Archiv für den Monat: Oktober 2017

Kein Wagner ohne Hitler

 

Wer sich seinen nächsten Besuch einer Wagner-Oper, speziell den der Meistersinger gründlich verderben will, der lese zuvor Hans Rudolf Vagets neues Buch Wehvolles Erbe im Fischer Verlag, womit das des Komponisten aus Bayreuth gemeint ist. Während man beim Lesen der ersten 150 Seiten dem Autor noch in vielem folgen konnte, wohl manchmal die Augenbrauen hochzog, aber doch nachvollziehbar war, was er über den Wagner Hitlers schrieb, ist einem das verwehrt, wenn man glauben soll, dass man auf der Bühne die „protofaschistische Volksgemeinschaft von Wagners Nürnberg“, die „Verherrlichung der charismatischen Autorität“ und den Sieg „des gesunden Volksempfindens“ sowie die „Ausgrenzung“ Beckmessers als Analogie zu der der Juden in Nazideutschland verfolgen kann. Es gibt also nach Vaget „viele naziaffine Aspekte“ in den Meistersingern. Kann man angesichts des Inhalts solcher Abschnitte nur den Kopf schütteln, so wundert man sich nicht minder über das große Missverständnis, von dem der Titel zeugt, denn mit dem „wehvollen Erbe“ kann nur das des Komponisten gemeint sein, die drei Hauptkapitel, das vom Autoren sogenannte Triptychon von Hitler, Knappertsbusch und Thomas Mann, aber sind eine Art Rezeptionsgeschichte, werfen ein Licht eher auf diese drei und darauf, wie sie Wagner und sein Werk, das gar nicht wehvoll ist, sahen und wie sie es eventuell entstellten. Dabei scheint der Verfasser einem Zwang zu unterliegen, in allem und jedem Beziehungen zwischen Wagner und seinem Werk und zum Beispiel Hitler zu sehen. Wobei nicht geleugnet werden soll, dass dieser ein glühender Verehrer Wagners war. Aber sowohl im wahrscheinlich von den Wagnerenkeln erfundenen „Onkel Wolf“ wie in der „Wolfsschanze“ (gleich Walhall!) eine Beziehung zum „Wolfe“ der Walküre als sicher anzusehen, ist reichlich verwegen. Nur als Frage, aber immerhin als Möglichkeit taucht der Gedanke auf, der Tod im Führerbunker sei eine Nachahmung des Endes des Volkstribunen Rienzi. Die arme, unschuldige Oper trägt auch den Makel in sich, dass Mussolini sie mochte, und „so hat Hitler diesem Werk seine Identifikation mit Wagners römischem Tribunen einen nachhaltig faschistischen Stempel aufgedrückt.“ 

Dem Buch vorangestellt sind sechs Zitate bekannter Persönlichkeiten über Wagner und Hitler, was von vornherein die Nähe zwischen beiden suggerieren soll. Eine mehr als sechzig Seiten umfassende Einleitung befasst sich unter anderem mit der Frage, ob Wagner „ein Teil unseres Selbsts“ sei, wobei man sich fragt, wie vielen Prozenten der Bevölkerung Wagner überhaupt ein Begriff ist, ob die angenommene „kollektiv geistig-seelische Prägung“ bei vermutlich doch geringem Kenntnisstand überhaupt stattfinden kann.  Versöhnlich stimmt dabei den Leser, dass es der Verfasser ablehnt, aus heutiger Sicht   über die Vergangenheit zu urteilen.

Hat sich der Leser damit abgefunden, dass nicht über Wagners Opern, sondern über Hitlers, Knappertsbuschs und Manns Wagner gehandelt wird, und im Fall Hitler der Einfluss des Hitlerschen Wagner auf die deutsche Politik, dann kann man mit Interesse lesen, dass es nicht die Judenfeindschaft, sondern der Genieglauben war, der den späteren Diktator prägte, dass der „Wagner-Kult die ästhetische Einleitung einer verbrecherischen und barbarischen Politik“ war. Dabei erkennt der Autor, dass Hitler mit dieser Verehrung in der Partei, die eher kleinbürgerlich orientiert war, ziemlich allein stand, er andererseits das Bildungsbürgertum, das dem „Führer“ eher fern stand, durch die Gemeinsamkeit der Wagner-Verehrung für seine Ziele gewinnen konnte, was so pauschal wohl auch nicht zutrifft, so wie auch der Vergleich mit einem Wagner damals und einem Rockkonzert heute hinkt, allein schon wegen nicht vergleichbarer Teilnahmerzahlen. Wenn Vaget nahelegt, dass der Wagner-Freund zwangsläufig auch der Annahme ist, die deutsche Kultur sei anderen Kulturen überlegen, ist das wohl zu pauschal gesehen. Oder ist es schon verwerflich, Goethe auf eine Stufe mit Dante und Shakespeare zu stellen? Ist es nicht anders denkbar, als dass aus der Wagner-Stadt München die „Hauptstadt der Bewegung“ wurde? Und wurde Wagner durch die Verehrung Hitlers für uns interessanter? Da dürfte selbst nach peinlichster Befragung seines Gewissens so mancher ein entschiedenes Nein sagen. Nicht immer kann man den Verfasser von dem Vorwurf freisprechen, er begründe Behauptungen mit anderen Behauptungen, die nicht bewiesen sind (S. 42/43) und verallgemeinere allzu unbekümmert, so mit „Die  Wagnergemeinde feierte Hochzeit mit Hitler“. Wenn bereits in der Einleitung behauptet wird, nicht Wieland Wagner, sondern Thomas Mann sei das Verdienst zuzuschreiben, dass Wagner wieder akzeptiert werde, erwartet man mit Spannung die kaum mögliche Beweisführung.

Insgesamt kann man feststellen, dass Vaget der allzu bekannten Faschismustheorie zuneigt, nach der der Faschismus in die deutsche Geistes- und Mentalitätsgeschichte eingebettet sei und verweist dabei auch auf Schriften aus der Zeit des Imperialismus, ohne zu berücksichtigen, dass u.a. von französischer und britischer Seite eher noch krassere Zeugnisse eines Überlegenheitsgefühls zugänglich sind.

Ob ein Witz von Woody Allen, nachdem er „bei Wagner-Musik am liebsten in Polen einfallen“ würde, bei dieser Diskussion hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Wenn Hitler als Produkt des Ästhetizismus in der besonderen Form des Wagnerkults gesehen wird, der in Verbindung mit seinem künstlerischen Dilettantismus und seiner besonderen Begabung zur Selbstdarstellung, seines self-fashioning, geradezu charismatisch zu wirken vermag, wird, dann ist das eine extrem idealistische Auffassung, die alle anderen Faktoren wie Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Mittelschicht, verlorener Krieg, Reparationen usw. draußen vorlässt und eigentlich nur den Schluss zulässt, dass Wagner Schuld an der Nazidiktatur ist, denn nach Vaget wäre Hitler ohne Wagner nicht Hitler geworden. Allerdings bemerkt er an anderer Stelle, dass die in Israel herrschende Auffassung, Hitler sei der Vollstrecker Wagners gewesen, nicht zutrifft.

Sprechen Tatsachen wie das Fehlen Wagners in Hitlers Mein Kampf, gegen die These vom übergroßen Einfluss des Komponisten auf Hitler, dann wird geschickt argumentiert, Hitler habe seinen Lesern suggerieren wollen, er sei aus sich selbst zur erreichten Größe gewachsen.

Immer dann liest man das Buch mit weniger Vorbehalten, wenn es um Tatsachen geht, so die Spielplangestaltung  mit Rücksicht auf den Krieg und als Wehrertüchtigung, über die 1939 eingerichtete Wagner-Forschungs-Stätte, die Ausführungen darüber, wie Hitler Wagner und Bayreuth sah. Immer wieder aber wird man verstört durch Behauptungen wie die, Hitler habe sich selbst am Blutbad in der „Nacht der langen Messer“ beteiligt (S. 234 „zum Teil auch selbst ausgeführten Blutbad“), oder durch die Verwendung von Opernzitaten wie „Um neu zu schaffen seine Wunderkraft“: die des germanischen Volkskörpers durch das Rassereinheitsgebot.

Ein Triptychon stellt ein dreiteiliges Gemälde dar, dessen Mittelteil meistens doppelt so groß ist wie die beiden Flügelteile. Hans Rudolf Vaget will sein Buch als ein Triptychon gesehen haben, stellt in die Mitte desselben aber die im Vergleich zu den Brocken Hitler und Thomas Mann und ihrem Wagnerbild den von Hans Knappertsbusch 1933 initiierten Protestbrief Münchens gegen eine auf Wagner gehaltene Rede des deutschen Dichters und geht dabei nicht über das bereits Bekannte hinaus. Vielleicht um dem auch rein quantitativ schmalen Mittelteil mehr Gewicht zu verleihen, weitet er das Thema am Anfang und am Schluss des Kapitels auf eine allgemeine Verdammung der mangelhaften Entnazifizierungsarbeit der Bundesrepublik und die Verdammung der „Künstler, die dem Naziregime gedient hatten“ aus und zählt zu diesen pauschal alle, die Deutschland nach der Machtergreifung nicht verließen. Knappertsbusch hat es ihm dabei besonders angetan, weil „der Dirigent sich das Ansehen… eines Unbelasteten zu geben wusste“. Obwohl bei der Beweisführung für oder gegen einen Künstler Angaben von Nazis zu Recht streng hinterfragt, ja in Frage gestellt werden, übernimmt Vaget in diesem Fall kritiklos die Aussagen des 1936 amtierenden Münchner Generalintendanten und SS-Manns, der den Dirigenten wegen angeblicher fachlicher Mängel seines Postens enthob, und schenkt dem Geschassten, der mehrfach mit abfälligen Äußerungen über Hitler viel riskiert hatte, in seiner Beteuerung, es habe sich um eine politische Reglementierung gehalten, keinen Glauben. Unkritisch in seiner Interpretation eines Telegramms, das vielleicht nie abgeschickt wurde und in dem Knappertsbusch um eine Audienz bei Hitler nachsucht, ist er ebenfalls, denn er spekuliert lediglich darüber, warum Knappertsbusch den „Führer“ habe sprechen wollen. Belegt allerdings und damit zu Recht erwähnungswürdig ist die Vokabel „Judengesindel“ in einem Brief des Dirigenten.

Anlass für den Protestbrief ist ein Vortrag Thomas Manns in der Münchner Universität, in dem er Wagner unter anderem „Dilettantismus“ vorwirft, allerdings in einem Zusammenhang und in einer Bedeutung, dass darin keine Verunglimpfung zu sehen ist. Knappertsbusch und mit ihm viele andere Musiker wie Pfitzner und andere Intellektuelle sahen das anders und schrieben besagten Protestbrief, nicht ohne auf ein den Nazis verwandtes Vokabular zu verzichten. Vaget steht nun einer Zustimmung des Lesers zu seiner Verdammung des Vorhabens selbst im Wege, indem er maßlos übertreibt, wenn er vor einer „Denunziation“ spricht ( der Text der Rede war allgemein bekannt), indem er behauptet, damit habe Knappertsbusch den Dichter aus Deutschland vertrieben (dieser selbst sah sich dadurch in seinem Plan einer Emigration nur „befestigt“, erst später änderte er seine Meinung), und indem er schreibt: „Unbeabsichtigt, aber nicht ganz ungewollt“ (Unterschied?) „machte sich Knappertsbusch somit zum Handlanger des Vernichtungswillens der Nazis“ (S.300). Thomas Mann bezeichnete den Dirigenten mehrfach als „Esel“, so macht er sich selbst zum Zeugen dafür, dass dieser so naiv sein konnte, in der Rede über Wagner tatsächlich eine Verunglimpfung des von ihm hoch verehrten Genies zu sehen , dass er sie sogar als solche ansehen musste. Das Kapitel wird mit vielen mehr oder weniger aufschlussreichen Stellungnahmen aus der damaligen Zeit aufgefüllt, bleibt aber doch eher ein Beitrag zu einem Spezialthema für eine Fachzeitschrift als ein gleichwertiger Teil des Buches, gar der Mittelteil eines literarischen Triptychons. Dazu wird es auch nicht durch den Untertitel „Eine deutsche Karriere“, der nahelegt, „deutsche Karrieren“ ließen sich nur durch Denunziation bewerkstelligen, was selbst durch ein schwülstig klingendes „signalhaftes Ereignis von mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung“ wie den Protestbrief nicht bewiesen wird. Übrigens hat München, wie der Verfasser meint, nichts aus der Vergangenheit gelernt, sonst hätten nicht 2 (in Worten zwei) ablehnende Leserbriefe zu einem ähnlich gearteten Artikel in der SZ noch in jüngerer Zeit von der verdächtigen Unbelehrbarkeit der Bewohner dieser Stadt gezeugt.

Der dritte Teil des Triptychons ist Thomas Mann und seinem Verhältnis zu Wagner gewidmet, wobei zunächst auf die fiktionale Literatur, danach auf theoretische Schriften des deutschen Dichters eingegangen wird. Natürlich bleibt auch hier Hitler nicht unberücksichtigt, so wenn der Verfasser feststellt, dass dieser Wagner verfallen war, während  Mann, da im Unterschied zum Diktator aus gefestigten großbürgerlichen Kreisen stammend, seinem Zauber widerstehen konnte, Hitler der „gewissenlose Ästhet“ blieb, während Mann zum Kritiker wurde.

Es bedarf fundierter Kenntnisse, um nachprüfen zu können, ob die Behauptungen über Der kleine Herr Friedemann, Tristan, Wälsungenblut und Dr. Faustus zutreffend sind, aber zumindest in Bezug auf die Buddenbrooks irrt der Autor, wenn er meint, der Letzte der Familie , Hanno, wäre durch Wagners Musik zum lebensuntüchtigen Schwächling geworden. Er wird bereits als solcher geboren und flüchtet sich deswegen in die Welt von Wagners Musik. Das wird im Roman sehr klar herausgearbeitet, wenn bereits das Neugeborene als kaum lebensfähig erscheint und bei der Taufe über das schlechte Aussehen des Täuflings spekuliert wird. Abgesehen von diesem Irrtum oder dem, König Heinrich I. den Kaisertitel zu verleihen, erfreut dieser Teil des Buches durch eine ausgewogenere Darstellung, wird auch besonders interessant durch den Konflikt mit dem Schwiegervater Pringsheim wegen der Novelle Wälsungenblut und darüber ob diese antisemitisch sei oder nicht. Stellenweise gibt es aber auch hier Zeichen der Verbitterung des Autors über eine mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit durch die Bundesrepublik, wenn dieser in der Umwandlung der typisch jüdischen Namen in „arische“ bei der Verfilmung von Wälsungenblut 1965 durch Rolf Thiele einen Beweis dafür sehen will, während eher die Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus bei Beibehaltung der Namen zu erwarten gewesen wäre. Vaget hingegen sieht darin einen Akt der „Arisierung“ und den „Geist einer kompromisslerischen und vertuschenden Vergangenheitspolitik…in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Ganzen“.

Bitterböse war Thomas Mann wohl über seinen Bruder Heinrich wegen dessen Beschreibung eines Lohengrin-Besuchs von Diederich Heßling im Untertan. Vaget zieht daraus den Schluss: „Damit wird dem Leser suggeriert, dass in dem Deutschland Wilhelms II. dieselbe politische Misere und Zurückgebliebenheit herrscht wie in Wagners Oper über den tragisch-glücklosen Gralsritter“. Naheliegender dürfte sein, dass Heinrich Mann damit den wilhelminischen Untertanen bloßstellen wollte, der auf Lohengrin nur seine eigenen primitiven Machtphantasien projiziert und damit das Werk gründlich missversteht.

Nach den Romanen und Novellen, die sich mehr oder weniger mit Wagner befassen, betrachtet Vaget die theoretischen Schriften Thomas Manns über Richard Wagner, angefangen vom Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ vom Februar 1933, über die Rede zur Aufführung des Ring in Zürich, den Artikel „Bruder Hitler“ von 1938, in dem Hitler als letzte Figur der Ur-Renitenz, die die Geschichte der Deutschen, Luther wie die Befreiungskriege gegen Napoleon umfassend, beschrieben und ganz nebenbei den Deutschen auch die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zugeordnet wird.

Unversöhnlich geht Vaget auch mit den Wagnerenkeln („die auf Hitlers Schoß gesessen haben“) um, und unterstellt Wieland, er habe Bloch und Adorno nur als Aushängeschild eines angeblich neuen Bayreuth benutzt. Den Abschluss des Buches bilden Kapitel über das Wagnerbild von Peter Viereck und das Wirken des Bühnenbildners Preetorius in Bayreuth. Als Voraussetzung für ein Leben mit Wagner stellt der Verfasser schließlich die Bedingung, dass Hitler nicht aus der Wirkungsgeschichte Wagners in Deutschland ausgeklammert wird.

Das Buch ist eine bewundernswerte Fleißarbeit, der man gewünscht hätte, dass sie zu einem ausgewogeneren Ergebnis geführt hätte. So aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass am Anfang die vorgefasste Meinung stand und danach mit Akribie nach allem gesucht wurde, was  einmal aufgestellte Thesen unterstützt.   

Übrigens: Gibt es auch einen positiven Rassismus? Und könnte ein Ausspruch wie der von den Juden als der „vermutlich genieträchtigsten Rasse“ (S. 241) einen solchen offenbaren (Fischer Verlag 2017/ 560 S./ ISBN 278 3 10 397244 3)? Ingrid Wanja         

Wortferner Walkürenritt im Hexenhaus

 

„In der Tat eignet sich diese Märchenoper ganz hervorragend für den ersten gemeinsamen Opernbesuch von Eltern und Kindern“, glaubt Jörg Peter Urbach, der Autor des Einführungstextes einer Neuerscheinung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel bei Pentatone (PIC 5186 605). Die Handlung sei allseits bekannt, bedürfe keiner großen Erklärung. „Alles ist echt empfunden. Und das spüren nicht nur Kinder, sondern auch alle Erwachsenen, die sich einen kindlichen (keinen kindischen) Blick auf die Welt bewahrt haben. Vermutlich deshalb setzen die meisten Opernhäuser Hänsel und Gretel auch zur Weihnachtszeit auf den Spielplan. Denn Weihnachten ist die Zeit des Kindes. In uns allen.“

Abgesehen von den Lebkuchen am Hexenhaus ist der einzig belastbare Zusammenhang mit Weihnachten der Termin der Uraufführung. Hänsel und Gretel wurde erstmals am 23. Dezember 1893 in Weimar gegeben. Die musikalische Leitung hatte Richard Strauss. Und genau diesen Tag wählte Marek Janowski für seine konzertante Aufführung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Berliner Philharmonie, die der Neuerscheinung zugrunde liegt. Er war zwischen 2002 und 2015 Künstlerischer Leiter und Chefdirigent dieses Orchesters, hat es stark geprägt und dessen guten Ruf durch CD-Aufnahmen gefestigt.

