinen lässt.

Aus den Canciones espanolas antiguas  von Garcia Lorca stammen die folgenden Stücke, für die der Sopran sich herb, auch stellenweise scharf gibt, gut mit der Gitarre von Rafael Aguirre korrespondiert und mit natürlich wirkendem, nie aufgesetztem Temperament zu agieren scheint.

Purer Übermut kennzeichnet die Interpretation von Abdel-Rahims Beitrag, geschmeidig verführerisch klingt Bizets Adieux de l’hotesse arabe, und es kommt einem der Klang von Jodeln in den Sinn, wenn man sich „dem Geheimnis der Unvergänglichkeit“ zuwendet, ehe die Schöne Frau, Lebhafte Nächte und eine Weiße Taube verzaubern können. Mit ihnen entfernt sich natürlich die Sängerin weit vom europäischen Opernrepertoire, so dass man ein Urteil über ihren Standort in demselben nicht fällen mag, sie am ehesten sich als Despina, Zerlina u. ä. vorstellen kann (Warner Classics 0190295233600). Ingrid Wanja

Unbekannte Lieder eines Kosmopoliten

 

Giacomo Meyerbeer (1791-1864) zählt neben Berlioz, Liszt und Wagner zu den innovativsten und erfolgreichsten Kompo­nisten des 19. Jahrhunderts und gilt als Meister der Grand Opera. Der in der Nähe von Berlin erstgeborene Sohn eines weltoffenen, aufgeklärten und tole­ranten Elternhauses erhält wie alle seine drei Brüder eine fundierte künstlerisch­-wissenschaftliche Ausbildung – Ausdruck einer mehr und mehr erstarkenden jü­dischen Bildungsschicht, die sich zuse­hends in die bürgerliche Mitte integriert, ohne dabei das Entreebillet zur euro­päischen Kultur mittels eines Taufscheins (wie Heinrich Heine) zu bemüßigen. Meyer­beer bleibt zeitlebens ein zutiefst gläubi­ger, aber nicht orthodoxer Jude und erträgt die religiösen Ressentiments mit Stolz, Würde und Geduld. 1836 setzt er mit Les Huguenots dem religiös-ideologischen christlichen Fanatismus ein nachhaltiges Zeichen – aktuell bis in unsere Zeitrechung hinein. In Berlin wird er von Lauska, Zelter und B. A. Weber unterrichtet. Den letzten Schliff erhält er in Darmstadt in der musi­kalischen Schule des legendären Abbe Vogler. Entmutigt durch den (schwachen Erfolg seiner deutschen Opern Jephtas Gelübde (1812) und Alimelik (1814), er­wägt er vorrübergehend eine Karriere als Pianist.

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Heinrich Heine (1797 – 1856/ Gemälde von Oppenheim/ Wiki-Commons)

Meyerbeer zählt zu den profiliertesten Klaviervirtuosen seiner Epoche. Auf Anraten Salieris durchstreift er Italien, sam­melt Volksweisen, studiert die italienische Melodie, wird von Rossinis Tancredi über­wältigt, reüssiert mit italienischen Opern und begibt sich in das musikalische Fahrwasser eines Mayr, Mercadante und Rossini. Mit eigenen Akzenten setzt er auf den Trend der Zeit und gibt dabei der Musik eine fortschrittliche Bewegung. Den Reigen seiner insgesamt sechs italienischen Opern eröffnet die 1817 in Padua aufge­führte Romilda e Costanza; der fulminate Erfolg der letzten Oper II Crociato in Egitto, von Meyerbeer 1824 in Venedig selbst in Szene gesetzt, gibt seinem Namen im internationalen Operngeschehen ein nicht mehr weg zu denkendes Gewicht und ebnet ihm den Weg nach Paris, der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts. 1831 katapultiert ihn Robert le Diable an die Spitze der europäischen Oper und über alle Grenzen hinaus. 1836 folgen die bereits erwähnten Les Huguenots, 1849 Le Prophete und posthum 1865 L’Africaine/ Vasco da Gama. Für die Opera comique entste­hen L’Etoile du Nord (1854) und Dinorah ou Le Pardon de Ploermel (1859). In sei­ner Eigenschaft als preußischer General­musikdirektor ist Meyerbeer ab 1842 für die repräsentativen Opernaufführungen und die gesamte Hofmusik verantwortlich.

