In Frankreich war sie eine Institution, den deutschen Opernfreunden ist sie im allgemeinen nur als Micaela in der 1964 entstandenen „Carmen“-Aufnahme mit Maria Callas ein Begriff: Andréa Guiot, die am 15. Februar im Alter von 93 Jahren in Nîmes verstorben ist, war im Fach des lyrischen Soprans eine der wichtigsten Zeuginnen französischer Gesangstradition. Am 11. Januar 1928 im südfranzösischen Garons nahe Nîmes geboren, kam sie dort schon im frühen Kindesalter mit der Oper in Berührung, wodurch ihr Wunsch, Sängerin zu werden, geweckt wurde. Nach einigen Jahren Privat-Unterricht erhielt sie ihre weitere Ausbildung am Conservatoire de Paris, wo Janine Micheau zu ihren Lehrern zählte. 1955 gab sie ihr Debut in Nancy als Marguérite in „Faust“ und kam ein Jahr später an die Opéra comique (Antrittspartie: Antonia in „Hoffmann“), der sie bis 1972 angehörte. Von 1959 bis 1978 war sie auch Ensemblemitglied der Opéra, wo sie wiederum als Marguérite ihren Einstand gab. Mit dieser Partie und in anderen französischen Rollen wie Mireille, Micaela und Manon begann in den 60er Jahren ihre internationale Karriere, die sie auch in die Vereinigten Staaten (Chicago, Philadelphia, San Antonio) und nach Südamerika führte. In Buenos Aires sang sie 1965 Madame Lidoine in Poulencs „Dialogues des Carmélites“; von dieser Aufführung existiert auch ein Audio-Mitschnitt. Im deutschsprachigen Raum ist sie offenbar kaum aufgetreten. Ich konnte nur eine einzige „Faust“-Aufführung an der Wiener Staatsoper eruieren. In Strasbourg, also an der deutschen Grenze, war sie allerdings oft und vor allem in italienischen Partien zu erleben – als Desdemona, Elisabetta in „Don Carlo“ und Butterfly. 1977 übernahm sie als Nachfolgerin ihrer im Jahr zuvor verstorbenen Lehrerin Janine Micheau eine Professur am Conservatoire de Paris, der sich Lehraufträge an anderen Hochschulen anschlossen. Zu dieser Zeit begann sie sich schrittweise von der Bühne zurückzuziehen.
Auch wenn die erwähnte “Carmen” ihre einzige internationale Schallplattenproduktion blieb, so sind ihre wichtigsten Rollen doch auf Tonträgern (vor allem der französischen EMI) dokumentiert. Von „Mireille“ und „Faust“ gibt es Querschnitte, ebenso von „Guillaume Tell“ (mit Nicolai Gedda) und „Hérodiade“. Dazu eine gekürzte Version von Reyers „Sigurd“, wo sie die Rolle der Brunehilde singt. Beim Label Malibran kann man sie daneben als Donna Elvira, Desdemona und Liù erleben. Auch auf dem Gebiet der Operette hat sie sich hervorgetan. Nicht nur mit französischen Titeln, sondern auch in französisch gesungenen Querschnitten von „Die lustige Witwe“, „Land des Lächelns“ und „Csardasfürstin“, wobei Lehár und Kálmán ihrer Stimme und ihrem Temperament mehr liegen als Offenbach. Wie sie auf der Bühne gewirkt hat, kann man einem Video des „Falstaff“ aus der Pariser Oper von 1970 entnehmen (bei youtube eingestellt), wo sie in der etwas groben Regie von Tito Gobbi, der auch die Titelrolle singt, mit gediegen-bürgerlicher Ausstrahlung und einigem Spielwitz die Alice verkörpert. Diese Produktion ist auch wegen Christiane Eda-Pierre als Nanetta und Fedora Barbieri als Mrs. Quickly sehenswert. Guiot war ein lyrisch-dramatischer Zwischenfachsopran mit den Qualitäten eines „Falcon Soprans“, d.h. mit fundierter Tiefe und großer Leuchtkraft in der Höhe. Das kann man besonders in Brunehildes „Salut splendeur du jour“ und Mathildes „Sombres forêts“ bewundern. Der gesangliche Glanz verbindet sich hier mit einer emotionalen Intensität, die auch ihren Vortrag von Donna Elviras Arie „Mi tradì quell’alma ingrata“ zum Erlebnis macht (Foto Pinterest). Ekkehard Pluta