Ob der neueste Mitschnitt geeignet ist, auf ersten Opernbesuch im Leben musikalisch einzustimmen, bleibt dahingestellt. Die Box ist zwar niedlich und bunt verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk. Janowski aber hat hörbar anderes im Sinn als der Verfasser des Booklets. Er führt große Oper auf, betont die Nähe zu Richard Wagner, die im Werk selbst angelegt ist. Humperdinck war Wagner regelrecht verfallen und diente ihm bei der Uraufführung des Parsifal als Assistent. Nach Wagners Tod, der ihn tief erschütterte, blieb er der dessen Familie in Bayreuth eng verbunden und unterwies Sohn Siegfried in Komposition. Der Hexenritt kommt dem Ritt der Walküren erstaunlich nahe. Irritierend tritt der Widerspruch zwischen der simplen Handlung, die weit hinter der harten Märchenvorlage der Brüder Grimm zurück bleibt, und der hochromantischen musikalischen Ausführung hervor. Ihren Höhepunkt erreicht die orchestraler Pracht und Üppigkeit mit der so genannten Traum-Pantomime am Ende des zweiten Aufzuges, wenn Hänsel und Gretel auf Moos gebettet in den Schlaf gesunken sind. Nach dem Willen des Komponisten und seiner Schwester Adelheid Wette, die das Libretto verfasste, steigen nun vierzehn Engel auf einer Himmelsleiter zu den Kindern herab, um sie vor der Nacht zu beschützen, die im Orchester dunkel und bedrohlich aufklingt.

Solcher Art sind die Stärken dieser Neuerscheinung, die weniger durch sängerischen Leistungen glänzen kann. Einen Vorteil versprach die durchgehend muttersprachliche Besetzung mit Ricarda Merbeth (Gertrud), Albert Dohmen (Besenbinder Peter), Katrin Wundsam (Hänsel), Alexandra Steiner (Gretel) und Christian Elsner (Knusperhexe). Doch die steht nur auf dem Papier. In Wahrheit ist der Text kaum zu verstehen, was Kindern sofort auffallen würde. Sie können sehr kritisch sein. Die trockene Merbeth kann sich am wenigsten verständlich machen. Dohmen legt seine Rolle mit der Erfahrung des Profis hin und hinterlässt stärksten Eindruck. Einen armen Besenbinder nimmt man ihm aber nicht ab. Für die Hexe dürfte die Besetzung mit einem Tenor auf der Bühne passender sein als im Konzertmitschnitt. Dem Publikum im voll besetzten großen Saal der Berliner Philharmonie gefiel es, wie Elsner mit gegeltem Haar, Sonnenbrille und Hexen-T-Shirt schrill und effektvoll agierte. So etwas kommt immer an. Nicht aber von der CD, wo solcher Klamauk zur Klamotte gerinnt. Mit ihrem etwas herben Mezzosopran, hebt sich Katrin Wundsam als Hänsel deutlich gegen die lyrische Gretel von Alexandra Steiner ab. Sie bleiben ihren Rollen aber vieles schuldig. Das Taumännchen singt Alexandra Hutton, das Sandmännchen Nora Lentner. In das Finale stimmt der Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden ein. Rüdiger Winter

Philip Gossett

 

Bereits am 13. Juni 2017 starb in Chicago mit Philip Gossett einer der herausragenden Musikwissenschaftler der Belcantoszene im Alter von 75 Jahren. Geboren 1941 in New York widmete sich Gossett in erster Linie den Opern von Rossini, auch seine Doktorarbeit war 1970 diesem Komponisten gewidmet. Neben kritischen Ausgaben der Opern Rossinis, aber auch der von Verdi, hat sich Gossett auch mit den beiden anderen berühmten Belcantovertretern Donizetti und Bellini beschäftigt – 1985 ist sein Buch „Anna Bolena und die künstlerische Reife von Gaetano Donizetti“ erschienen. Gossett war emeritierter Professor an der Universität von Chicago. Durch seine Kenntnis und seine Begeisterung für das Opernschaffen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Gossett durch seine zahlreichen Vorträge und Publikationen für Jahrzehnte wesentlich dazu beigetragen, der davor vernachlässigten Musik der Belcantozeit mehr Aufmerksamkeit und Verständnis entgegenzubringen. (Quelle Donizetti Gesellschaft Wien/ Foto oben: Philip Gosset/ operawire)

 

Und Ricordi, die auch der Verlag für Rossinis Opern sind, schreibt: The death in Chicago earlier this month of the musicologist Philip Gossett at age 76 marked the loss of one of the most influential scholars of Italian opera of the last half century. His untiring, groundbreaking work on the rediscovery and restoration of the operas of Rossini and Verdi left an indelible mark on modern performances and on the understanding of this repertory, while his high standards of scholarship and passionate involvement in opera production inspired a generation of younger scholars to embrace the critical study of Italian opera. Although in failing health in recent years, he remained actively engaged with the work of his colleagues on Verdi and Rossini operas.

As a doctoral student at Princeton university in the 1960s, Gossett surprised his professors (as he enjoyed relating) by choosing to specialize in 19th-century Italian opera. In those years, such repertory was not considered a suitable field for serious scholarly inquiry; better to concentrate on Beethoven or Brahms.  But Gossett’s intense research into the original musical sources of the operas of Rossini in archives throughout Italy and beyond led to his landmark dissertation “The Operas of Rossini: Problems of Textual Criticism in Nineteenth Century Opera” (Princeton 1970), a fundamental work that still serves as the benchmark for research on the music of that composer.

Even among Italian scholars, there was little interest in the study of 19th-century Italian opera when Gossett had undertaken his research: the distinguished tradition of Italian musicology had focused largely on the music of the Renaissance and the Baroque, and while some Italian publishers (notably Ricordi) had issued “revised and corrected” editions of a handful of operas during the 1960s, culminating at the end of the decade with the first score that (in the words of Friedrich Lippmann) could be considered to have “the artistic and scholarly requisites of a ‘critical’ edition” — Alberto Zedda’s Il barbiere di Siviglia of 1969 — there was nothing on the editorial horizon of Italian opera that approached the rigor and breadth of research that had characterized the great monumental editions dedicated to the work of German and Austrian composers.

Gossett’s arrival on the scene changed all that, and the intense investigative methodology and demanding standards he brought to the editions of the operas of Rossini (as General Editor of the critical editions published by the Fondazione Rossini of Pesaro) and later those of Verdi (as General Editor of the Works of Giuseppe Verdi, co-published by the University of Chicago Press and Casa Ricordi) “set the gold standard” (in the words of one of his colleagues) for such work. To discover that there was something amiss with the opera scores that had come down to modern performers was not, of itself, particularly novel. What was revolutionary, and what generated enormous interest, was the scholarly rigor, the passion and excitement, the engagement with performers, that a scholar like Gossett brought to the field. Today it is barely imaginable that major interpreters or opera companies would want to perform this repertory from the older, adulterated materials. Such was not the case fifty years ago.
In another time and place, scholarly editions of this repertory might have remained academic experiments, with little relevance to modern performances. But Gossett’s intense dedication to the scholarly reexamination of 19th-century Italian opera coincided with the interest that Casa Ricordi, the main publisher of this repertoire, had in relaunching these works in reliable texts. As Gossett recalled in the preface to his 1985 book ‘Anna Bolena’ and the Artistic Maturity of Gaetano Donizetti: “It was at Casa Ricordi that I first studied intensively autograph manuscripts of 19th-century Italian operas. The firm remains a commercial publisher, to be sure, and its employees are primarily concerned with supplying materials to performers, conductors, and opera houses. Yet their love of these documents, their fascination with the problems they pose, and their own skill at deciphering their meaning were crucial to the development of my awareness of what could be learned there.” The fortunate confluence of these complementary ideals — a music publisher wishing to provide scholarly editions of a historically important part of its repertory, and a scholar eager to reassess the works of two of the fundamental composers of that repertory — produced one of the most significant editorial collaborations in memory. The ideals and standards adopted for the Rossini and Verdi editions would later inspire Ricordi’s critical-edition series of the operas of Donizetti and Bellini as well (Gossett served on the editorial boards of both). Gossett was an advisor to Casa Ricordi on many editorial projects over the course of four decades; in its scholarly relaunch of 19th-century opera repertory, Ricordi benefitted immeasurably from the authoritative oversight and boundless promotional energy of professor Gossett.

Over a forty-year career at the University of Chicago, the range of Gossett’s publications or editorial collaborations went well beyond Rossini and Verdi. His capacity for work was legendary — dawn-to-dust workdays were the norm. The bookshelves in his study were filled with recent publications on Italian opera, and as musicologist Hilary Poriss once remarked, upon viewing the collection, Gossett had played some role in nearly every volume, as either author, co-author, contributor, or editor. “You really can’t talk about Italian opera” she said, “without coming across something he has laid the groundwork for.”

Gossett’s involvement in the restoration of operas, or of forgotten alternate versions or arias, provided not only fascinating material that allowed other scholars to reassess their understanding of opera history, but also captured the imagination of the broader, opera-loving public. His role in the late 20th-century rediscovery of the “neglected repertory” of Rossini — his serious operas – was fundamental. In recognition of such contributions he was the first music scholar to receive the Mellon Distinguished Achievement award, and the Italian government awarded him the distinguished honorific of Cavaliere di Gran Croce.

Gossett’s efforts toward gaining adherents to the cause of adopting critical editions for performance was in many ways as important as his painstaking scholarly work. Conductors like Riccardo Muti and Claudio Abbado, and singers like Marilyn Horne, Renee Fleming, Cecilia Bartoli and Samuel Ramey, became enthusiastic adherents to the cause. Gossett also served as advisor for numerous opera productions in America and in Europe. “When the public sees an opera,” Gossett once said in an interview, “they just assume that it’s all straightforward, but it’s not. Every singer makes countless decisions: Should I sing just the notes that are written? Should I ornament this? Do I need a cadenza at this point? Critical editions put all options on the table, allowing performers to make more informed choices about their roles.”

As an indefatigable and passionate participant of “discussions with the audience” at opera festivals and theater seasons, often presenting musical discoveries in the context of engaging “lessons” at the piano, Gossett won over myriad opera fans to the importance of research. Alongside his many scholarly publications were countless program notes, essays for LPs albums or DVD booklets. One cannot overstate the influence of Gossett’s work on the study of 19th-century opera today. Gabriele Dotto (Quelle Ricordi USA)

„Es ist viel wunderbare Poesie.“

 

Über die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova muss man nicht mehr viele Worte machen – ihre beeindruckende Karriere im Mezzo-Fach auf den Bühnen der Welt spricht für sich, namentlich für die Zürcher Besucher sind ihre bewegenden Partien wie Carmen oder die Monteverdische Penelope nachhaltig in Erinnerung. Dass sie aber nicht nur eine bedeutende Opernsängerin mit vielen Aufnahmen für die Fans ist, zeigt sie immer wieder in ihren Liederabenden und Einspielungen, nun neu mit Liedern des wenig bekannten deutsch-französischen Geigers und Komponisten Henri Marteau (* 31. März 1874 in Reims; † 4. Oktober 1934 in Lichtenberg/Oberfranken) bei solo musica/ Sony (SM 263). Diese Lieder, gesungen von Vesselina Kasarova, werden ergänzt durch die „Schilflieder“ vorgetragen von Dietrich Fischer Dieskau in einer Radio-Aufnahme von 1956. Aus diesem Anlass bringen wir nachstehend einen Artikel zum Komponisten und ein Gespräch mit der Sängerin und ihrer Klavierbegleiterin Galina Vracheva von  Ulrich Wirz.

 

Vesselina Kasarova und ihre Pianistin Galina Vracheva/ Foto Thomas Becker

Henri Marteau und sein Werk: Beim Label solo musica erschien als Vol. 2 der Diskographie des kompositorischen Schaffens des französischen-deutschen Geigers und Komponisten Henri Marteau (1874–1934) eine CD mit drei Liedzyklen. Die Lieder op. 19c und op. 28 wurden in Co-Produktion mit dem SRF Zürich in dessen Tonstudio mit Vesselina Kasarova (Mezzosopran) und Galina Vracheva (Klavier) erstmals überhaupt eingespielt. Die Fünf Schilflieder op. 31 interpretierte bereits Dietrich Fischer-Dieskau erstmals im Oktober 1956 für einen Mitschnitt im Studio des NDR als Hörfunkproduktion.

„Entdeckung eines Romantikers“ wurde schon die erste CD betitelt. In der Tat handelt es sich um wertvolle „Entdeckungen“, denn Henri Marteau war weit mehr als nur ein komponierender Geiger. Sein kompositorisches Schaffen bleibt längst nicht auf Werke für sein Instrument oder für dessen Instrumentengattung beschränkt. Zwar hat er auch ein Violinkonzert und ein Cellokonzert komponiert sowie ein Streichtrio, mehrere Streichquartette und-quintette und ein wunderschönes Klarinettenquintett. Unter seinen 45 Werken mit Opuszahl finden sich neben Kammermusik aller Art auch Orchesterwerke, Chorwerke, Kirchenmusik und Lieder. Sogar einen komischen Einakter schrieb er, den er dem schwedischen König Gustav V. gewidmet hat. Die von der Internationalen Musikbegegnungsstätte Haus Marteau und solo musica produzierte Diskographie soll Marteau der Musikwelt als durchaus bedeutenden Komponisten der frühen 20. Jahrhunderts präsentieren.

Die Biographie von Blanche Marteau über ihren Mann/ Amazon

Sein nur sechs Jahrzehnte währendes Leben verlief hochdramatisch. Vor dem Ersten Weltkrieg durchschritt er eine märchenhafte Karriere vom Wunderkind zum nicht zuletzt an vielen Fürstenhöfen gefeierten Weltstar als Violinvirtuose. Von 1900–1907 in Genf und von 1908–1914 als Nachfolger von Joseph Joachim in Berlin wirkte er außerdem als höchst angesehener Violinpädagoge. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg ließ er sich im oberfränkischen Städtchen Lichtenberg, unweit von Hof gelegen, eine stattliche Villa im Heimatstil errichten, die er nach einer mehr als zweijährigen Odyssee durch verschiedene Internierungslager und dem Verlust seines Berliner Lehrstuhls mit seiner Familie nach dem Krieg als Hauptwohnsitz nahm. Seine Karriere und sein Künstlerleben erfuhren in den Kriegsjahren eine dramatische Wende, die auch in seinem kompositorischen Schaffen spürbar ist.

 

Die zwei Liederzyklen Opus 19c und Opus 28: „Während der Schutzhaft zwischen 1915 und 1917 komponiert“ erläuterte Henri Marteau mit Bleistift die Umstände der Entstehung auf dem Deckblatt der Skizzen zum von ihm ursprünglich als Opus 19 gezählten Zyklus. Betitelt sind die 8 Lieder „8 mélodies pour chant avec accompagnement de quatuor d’instruments à archet (2 violons, alto et violoncelle), ou de piano“. Zeitnah bat er seinen in Zürich geborenen und in Berlin ausgebildeten Kammermusikpartner Pantscho Wladigueroff (1899–1978), Bruder des Marteau-Schülers Lüben Wladigueroff, um Einrichtung der Klavierfassung des Werks. Die Gedichte, die Marteau äußerst feinfühlig vertont hat, stammen aus der Feder seiner französischen Landsmänner Sully Prudhomme (1839–1907) und François Coppée (1842–1908).

Henri Marteau/ Wiki

Die Lieder beschreiben bildhaft und symbolisch Natur und Regen, die Landschaft der Bretagne, das Meer und die hübschen Grisetten, die sich nach der Arbeit ihren Liebhabern hinwenden. Als durchaus noch impressionistisch angehaucht entfaltet Marteau in op. 19c eine sehr poetische und atmosphärische Musiksprache. Die meisten Lieder sind in langsamem Tempo gehalten, die Stimmungen eher verhangen und in Moll.

In den 8 Gesängen mit Klavierbegleitung Opus 28 hingegen vertont Marteau deutsche Gedichte, von Friedrich Hölderlin (1770–1843), Otto Julius Bierbaum (1865–1910), Emanuel Geibel 1815–1884), Martin Greif (1839–1911) und von der rumänischen Königin Elisabeth (1843–1916), die eine geborene Prinzessin zu Wied, also deutscher Abstammung, war und die unter dem Pseudonym „Carmen Sylva“ geschrieben hat. Die Lieder sind nun kürzer, die Harmonien dazu angemessen kompakter, die Tempi flüssiger und die Grundstimmung aufgehellt und in Dur.

 

Vesselina Kasarova in „Herzog Blaubarts Burg“ am Staatstheater Wiesbaden/ Foto: Karl & Monika Forster

Und nun die beiden Künstlerinnen im Gespräch mit  Ulrich Wirz:  Beide Werke waren Ihnen bis zum ersten Blick in die Noten unbekannt. Wie war der erste Eindruck, wie kann man die Musik stilistisch einordnen? Vesselina Kasarova: Auf den ersten Blick sehen die Lieder nicht so komplex aus, wie sie sich am Ende dann wirklich erweisen. Wenn man intensiv damit arbeitet, tritt eine Art von Musik zu Tage, die wirklich sehr anspruchsvoll ist auf ihre Weise – der Text und die Musik im Zusammenspiel.

Wenn man sich den Klavierpart anschaut, sieht man wahnsinnig viele Noten. Beim Gesang dagegen kann man es nicht auf den ersten Blick erahnen, aber beim Klavierpart denkt man sofort, die Begleitung ist dick instrumentiert. Galina Vracheva: Ich habe zuerst eine emotionelle Verbindung gesucht, weil mir die vielen Noten sofort gesagt haben, das kann nur impressionistisch sein. Das war in Marteaus Zeit durchaus etwas ganz Gängiges. Er war ja Zeitgenosse von ganz vielen impressionistischen Künstlern, allen voran Claude Debussy. Er schrieb aber auch Harmonien, die an Kirchenmusik erinnern.

Können Sie ein Beispiel nennen?  Galina Vracheva: Durchaus, und zwar „Vitrail“ aus op. 19. Es ist wie ein Gebet, aber auch wie eine ehrliche Betrachtung der Welt, ohne Eitelkeit, ohne menschliche Unzulänglichkeit. Die Harmonien sind knapp, die Farben sind diesmal nicht da, die Kirchenfenster (vitrail) werfen den Blick sozusagen zurück, nach innen. Es ist ein stilles Lied, ein leises Lied, trotzdem wirkt es sehr stark. Es lädt ein zum Innehalten, vielleicht weil man vor seinem Gewissen steht, oder vor dem Allerhöchsten?

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit von Ihnen beiden bei der Erarbeitung? Vesselina Kasarova: Wir sind beide sehr erfahrene Künstlerinnen. Trotzdem – es gab Momente, wo wir viel nachdenken mussten, wie wir die Lieder interpretieren sollen. Wir begannen jede für sich zu Hause Lied für Lied durchzuarbeiten. Galina Vracheva: Bei unserer ersten gemeinsamen Probe suchten wir dann gemeinsam nach verschiedenen Klangfarben. Jeder hatte das zunächst daheim für sich getan und dann gemeinsam eben bei der ersten Probe.