Was sich bei Meyerbeer in seinen Opern als musikalisch kosmopolitischer Stil, als eine Verschmelzung italienischer, deut­scher und französischer Einflüsse bezeich­nen lässt, spiegelt sich auch als Abbild in der kleinen Form des Liedes wider. Etwa 83 Lieder, Romanzen und Melodies kom­poniert Meyerbeer zwischen 1810 und 1863.

In Frankreich dominiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts die sentimentale, lei­denschaftliche wie dramatische Romanze. Die meisten waren einfach in Strophen­form konzipiert, schlichte Kadenzharmo­nik, selten Ausweichungen oder Modula­tionen. Das Klavier wurde zur bloßen Begleitung degradiert, genügte kaum einem pianistischen Anspruch, traf aber den Geschmack und die Möglichkeiten der aufblühenden Haus- und Salonmusik – verkümmerte Massenware.

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Charloptte Birch-Pfeifer (1800 – 1869/ Wikipedia)

Meyerbeers Liedschaffen entspricht seinem Bestreben, sich quasi zwischen den Opern im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu hal­ten. Einen Kontrapunkt setzt er bewusst gegen die oberflächliche Salonmusik und die seichten Moderomanzen. Dabei hat er in Hector Berlioz einen – auch rheto­risch – sehr eloquenten wie versierten Unterstützer an seiner Seite. Beide suchen und experimentieren mit neuen Klang­qualitäten, die sich am Treffensten mit Musique characteristique bezeichnen las­sen. Der überaus große Erfolg seiner Romanzen und Lieder überraschte selbst Meyerbeer – er schien ins Wespennest der Zeit gestochen zu haben. Im Journal des debats, wo alle Kulturströmungen kontro­vers und mit großer Leidenschaft disku­tiert werden, feiert Berlioz besonders Meyerbeers Le Moine. Über die 1834 kom­ponierte biblische Romanze Rachel à Nephtali und Le Moine hat uns Meyerbeer ein ganz rares Dokument zu seinen ästhe­tischen Ansichten in einem Brief an den Liederkomponisten Wilhelm Speyer vom 28. Januar 1835 hinterlassen: »Erlauben Sie mir in beifolgender Rolle ein kleines musikalisches Neujahrsandenken beizufügen. Es ist so unbedeutend, wie Neujahrsandenken gewöhnlich sind, und soll auch nur meinen Namen ein wenig bei Ihnen auffrischen. Es sind zwei Roman­zen, welche ich kürzlich in Paris componirt habe, und die einige Sensation dort ge­macht haben, welches um so mehr zu ver­wundern ist, da sie in direkter feindseeliger Tendenz gegen die bis jetzt beliebten schmachtenden und duftenden Mode- Romanzen des Salons auftreten, da sie eine dramatische Grundidee und Localcouleur, natürlich in dem verjüngten Maaßstabe der kleinen Form auszuspre­chen suchen. Die Tendenz des zwischen Versuchung und Reue ringenden Mönch’s, spricht sich wie ich hoffe deut­lich genug aus [um] keines <…> ästheti­schen Commentars zu bedürfen. Nicht so vielleicht aber die biblische Romanze Rachel à Nephtali, wo die Farben vom Dichter so zart aufgetragen sind, daß auch ich nur andeuten durfte. Die Scham der jungen Jüdin, ihrem Schwager zu geste­hen, daß sie seine verbothene Liebe theilt, hält die <…> Gluth ihrer Leidenschaft zurück, die nur immer bei dem letzten Verse jedes Couplets („Pitiez, je suis ta soeur“) durchbricht. Ich habe daher dieses comprimirte Gefühl durch die sich stets behauptende kleine Baß-Figur auszu­drücken gesucht, und beim letzten Verse des jedesmaaligen Couplets wo die Gluth durchbricht, geht diese Baß-Figur in die Singstimme über. Leid thut es mir diese Romanze nicht 4/4 statts 2/4 geschrieben zu haben, da die Bewegung langsamer sein muß, als sie sich so geschrieben für’s Auge ausnimmt.«1