Vesselina Kasarova: „Alcina“ mit Anja Harteros an der Wiener Staatsoper/ Szenen-Still/ Medici-TV

Wie war ihr Eindruck, als Sie die Texte lasen? Vesselina Kasarova: Die Texte – das muss ich sagen – beschreiben die Natur, die Liebe. Es ist viel wunderbare Poesie. Die französische Sprache passt bei den Liedern op. 19c perfekt zu dieser Musik. Man braucht viel Fantasie, man braucht einen Künstler mit viel Gefühl. Jetzt spreche ich für uns beide:  Es braucht auch viel menschliche Erfahrung und die Musik hat auch eine Spur Melancholie. Galina Vracheva: Bei unserer gemeinsamen Arbeit passierte auch viel Merkwürdiges. Ein Beispiel: Wir haben ein neues Lied geprobt. Beim ersten Durchspielen wollten wir verstehen, welchen Eindruck es hinterlässt. Es passiert sehr schnell, die Wirkung ist sehr stark. Es ist uns einmal passiert, dass Vesselina Tränen in den Augen hatte. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte mir, dass sie gerne empfindsame Leute hat. Das finden wir in Marteaus Musik. Er war ein ganz besonderer Mann.

Man findet auch ganz verschiedene Stimmungen in seiner Musik – auch verschiedene Charaktere in seinen Liedern. Vesselina Kasarova: Absolut – wir haben uns die Frage gestellt, welche Tempi wollte er haben? Das ist wirklich schwierig. Nur kleine Nuancen – Millimeter in der Geschwindigkeit – verändern den Ausdruck eines Liedes enorm. Sprachlich manchmal nicht mehr machbar.

Die Tempi sind ein gutes Stichwort. Über die Wirkungsmöglichkeiten der Tempi haben sich Komponisten wohl immer ihre Gedanken gemacht. Marteau schreibt teilweise sehr ausführliche Anweisungen dazu. Wie nahmen Sie diese Hinweise auf?  Galina Vracheva: Die langsamen Tempo-Anweisungen haben uns zuerst ziemlich verwirrt, bis wir darauf gekommen sind, dass uns der Komponist vielleicht durch diese Angaben sagen wollte: „bitte den Text verständlich machen und nicht hastig zum Ausdruck bringen.“ Allerdings interpretiere ich in diese Tempoangaben auch Marteaus Wunsch hinein, den Moment zu erhalten, gewissermaßen „verweile doch…“ zu sagen. Wir sind deshalb ganz vom Text und den musikalischen Phrasen ausgegangen, bis wir so zu einem natürlichen Tempo gefunden haben. Dieser Lernprozess war für uns wie eine Reise in (s)eine innere Welt, die mir persönlich viele Emotionen und nicht zuletzt auch den Schlüssel zur Interpretation gebracht hat.

Vesselina Kasarova: „Il Barbiere di Siviglia“ in Zürich/ Foto-Still/ Medici TV

Und in op. 28? Auch da sind die Tempovorgaben eher getragen. Welche Stimmungen vermittelt uns diese Musik?  Galina Vracheva: Ich könnte mir vorstellen, dass Marteau mit Tempoangaben wie „Maestoso“ oder „Sostenuto“ u. ä., seine musikalischen Ideen geordnet hat. Ansonsten ist die Stimmung in diesem Opus sehr viel positiver, die Melodien sind kürzer, klarer definiert. Das Klavier sorgt hier für die Stimmungen, während die Singstimme mehr beschreibt als erzählt.

Vor allem das Liebeslied, welches diesen Zyklus beschließt, vermittelt den Eindruck, dass sich etwas verändert hat. Man glaubt plötzlich, so etwas wie Leichtigkeit zu spüren? Galina Vracheva: Die Leichtigkeit bei Marteau! Das ist Stoff für einen ganzen Aufsatz. Die Leichtigkeit in diesem Liebeslied ist wie ein Teil der Farben in der enormen Klangfarbenpalette des Komponisten. Schon allein seine Harmonien, und die Wege, die er dafür wählt. Seine Lieder sind für mich wie der Blick in ein Kaleidoskop aus feinem Kristall: drinnen gibt es philosophische Einstellungen, große Poesie, die Liebe zur Sprache, und immer wieder diese Freude, auf harmonische Entdeckungsreise zu gehen, auch wenn das Ziel vielleicht vorher noch gar nicht bekannt ist. Das hat für mich auch eine gewisse Leichtigkeit.

Damit sind wir inmitten der Frage nach der Werktreue bei der Interpretation. Aus dem bisher Gesagten kann ich schließen, dass es Ihnen Marteau in dieser Beziehung nicht leicht gemacht hat? Galina Vracheva: Wir sind beide zu einer Seriosität erzogen worden, wirklich jede Note golden zu nehmen. Das ist wichtig. Nur mit der Zeit mussten wir feststellen, dass seine Tempobezeichnungen mehr den Gesang als das gesamte Duo betreffen. Wir mussten einige Veränderungen vornehmen. Um uns zu versichern, dass wir richtig liegen, haben wir unseren wunderbaren Tonmeister Andreas Werner mit einbezogen. Ich glaube, wir haben es am Ende herausgefunden, aber es waren jedes Mal starke Bilder.

Als Interpret findet man während der Erarbeitung der Werke sicherlich auch seine ganz persönlichen Favoriten? Galina Vracheva: In der Tat: Wir haben schon unsere Favoriten. Ich bin z.B. vom siebten, vom vierten, vom dritten und vom ersten Lied – man könnte weinen und lächeln, wenn man es hört – besonders beeindruckt. Vesselina hat auch Ihre Favoriten. Vesselina Kasarova: Aber für mich wird jetzt wirklich der aller spannendste Moment, wenn wir den ganzen Zyklus erstmals selbst in seiner Gesamtheit zum Anhören bekommen.

Das Grab Henri Marteaus in Lichtenberg/ Wiki

Spannend an der ganzen Geschichte ist auch die Entstehung dieser Lieder. Op. 19 hat Marteau in der Gefangenschaft geschrieben. Das war die schlimmste Zeit seines Lebens, weil er nicht konzertieren durfte. In der Zeit konnte er nur komponieren. Das war eine schwere Zäsur in seinem Leben. Deswegen haben diese Lieder eine sehr wichtige Bedeutung in seinem Leben. Vesselina Kasarova: Umso mehr muss ich bestätigen, was ich gefühlt habe, bei seiner Musik. Diese Lieder haben eine enorme positive Energie. Das war mir vorher nicht bewusst – wenn man das jetzt auch noch dazu weiß.

Marteau schrieb nach Rückkehr aus den Internierungslagern im Frühjahr 1917 Dankesbriefe u.a. auch an den Stadtmagistrat von Lichtenberg, die seine optimistische Grundstimmung zum Ausdruck bringen. Die Briefe zeigen, dass er nicht mehr verbittert war – vielmehr äußert er Dankbarkeit für die gemachten menschlichen Erfahrungen. Er wollte nun das Beste aus seiner Situation machen. Er hat diese Stimmungen in mehrere Kompositionen jener Zeit eingebracht. Galina Vracheva: Ich habe aber auch gemerkt, dass ein Teil der Texte, die er ausgewählt hat, sehr gefühlsfordernd sind – und ein anderer Teil gibt Liebe und Stabilität sowie Reinheit. Das hilft uns sehr bei der Interpretation und überrascht.

Marteau war ein sehr gebildeter Mann mit phänomenaler Literaturkenntnis und er sprach mehrere Sprachen fließend, neben Französisch und Deutsch auch Schwedisch. So konnte er mit Sicherheit alle für die Lieder ausgewählten Texte sehr gut verstehen.  Galina Vracheva: Man hört vor allem, dass Marteau perfekt zweisprachig war, und sich in jeder Sprache genau auskannte mit der Prosodie. Bemerkenswert ist allerdings, dass er die vielen kurzen Silben der deutschen Sprache mit auffallend leichten melodischen Übergängen ausstattet. So klingt es weder abgehackt noch schwer. Für meine Ohren bekommt es dadurch etwas von der Leichtfüßigkeit der französischen Sprache.

Internationale Musikbegegnungsstätte Haus Marteau Lichtenberg/Wiki

Wenn man das in Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte bringt, bekommt das Ganze eine besondere Qualität. Opus 19 schrieb er wie gesagt während der „Schutzhaft“, op. 28 dann daheim in Lichtenberg. Galina Vracheva: In seinen Kompositionen bringt er sehr viele unterschiedliche Stimmungen zum Ausdruck. Aber grundsätzlich spüre ich schon am meisten Freude in Opus 28, und ich glaube, dass er sich in dieser Zeit in seinem Haus in Lichtenberg wieder sehr glücklich gefühlt haben muss. Er war verbunden mit der Natur, er genoss den Blick in diese schöne Landschaft, und er war oft und gerne in Gesellschaft von Gleichgesinnten. Er pflegte Kontakt zu Zar Ferdinand I. von Bulgarien, der im deutschen Exil unweit von Lichtenberg in Coburg lebte und der mit seiner Entourage mehrmals in Haus Marteau Gast war. Der Hausherr empfing die Gäste als Liebhaber der Jagd, und er verabschiedete sie als Liebhaber der Musik.

Sein Haus in Lichtenberg, die ihn dort umgebende Natur haben einen sehr intensiven Einfluss auf seine Klangfarben ausgeübt. Wenn man dort ist, kann man das sehr gut nachspüren. Galina Vracheva: Vesselina sagte einmal bei einer Probe zu mir, was ist das für ein Lied, wie soll ich das interpretieren? Ich habe ihr gesagt, ich muss dich einmal mitnehmen nach Lichtenberg, wenn es dort regnet, dann weißt du, was Henri Marteau gefühlt haben muss, als er das Lied komponiert hat. Ich hoffe, wir werden einmal die Gelegenheit haben, im Haus Marteau diese Lieder darbieten zu können. Das ist eine lebensspendende Oase dort.

Vesselina Kasarova und ihre Pianistin Galina Vracheva/ Foto Adriana Tripa

Im Sommer wurde neben der Villa ein kleiner Konzertsaal gebaut. Der Unterricht soll weiterhin überwiegend in der Villa stattfinden, um dieses besondere Flair zu haben. Wenn wir zum Abschluss zurückkommen auf Henri Marteau und seine Zeit – und noch einmal seine Harmonien betrachten, so war er für mich schon ein Grenzgänger mit Blick auf die „Moderne“ nach dem Ersten Weltkrieg, weil er durchaus ganz gewagte Harmoniewechsel und Harmonien verwendete, die man von einem komponierenden Geiger so überhaupt nicht erwartet. Galina Vracheva: Marteau war ein sehr ernstzunehmender eigenständiger Komponist, und damit eben nicht einfach nur ein komponierender Geiger. Er wagte sich gewiss nicht so weit nach vorne wie Hindemith, mit dessen Liedkompositionen ein zeitgenössischer Kritiker die Fünf Schilflieder mal verglichen hat. Ich weiß, dass für Marteau das Komponieren wie auch das Geige-Spielen in allen seinen Lebensbereichen tägliche Geistesnahrung war. Er hat es vermutlich nie ganz voneinander getrennt, und er hat eben beides täglich getan – bis fast zum letzten Tag (Foto oben: Vesselina Kasarova und Galina Vracheva/ Foto Thomas Becker). Ulrich Wirz

Genie und Eitelkeit

 

Am 6. September 1829 schrieb Konstanze, Mozarts Witwe, an eine Freundin in Paris und äußerte ihre Dankbarkeit für all das, was der Mann seiner Korrespondentin für den Nachruhm Mozarts tue: „Mein Sohn Wolfgang wird außer sich vor Freude sein; denn wie groß war seine Freude und Dankgefühl, mit mir von dem höchst wohltätigen Freund mündlich sprechen zu können. Ja ganze Stunden sprachen wir von nichts als unserem Spontini, wie er das génie seines Vaters anerkennt, und es an seiner Familie beweist, welch ein Verehrer Mozarts er ist“. Adressatin des Briefes war Céleste Erard (1790-1878) aus der Familie der Pariser Klavierbauer, die 1811 den italienischen Komponisten geheiratet hatte. Gaspare Spontini hatte schon in Paris versucht, Mozart populär zu machen, indem er z. B. Aufführungen des Don Giovanni unterstützte. Später dirigierte er in Berlin mehrere seiner Werke (neben den Opern auch das Requiem und Symphonien) und trug finanziell entscheidend dazu bei, dass die Mozart-Biographie von Konstanzes Ehemann Georg Nikolaus Nissen in Leipzig bei Breitkopf und Härtel 1828 gedruckt wurde (er wird in der Danksagung denn auch als erster genannt).

Verehrung und Bewunderung für Musiker sind nicht Qualitäten, die man eigentlich mit der Gestalt des Gaspare Spontini (1774–1851) verbindet. Ganz im Gegenteil: Vielen galt er als hochmütig und selbstsüchtig. Seine Eitelkeit war sprichwörtlich, und er hielt sich oft mit Häme und Verachtung für die Mitmenschen nicht zurück (noch 1844 meinte er, die Italiener seien alle cochons, die Franzosen deren Nachahmer, und die Deutschen kämen nie „aus ihren Kindereien zurück“). Er konnte sich seine unausstehliche Arroganz leisten, denn in seiner Zeit galt er als der erfolgreichste und einflussreichste Opernkomponist überhaupt (noch vor Cherubini). Sein Ruhm verblasste jedoch um die Mitte des 19. Jahrhunderts schnell, und heutzutage werden seine Opern nur selten aufgeführt.

Kleine italienische Bühnen haben zwar dankenswerterweise mehrere seiner frühen, vor dem Umzug nach Paris im Jahre 1803 verfassten, Opern inszeniert (darunter 1995 in seinem Geburtsort Jesi einen bemerkenswerten Teseo von 1798), aber seine späteren Meisterwerke sind aus den Spielplänen wieder verschwunden, nachdem die Aufführung der Vestalin an der Scala mit Maria Callas 1954 für Aufsehen gesorgt hatte. Eine vom Palazzetto Bru Zane lustlos eingerichtete, erbärmlich gesungene Aufführung in Bruxelles 2015 hat dem Stück eher geschadet als genutzt, und die Olympie mit einem überforderten Jérémie Rhorer letztes Jahr war nicht viel besser (sie kommt bei Ediciones Singulares als CD-Buch heraus). Eine konzertante Vestale in Dresden 2013 blieb ebenfalls ohne Folgen. Der großen Anerkennung seiner musikhistorischen Bedeutung in den Fachkreisen (operalounge.de berichtet z. B. über einen interessanten Sammelband und wies  ausführlich á propos der Florentiner Agnese auf die kommende Agnes von Hohenstaufen in Erfurt im Jun i 2018 hin) hat leider keine Nachwirkung in der breiten Öffentlichkeit.

Umso mehr begrüßt man die Initiative des Dozenten und Musikschriftstellers Patrick Barbier, der eine kurze Einführung in Leben und Werk Spontinis vorlegt und damit die erste Monographie zu diesem Komponisten seit dem Buch von Paolo Fragapane vor über 60 Jahren (1954) veröffentlicht. Barbier beschreibt das Leben des Gaspare Spontini und stellt nach und nach seine Hauptwerke in Text und Bild vor (der Band enthält viele Illustrationen). Er fasst die Handlungen der Opern zusammen und urteilt über die Musik, wobei die Kriterien allerdings unklar bleiben. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass sie subjektiv, ja willkürlich sind. Aber das ist nicht das größte Problem mit diesem Buch. Die Collection Horizons des Bleu nuit Editeur ist wegen ihrer Schlampigkeit berüchtigt. Barbier hat sich offensichtlich redlich bemüht, mit Genauigkeit nicht aufzufallen. Es gibt viele Druck- und andere Fehler. Um nur ein Beispiel zu nennen: Barbier tischt das längst widerlegte Märchen auf, nach dem das Horst-Wessel-Lied auf einen Chor des Joseph von Etienne-Nicholas Méhul (1763-1817) zurückgeht, den er übrigens Joseph Méhul nennt (S. 81). Man sollte aber nicht ungerecht sein. Barbier schreibt flott, und man liest seine Ausführungen gerne. Ein Deutscher hätte vermutlich einen 400seitigen Band verfasst (Stoff dafür gäbe es genug) und ab Seite 50 seine Leser einschlafen lassen. Barbier erzählt pointiert und unterhaltsam und kommt mit 150 Seiten Text aus. Am Ende hat er einige Apparate hinzugefügt, die nützlich sind (etwa eine Liste der Werke, eine Diskographie sowie eine Bibliographie, und es gibt sogar ein Namensregister, wo übrigens Méhul seinen echten Namen zurückbekommt). Aus diesem Grund kann die Lektüre all denjenigen empfohlen werden, welche der französischen Sprache mächtig sind.

Dass dieser kompakte Führer ins Deutsche übersetzt wird, was berechtigt wäre (immerhin war Spontini zwanzig Jahre, von 1820 bis 1841, in Berlin tätig), ist aufgrund der Tatsache, dass man ihn heute nicht mehr spielt, kaum anzunehmen. Hausherr Guy Montavon und das Theater Erfurt bilden hier eine lobenswerte Ausnahme: sie werden im Juni 2017 die erste moderne Aufführung der Agnes von Hohenstaufen auf Deutsch auf die Bühne bringen, nachdem sie sich schon 2006 mit beachtlichem Ergebnis für den Fernand Cortez eingesetzt hatten.