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Bruder Michael Beer (hier in einem Stich von C. Vogel/ 1800 – 1833/ Wikipedia)

Die Texte seiner Lieder stammten von seinem Bruder Michael, Journalisten, Rechtsanwälten, Ministern, Librettisten und Dichtern. Von Heine stammen drei Textvorlagen, von Goethe eine. Wer von Meyerbeer vertont wurde, war sich einer ganz besonderen Auszeichnung bewusst, empfand sich musikalisch nobilitiert. In den Liedern offenbart sich eine pittoreske Vielfalt, grenzüberschreitend zwischen Keckheit, Sentimentalität und religiöser Meditation. Meyerbeer kostet dabei den Stimmenumfang der Sängerinnen und Sänger facettenreich und ausdrucks­voll aus, bis in kleinste Nuancen und Schattierungen hinein – von ganz banalen musikalischen Floskeln, über eine Tarantella oder einem Galopp bis hin zu locker-flockigen Walzerrhythmen; biswei­len sind es Opernszenen en minature, ein explizit hoher stimmtechnischer Standard, und der Komponist verlangt vom Auszuführenden Gestik wie Mimik. Wesentlichen Anteil am Stimmungsgehalt hat die Klavierbegleitung, nicht nur als Stütze des Sängers prägt sie das rhythmi­sche Profil und bestimmt das szenische Timbre. Im Gegensatz zum Kunstlied deut­scher Prägung verzichtet Meyerbeer auf Tonmalerei – die mitunter virtuose Klavier­stimme ist bei ihm Stimmungsmalerei.

1850 – also auf der Höhe seines Ruhmes – veröffentlicht Meyerbeer eine persönlich getroffene Auswahl seiner Lieder, wobei es dem Kosmopoliten wichtig erscheint, dass die Lieder alle mehrsprachig er­scheinen. Die Lieder der Aufnahmen mit Andrea Chudak und Andreas Schulz am Klavier (1-CD-BM 1439008) sind chronologisch geord­net, wobei die beiden geistlichen Lieder Gottergebenheit und Reue erstmals auf Tonträger erklingen.

 

Meyerbeer-Lieder mit Andrea Chudak, Julian Rohde, Tobias Hagge und Alexandra Rossmann (Klavier)/ Foto Alex Adler Eventphotography/ Bella Musica

Die darauffolgende Doppel-CD von 2019 (2-CD-Bella Musica Antes BM 319294) vereinigt 38 Liedkompositi­onen von Giacomo Meyerbeer und ist damit die bislang umfangreichste Sammlung von Aufnahmen dieser Art. Die Sopranistin Andrea Chudak setzt sich seit Jahren unermüdlich für die Wiederentdeckung des großen jü­disch-deutschen Komponisten ein. Intensiv recherchierte sie anhand unterschiedlicher musikwissenschaftlicher Quellen – wie den Meyerbeer-Tagebüchern oder Listen „verschollener Werke“ – und so gelang es ihr, die Autographen und Erstdrucke von 14 bislang als verschollen geltenden Vokalkompositionen aufzufinden. Sie konnte dabei auch auf wertvolle Mitarbeit eines Netzwerks von Meyerbeer-Forschern zurückgreifen; Fundorte gab es in verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, England und Israel. Unter den neu aufgefundenen Wer­ken befinden sich wahre Schätze und Kuriositäten wie Meyerbeers A-Cappella-Einlage der Vroni und des Toni zum Schauspiel Der Goldbauer von der Bühnenautorin Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868). Eine Sensation sind auch zwei Lieder auf Texte des dichtenden baye­rischen Königs Ludwig I. (1786-1868), dessen Bayeri­schen Schützenmarsch Meyerbeer 1829 als Kantate für Männerstimmen und Blechblasinstrumente vertonte. Wer auch immer von Meyerbeer vertont wurde, durfte sich mehr als nur geschmeichelt gefühlt haben: Es war eine Nobilitierung der besonderen Art und Weise.

 

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 – 1869/ Wikipedia)

Giacomo Meyerbeer (1791-1864) komponierte mehr als 100 Romanzen, Elegien, Lieder und Balladen. Sie erschienen in Einzeldrucken, Anthologien und Sammel­ausgaben, als musikalische Beigaben in Zeitschriften, Journalen und in Büchern. In den eleganten Salons der Rothschilds, eines Bankiers Fould, der legendären Ma­dame Merlin oder der Princesse Belgiojoso wurden viele dieser Lieder von den Stars der Opera inmitten einer illustren Gesellschaft vorgetragen, wo auch berühmte Kulturschaffende wie Heinrich Heine, Gioachino Rossi­ni, George Sand, Daniel-Francois-Esprit Auber, Frederic Chopin, Luigi Cherubini, Franz Liszt oder ein Alexandre Dumas verkehrten.

Etliche dieser Lieder hat Meyerbeer für bestimmte Sängerinnen und Sänger komponiert; so widmete er Le Moine dem Bassisten Nicolas-Prosper Levasseur, der 1831 die Partie des Bertram in Meyerbeers Robert le diable sang. Sogar Franz Liszt ließ es sich nicht nehmen, eine groß angelegte Paraphrase für das Klavier über Le Moine zu komponieren. 1850 veröffentlichte Meyerbeer in 40 Melodies eine Auswahl seiner Lieder in französischer, deutscher und italienischer Sprache – ein ungewöhnliches Zeugnis polyglotten Weltbürgertums im 19. Jahrhundert. Die Lieder Meyerbeers, die einen Kont­rapunkt zu den seichten und sentimentalen Salonroman­zen bildeten, erfuhren in Frankreich eine überwiegend positive Rezension und wurden besonders von Berlioz im Journal des debats begeistert besprochen. Doch es kam nicht von ungefähr, dass ihm deutsche Kritiker wie Lud­wig Rellstab seinen Kosmopolitismus und seine Internationalität vorwarfen. Weil Meyerbeer keine explizit deut­sche Musiksprache pflegte, wurde er als „Abtrünniger“ wahrgenommen, was sicher auch mit aufkeimenden na­tionalistischen Tendenzen und dem Antisemitismus in Zu­sammenhang steht.

Bis heute hat sich Deutschland nicht wirklich mit Meyerbeer versöhnt. Es gehörte zu seinem universalen Verständnis, dass er sich weder in seinen Opern noch in seinen melodies auf einen Stil festlegen ließ: Seine musikalischen Inspirationen und Eingebun­gen nährten sich aus der italienischen Kantilene, einer grundsoliden deutschen Harmonik mit Akkordrückungen, unvermittelten Tonartenwechseln, chromatischen Ein­würfen, einer ausgefeilten Rhythmik und natürlich der französischen Deklamation. Ausgehend von der Ganzheit einer Textvorlage war es für Meyerbeer selbstverständ­lich, die französischen, italienischen und deutschen Ge­dichte durch ein jeweils national-musikalisches Idiom zu charakterisieren. Jeder Vertonung schenkte er dabei eine eigene Individualität und experimentierte mit neuartigen Formen und Motiven. Darüber hinaus verlangte er Mimik, Gestik und eine leidenschaftliche Hingabe der Ausfüh­renden. Von der neckischen Liebelei bis hin zu Dramen à la miniature, von geistlichen Texten bis hin zur sentimen­talen Romanze – niemals verleugnete Meyerbeer dabei sein dramatisches Talent. Immerhin wurden die Lieder in den mondänen Salons aufgeführt und boten den aus­führenden Interpreten reichlich Gelegenheit, ihre stimm­lichen und darstellerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Der Klavierpart ist dabei sehr anspruchsvoll, mitunter sehr virtuos. Im Gegensatz zum deutschen Lied im Sinne Schuberts und Schumanns ging es Meyerbeer primär nicht um Tonmalerei, sondern um Stimmungsma­lerei. Ihm war die Reflexion des Sujets wichtig, und er lotete die innere Stimmung der Lyrik bis ins Detail aus.