Dem deutschen Leser steht freilich eine meisterhafte, wenn auch nur wenige Seiten umfassende Spontini-Monographie zur Verfügung. Gemeint ist der Abschnitt, den Richard Wagner in seinen 1880 abgeschlossenen Lebenserinnerungen unter dem Titel Mein Leben Spontini widmet. Wagner hatte in Dresden den Plan gefasst, die Vestalin unter Mitwirkung von Wilhelmine Schröder-Devrient und Josef Tichatschek (excusez du peu) zu inszenieren und lud dazu den Komponisten höchstpersönlich ein. Der Meister, wie Wagner ihn durchgehend nennt, sagte in „einem sehr majestätischen Antwortschreiben“ zu, blieb einige Monate in der sächsischen Hauptstadt und leitete selbst einige Aufführungen. In meisterhafter Prosa erzählt Wagner von den damit verbundenen tragikomischen Ereignissen. Mit ungewöhnlich milder Ironie beschreibt er Macken und Irrmeinungen Spontinis, welcher etwa keine Zukunft für die deutsche Musik mehr sah, nachdem er selbst Berlin verlassen hatte! Ausgerechnet Wagner wirft ihm eine übertriebene Meinung über die eigenen Leistungen vor. Doch das alles verdeckt seine ehrliche Bewunderung für den Musiker Spontini nicht. Schon in den 1840er Jahren begann indes sein Stern unaufhaltsam zu sinken, und aus dem Tief hat sich sein Œuvre nie richtig erholt. Monographien wie Barniers Buch und Aufführungen wie diejenigen, die in Erfurt geplant sind, werden hoffentlich mithelfen, einem Genie des 19. Jahrhunderts den gebührenden Platz im europäischen Kulturleben endlich zurück zu geben (Patrick Barbier, Gaspare Spontini, Bleu nuit Editeur 2017/ Collection Horizons), 176 Seiten, Abb., ISBN 978-2-35884-067-5). Michele C. Ferrari

 

 

Ausdrucksvielfalt

 

Sein  erstes Mozart-Album nahm nun Juan Diego Flórez bei Sony auf und bewegt sich damit in einem neuen Repertoire. Einige Arien aus Opern des Komponisten hat der peruanische Tenor freilich schon mehrfach in seinen Konzerten und Recitals gesungen und diese finden sich auch auf der CD (89854 30862). Da sind vor allem die beiden Ottavio-Arien aus Don Giovanni oder Ferrandos „Un’ aura amorosa“ aus Così fan tutte, bei denen man die Erfahrung des Sängers mit diesen Nummern spürt. „Il mio tesoro“ besticht durch die ganz individuelle Formung der Arie mit vielen Nuancen und Variationen, die man so noch nicht gehört hat, „Dalla sua pace“  besticht durch den schmelzreichen, schwebenden Klang der Stimme.  Und natürlich findet er auch für Ferrandos berühmtes Solo eine ganz individuelle Fassung.

Gleich zu Beginn des Programms bietet der Solist mit Idomeneos großer Arie „Fuor del mar“ ein Virtuosenstück par excellence – noch dazu in der ungekürzten Originalfassung –, womit der Tenor an seine glanzvollen Auftritte im Belcanto-Fach erinnert. Vielleicht fehlen der Stimme für diese Vaterfigur noch die Reife und eine dunklere Färbung, sie klingt auch hier nach der eines Liebhabers. Aber die souveräne Bewältigung der heiklen Koloraturgirlanden samt zusätzlich eingelegten Spitzentönen und Verzierungsvarianten nötigt größte Bewunderung ab.

Auch Titos „Se all’impero, amici Dei“ verlangt vom Interpreten bravouröse Koloraturen. Es handelt sich dabei um eines jener Stücke, die Flórez im Alter von 17 Jahren am Konservatorium von Lima lernen musste. Titos andere Arie, „Del più sublime soglio“ stellt zu dem furiosen Ausbruch einen großen Kontrast dar, ist ein inniges Seelengemälde, das er mit zärtlicher Kantilene ausmalt. Von männlicher Energie erfüllt ist Alessandros Arie „Si spande al sole in faccia“ aus Mozarts Frühwerk Il re pastore, das zu den gelungensten Titeln der Anthologie zählt dank der beherzten Koloraturen und des heroischen Ausdrucks.

Auch zwei deutschsprachige Beiträge finden sich in der Sammlung – Taminos Bildnisarie aus der Zauberflöte und Belmontes vertrackt schwierige Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“ aus der Entführung – und werden in exemplarischem Deutsch wiedergegeben. Taminos schwärmerische Bewunderung von Paminas Bild setzt der Tenor mit gleichermaßen energischem wie schmachtendem Ausdruck um, Belmontes Liebesbeteuerung formuliert er weich und schwärmerisch bei sicherer Bewältigung der schwierigen Koloraturen.  An den Schluss der Anthologie hat Flórez die Konzertarie „Misero! O sogno… Aura che intorno spiri“ gesetzt, in der er schon im Rezitativ mit reicher Ausdrucksvielfalt überrascht, in der Arie mit lyrischer Kantilene und im Schlussteil mit dramatischem Impetus überzeugt.

Ein idealer Partner ist dem Sänger das Orchestra La Scintilla aus Zürich, das unter Leitung von Riccardo Minasi auf historischen Instrumenten ein farbiges Klangbild beisteuert und spannende eigene Akzente setzt.

 

Bernd Hoppe

Nowowiejskis „Quo Vadis“

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Vor 100 Jahren war das Opern-Oratorium Quo Vadis ein viel aufgeführtes Werk. Zwischen 1909 und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs stand es mehr als 200 Mal in Europa und in Amerika auf den Spielplänen. Der Titel ist natürlich weltweit durch den Roman des amerikanisch-polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz bekannt, der als Vorlage für den Mammutfilm mit Robert Taylor und Deborah Kerr von 1951 diente (erste Verfilmungen entstanden bereits in der Stummfilmzeit; am bedeutendsten davon ist die italienische Verfilmung aus dem Jahr 1913 von Enrico Guazzoni, die einer der ersten abendfüllenden Kinofilme war). Zumindest im Westen erinnert sich fast jeder an diesen Schinken, wo Peter Ustinov als fieser Nero die Löwen auf die Christen hetzt (oben eine Szene mit Peter Ustinov in dem MGM-Film von 1951 unter der Regie von Mervyn LeRoy).

„Quo Vadis“: Henry Sienkiewics/ OBA

Die Vorlage Sienkiewiczs wurde mehrfach vertont, so auch von Jean-Charles Nouguès (* 25. April 1875 in Bordeaux, Aquitaine; † 28. August 1932 in Paris, Ile de France) in Paris 1909, gespielt auch zur Eröffnung der Volksoper Budapest und im Teatro Liceu in Barcelona am 27. November 1920. Das französische Libretto stammte von Henri Cain. Und das würde man wahnsinnig gerne hören wollen. Youtube hat ganz wenige Dokumente dazu mit Yvonne Gall u. a.  Erfolgreicher war die katholisch-national orientierte Oratorien-Version von Feliks Nowowiejski, die sich schnell durchsetzte und die Theater/ Konzertsäle eroberte.

Nun sind gleich zwei Aufnahmen des Opern-Oratoriums des polnischen Komponisten Nowowiejski erschienen, die das Werk von 1903 feiern und aus Anlass des 100. Todestages des Schriftstellers wie des 70. Todestages des Komponisten 2016 vorstellen. Eine ist der Konzertmitschnitt unter Lukas Borowicz in Posen 2016 bei cpo in einer nachträglich ins Polnische übertragenen Fassung. Die andere stammt von der Masurischen Philharmonie unter Piotr Sulkowski bei Dux in dem originalen deutschen Libretto von Antonie Jüngst (eine beachtenswerte Leistung der Veranstalter angesichts der fast obsessiven „Verpolnischung“ ehemals deutscher Text-Vorlagen wie die von Rubinsteins Manru und vielen anderen). Im Folgenden bringen wir eine Rezension des luxemburgischen Kollegen Remy Franck, der auf seiner hochinformativen website Pizzicato (deren Chefredakteur er ist) die beiden Aufnahmen besprochen und uns diese Rezension liebenswürdiger Weise überlassen hat. Danach gibt es einen Originaltext des in operalounge.de vielfach gelobten und präsenten polnischen Dirigenten Lukasz Borowicz aus dem cpo-Booklet zu Werk und Verbreitung. Und zum Schluss folgt ein Artikel von Katherina Lindt zu Henry Siekiewicz und seinem Echo in Polen und der Welt von der polnischen website www.polen-pl.eu anlässlich der 100-Jahrfeier für Henryk Sienkiewicz. G. H.

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„Quo Vadis“/ Feliks Nowowiejski/ Wiki

Remy Franck: Der polnische Komponist, Organist und Dirigent Feliks Nowowiejski (1877-1946) komponierte schon mit 10 Jahren sein erstes Klavierstück. Nachdem er eine Kantate an die Königliche Akademie der Künste in Berlin eingesandt hatte, wurde er im Jahre 1900 in die Meisterklasse für klassische Komposition unter Max Bruch aufgenommen. Während einer Studienreise durch Europa traf er Komponisten wie Antonin Dvorák, Gustav Mahler, Camille Saint-Saëns, Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo. Er wurde danach Kompositionslehrer, gleichzeitig Organist und Chorleiter an der St.-Hedwigs-Kathedrale und später an der Dominikanerkirche St. Paulus in Berlin. 1907 komponierte der mittlerweile mit vielen Preisen dekorierte Komponist das große Oratorium ‘Quo Vadis’, das seinen Weltruf begründete.

Ab 1909 wirkte Nowowiejski in Krakau, ging aber nach Kriegsausbruch aufgrund zunehmender Anfeindungen in Polen nach Deutschland zurück. 1918 ließ er sich in Poznan nieder und war dort als Dozent am Musikkonservatorium, sowie als Komponist, Dirigent und Chorleiter tätig. Er wurde ein Exponent des polnischen Patriotismus, was zum Streit mit seinem einflussreichen Lehrer Max Bruch führte, der erreichte, dass Nowowiejskis Musik in Deutschland von den Spielplänen verschwand. 1941 beendete ein Schlaganfall Nowowiejskis Laufbahn. Der Musiker starb 1946 in Poznan.

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Quo Vadis op. 30 basiert auf dem gleichnamigen Roman von Henryk Sienkiewicz. Das deutsche Libretto von Antonie Jüngst wurde später in mehrere Sprachen übertragen. Doch das Oratorium wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr im Ausland aufgeführt, und es war Lukasz Borowicz, der es 2016 nach Berlin brachte. Diese Produktion liegt auch der vorliegenden CD-Aufnahme von cpo zugrunde, die ungefähr zeitgleich mit jener von Dux auf den Markt kam.

Nowowiejskis „Quo vadis“ bei cpo

Der Unterschied zwischen beiden ist, dass Borowicz eine Fassung mit polnischem Text dirigiert,  „so wie es sich der Komponist gewünscht hätte“, sagt der Dirigent, während die von Dux den originalen deutschen Text benutzt. Lukasz Borowicz gelingt es, die oft ins Pompöse tendierende Musik geschmeidig und flexibel klingen zu lassen. Der Klang des Philharmonischen Orchesters aus Poznan und des Podlachischen Chors bleibt transparent und blüht in kräftigen Farben auf. Bei aller Dramatik, die der Dirigent effektvoll schürt, geht es Borowicz vor allem darum, die Musik stimmungsvoll werden zu lassen und ihre Botschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Das wird besonders in der sehr inspiriert gestalteten Dritten Szene sowie in der ergreifenden Vierten Szene deutlich, wenn Petrus und die Christen auf der Via Appia hinter sich das von Nero in Schutt und Asche gelegte Rom sehen und der Apostel sein Glaubensbekenntnis ablegt.

„Quo vadis“: auch Jean Nougués schrieb eine Oper diesen Titels/ BNF

Den Petrus singt der Bariton Robert Gierlach, der mit seinem metallischen Timbre und viel schlanker Kraft den Gesang absolut hinreißend werden lässt. Demgegenüber ist sein Bruder Wojtek Gierlach als Prätorianer etwas überfordert, und seine Stimme irritiert mit einem zu starken Vibrato. Sehr gut hingegen singt die Sopranistin Wioletta Chodowicz mit ihrer warmen Stimme. Orchester und Chor beeindrucken durch eine hohe Qualität

Dieses Niveau erreichen die Kräfte aus Olsztyn nicht ganz, wenn auch der Unterschied nicht sehr groß ist. Vor allem aber gelingt es dem Dirigenten Piotr Sulkowski nicht, der Musik jene vibrierend schlanke Dramatik zu geben, die Borowicz’s Aufnahme auszeichnet. Hinzu kommt, dass Borowicz die etwas patchworkartig wirkende Musik deutlich besser im Griff hat und stilistisch einheitlicher werden lässt als Sulkowski. Bei Borowicz strebt die Musik zielgerichtet einem Höhepunkt entgegen, während sie bei Sulkowski letztlich etwas anekdotischer bleibt.

„Quo Vadis“/ Henryk Siemiradzki Christian: Dirce (1890)/ Wiki

Die Solisten der Dux-Aufnahme sind sehr gut. Aleksandra Kurzak (die spätere Frau Alagna) gefällt mit einer reinen und leuchtkräftigen Sopranstimme. Artur Rucinski hat ein etwas wärmeres Timbre als Gierlach, kann aber den Petrus nicht so zwingend darstellen wie sein Konkurrent in der Borowicz-Einspielung, dessen souveräne Leistung im Vergleich noch viel stärker auffällt. Während Rucinski älter und reifer, manchmal sogar sentimental klingt, zeichnet Gerlach einen forsch entschlossenen Petrus voller Tatendrang. Der Bass Rafal Siwek ist dem Prätorianer von Robert Gierlach deutlich überlegen.

Aufnahmetechnisch klingt die cpo-Einspielung eindeutig ausgeglichener als die von Dux, in der etwas viel mit den Reglern gearbeitet wurde. Die cpo-Einspielung ist zwar genau wie die Dux-Einspielung deutlich in die Tiefe angelegt, erlangt aber im Hintergrund nicht jene prägnante Klarheit, die die Aufnahme aus Poznan auszeichnet. Das größte Handicap der Dux-Aufnahme ist wohl die deutsche Sprache, die von den Sängern nicht wirklich idiomatisch behandelt wird. Da wären dann wohl ein deutscher Chor und deutschsprachige Solisten besser mit dem Text zuwege gekommen.

„Quo Vadis“/ Der Autor: Pizzicato-Chefredakteur Remy Franck mit Mohamed El Wakil, CEO von NGL – Naxos Global Logistics (Foto Naxos/ Pizzicato)

Wer sich nicht beide Einspielungen kaufen will, sollte sich daher wohl eher für die Borowicz-Aufnahme bei cpo entschließen. Sie ist musikalisch besser und wird dem großartigen Werk von Nowowiejski mit viel Spannkraft vollauf gerecht. Remy Franck (mit Dank!)

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Felix Nowowiejski: Quo Vadis); Wioletta Chodowicz, Sopran, Wojtek Gierlach, Bariton, Robert Gierlach, Bass, Podlasie Opera and Philharmonic Choir, Poznan Philharmonic Orchestra, Lukasz Borowicz: 2 CDs cpo 555089-2; Aufnahme 05/2016, Veröffentlichung 2017 

Felix Nowowiejski: Quo Vadis; Aleksandra Kurzak, Sopran, Artur Rucinski, Bariton, Rafal Siwek, Bass, Sebastian Szumski, Baritone, Arkadiusz Bialic, Orgel, Gorecki Chamber Choir & Feliks Nowowiejski Warmia and Mazury Philharmonic, Piotr Sulkowski; 2 CDs Dux 1327-28; Aufnahme 2016, Veröffentlichung 2017

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„Quo Vadis“/ Lukasz Borowicz/Koncert Polskiej Orkiestry Radiowej (próba) lutoslawski.org.pl

Und nun Lukasz Borowicz: Vor einhundert Jahren war es in ganz Europa der absolute Renner – das Oratorium Quo Vadis von Feliks Nowowiejski. Jetzt hat es die Philharmonie Poznań unter Leitung von Łukasz Borowicz mit hervorragenden Solisten und dem Chor der Podlachischen Oper und Philharmonie Białystok wieder neu herausgebracht.

Feliks Nowowiejski komponierte sein Oratorium 1903. In den darauf folgenden dreißig Jahren wurde es mehr als 200 Mal in ganz Europa und in beiden Amerikas aufgeführt. Nicht zuletzt weil die literarische Vorlage, Henryk Sienkiewiczs Roman gleichen Titels, sehr bekannt war. Für sein literarisches Schaffen war der polnische Schriftsteller Sienkiewicz 1905 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden – die Popularität seines Romans „Quo Vadis“ dürfte daran einen beträchtlichen Anteil gehabt haben.

Das Oratorium Nowowiejskis geriet in der Folgezeit quasi in Vergessenheit. Schon deshalb, weil die großbesetzte Gattung an sich Schwierigkeiten im Konzertsaal bekam. Anders als die Oratorien Georg Friedrich Händels und Joseph Haydns sind die allermeisten „chorsinfonischen“ Werke des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute nicht wieder in die Veranstaltungskalender zurückgekehrt, ob sie nun religiösen oder profanen Inhalts sind. Quo Vadis ist sicher beides, ein nationalistisch deutbares Epos über die Christenverfolgung zu Zeiten des Römischen Kaisers Nero und dessen Tyrannei, die auf einem pervertierten System wie auf dem krankhaften Charakter eines Despoten beruhte. Zugleich ist sie aber ein Aufruf zu religiöser Umkehr und zur „richtigen“ Lebensführung.

„Quo Vadis“: Poster zum Stummfilm 1913/ poster.com

2016 jährt sich der Todestag des Komponisten Felix Nowowiejski zum 70. Mal. Nowowiejski lebte viele Jahre in Berlin, er war hier als Organist tätig und studierte einige Jahre u.a. bei Max Bruch. In Berlin komponierte er auch viele Teile seines Oratoriums, nachdem er seine ersten Anregungen dazu im Laufe einer Reise nach Rom bekommen hatte. 1907 wurde die erste Fassung seines Oratoriums in Usti nad Labem uraufgeführt. Nowowiejski unterzog es anschließend einer starken Revision und brachte es 1909 im Concertgebouw in Amsterdam erneut auf die Bühne. Nun trat es seinen Siegeszug durch die großen Konzertsäle der Welt an.

2016 ist auch Henryk-Sienkiewicz-Jahr, es ist der 100. Todestag des Dichters – und zugleich sind 170 Jahre seit seiner Geburt vergangen. Aus diesem Anlass spielt die Posener Philharmonie Nowowiejskis Oratorium „Quo Vadis“ nicht nur in Konin und Poznań, sondern auch in Berlin.

Feliks Nowowiejskis Biografie und künstlerisches Schaffen symbolisiert darüberhinaus etwas anderes: Er wurde im Ermland als Sohn einer polnisch-deutschen Familie geboren. Seine national-polnische Identität entstand im wesentlichen in den Jahren seines Studiums in Berlin, nicht zuletzt aufgrund der Germanisierungspolitik des Deutschen Kaiserreiches in den östlichen Provinzen und den besetzten polnischen Gebieten. Doch während des 1. Weltkrieges zog Nowowiejski zurück von Krakau nach Berlin, weil er aufgrund seiner Herkunft angefeindet wurde, und diente als kaiserlich-preußischer Militärkapellmeister, um sich dann in Poznań niederzulassen, als der polnische Staat wiedererstanden war. Viele der Werke Nowowiejskis sind Ausdruck dieser Identitätssuche, vor allem auch das Oratorium Quo Vadis. Doch es verkörpert ebenso allgemein humanistische Werte – wie das literarische Werk Sienkiewiczs – und taugt nicht zur politischen Vereinnahmung, weder damals noch heute.

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„Quo Vadis“/ Henryk Sienkiewicz und Kazimierz Pochwalski auf einem Gemälde von Kazimierz Pochwalski 1940/ polen-pl.eu

Zum Autor des Romans, Henryk Sienkiewicz nun Katharina Lindt: Quo vadis Polen? Eines haben sie gemeinsam, die Kulturpatrone des Jahres 2016: Sie sind patriotische Helden. Ihre Werke und ihre Taten formten Generationen von Polen und Polinnen. Es überrascht also nicht, dass die Entscheidung der Kommission für Kultur im Sejm auf den Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz sowie den Komponisten zahlreicher patriotischer Lieder, Feliks Nowowiejski, fiel. Auch den Fallschirmagenten der polnischen Exilstreitkräfte, den sogenannten Chichociemni, wird dieses Jahr die Ehre zuteil, Kulturpatrone zu sein. Die im Oktober gewählte Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) besinnt sich nicht nur auf den Patriotismus, sondern auch auf die katholischen Wurzeln des Landes. Erinnert wird an das wichtige Ereignis der Nationengründung, als Polen vor 1050 Jahren getauft wurde.

Erster polnischer Nobelpreisträger: Henryk Sienkiewicz war der erste Pole, der einen Nobelpreis für Literatur erhielt. „Seine historischen Romane gaben Generationen von Polen in Zeiten nationalen Unglücks seelischen Halt“, so die Begründung der Kommission. Er war ein Botschafter des Polentums. Einer, der als geistiger Hetman (Heerführer im ehemaligen Königreich Polen) der Polen bezeichnet wird. Sienkiewicz schrieb, als sein Land von drei Großmächten – Preußen, Russland und Habsburg – geteilt war. Die Einigung des Volkes ist die Konstante seiner Prosa. Deshalb wird Sienkiewicz solch eine hohe Würdigung zuteil, denn sein Erbe bildet die Grundlage für die patriotische Erziehung junger Generationen von Polen. „Wir alle tragen Ihn in uns“ (My wszyscy z niego), heißt es im Schreiben der Kommission.

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Am 15. November 2016 jährte sich sein Todestag zum 100. Mal. Dazu gab es im Verlauf des Jahres zahlreiche Veranstaltungen und Lesungen, die an das vielfältige Werk des Autors erinnern sollen. Es stellt sich also die Frage, warum lieben Polen Sienkiewicz?

„Quo vadis“, 1925 mit Emil Jannings/ Poster/ Propic

Historischer Roman: „Mit Geschichte will man etwas“, so Alfred Döblin in seinem Aufsatz Der historische Roman und wir. Das historische Erzählen stellt für Döblin eine Möglichkeit dar, die Gegenwart distanziert zu betrachten. Auch wenn wir heute mit einem historischen Roman zu allererst opulente Kulissen, Kostüme, epische Szenen, Intrigen und Heldentum verbinden, die ins Kitschige abzugleiten scheinen, erlebte der historische Roman im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt.

Er diente der Identitätsstiftung von Nationen. In der Romantik fingen Autoren an, sich für Geschichte zu interessieren. Damit sollte die Vergangenheit nicht verklärt, sondern gedeutet werden.  Man denke nur an Werke wie Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo, Der letzte Mohikaner von James Fenimore Cooper oder Krieg und Frieden von Lev Tolstoj – sie alle setzten sich aus einer komplexen Verflechtung aus Historie und Fiktion zusammen. Sie versuchen zu erklären, wie das Individuum in ein politisches und psychologisches Ereignis verflochten ist. Ein historischer Roman ist eine narrative Erkenntnis über das „wie“ und „wozu“.

Auch Sienkiewicz wollte mit Geschichte etwas – dem gebeutelten polnischen Volk Mut machen. Doch bis der historische Roman Sienkiewicz‘ Signatur wurde, durchlief der Autor einen langen publizistischen Weg.

Nowowiejskis „Quo Vadis“ bei DUX

Geschichte schreiben: In der Woiwodschaft Lublin 1846 geboren, die damals dem Russischen Kaiserreich angehörte, wuchs Sienkiewicz bereits als kleines Kind mit der Bedeutung des Patriotismus auf. Sein Vater Józef Sienkiewicz, ein armer Landadeliger, war nämlich am polnischen Unabhängigkeitskampf beteiligt. Später zog die Familie nach Warschau. Hier studierte Sienkiewicz Geschichte und Literatur. Diese Kombination sollte später ein roter Faden seiner Prosa werden. Doch zuerst beginnt seine Reise im Feuilleton. Als Auslandkorrespondent für die Zeitung Gazeta Polska begeisterte er das polnische Publikum mit Berichten aus Amerika. Nach seiner Rückkehr entstanden die Listy z podróży do Ameryki (Briefe aus Amerika), mit denen er einen großen Erfolg feierte. Danach folgten viele Reisen durch Europa, die ihm eine Möglichkeit boten, die Geschehnisse in seiner Heimat zu reflektieren.

In dieser Zeit schrieb Sienkiewicz kurze Erzählungen und Novellen, die dem polnischen Positivismus zugerechnet werden. Eine literarische Strömung, die in Deutschland unter dem Namen Realismus bekannt ist. In Polen aber wirkte die Strömung über das Literarische hinaus. Die Positivisten wollten nämlich das polnische Nationalbewusstsein stärken. Viele Intellektuelle organisierten „fliegende Universitäten“ und polnische Sprachkurse, denn unter der russischen und deutschen Obrigkeit herrschte eine strenge Sprachenpolitik. Die Positivisten hatten eine klare Vision für Polen: Sie wollten eine neue Gesellschaft auf kapitalistischer säkularer Grundlage bilden, die Emanzipation der Frauen sowie die Assimilierung der Juden voranbringen und der Germanisierung sowie Russifizierung entgegenwirken. Auf der literarischen Ebene äußerte sich das in Kurzgeschichten und Novellen, die zeitgenössische moralische und soziale Missstände beleuchteten. In diesem Milieu agierte Sienkiewicz. Doch das Schildern aus dem Hier und Jetzt reichte ihm nicht aus. Die Geschichte hatte Sienkiewicz schon immer fasziniert, deshalb wandte er sich dem historischen Roman zu.

„Quo Vadis“/ Filmpostkarte zum Stummfilm 1913/ filmpostcards.blogspot

Mit Feuer und Schwert: Als Fortsetzungsroman erschien 1883 in der Warschauer Zeitung Słowo (Das Wort) der Roman Ogniem i mieczem (Mit Feuer und Schwert) – der erste Teil einer Romantrilogie, die die Geschichte der Aufstände und Kriege der Adelsrepublik Polen-Litauen zwischen 1648-1672 erzählt. 1886 folgte der zweite Teil Potop (Sintflut) und 1888 schließlich Pan Wołodyjowski (Herr Wołodyjowski).

Es ist eine turbulente Zeit, die Sienkiewicz in der Trilogie monumental einfängt: Von der Rebellion der Kosaken unter Hetman Bohdan, über die Invasion der Schweden hin zur Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Viel Action, Liebe sowie vaterländischer Stolz. Und doch ist diese Trilogie mehr als nur ein Abenteuerroman. Sienkiewicz reflektiert eine zeitgenössische Debatte, die sich um die Bewertung der Adelsrepublik drehte. War die Teilung selbstverschuldet? Egoismus und Verfall des Adels wurden als Ursache gesehen. Oder konnte man dem Zeitalter der Katastrophen dennoch etwas Positives abgewinnen? Schließlich wurde in der polnischen Aufklärung 1791 die erste Verfassung verabschiedet. Die Aufstände in der Trilogie erscheinen vor dem Hintergrund der Aufstände gegen die Besatzer im 19. Jahrhundert wie ein prophetischer Appell. Denn die Trilogie endet mit dem Sieg von König Jan III. Sobieski gegen die osmanische Armee in der Schlacht am Kahlenberg. Haltet durch, es kommen bessere Zeiten, so die Message. Nicht nur die Elite las seine Romane, sondern das breite Massenpublikum. Eine nationale Ikone war geboren.

„Quo Vadis“/ Poster zum MGM-Film 1951/ Flick.ru

Feindbild Preußen im Roman: Kreuzritter: Auch den Kreuzrittern (Krzyżacy) widmete Sienkiewicz einen Roman, denn die Schlacht bei Grunwald (Tannenberg) 1410 gehört zum polnischen Nationalmythos. Er erschien 1900 und wurde in über 25 Sprachen übersetzt.

Als im 13. Jahrhundert Herzog Konrad von Masowien die Kreuzritter des Deutschen Ordens nach Polen holte, um ihm bei der Christianisierung der Balten zu helfen, wird ein Grundstein für eine fast 200 Jahre währende Macht der Bruderschaft gelegt. Das ist der Hintergrund des Romans, der im 14. Jahrhundert angesiedelt ist. Erzählt wird das Schicksal einiger Protagonisten, die unter der Schreckensherrschaft der Kreuzritter viele Verluste erleiden müssen. Liebesgeschichte inklusive. Am Ende gipfelt der Roman in der finalen Schlacht bei Grunwald. Das Königreich Polen unter König Władysław II. Jagiełło geht als Sieger hervor, der Ritterorden als Verlierer. Kritiker prangerten die schwarz-weiß Schablone „Böses Deutschland – edles Polen“ an. Das Feindbild, das Sienkiewicz thematisiert, kann aber nur vor der historischen Folie gelesen werden. Zu seiner Zeit war der imperialistische Charakter Preußens jedem Polen ein Dorn im Auge. Sienkiewicz‘ Heldenepos ist daher ein Lobgesang auf den polnischen Freiheitskampf. Und zur Stärkung der Herzen, wie er schrieb.

Quo vadis?: Langläufig nehmen viele Menschen an, dass Sienkiewicz 1905 für Quo vadis? den Nobelpreis erhielt. Die Auszeichnung galt aber dem gesamten literarischen Oeuvre. Wie all seine anderen Romane auch, publizierte Sienkiewicz Quo vadis? als Folgeroman in der Zeitung Gazeta Polska zwischen 1895-96. Worin gründet der Erfolg des Romans, der seither in über 40 Sprachen übersetzt wurde? Zum einen liegt es am literarischen Handwerk Sienkiewicz‘, zum anderen an der opulent inszenierten Geschichte.

Er entführt den Leser ins spätantike Rom, in die Zeit der Schreckensherrschaft Neros. Detailverliebt gibt er dokumentarisch die historische Wirklichkeit wider. Er zeigt die dekadente und grausame Seite Roms, die von Gewalt gezeichnet ist. Seien es brutale Gladiatorenkämpfe, Hinrichtungen, der von Nero angeordnete Brand Roms oder schließlich die bestialische Christenverfolgung. Und mittendrin im Strudel des Chaos spielt sich eine Liebesgeschichte ab. Ein junger Offizier und Patrizier des römischen Feldherrn Corbulo, Marcus Vinicius, verliebt sich in die Königstochter Lygia. Sie ist Christin und lebt bei einer reichen römischen Familie, die zum Christentum konvertiert ist, jedoch ist sie aus dem Volk der Lygier (das etwa im Raum des heutigen Schlesiens liegt) und wurde als Sklavin von einem Feldzug mitgebracht und als Tochter angenommen. Eine Tragödie scheint vorprogrammiert zu sein. Doch es wäre nicht Sienkiewicz, wenn diese Love-Story nicht mit einem Happy End enden würde. Schließlich behauptet sich das Christentum in der Geschichte.

„Quo Vadis“/ die Autorin Katharina Lindt/ polen-pl.eu

Mit seinem Roman Quo vadis? ist Sienkiewicz in guter Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert erschienen einige historische Romane, die in der Spätantike spielen. 1834 kam The Last Days of Pompeii von Bulwer-Lytton heraus und 1880 Ben-Hur von Lewis Wallace. Was alle drei Romane gemeinsam haben: ihr cineastisches Appeal, der einen Massengeschmack trifft. 1951 wagte sich Hollywood an die Verfilmung von Quo vadis? mit Peter Ustinov als Nero – bis heute ein Klassiker.

Selbst zu Lebzeiten spalteten sich die Geister über Sienkiewicz. Die einen liebten seine patriotischen Werke von vergangenen heldenhaften Zeiten. Die anderen prangerten die schablonenhafte Welt an, die er in seinen Romanen erschuf. Die Welt sei komplex und kein Abenteuerroman, so die zeitgenössischen Kritiker. Solche Diskussionen sind vorbei, was bleibt ist ein Klassiker der Weltliteratur. Den Artikel der Münchnerin Katharina Lindt entnahmen wir mit großem Dank der website www.polen-pl.eu anlässlich der polnischen 100-Jahr-Feier von Henryk Sienkiewiecz.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Bezauberndes für die Königin

 

Immer wieder überrascht Naxos mit unbekannten Werken, auch Opern aus Südeuropa (so Almeidas Spinalba oder Trionfo d´Amore).  Bereits 2015 veröffentlicht, aber im deutschsprachigen Raum wenig beachtet, ist die L´Angelica,  Serenata per Musica da incantarsi  von Joao de Suza de Carvalho, einem portugiesischen Komponisten von großem Renommée  Ende des 18. Jahrhunderts in Portugal und dem iberischen Raum. Bislang auf modernen Veröffentlichungen eher hervorgetreten mit geistlicher Musik wie seinem Requiem (das in den Sechzigern  auf Deutsche Grammophon Archiv in elegantem Klapp-Grau und den Kräften des Lissaboner Gulbenkian Instituts mit beiliegender musikwissenschaftlicher Information in die Welt Carvalhos einführte), erscheint nun Carvalho auch als eindrucksvoller Verfasser von vokaler Unterhaltungsmusik.

Denn die vorliegende Aufnahme bei Naxos ist bezaubernde leichte Kost für den königlichen Hof. Pedro Castro dirigiert ein gefälliges Ensemble (Joanna Seara, Lidia Vinyes-Curtis, Fernando Guimaraes, Maria-Luisa Lavirgen und Sandra Medeiros zusammen mit dem Concerto Campestre auf originalen Instrumenten, das Ganze 2014 in Lissabon aufgenommen (Naxos 2 CD 8.573554-55, Libretto im Netz zum downloaden). Dies ist nicht die erste Oper Carvalhos auf CD, bereits 1990 dirigierte René Clemencic eine etwas verdächtige Aufnahme von Testoride argonauti bei Nuova Era, die in der Folge sich bis heute bei verschiedenen Labels gehalten hat, die aber doch stilistisch und stimmlich zu wünschen übrig lässt. So ist Angelica doch die Favoritin für Liebhaber der iberischen vokalen Spät-Barockmusik. Trotz des wirklich grässlichen, asiatisch angehauchten Covers! G. H.

 

Zu „Angelica“: Joao de Suza de Carvalho

Wer war nun Sousa de Carvalho, dessen Name den wenigsten geläufig sein wird?  Er wurde 1745 in Estremoz geboren und starb 1798 in Lissabon. Er begann seine musikalischen Studien am 23. Oktober 1753 in Villa Viçosa und setzte seine Ausbildung später am Lissaboner Real Seminário de Música da Patriarcal fort. Im Alter von fünfzehn, am 15. Januar 1761, trat er in das Conservatorio di San Onofrio in Neapel ein, wo ihm (neben den Brüdern Jerónimo Francisco und Brás Francisco de Lima sowie einigen weiteren portugiesischen Musikern) von José I. ein Stipendium gewährt wurde.

1766 wurde seine Oper La Nitteti, ebenfalls basierend auf einem Libretto von Metastasio, in Rom aufgeführt. Im folgenden Jahr kehrte Carvalho nach Portugal zurück und schloss sich der Bruderschaft von St. Cäcilia in Lissabon an. Er lehrte dann Kontrapunkt am Seminário da Patriarcal; zu seinen Schülern zählten António Leal Moreira und Marcos Portugal. 1778 folgte er David Perez als Hofkomponist und Musiklehrer der portugiesischen Königsfamilie nach. Von da an schuf er regelmäßig Serenaden für königlichen Geburtstage und andere höfische Feierlichkeiten.

Verschiedene Musikwissenschaftler (Sampayo Ribeiro 1938, Santos Luís 1999, Stevenson/Brito 2012) stimmen darin überein, dass Carvalho der wichtigste portugiesische Komponist seiner Generation war. Vier der zehn Opern, die von portugiesischen Komponisten während seiner aktiven Zeit geschrieben wurden, stammen von ihm selbst; zehn der 36 Serenaden, die unter Maria I. entstanden, stammen ebenfalls aus seiner Feder.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hieß der Direktor der Königlichen Theater in Portugal Pinto da Silva. In einem auf das Jahr 1783 datierten Brief an den portugiesischen Botschafter in Italien, dessen Pflichten auch die Rekrutierung geeigneter Künstler für Portugal umfasste, beklagte Pinto da Silva die zunehmende Schwierigkeit, italienische Sänger zu finden, die gut genug waren, um den hohen Ansprüchen des Königshauses zu genügen. Auf der anderen Seite betonte er, dass es gegenwärtig keinen anderen Komponisten gäbe, der an João de Sousa Carvalho heranreichte. Er fügte hinzu, dass sowohl dieser als auch sein Schüler António Leal Moreira kürzlich exzellente Serenaden komponiert hätten.

„Kein Königshaus in Europa war damals so musikalisch wie jenes von Portugal“ – so verkündet Nathaniel Wraxall in seinen Historical Memoirs of My Own Time (erschienen 1815, wenngleich er über einen Besuch dieses Landes im Jahre 1772 schreibt). Er fährt fort: „Joseph [José I.] selbst spielte mit beachtlichem Geschick Violine; und die drei Prinzessinnen, seine Töchter, waren alle mehr oder weniger bewandert im Umgang mit verschiedenen Instrumenten.“ Josés älteste Tochter folgte ihm schließlich als Maria I. nach; ihre Regierungszeit sah zwar weniger großangelegte öffentliche Opernproduktionen, jedoch eine größere Zahl an Musikdramen, die im königlichen Palast anlässlich der Geburts- und Namenstage wichtiger Mitglieder des Königshauses aufgeführt wurden. Im Allgemeinen handelten diese Dramen von Heldentaten antiker Herrscher und zeigten einen Protagonisten, der die Tugend und die Vornehmheit eines modernen Mitgliedes des Königshauses widerspiegelte. Auf eine Weise ist die Wahl des hier vorliegenden Librettos erstaunlich, in welchem die hübsche Angelica ihren verführerischen Charme einsetzt, um dem edlen Orlando ihre Liebe vorzugaukeln, nur um anschließend stattdessen vielmehr mit Medoro das Weite zu suchen.

Joao de Suza de Carvalho: Maria I. von Portugal/ Wiki

Wir müssen uns gleichwohl vor Augen halten, dass die Widmungsträgerin dieses Werkes, Prinzessin Maria Francisca Benedita, die Schwester der Königin – und, glaubt man den Zeitgenossen, „schöner und künstlerisch begabter“ als dieselbe –, kürzlich Anwärterin auf den Thron geworden war und insofern von der Monarchin in Sachen Ethik und Moral geschult wurde. In der Geschichte der Angelica entwickelt sich alles nach ihren Vorstellungen und sie bekommt, was sie will, aber freilich sind die Konsequenzen ihres Handelns ernst und ungerecht. Sich der Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Schwester bewusst, wollte die Königin womöglich vermitteln, dass Schönheit und Intelligenz in einer angemessenen und moralisch akzeptablen Weise benutzt werden sollten. Die etwas unvorhersehbare Wendung in der Handlung, als Orlando den Göttern und Sternen aus kranker Eifersucht heraus Vorhaltungen macht, fügt einen Touch von Feinsinnigkeit zur Beziehung zwischen der fiktiven Heldin und der realen Prinzessin hinzu. Just in dem Moment, als alles verloren erscheint, sieht er einen „gütigen“ Stern, der ihm die Geburt einer noblen und tugendhaften Prinzessin voraussagt. Dies bringt ihn dazu, die licenza der Serenade, ein Widmungsstück, zu singen, in welches am Ende alle Solisten schlusschorartig lobpreisend einstimmen.