 

Meyerbeer-Lieder-Autoren: Auch König Ludwig I. (1786 – 1868, Gemälde von Kreul, ca. 1835/Wikipedia-Commons) gehört mit dazu.

Wie schon auf einer ersten CD-Ausgabe Andrea Chudaks Giacomo Meyerbeer – Lieder (Bella Musica Antes BM319294) wiederum in der Unterstützung durch Julian Rohder, Tobias Tagge und Alexandra Rossmann am Klavier sind die Lieder auch hier chronologisch geordnet, so dass Meyerbeers musikalische Entwicklung quasi hörbar wird. Welch eine Pluralität der Formen und des musikalischen Ausdrucks! Kein Lied gleicht dem anderen. Die Lieder erklingen in den Originalsprachen und mit den von Meyerbeer vor­gesehenen Stimmen von Sopran, Tenor und Bass. Unterschiedlichste Textdichter sind vertreten: Die Canzonetten auf Texte Pietro Metastasios (1698-1782) entstanden während der Lehrzeit Meyerbeers bei Georg Joseph Vog­ler in Darmstadt und versprühen mozartsche Anmut. Mo­zart, Gluck und Spontini gehörten zu den musikalischen Idealen und Vorbildern Giacomo Meyerbeers. Marceline Desbordes-Valmore (1786-1859) war eine der bedeu­tendsten französischen Lyrikerinnen des 19. Jahrhun­derts; Emilien Pacini (1811-1898) war Librettist und verfasste u. a. die französische Fassung von Carl Maria von Webers Freischütz und Verdis II trovatore; Charles- Hubert Millevoye (1782-1816) schrieb klassizistisch­romantische Dichtungen; Meyerbeer vertonte mehrere Gedichte seines Bruders Von Heinrich Heine (1797-1856) setzte Meyerbeer drei Gedichte in Töne; der Dichter und Dramatiker Henri Blaze de Bury (1813-1888) zählte zum näheren Bekann­tenkreis Meyerbeers; neben einigen Liedtexten, die von Meyerbeer vertont wurden, verfasste er das Schauspiel La jeunesse de Goethe, zu dem Meyerbeer die Schau­spielmusik komponierte (unveröffentlicht), 1865 pub­lizierte Henri Blaze de Bury eine recht authentische Biographie über Meyerbeer (Meyerbeer et ses temps). Wilhelm Müller (1794-1827) dichtete auch Schuberts Die schöne Müllerin und Die Winterreise, Wolfgang Robert Griepenkerl (1810-1868) gehörte zu den Mit­arbeitern der Neuen Zeitschrift für Musik, die Verfasser der Cavatine Ach dies Herz, des Aimez, der Canzonetta II nascere e il fiorire d’una rosa, der Arietta Soave ins­tante und des melancholischen Cantique du trappiste sind unbekannt. Johann Gabriel Seidl (1804-1875) war Archäologe, Lyriker und Dramatiker; Amadée-Edmond Thierry (1797-1873) wirkte als Bittschriftenberichterstatter im französischen Staatsrat und gehörte der Akademie der Künste an. Walter Scott (1771-1832) war Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker, und viele seiner Werke waren Grundlagen für Opernlibretti (unter anderem La donna del lago für Rossini und Lucia di Lammermoor für Donizetti). Der Komponist, Kritiker und Übersetzer Jean Maurice Bourges (1812-1881) gehörte zu den Mitarbeitern der Revue et Gazette musicale und übersetzte auch einige Lieder Meyerbeers. Crevel de Charlemagne (1807-1882) war Schriftsteller und wurde besonders mit seiner Biographie über den Komponisten Benedetto Marcello (1686-1739) bekannt.