Joao de Suza de Carvalho: „Angelica e Medoro“/ Stich von Herissant, Paris 1781/ Wiki

Der Komponist von L’Angelica, João de Sousa Carvalho, war kürzlich als Nachfolger von David Perez Musikmeister der königlichen Prinzessinnen geworden; dies war seine erste Gelegenheit, ein höfisches Musikdrama zu schreiben, wobei ihm ein Text des großen italienischen Librettisten und Dichters Metastasio als Grundlage diente. Seine Fähigkeit, die Emotionen der Charaktere in den begleitenden Rezitativen zum Ausdruck zu bringen; seine Fertigkeit, Ornamente und Variationen in den sich wiederholenden Teilen der Arien einzubauen; die dramatische Intensität der Duette am Ende des ersten Teils und die Subtilität des Ausdrucks in Medoros zweiter Arie entzückte die Ohren und Herzen des Hauses Braganza über die Maßen, dessen anspruchsvoller und kultivierter Musikgeschmack weithin bekannt war. Tatsächlich war die Königin derart beeindruckt, dass sie verschiedene Partituren Carvalhos an den spanischen Hof nach Madrid schicken ließ und ihn auch zukünftig mit der Komposition für wichtige Anlässe des Königshauses betraute. Dies mündete in der Schöpfung der wichtigsten Bühnenwerke ihrer Regentschaft, darunter die „favola pastorale“ Nettuno ed Egle (1785).

Metastasios Libretto, zum ersten Mal 1720 von Nicola Porpora verwendet, ist eines seiner vielen kleineren Werke und eines der wenigen, das ursprünglich vom Dichter selbst als „serenata“ tituliert wurde – anstatt des gebräuchlicheren „dramma per musica“. Der Grund für diese Unterscheidung ist offenkundig nicht stilistischer Natur oder in Bezug auf die Charaktere – die Serenaden Alessandro Scarlattis tendierten dazu, von allegorischen Figuren bevölkert zu sein, deren Funktion es war, eine Einzelperson oder ein bedeutendes Ereignis zu feiern. Die augenfälligste Begründung, weshalb L’Angelica so bezeichnet wurde, ist poetischen Ursprungs und kann in der Handlung selbst gefunden werden. Diese entfaltet sich teilweise während der Nacht, in der die Liebenden fliehen. Ein Schimmer des Mondlichts leuchtet ihnen den Weg und Medoro singt aus Dankbarkeit an den Mond gerichtet die Arie Bella Diva all’ombre amica, genauso als sänge ein Liebhaber eine Serenade unter dem Fenster seiner Angebeteten. (Zu den vielen Vertonungen des Topos s. auch Alchetron website)

Joao de Suza de Carvalho: Textdichter Metastasio und Star-Kastrat Farinelli (Mitte) mit der Königlichen Familie aus Neapel auf dem Gemäde von Giacomo Amigioni/ Wiki

Zu Zeiten Marias I. wurden die Solisten bei der höfischen Aufführung von Serenaden von einem Orchester, bestehend aus etwa 35 Musikern, begleitet. Diese waren in unmittelbarer Nähe zur Königsfamilie in einem Raum des Queluz- oder Ajuda-Palastes positioniert. Die festliche Atmosphäre wurde noch erhöht durch die Anwesenheit von Höflingen und bedeutenden Gästen. Die Hofdamen saßen auf dem Fußboden, während alle anderen standen, wo immer sich Platz fand; alles in relativ informellen Rahmen. Da diese Werke nicht für eines der Hoftheater konzipiert waren, gab es keine Inszenierung und auch keine Kostüme. Allerdings kann man sich gut vorstellen, dass die Sängerinnen und Sänger ihre Rollen ausspielten, handelte es sich doch um dramatische Stücke. Die Musik selbst ist dergestalt komponiert, um den Charakteren Zeit zur Bewegung zu geben und verschiedene Gruppierungen von Sängern zu berücksichtigen. Dies alles in einer Partitur, die reich, expressiv und hochdramatisch-effektvoll ausgelegt ist.  Pedro Castro

 

Den Artikel von Pedro Castro entnahmen wir der Beilage zur besprochenen Oper; deutsche Übersetzung Daniel Hauser nach Susannah Howes Übertragung ins Englische im Booklet der Naxos-Ausgabe.

Stilistisch falsch – aber kurzweilig

 

Carl Maria von Weber ist nach Richard Wagner der berühmteste deutsche Opernkomponist des 19. Jahrhunderts – doch aufgeführt wird er ausgesprochen selten. Hin und wieder mal ein Freischütz, und das was dann auch schon. Jetzt hat das Label Relief  eine historische Rundfunkproduktion der Euryanthe aus dem Jahre 1957 ausgegraben.

 Euryanthe war Webers ehrgeizigstes Projekt, seine umfangreichste Partitur überhaupt, sein Traum von der großen deutschen Oper, das Werk, das den Freischütz in den Schatten stellen sollte.  Musikalisch ein Höhepunkt der Hochromantik, eine der wichtigsten und eigenständigsten Werke inmitten des exzessiven Rossini- und Spontini-Taumels der 1820er Jahre. Leider ist das Libretto wirklich verwegen, selbst gemessen an der auch sonst nicht grade durch Witz und Eleganz glänzenden deutschen Textbuchkultur der Ära. Diese biedermeierliche, an den Haaren herbeigezogene Rittergeschichte von Helmina von Chézy  ist schon den Zeitgenossen als mies, hochtrabend und unglaubwürdig aufgefallen, umso mehr zerrt sie heute an den Nerven des Zuhörers.

Ewig schade, dass Webers große Musik kein besseres Gefäß zur Aufbewahrung für die Ewigkeit gefunden hat. Sicher ist das Libretto ein Grund dafür, warum das Werk selten auf der Bühne zu sehen ist und nur wenige Male eingespielt wurde. Ein zweiter Grund ist der durchweg nachlässige Umgang der Deutschen mit dem musikdramatischen Erbe jenseits von Wagner und Strauss. Ausnahmen wie die umfangreichen Bemühungen Ulf Schirmers in München bestätigen die Regel.

 Feuriger junger Kurt Masur. Deswegen ist jede neue Euryanthe auf dem Markt eine genauere Betrachtung wert. Diese hier kommt aus dem deutschen Rundfunkarchiv und stammt ursprünglich aus der DDR. Es gibt viele gute Gründe, dieses Werk wieder aus der Versenkung zu holen, einer liegt auf der Hand, da kann man sogar schon von einer kleinen Sensation sprechen: Das ist der Dirigent Kurt Masur, 1957 grade mal 30 Jahre jung.

Masur war damals zwar noch kein weltberühmter Musiker, er hatte aber schon jede Menge Erfahrung als Orchesterleiter in Erfurt, Leipzig und Dresden. Schon nach wenigen Takten der Ouvertüre ist klar – das ist eine der am besten dirigierten Euyranthes überhaupt, trotz der Referenzaufnahme unter Marek Janowski. Sie gefällt mir vor allem, weil der junge Masur schon sehr genaue Vorstellungen hat, wie Romantik für ihn klingen soll, er hier aber noch viel ungezügelter, vorwärtsdrängender agiert als dann der späte, bedächtigere Professor, der viele Vorzüge hatte, aber wahrlich kein toscaninisches Feuer aufwies. Hier hat er das noch, plus Präzision und Seidigkeit.

Stilistisch falsch – aber kurzweilig. Solistisch hat die Produktion Staub angesetzt und funktioniert teilweise nicht mehr. Man sah Euryanthe damals vor allem als Wagner-Vorläufer, und das ist grundfalsch (Wagner war 10 Jahre alt, als Euryanthe herauskam!),. Da steckt viel Spontini in der Partitur, auch italienische Fioraturen werden verlangt, und die biegsamen schlanken Stimmen eben jenes Spontini-Zeitalters sind unerlässlich. Übertragen gesagt, man braucht hier Florette, wir bekommen aber Haudegen.

Diesen Stil konnte anscheinend 1957 niemand singen. Schmerzlich daneben liegt Tenor Gert Lutze, dessen Stimm-Material gar nicht schlecht ist und der ja einen groißen Namen als Bach-Sänger in der DDR hatte, der aber den Adolar wirklich heroisch stemmt, als sei das der Cousin von Siegfried, und fast alle lyrischen Momente verfehlt. Erstaunlich. Doch wenn man das Ganze als eigenständiges zeitgebundenes Werk stehen lässt, wird es wieder interessant – diese Euraynthe  ist von vorn bis hinten ein Kunstprodukt, das mit Webers Oper nur am Rande zu tun hat. Man hat das dreistündige Werk hier in der Rundfunkbearbeitung sehr skrupellos zusammengedampft – aber es ist eine kurzweilige Fassung von etwa zwei Stunden und kann so auch als sehr flottes Wagner-Frühwerk durchgehen, denn Diktion und vor allem Deklamation werden hier ganz großgeschrieben. Man versteht jedes Wort! Das ist enorm, das passiert einem bei heutigen Aufnahmen kaum noch. (Die Restauration des Bandes hat sicher auch zu diesem Effekt beigetragen – großflächiges Mono ohne Dumpfheit mit nur wenigen Magnet-Echos.) Euryanthe selbst, Ingeborg Wenglor, hat hier ihre große Stunde, trotz Stilunsauberkeiten, die zeitgebunden sind und für die sie nichts kann, ist sie eine der anrührendsten Euryanthes, die ich bisher gehört habe; eine helle Stimme, lyrisch, wo es notwendig ist, und von großer dramatischer Kraft in den Ensembles – allein ihretwegen lohnt sich diese Aufnahme.  Auch Sigrid Ekkehard als Eglantine und Rudolf Gonszar als Lysiart trifft oben Gesagtes ebenfalls zu – beide singen eigentlich Ortrud und Telramund und keinen Weber und sind doch bemerkenswerte und gestalterisch überzeugende Sänger.  (2 CD RELIEF CR 1926). Matthias Käther

 

Liebe in Feinripp

 

Vermummte und Maskierte dringen des Nachts in den Schlafraum des Königs. Höhnisch präsentieren sie ihm seinen gequälten und vergewaltigten Geliebten in einem Brautkleid. Edward und Gaveston werden auf die Knie gezwungen, in einer pervertierten Hochzeitsszene mit einander vermählt und anschließend erstochen. Ein Engel bleibt zurück und streicht Edward über den Kopf, „Fürchte dich nicht!“. Ein Alptraum, aus dem der König hochschreckt und in die Arme seines Geliebten flüchtet. Die ebenfalls hinzueilende Gattin Isabella wird des Raums verwiesen, „In meinem Schlafzimmer hast du nichts zu suchen“. In den zehn Szenen, die Thomas Jonigk zu einem Libretto für den 46jährigen Andrea Lorenzo Scartazzini schrieb, nimmt der Alptraum das Ende vorweg, das mit der brutalen Schändung der beiden Männer endet. Als Aufgangspunkt dient Jonigk vor allem Christopher Marlowes Drama Edward II. mit seinem ausführlichen Titel The troublesome raigne and lamentable death of Edward the second, King of England and the tragical fall of proud Mortimer von 1593, das er auf die Beziehung Edwards zu Gaveston reduziert; der Fall des Mortimer wird nebenbei behandelt. Nach 20jähriger Herrschaft wurde Edward II. (1284-1327) im Januar seines Todesjahres zur Abdankung gezwungen und am 21. September 1327 und ermordet, „vermutlich, indem man eine glühende Eisenstange durch ein abgesägtes Kuhhorn in seinen After stieß“, wie die beiden Tourguides wissen, mit denen Jonigk vom 12. ins 21. Jahrhundert schwenkt, was auch die etwas gedrechselte und brave Sprache erklärt. Edwards Jungfreund Gaveston war bereits 1312 von rebellischen Adeligen, enthauptet worden. Die beiden Touristenführer wissen noch mehr, „Aufgrund seiner sexuellen Orientierung und der Diskriminierung und Kriminalisierung seine Person… ist er bis heute eine identitätsstiftende Figur der Homosexuellenbewegung sowie Inspiration für Historiker und Künstler“.

Na also, wer zuvor nicht gegoogelt hatte, wird aufgeklärt. Das ist so bemüht wie die ganze Oper. Edward, wie ihn Jonigk schildert, ist trotz des unglücklichen Lebens und brutalen Ende keine durchgehend sympathische Figur. Nichts lässt er unversucht, seine Umgebung – siehe seine Gattin – den Klerus und die Bevölkerung mit seiner offen zur Schau getragenen Liebe zu Gaveston zu brüskieren. Wie ein mittelalterliches Moritatenstück wird die Geschichte ohne Brüche und dramaturgische Wendungen abgehandelt. Ein gutes halbes Jahr nach der Berliner Uraufführung von Edward II. liegt die 90minütige, durchaus länger wirkende Oper, von Oehms Classics großzügig auf zwei CDs verteilt, auf Tonträger vor (OC 969 2 CDs).

Dieses handfest altmodische und etwas trockene Musiktheater, das an 60er Jahre-Opern erinnert, hat der Schweizer Andrea Lorenzo Scartazzini instrumental wundersam, mal robust, mal klangfein aufgemischt zwischen Alptraum und Gegenwart und Engelssphäre, zumeist handfest und gar nicht irgendwie ausgetüftelt und geklügelt. Singbares lastet auf den Schultern der Interpreten. Michael Nagy verfügt über ausreichend Präsenz, um selbst Isabellas Hinauswurf aus dem Schlafzimmer verführerisch klingen zu lassen – Isabella selbst ist mit ihren zerhackten, gläsern starren Koloraturen (ausgezeichnet: Agneta Eichenholz) die enttäuschte und rächende Ehefrau – und der sehnsüchtig singende Ladislav Elgr gibt den Gaveston mit Kultur. „Was für ein schönes Paar“ singt Jarrett Otts achtsamer Engel; ein bisschen etwas davon hätte man gerne gehört, etwa Leidenschaft. Es gibt ein für Komik zuständiges Paar à la Shakespeare, das Markus Brück und Gideon Poppe in unterschiedlichen Gestalten als Geistliche, Ledertrinen, Wärter und Guides übernehmen, Burkhard Ulrich ist prägnant als Bischof, Andrew Harris eigentlich farblos als Mortimer, Mattis van Hasselt niedlich als kleiner Edward („Mama, was heißt geil?“). Thomas Søondergard dirigiert Chor und Orchester der Deutschen Oper so hingebungsvoll, wie es eine Uraufführung fordert  Rolf Fath

Vor und hinter dem Mikrophon

 

„Dich, teure Halle, grüß ich wieder“: Das DDR-Fernsehen hatte 1963 zum 150. Geburtstag Richard Wagners den um das Finale des ersten Aufzugs erweiterten Mittelakt des Tannhäuser ausgestrahlt. Gedreht wurde auf der Wartburg bei Eisenach, wo die Oper inhaltlich angesiedelt ist. Es war eine meiner ersten Begegnungen mit Wagner, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Nahezu photographisch hatte sich mir die Hallenarie der Elisabeth eingeprägt Getragen vom Fluss der Musik eilte sie durch einen langen Gang, der zu einer Seite von romanischen Säulen begrenzt ist, direkt auf mich zu. Damals dachte ich, sie müsse aus dem Bildschirm herauskommen. In all den Jahren, die seither verstrichen sind, habe ich immer mal wieder an diesen Tannhäuser-Film denken müssen. Wann und wo ich das Gespräch dazu suchte, niemand konnte sich daran erinnern. Sollte es den Film am Ende gar nicht gegeben haben? Es gab – und es gibt ihn! Auf der Wartburg wird er ganz offiziell als DVD aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Lizenz für Telepool angeboten.

Die DVD kann im Museumshop auf der Wartburg erworben oder bestellt werden.

Mich befiel leichtes Herzklopfen, als ich die Scheibe in den Player schob. Als würde man plötzlich etwas wiedersehen, was verloren schien. Ja, genau so war das mit der Elisabeth. Nur das Gemäuer ist nicht mehr so schäbig und verfallen. Die Wartburg glänzt heute, wie sie nie geglänzt haben dürfte. Die Handlung setzt mit dem Lied des Hirten ein, der im Gras an einem Stöckchen herumschnitzt. In der Ferne erklimmen die Pilger entschlossen den Berg hinauf zur Burg. Damals blühte der Mai im Fernsehen noch grau. Empfang in Farbe gab es in der DDR erst von 1969 an, zwei Jahre später als im Westen. Geräusche der Natur bleiben ausgespart. Kein Vogel zwitschert in dieser Landschaft. Nur etwas später, wenn die Sänger mit ihrem Gefolge in die Burg einziehen, klappern die Pferde mit ihren Hufen auf dem holprigen Pflaster. Ansonsten ist alles Musik, die aus der Konserve kommt. Es empfiehlt sich, sehr genau hinzuhören. Der Hirt ist auf der Besetzungsliste und auch im Abspann nicht genannt. Wer sich einigermaßen auskennt, wird auf Anhieb die Stimme von Maria Croonen identifizieren, die an der Oper in Leipzig ihre größten Erfolge im lyrisch-dramatischen Fach feierte. Nicht aber die Person. Die Croonen sah ganz anders aus. Spätestens dann, wenn Tannhäuser ins Bild tritt und sein „Allmächt’ger, dir sei Preis“ mit inbrünstiger metallischer Wucht herausschleudert, dämmert es, dass dem Film eine ganz bestimmte Aufnahme des DDR-Rundfunks untergelegt wurde. Kein Zweifel, es ist die Stimme des Heldentenors Ernst Gruber, der bis zu seinem Tod 1979 an der Berliner Staatsoper wirkte, aber auch in Leipzig als Rienzi oder Lohengrin Eindruck machte. Sein etwas unbeholfen agierender Darsteller ist ein gewisser Wolfgang Nagel, der in der greifbaren Literatur und auch im Netz keine Spur hinterlassen hat. Elisabeth entpuppt sich stimmlich als Brünnhild Friedland, der Landgraf als Hans Krämer, Wolfram als Kurt Rehm und Walther von der Vogelweide als Gert Lutze.

Der Soundtrack des Films ist eine Produktion des DDR-Rundfunks aus Leipzig mit Ernst Gruber in der Titelrolle. Sie ist bei Walhall erschienen (WLCD 0222).

Die Aufnahme, bei der sich der Film akustisch bediente, war bereits 1954 in Leipzig entstanden und ist schon vor Jahren bei Walhall auf CD gelangt und noch zu haben (WLCD 0222). Sie bildet auch ein Kapitel deutsch-deutscher Musikgeschichte ab. Die Friedland verließ die DDR, kehrte 1970 zurück, um später Richtung Westen ausgewiesen zu werden, wo sie künstlerisch nicht mehr Fuß fassen konnte. Lutze, der Medizin studiert hatte, war als Quereinsteiger in Leipzig zunächst als Bach-Solist bekannt geworden, wirkte aber auch in zahlreichen Opernproduktionen für das Radio mit. In Operettenaufnahmen trat er unter dem Pseudonym Charles Geerd auf. Auch Lutze kehrte der DDR enttäuscht und genervt den Rücken und ließ sich später in Süddeutschland als Hautarzt nieder. Gestorben ist er 2007 im Alter von neunzig Jahren in München. Rehm, im Westteil Berlins zu Hause, blieb auch nach dem Bau der Mauer bei der Staatsoper unter Vertrag, wo er besonders in Verdi-Rollen geschätzt wurde. Als der Film entstand, war Geerd Lutze schon weg. Ist das ein Grund gewesen, warum die Sänger nicht genannt werden? Die DDR nahm schwer übel, wenn jemand ging. Oder wurde nach der damals noch immer verbreitete Praxis verfahren, bei Opernverfilmungen nur die Schauspieler, nicht aber die Sänger zu benennen? Und die sind bis auf eine Ausnahme nicht identisch mit den Darstellern. Hans-Peter Schwarzbach spielt und singt den Heinrich der Schreiber. Dieser Tenor hatte einen guten Ruf. Seine Glanzrolle war der David in den Meistersingern, den er auch in der Eröffnungsinszenierung der Berliner Staatsoper 1955 sang.

Und die anderen? Wieder einmal erweist sich das Buch „Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz“ von Werner P. Seiferth als wichtige Quelle. Hajo Müller, selbst ein stimmgewaltiger Bass, den ich noch in Weimar gehört habe, mimt den Landgrafen, hätte ihn aber durchaus statt Hans Krämer singen können. Achim Wichert, der agierende Wolfram, ist in dieser Rolle auch in Leipzig auf der Bühne nachgewiesen. Das Double von Lutze als Walther ist Harald Joachim, der am Theater in Eisenach auftrat und dort später Regie führte. Evelyn Bölicke, die als Elisabeth so starken Eindruck auf mich junges Ding gemacht hatte und die am Ende auch richtige Tränen vergoss, tauchte 1964 in der Verfilmung von Offenbachs Ritter Blaubart durch Walter Felsenstein als Heloise wieder auf. Weil also die Schauspieler selbst Sänger gewesen sind, können sie bei der Synchronisation glaubhaft agieren. Deshalb kommt zunächst gar kein Gedanke daran auf, das jene, die spielen gar nicht singen. Genannt werden aber Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig unter der Leitung von Gerhard Pflüger, der bei Fritz Busch studierte und Generalmusikdirektor in Weimar gewesen ist.

Diese Produktion hat also ihren ganz eigenen Sammlerwert. Ihr anrührender Charme kann aber nicht über ein schwerwiegendes Manko hinwegtäuschen. Der Sängerkrieg findet nicht im großen Saal auf der Wartburg statt, der nach ihm benannt ist. Die Darsteller müssen sich in drangvoller Enge mit einem nicht näher bezeichneten Raum begenügen. Dadurch wirkt die Szenerie etwas schäbig und kleinkariert. Trotzdem ist diese DVD als durch und durch historischen Dokument zu empfehlen. Sie kostet weniger als fünf Euro und kann direkt im Museumsshop der Wartburg (https://shop.wartburg.de) bezogen werden. Rüdiger Winter

Das Foto oben ist ein Screenshot auf dem Film. Es zeigt Elisabeth bei ihrer Hallenarie. Dargestellt wird sie von Evelyn Bölicke, gesungen von Brünnhild Friedland.

Streng und asketisch

 

Der in Graz geborene österreichische Dirigent Hans Rosbaud (1895-1962) ist heute am ehesten noch ein Begriff als Interpret zeitgenössischer Musik. Er leitete Erstaufführungen von Messiaen, Boulez und Stockhausen und vor allem die konzertante Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron. Dass sich Rosbaud aber auch intensiv mit der Romantik und Spätromantik beschäftigte, ging darüber hinaus weitgehend unter. SWR Classic widmet diesem weniger bekannten Kapitel nun nicht weniger als drei Veröffentlichungen. Eine erste CD beschäftigt sich mit Wagner (SWR19036CD), eine zweite mit Weber und Mendelssohn (SWR19036CD). An Umfang deutlich ambitionierter ist die jüngste Publikation, eine acht CDs umfassende Box mit acht Sinfonien von Anton Bruckner (SWR19043CD). Rosbaud hat mit dem Südwestfunk-Orchester, dem er ab 1948 vierzehn Jahre bis zu seinem Tode vorstand, in seinen letzten sieben Lebensjahren die Sinfonien Nr. 2 bis 9 seines Landsmannes Bruckner eingespielt; eine das Projekt abschließende Aufnahme der ersten Sinfonie scheiterte höchstwahrscheinlich nur am frühen Ableben des Dirigenten.

Die Einspielungen entstanden mit einer Ausnahme von 1955 (Sinfonie Nr. 8) bis 1962 (Sinfonie Nr. 5) im Studio des Südwestfunks in Baden-Baden, dem heutigen Hans-Rosbaud-Studio. Allein die siebte Sinfonie wurde 1957 im Südwest-Tonstudio in Loffenau eingespielt. Es ist angesichts der hohen künstlerischen Qualität dieser Interpretationen bedauerlich, dass auch die spätesten der Aufnahmen nur in Mono vorliegen, auch wenn sich Gerüchte über eine Stereoveröffentlichung der Siebten halten (das Beiheft gibt darüber indes keine weiteren Auskünfte). Immerhin wurde viel Mühe in das Remastering der Originalbänder des SWR gesteckt, so dass die Tonqualität in allen Aufnahmen als durchaus akzeptabel zu bezeichnen ist. Anders als der etwas jüngere Eugen Jochum, der als Bruckner-Dirigent ungleich größere Berühmtheit erlangte, ist Rosbauds Stil in Sachen Bruckner nüchterner und sachlicher ausgelegt. Feierlichkeit oder gar Weihecharakter sucht man hier vergebens. Insofern kommt man kaum umhin, Rosbaud als den „moderneren“ Interpreten anzusehen, vielleicht vergleichbar mit dem ebenfalls weitgehend vergessenen Schweizer Volkmar Andreae, der eine beachtliche Gesamtaufnahme – die erste überhaupt – bereits 1953 vorlegte. Zumindest widerlegen diese beiden Beispiele eindrucksvoll, dass Bruckner früher stets übervoll an katholischem Pathos gewesen sei.

Was die bei Bruckner in besonderer Weise komplexe Frage der unterschiedlichen Fassungen betrifft, hält sich Rosbaud an die noch heute dominierenden Editionen von Robert Haas und Leopold Nowak, die Bruckners letzte Hand berücksichtigen. Etwaigen Kürzungsvorschlägen folgt er mitnichten. Zum Zeitpunkt der hier vorliegenden Aufnahmen war es noch keineswegs unstrittige Regel, Fassungen auszuwählen, die fremde Eingriffe so gering wie möglich halten. Der berühmtere Dirigentenkollege Hans Knappertsbusch spielte bis zuletzt unbeirrbar die aus heutiger Sicht „entstellenden“ Fassungen von Schalk und Löwe; die Decca ließ 1956 gar noch die in ihrem Charakter stark veränderte fünfte Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern unter Knappertsbusch einspielen. Anders als dieser vermeidet Hans Rosbaud in seinen Deutungen eine ekstatische, von mitunter sehr eigenwilliger Agogik gezeichnete Interpretation des Bruckner’schen Œuvre. Sein Stil ist vielmehr streng, verfolgt ein gleichmäßiges Tempo und ist gleichsam asketisch anmutend. Bildlich gesprochen hat man hier gewissermaßen eine Art protestantischen Bruckner vorliegen – und das von einem Österreicher. Auch der frühen und seinerzeit selten gespielten zweiten Sinfonie lässt Rosbaud jene Sorgfalt zukommen, die die späteren Werke auszeichnen. Die Tempi sind nicht in jedem Fall so flott, wie man glauben möchte. In der Richard Wagner gewidmeten Dritten lässt sich Rosbaud im Finale etwa deutlich mehr Zeit als Jochum, ohne freilich die ausdehnte Spielzeit Sergiu Celibidaches zu erreichen. Die „Romantische“ kommt gänzlich unprätentiös daher, mit knapp 65 Minuten geschlagene 21 Minuten schneller als Celibidaches letzte Aufnahme davon. Die bekannte Coda ist zielgerichtet, ohne romantische Gefühlsduselei. Rein temporal betrachtet, sticht Rosbauds Fünfte – in gewisser Weise die Krönung im sinfonischen Schaffen Bruckners – mit etwa 76 Minuten Spielzeit gar nicht besonders heraus. Von Weihrauchschwaden ist hier nichts zu merken; wer diese sucht, wird enttäuscht werden.

Freilich erweist sich die eben doch eingeschränkte Tontechnik gerade in den musikalischen Höhepunkten als hinderlich. Dies tritt neben der fünften besonders in der achten und neunten Sinfonie zu Tage, gleichsam der besonders großformatigen Trias. Das Südwestfunk-Orchester verrichtet seine Arbeit weitgehend völlig tadellos. Allerdings vermisst man doch hie und da die orchestralen Raffinessen, die Spitzenorchester auszeichnen. Ab und an ist Rosbauds betont unprätentiöser Zugang dann doch zuviel des Guten. Im Finale der Achten verfehlt er die Vorschrift Feierlich, nicht schnell mit allzu beschwingten 19:27 einigermaßen deutlich. Erstaunlich getragen dafür das Adagio mit 26 Minuten. Sehr gelungen auch das Scherzo der Neunten, das hier unerbittlich hämmernd und geradezu spukhaft erklingt. Großartig und trotz der tontechnischen Mängel eindrucksvoll in seiner Klarheit der langsame Satz. Dass Rosbaud den rekonstruierten Schlusssatz der neunten Sinfonie nicht einspielte, nicht einspielen konnte, ist selbstredend zeitbedingt.

Die SWR-Box kommt sehr hochwertig und gediegen daher. Ihr liegt ein informatives Booklet mit ausgezeichneter Einführung von Hartmut Lück in deutscher Sprache und in englischer Übersetzung bei. Die Aufnahmedaten und -orte sind akribisch vermerkt nebst der Verzeichnung der jeweiligen künstlerischen Aufnahmeleiter und Toningenieure (soweit bekannt). Auch die vom Dirigenten gewählten jeweiligen Fassungen sind vermerkt, so dass eine genaue Zuordnung ein Leichtes ist. Eine höchst willkommene, großartig aufbereitete Neuerscheinung. Daniel Hauser

Aus Bayreuther Truhen

 

Orfeo unterbricht seine Bayreuther Festspielserie mit Beethoven. Dessen 9. Sinfonie hat in Bayreuth stets eine ganz besondere Rolle gespielt. Richard Wagner führte sie bei der Grundsteinlegung des Festsspielhauses am 22. Mai 1872 im Markgräflichen Opernhaus auf, das er ursprünglich für seinen Ring des Nibelungen in Erwägung gezogen hatte. 1933, nach dem Nachtantritt der Nationalsozialisten, hatte Richard Strauss an diese Tradition angeknüpft. Die nächste Aufführung gab er erst wieder 1951, zur Eröffnung der Nachkriegfestspiele, die einen Neubeginn markierten. Dafür kehrte Wilhelm Furtwängler nach Bayreuth zurück. Er kam noch einmal 1954, in seinem Todesjahr wieder, um die Sinfonie zu leiten. 1953 hatte der dirigierende Komponist Paul Hindemith diese Aufgabe übernommen. Dann war Pause bis 1963 – einem Wagnerjahr. Gedacht wurde des 150. Geburtstags und des 80. Todestages. Mit Karl Böhm, der sich in der vorangegangenen Saison als gefeierter Tristan-Dirigent in Bayreuth eingeführt hatte, kam zugleich ein ausgewiesener Beethoven-Kenner. In Gundula Janowitz, Grace Bumbry, Jess Thomas und George London stand ihm ein erfahrendes Solistenquartett zur Verfügung. Für die beiden Damen war es der Abschied von Bayreuth. Sie waren nur für dieses Konzert angereist und kehrten nicht wieder zurück. Thomas kam im selben Jahr noch als Parsifal und Walther von Stolzing zum Zuge, London als Amfortas.

Der bei Orfeo herausgekommene Mitschnitt stammt vom 23. Juli 1963 (C 935 171 B). Peter Emmerich, der den Bereich Presse, Kommunikation und Marketing leitet, hat sich im Archiv umgetan und beachtliche Zahlen und Fakten zusammengetragen. Demnach hatten auf der Bühne 150 Musiker des Festspielorchesters Platz genommen. Der Chor war um 90 Laien-Sänger auf 217 Mitglieder verstärkt worden – „einige Berichte steigerten überwältigt vom grandiosen Anblick die Zahlen sogar auf über 300 Chormitglieder oder schrieben von insgesamt 500 Mitwirkenden“. Seine Einmaligkeit bezieht das Konzert allerdings aus der Fassung der Sinfonie, wie sie Wagner selbst für seine Aufführungen eingerichtet hatte – „mit mehreren instrumentalen Retuschen“. Emmerich nennt vierfach besetzte Holzbläser und die Verdoppelung der Hörner. „So gab es einige ungewohnte Akzentuierungen im melodischen Gefüge.“ Nicht ohne Einfluss auf das Gesamtbild schien auch die Akustik des Hauses geblieben zu sein. Emmerich zitiert Kritikerstimmen, denen die eine oder andere Stelle merkwürdig „wagnerisiert“ geklungen habe. „Der klassische Beethoven … eignet sich halt nicht für eine solche Breitwandaufführung“, vermerkte die „Frankfurter Neue Presse“. Nach den Recherchen von Emmerich „waren sich schließlich dennoch ausnahmslos alle Kritiker in ihrem enthusiastischen Gesamturteil einig“. Es versteht sich, dass der Dirigent daran den größten Anteil hatte. Böhm kam bei der Kritik auch deshalb so gut weg, weil er ein „hohes Maß an klassischer Zucht“ zeigte, „das kein romantisches Abgleiten zuließ. Er habe das „Formbild des Werkes in vollendeter Schönheit“ gegeben. Das Erlebnis sei von Böhm ausgegangen. Lässt der Mitschnitt auf CD diesen Schluss auch nach mehr als fünfzig Jahren zu? Für mich schon. Insofern war es eine gute Idee der Herausgeber, die Eindrücke von damals ziemlich ausführlichen wiederzugeben, damit sich die Hörer von heute ihr eigenes Urteil bilden können. Ein durch und durch phantastisches Klangbild wird dabei behilflich sein. Es gibt trotz der erweiterten Besetzung keine Übersteuerungen, Solisten und Chor sind sehr präsent und immer gut zu verstehen.

 

Mit dem „Lohengrin“ unter der Leitung von Rudolf Kempe hat Orfeo auch dieses Werk zweifach im Bestand.

Indessen hat Orfeo seiner Festspielreihe den zweiten Lohengrin hinzugefügt. Auf den Mitschnitt von 1959 folgt nun eine Aufnahme vom 30. Juli 1967 (C 850 113D). Warum diese und keine andere? Nicht immer ist die Auswahl, die Orfeo trifft, nachvollziehbar. Den glanzvollen Höhepunkt der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Lohengrin markiert für mich das Jahr 1972. Unter der Leitung von Silvio Varviso sangen Hannelore Bode die Elsa, Ursula Schröder-Feinen die Ortrud, René Kollo den Lohengrin, Donald McIntyre den Telramund und Karl Ridderbusch den König. Prachtvoller hat Wagner selten geklungen wie damals. Die Inszenierung war dieselbe wie 1967, als sie erstmals über die Bühne ging. Mit der Neuinszenierung von Wolfgang Wagner begann diese schwierige Saison. Wieland lebte nicht mehr. Er war am 17. Oktober 1966 gestorben. Sein Bruder musste die Last des berühmtesten deutschen Festivals fortan allein tragen. Bei dem Mitschnitt handelt es sich nicht um die Eröffnungspremiere. Orfeo entschied sich mit seiner Ausgabe für die Wiederholung eine Woche später, bei der James King Sandor Konya in der Titelrolle abgelöst hatte. Das sollte nicht der einzige Wechsel der Saison bleiben. In den weiteren Vorstellungen sangen noch Jess Thomas und Hermin Esser, der ursprünglich nur als einer der vier brabantischen Edlen besetzt war. Es ist der erste Lohengrin Kings, der auf Tonträgern überliefert ist.

King war kein Neuling in Bayreuth. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er als Siegmund auf sich aufmerksam gemacht, eine Rolle, die ihm mehr lag als der lyrische Lohengrin. Sein Schwanenritter lässt technisch keine Schwierigkeiten erkennen. King ist sehr sicher und professionell – und bestens zu verstehen. Der Auftritt wie aus einer anderen Welt. Metallisches Timbre ist sein unverkennbares Markenzeichen. Defizite offenbaren sich in der Gestaltung, die zu eindimensional und zu distanziert bleibt und die durchaus magische Stimmung bei der Ankunft nicht zu steigern vermag. Was sich schon Anfang der 1960er Jahre abgezeichnet hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Mit diesem Lohengrin wurden die Besetzungen bei den Festspielen noch internationaler. King, Grace Hoffman (Ortrud) und Thomas Tipton (Heerrufer) kamen aus den USA, Heather Harper (Elsa) aus Großbritannien und Donald McIntyre (Telramund) aus Neuseeland. Einzig Karl Ridderbusch (König Heinrich), die Edlen und die Edelknaben waren deutscher Zunge. Zu spüren ist das nicht. Nur wer genau hinhört und das Werk aus dem Effeff kennt, dem fallen die Petitessen bei der Aussprache auf – eine falsche Betonung, eine verschluckte Endung, ein verwischter Konsonant. Viel mehr nicht. Was ausnahmslos alle Solisten leisten, um dieses Werk als die romantischste aller deutschen Opern zum Klingen zu bringen, stellt sich auch heute noch als beachtlich dar.