Der Autor Thomas Kliche, renommierter Meyerbeer-Forscher und Initiator zahlreicher Veranstaltungen im Meyerbeer-Umkreis/Beck Verlag

Für Aylic Langles (1827-1870) Schauspiel Murillo ou la Corde de pendu komponierte Meyerbeer eine Ballade als musikalische Einlage. Ignaz Franz Castelli (1781-1862) gehörte zum engeren Freundeskreis Meyerbeers, er war Dichter und Dramatiker und verfasste u. a. das Libretto zu dem seinerzeit sehr populären Singspiel Die Schwei­zer Familie von Joseph Weigl. Pietro Beltrame (1817- 1849) war Politiker, Schriftsteller und Librettist von Opernlibretti (u. a. La fidanzata di Lammermoor von Al­berto Mazzucato (1813-1877) und publizierte 1847 eine viel beachtete Biographie über Vincenzo Bellini. Joseph Mery (1798-1866), ein Dichter und Satiriker, schrieb die schaurig-schöne Ballade Le revenant du vieux chäteau de Bade, die von Meyerbeer als ein melodramatisches Kabinettstück vertont wurde. Die Romanze der Erminia aus Das Hoffest von Ferrara (1843) nach einem Text von Ernst Raupach (1784-1852) ist interessant, da die Komposition mit Meyerbeers biblischer Romanze Rachel á Nephtali identisch ist, nur mit einem anderen Text. Ne­ben Le Moine zählte Rachel à Nephtali zu den Bravour­stücken der Salons. Nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Liedern forderte Meyerbeer seinen Interpreten die gesamte Palette ihres Könnens ab, bei ihm steht der Mensch mit allen seinen Leidenschaften und Affekten im Fokus seines Interesses, nicht nur das Leben erschien ihm wie ein fortwährendes Drama. Thomas Kliche

 

 

Meyerbeer-Lieder: Andrea Chudak und Pianist Thomas Schulz/ Foto Alex Adler Evenphotographie/ Bella Musica

Andrea Chudak studierte an der Hoch­schule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Ein weiterführendes Studium absolvierte sie am Institut Musiktheater der Staat­lichen Hochschule für Musik Karlsruhe. Dem Liedgesang widmete sie sich in den Klassen von Eric Schneider und Wolfram Rieger. Sie besuchte zahlreiche Meister­kurse, u.a. bei Peter Schreier und Elisa­beth Schwarzkopf. Andrea Chudak erhielt mehrfach Preise bei nationalen und inter­nationalen Wettbewerben, u.a. beim Int. Emmy-Destinn-Gesangswettbewerb in Budweis. Seit dem Jahre 2001 ist sie an den Opernhäusern in Karlsruhe, Kaisers­lautern, Stuttgart, der Staatsoper Berlin und dem Theater an der Wien als Solistin tätig. Konzertverpflichtungen im In- und Ausland ließen sie mit vielen Orchestern und namhaften Dirigenten zusam­menarbeiten. Festivalerfahrungen sammel­te die Sopranistin u.a. 1998 beim Festival der Europäischen Musik im Meistersaal Berlin, 2000 beim Festival „Les Notes en Bulles“ Auray (Frankreich), bei der „Klangwerkstatt 2004 – dem Festival für Neue Musik Berlin“, beim Festival „Lied: Strahl 2007″ in Kempten, beim „Festival Schloss Britz“ in Berlin sowie beim Kleistfestival des Maxim-Gorki-Theaters 2011 in Berlin. Die CDs „Zwiegespräche“ (BM-CD319181), „Im Grase lieg ich“ (BM- CD 319254), „Max Doehlemann – Jacobs Traum“ (BM-CD319267) und „Carl Maria von Weber – Lieder“ (BM319280) doku­mentieren ihr künstlerisches Schaffen.

 

Dazu auch die Rezension von Michele Ferrari aus dem Jahr 2020: MEYERBEER IM SALON: Komponisten des 19. Jahrhunderts, die den Erfolg anstrebten, mussten sich doppelt beweisen. In erster Linie hatten sie natürlich das Theaterpublikum für sich zu gewinnen, dessen kapriziöser Geschmack die Tonsetzer unter einen ständigen, kaum auszuhaltenden Druck setzte. Dann aber galt es, die Salons zu erobern. Dafür schrieben die Herren Compositeurs Lieder und Romanzen, mit denen nicht nur die Sehnsüchte von stets gelangweilten und den Kick suchenden Bourgeois bedient wurden, sondern mit denen dank passender Widmungen vor allem Netzwerke aktiviert wurden, die für die Karriere lebenswichtig waren. Es waren Gelegenheitskompositionen, und die Gelegenheit bestand oft darin, die Unterstützung spendabler Gönner zu gewinnen. Giacomo Meyerbeer entzog sich diesem Zwang nicht, auch wenn er im Gegensatz zu seinen italienischen Konkurrenten einen Nachteil hatte: er war kein Schnellschreiber. Er schrieb trotzdem um die 100 Stück, wovon ungefähr die Hälfte auf den vorliegenden zwei CDs sowie einer schon 2014 erscheinen CD beim selben Label (Giacomo Meyerbeer, Lieder: A. Chudak, A. Schulz, Klavier, ANTES BM 319294) versammelt sind. Sie stammen aus allen Schaffungsepochen: man findet neben Canzonette italiane des 19jährigen auch deutsche Lieder (zwei hier zum ersten Male eingespielte auf Texte Ludwigs I. von Bayern) sowie Romances und eine 15minütige Ballade auf Französisch (die aber bis zum einem kurzen gesungenen Finale aus reiner Rezitation mit Klavier-Einsprengseln besteht) aus dem letzten Lebensabschnitt. Eine Besonderheit stellt „Komm!“ (CD 1, tr. 16) dar, dessen deutsch und französisch gesungener Text von Heinrich Heine und dem Bonner Johann Baptist Rousseau (1802-1867) stammt (ein erfolgloser Schreiberling, der sich Meyerbeers finanzielle Unterstützung erbat). Wenige Sänger haben sich dieser Petitessen angenommen. In Erinnerung ist etwa ein Rossini-Meyerbeer-Recital von Thomas Hampson aus dem Jahre 1992. Mehrere der hier vorgestellten Kompositionen wurden von der Sopranistin Andrea Chudak wieder entdeckt, was dieser Veröffentlichung einen sicheren Repertoire-Wert sichert. Und dadurch, dass Meyerbeer auf sehr unterschiedliche Vorlagen zurückgriff, entsteht beim Hören nicht die Langeweile, die man nicht selten bei Liederplatten empfindet. Andrea Chudak hinterlässt hier einen günstigeren Eindruck als auf ihrer Meyerbeer-Platte bei NAXOS, die in der OperaLounge schon besprochen wurde. Ihr matter, an Stellen unsteter Sopran wird jedoch nicht jedermanns Sache sein. Mit dabei sind Julian Rohde, der über einen leichten, bisweilen in der Höhe allzu eng klingenden Tenor verfügt, und Tobias Hagge mit fahlem Bass-Bariton. Sie werden sehr gekonnt von Alexandra Rossmann am Klavier begleitet, dem die Aufnahmetechnik an Stellen leider einen dumpfen Ton verliehen hat. Alle vokalen Interpreten eint die gute Aussprache und der Wille, diesen Miniaturen – die man freilich sofort nach dem ersten Hören vergisst – Gehör zu verschaffen. Insgesamt lässt aber diese Produktion die etwas parfümierte Unterhaltung in Salons des vorvorigen Jahrhunderts erfolgreich aufleben (Giacomo Meyerbeer, Romanzen, Lieder, Balladen: Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor), Tobias Hagge (Bass-Bariton), Alexandra Rossmann (Klavier), 2 CDs ANTES BM 149008.)Michele C. Ferrari

 

Dank an Thomas Kliche, dem renommierten Meyerbeer-Forscher und Initiator mancher Aufführungen seiner Lieder und Werke im Ausser-Opern-Bereich für die Überlassung der Texte, die wir den beiden Veröffentlichungen wie auch die Künstlerfotos der Ausübenden bei Bella Musica entnahmen. Von Thomas Kliche erschien im Backe-Verlag Hützel: „Camacho und das ängstliche Genie – Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer“, ISBN-10: 3981487370 ISBN-13: 978-3-9814873-7-4; 1 Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher. Band 2, hg. von Heinz und Gudrun Becker. Berlin 1970, S. 432f.