Für Heather Harper war die Elsa nur ein kurzes Gastspiel bei den Festspielen. Sie kehrte in der Rolle 1968 nur noch einmal zurück. Bleibenden Eindruck sollte sie nicht hinterlassen. Kritiken, die im Booklet zitiert werden, rühmen ihren „leidenschaftlichen Ausdruck“. Sie habe „eine sehr edle, sehr mädchenhaft empfindungsreiche und stimmlich beseelte Elsa“ voller „Reinheit und Süße“ gegeben. Fünfzig Jahre danach klingt der Mitschnitt anders. Obwohl erst siebenunddreißig Jahre alt, fehlt es ihr nach meinem Eindruck gerade an jugendlichem Ausdruck. Sie wirkt sehr bemüht und etwas zugeknöpft. Unter historischen Gesichtspunkten sind diese zeitgenössischen Kritikermeinungen dennoch höchst interessant. Einige Urteile haben über die zeitliche Distanz nicht gehalten. Wahrnehmungen wandeln sich genauso wie der Vortragsstil. Und dass Grace Hoffmann die Ortrud „fast zu schön“ gesungen haben soll, dürfte zudem nur aus der Tatsache zu erklären sein, dass Astrid Varnay als ihre Vorgängerin besonders scharfe Akzente gesetzt hatte. Schön klingt anders. Schön hat die Rolle Christa Ludwig gesungen, die damit leider nicht in Bayreuth aufgetreten ist. Die Hoffman ist mir zu farblos. Bayreuth-Debütant McIntyre wirkt auf mich stilistisch am modernsten. Er stand am Beginn seiner Wagner-Karriere, in deren Verlauf er als Holländer, Wotan, Holländer, Kurwenal und Amfortas starke Akzente setzte. Tipton erweist sich für den Heerrufer als wenig geeignet, weil er seine Verlautbarungen streckenweise wie Arien vorträgt. Allseits perfekt agiert Karl Ridderbusch als milder, ja sanfter und nachdenklicher König, dem das Schicksal Elsas nahe zu gehen scheint. Zumindest klingt es so. Er ist vom Erscheinen Lohengrins selbst tief ergriffen. Rasch wird er aber erkennen, dass Gott nicht nur Elsa, sondern auch ihm selbst den Retter in der Not geschickt hat, um die aufmüpfigen Ungarn mit Waffengewalt in die Schranken weisen zu können.

Rudolf Kempe dirigierte 1967 seinen ersten Lohengrin in Bayreuth. Den viel beachteten Einstand hatte er 1960 mit dem Ring des Nibelungen gegeben. Im Booklet zitiert Peter Emmerich, Leiter des Pressebüros, auch die „Nürnberger Nachrichten“, die zu dem Schluss gelangen, dass Kempe nunmehr „mit dem Festspielorchester weit substanzieller“ umgehe, „als man das von ihm bisher auf dem grünen Hügel gewohnt war. Da ist Kraft, Farbe und Wohllaut“. Er habe die Partitur ganz von ihren „lyrischen Seite“ genommen. „Dabei blieb Kempe stets in den Grenzen einer sozusagen symphonischen Kammermusikalität, besorgt um durchsichtige Struktur, um die klare Scheidung des tonalen Grundkolorits der Gralsklänge und der finsteren Welt Ortruds…“. Durchgehend finde ich diese Einschätzung – so wie bei den Wertungen der Stimmen – nicht bestätigt. Vielmehr weist der Mitschnitt Kempe als Dramatiker aus, der es auch schon mal kräftig krachen lässt.

 

Mit dem „Ring des Nibelungen“ von 1961 ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, nun dreimal im Orfeo-Katalog (C 928 613 Y).

Noch ein Ring aus Bayreuth gefällig? Der wievielte eigentlich? Ich habe sie nicht gezählt. Schon auf die Gefahr hin, am Ende einen vergessen zu haben. Nach Keilberth, Knappertsbusch, Krauss, Böhm, Boulez, Barenboim, Thielemann nun auch Rudolf Kempe. Seit er für die EMI einen Querschnitt durch das Rheingold mit angepassten Übergleitungen zwischen den einzelnen Szenen (1959), die Meistersinger-Gesamtaufnahmen (1951 in Dresden und 1956 EMI) und einen kompletten Lohengrin (1963 EMI), dem 1951 die Münchner Rundfunkproduktion bei BASF vorausgegangen war, vorgelegt hatte, war sein Name mit Wagner unauflöslich verbunden. Insofern war es nur logisch, dass er auch nach Bayreuth gerufen wurde. Dort dirigierte er den Ring des Nibelungen zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist zuletzt der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y). In Mono, dafür aber wie immer sorgfältig aufgefrischt. Seinen hohen Ansprüchen an den Klang bleibt das Label auch mit dieser Neuerscheinung treu. Aus den Lautsprechern soll möglichst viel von dem herüber kommen, was das Publikum einst im Festspielhaus gehört hat. Alle in der Reihe erschienen Aufnahmen – den neuen Lohengrin einbezogen – dokumentieren also nicht nur Sänger, Orchester und Dirigenten – sie dokumentieren auch die Akustik, die Atmosphäre, die Stimmung einschließlich aller möglichen Bühnengeräusche und Befindlichkeiten der Atemwege des Parketts, die sich in befreiendem Husten äußern. Als würde Luft in Gläsern konserviert. So etwas grenzt an Wunder. Das Unmögliche gelingt. Auf CD kamen auch diesmal die jeweiligen Abende. Nachträglich wurde nicht herumgeschnippelt, um aus verschiedenen Bändern eine astreine Vorstellung zusammenzubasteln. Beifall darf auch sein, weil der damals in Bayreuth meist zustimmend gewesen ist. Vorstellungen endeten nicht in einem Buh-Orkan, der sich in der Regel gegen die Regie richtete. LIVE ist im Logo der Bayreuther Festspielserie von Orfeo nicht ganz zufällig in Gold, Versalien und in herausragender Schriftgröße verankert. Live bedeutet Programm, Versprechen und Anspruch. Live ist, was wirklich geschah.

Die Sensation im „Tannhäuser“ aus dem Jahre 1961 war die Venus von Grace Bumbry (C 888143).

Dieser Ring des Nibelungen bewahrt auch die Patzer, die im Studio kein Aufnahmeleiter durchgehen ließe. Sie stören nicht, weil sie ein zutiefst menschlicher Faktor sind. Kempe war für die Neuinszenierung von Wolfgang Wagner engagiert worden. Sie löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Im zweiten Jahr, in dem aufgezeichnet wurde, legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit hatte sich Wolfgang endgültig auch als Regisseur etabliert. Kempe ist nicht vom ersten Ton an voll da. Er steigert sich. Im Rheingold fallen noch Koordinierungsschwierigkeiten zwischen Orchester und Bühne auf, gegen Ende des Vorspiel zum zweiten Aufzug der Walküre gibt es ein undefinierbareres Gewirr und beim Walkürenritt sollte man auch nicht zu genau hinhören. Nach und nach klingt es immer prachtvoller und sicherer aus dem Graben herauf. Gar nicht so leicht und transparent, wie gelegentlich zu lesen ist. Kempe packt durchaus auch kräftig zu und dreht gewaltig auf. Manchmal sind die Stimmen zu vordergründig. Dadurch verschieben sich akustische Proportionen. Besonders auffällig wird das im ersten Aufzug der Walküre.

Régine Crespin und Fritz Uhl als Sieglinde und Siegmund fallen fast aus den Lautsprechern heraus. Ich war versucht, im Nebenzimmer nachzuschauen, ob sie sich dort aufhalten. So nahe sind sie. Wie kommt das? Sind die Mikrophone mit dieser Wirkung positioniert gewesen oder wurde beim Remastering vielleicht doch ein wenig zu stark an der Sängerschraube gedreht? Am meisten gewinnt dadurch die Wortverständlichkeit. Die Solisten, zu denen noch Gottlob Frick als auch stimmlich schwer bewaffneter Hunding tritt, sind ihre eigenen Textbücher. Angehende Sänger sollten sich das anhören. Sie würden sich – nicht zu ihrem Schaden – in einer Unterrichtsstunde für genaue Artikulation wiederfinden. Uhl ist zwar etwas deftig, singen aber kann er. Seine Reserven sind unbegrenzt. Eine Stimme, die nichts umhaut. Die Wälse-Rufe kommen aus voller Brust. Lyrik ist nicht seine Stärke. Die Crespin, holt aus ihrer Partie gestalterisch alles heraus, was ihr möglich ist. Die Rolle sitzt. Dennoch klingt sie etwas angestrengt, trocken und reserviert. Sechs Jahre später wird sie bei den ersten Salzburger Osterfestspielen die Brünnhilde in der Walküre singen. Was ihr erst bevorsteht, hat Astrid Varnay, ohne die das Nachkriegsbayreuth nicht vorstellbar ist, vernehmbar hinter sich. Nämlich ihre besten Tage als Brünnhilde. Sie singt die Rolle in der Walküre, in Siegfried und Götterdämmerung übernimmt Birgit Nilsson. Bei ihr sind für den besseren Sitz der Töne und die klaren Höhen Abstriche in der Ausdeutung die Figur hinzunehmen. Selten habe ich bei der Nilsson so wenig verstanden. Was die Varnay nur noch antippen kann, schleudert die Nilsson, ohne mit der Wimper zu zucken, heraus. Dabei sind beide gleichaltrig, geboren 1918 in Schweden.

Dramatik pur: Der gespenstische „Fliegende Holländer“ unter der musikalischen Leitung von Hans Knappertsbusch (C 692092).

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen – kein anderer als Frick – im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Grünen Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erwies er sich als eine der Stützen dieser Produktion.

Ein Fall für sich ist Otakar Kraus als Alberich. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er schon 1957 in der Produktion in Covent Garden der Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Ursprünglich stammt Kraus aus Prag. Dort wurde er 1909 geboren. Internationale Berühmtheit erlangte er mit dem Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Dann fehlt einem schon der Gustav Neidlinger, der in Bayreuth als Alberich von niemandem ausgestochen wurde. Gerhard Stolze wabert als Loge umher und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er den Mund aufmacht. Mime ist mit Herold Kraus grundsolide besetzt und produziert gelegentlich selbst Töne wie ein Heldentenor. Grenzen werden als darstellerischer Effekt gut verkauft. Kraus ist ein Profi allererster Güte, der heute Mime und morgen Pedrillo oder Jaquino sang.

Der erste „Lohengrin“, den Orfeo in seiner Festspielreihe veröffentlichte, stammt von 1959 (C 691063).

1961 war manches anders als in den Jahren zuvor. Es zeigte sich auch in Bayreuth, dass die Opernhäuser und mehr noch die Festivals zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Mit Jerome Hines als Wotan und James Milligan als Wanderer teilten sich erstmals ein Amerikaner und ein Kanadier die Rolle des Chefgottes. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan Wurzeln geschlagen hatten, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan ist gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt dieses Mitschnittes, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wird. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

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Mit Thomas Stewart als Donner und Gunther tritt noch ein Amerikaner in Erscheinung, der die kommenden zehn Jahre in Bayreuth maßgeblich mit prägen sollte – dann aber als Holländer, Wotan und Amfortas. Erst am Ende seiner Zeit bei den Festspielen gönnte er sich 1972 nochmals einen Gunther, der als eine der undankbarsten Rollen im ganzen Ring gilt. Als Episode erweist sich der Fasolt des Schotten David Ward, der sich in anderen Häusern als Wotan oder Holländer einen Namen gemacht hatte. Seien Bruder Fasolt, der im Siegfried als Wurm wiederkehrt, ist mit Peter Roth-Ehrang untadelig besetzt. Nur einmal kam der Amerikaner David Thaw als Froh bei den Festspielen vorbei. Sein Auftritt bleibt blass. Damit wurde eine Chance vertan, die Bedeutung der kleinen Rolle gebührend herauszustellen. Froh weist nach dem Gewitter im Rheingold der Regebogenbrücke den Weg nach Walhall. Für mich gehört diese Szene zu den allerschönsten Erfindungen von Wagner. Ich würde sie mit einem Tenor besetzen, der den Zuschauern durch Schöngesang den Atem verschlägt. Thaw aber verschlägt nichts.

Im "Parsifal" von 1964 unter der Leitung von Hans Knappertsbusch singt Jon Vickers die Titelrolle (C 690074 L).

Im „Parsifal“ von 1964 sang Jon Vickers die Titelrolle. Zum letzten Mal leitete Hans Knappertsbusch das Werk. Damit ging eine Ära zu Ende (C 690074).

Regina Resnik, die noch als Sopran bereits 1953 als Sieglinde und dritte Norn Erfahrungen in Bayreuth gesammelt hatte, kam 1961 für nur ein Jahr als Fricka wieder, um Wagner mit einer veristischen Oper zu verwechseln. Ihre amerikanische Landsmännin Grace Hoffman, die 1961 als Waltraute, Siegrune und zweite Norn beschäftigt war, blieb in diversen Rollen bis 1970. Nicht unerwähnt soll Ingeborg Felderer bleiben, die 1961 als Woglinde, Helmwige und Waldvogel debütierte. Sie brachte es bis an die Met und trat auch unter dem Namen Ina Delcampo auf. Als Chefin des italienischen Labels Melodram versorgte sie später den Markt mit vielen Bayreuth-Mitschnitten, die allerdings nicht den Segen der Festspielleitung fanden, den Ruhm des Festivals und seiner exklusiven Besetzungen aber in alle Welt trugen. Nur einen Sommer sangen Wilma Schmidt als glücklose Freia, Gutrune und Ortlinde, sowie Elisabeth Steiner als Wellgunde und Grimgerde. Kein anderes Festival ist so gut dokumentiert wie die Bayreuther Festspiele – in Schrift, Bild, Film und Musik. Schon in der Nazizeit wurden komplette Werke aufgenommen, die später auf Tonträger gelangten. Tannhäuser in der Pariser Fassung von 1930 ist leider nicht komplett überliefert. Der Wiederbeginn 1951 klingt in mehreren offiziellen Aufnahmen nach, die zwar auf Mitschnitten beruhten, nachträglich aber fast schon zu Studioproduktionen veredelt wurden. EMI, Teldec, Philips und Deutsche Grammophon stiegen sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Markt kam, entpuppte sich dieses Unterfangen als eines der spannendsten Kapitel der Veröffentlichungsgeschichte. Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet. Sie brachten die Mitschnitte vieler Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus. Orfeo ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen.

 

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Bayreuth Orfeo Tristan Karajan

Mit „Tristan und Isolde“ von 1952, dirigiert von Herbert von Karajan, startete Orfeo seine Live-Serie von den Bayreuther Festspielen (C 603033.)

Mit dem Tristan von 1951, der ebenfalls schon auf dem grauen Markt die Runde als LP und sogar CD gemacht hatte, wurde 2003 ein neues Kapitel aufgeschlagen (C 603033 D). Im Grußwort der Box deutete Wolfgang Wagner an, das dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Es stellte alles in den Schatten, was bis dahin kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte Bayreuth endlich eins zu eins nachgehört werden. Für mich war das ein unvergesslicher Moment, der mir noch heute den Atem verschlägt. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts konnte ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jene Opern, die dort aufgeführt werden: Tannhäuser 1955 (C643043) und 1961 (C 888143), Holländer 1955 (C 692092), Lohengrin 1959 (C 691063) und nun auch 1967, Parsifal 1964 (C 690074). Zweifach wurden die Meistersinger veröffentlicht und zwar von 1960 (C 917154) und von 1968 (C 753084). Mit dem neuen Ring des Nibelungen ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, sogar dreimal im Katalog: 1953 (C 809 113), 1956 (C 660 513) und nun 1961. Es darf so weitergehen. Rüdiger Winter

Musikalischer Lebenslauf

 

Aufnahmen aus den besten Jahren des Baritons Yuri Mazurok hat die Russische Firma Melodia auf einer CD versammelt (MEL CD 10 02393). Das Archiv des einstigen Staatslabels der Sowjetunion dürfte reich bestückt sein. Mehr und mehr Titel werden gehoben und gelangen auch auf den westeuropäischen Markt. Mazurok, 1931 geboren und 2006 gestorben, gehört zu den begabtesten und berühmtesten Opernsängern, die sein Land hervorbrachte. Auch im Westen hatte er einen hervorragenden Ruf. Gastspiele führten ihn an die Met, nach London, Wien und in andere musikalische Zentren. Mit russischen Partien war er genau so erfolgreich wie mit Verdi oder Puccini. Escamillo in der von Franco Zeffirelli inszenierten und von Carlos Kleiber dirigierten Carmen an der Wiener Staatsoper von 1978 lief auch im deutschen Fernsehen und hat sich auf DVD erhalten.

Das Arioso des Mazeppa aus der gleichnamigen Oper von Peter Tschaikowski steht am Beginn der CD. 1971 ist diese Aufnahme entstanden. Die Stimme klingt noch vergleichsweise hell und metallisch, fast tenoral. Sie hat einen hervorragenden Sitz in allen Lagen, die bestens verblendet sind. Nahtlos gelingt ihm der der Aufstieg in die Höhe. Wer auch nur ein paar Brocken Russisch versteht, erkennt, wie deutlich und genau dieser Sänger agiert. Das ist hohe Schule des Gesangs ohne akademische Attitüde. Zehn Jahre später klingt er mit der Ballade des Tomski aus Pique Dame, die unmittelbar auf Mazeppa folgt, geschmeidiger. In dieser Gegenüberstellung, die vielleicht nur zufällig ist, wird die Entwicklung und Reife des Baritons deutlich. Neben Tschaikowski gibt es Rubinstein (Dämon), reichlich Rimski-Korsakov (Sadko, Zarenbraut, Schneeflöckchen) und Mussorgski (Chowanschtschina). Und auch der Onegin, der in seiner Laufbahn eine feste Größe gewesen ist, fehlt nicht. Die Einspielung der Arien aus dem ersten Akt, in der er Tatiana Einblick in seine unbestimmten Gefühle und persönlichen Konflikte gibt, habe ich nie so eindringlich gehört wie von Mazurok. Sein Verdi, für den Mazurok besonders berühmt war, klingt für meinen Geschmack gelegentlich etwas zu gepresst, zu hart und zu körnig. Dafür gebricht es nicht an Ekstase. Zu hören ist er als Jago, Renato und Luna. Die CD gleicht einem musikalischen Lebenslauf.

Obwohl die Aufnahmen einen größeren Zeitraum umfassen, sind sie klanglich sehr gut aufeinander abgestimmt. Es gibt leine akustischen Brüche. Alles in allem ist der Sound perfekt. Nicht einmal kommt der Gedanke auf, dass es sich ja den Jahren nach um historische Aufnahmen handelt. Das Orchester des Moskauer Bolschoi-Theaters wird jedes Mal von Mark Ermler geleitet. Rüdiger Winter

Ein Genius in problematischer Edition

 

Jewgeni Mrawinski (in englischer Transkription Yevgeny Mravinsky / 1903-1988) gilt als einer der größten russischen Dirigenten der Sowjetzeit. Ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1938 und 1988, stand er den Leningrader Philharmonikern vor und formte sie zu einem der besten Orchester der Welt, was auch vom „Klassenfeind“ im Westen anerkannt werden musste. Sein strenger, aristokratischer Habitus machte ihn den sowjetischen Machthabern anfangs durchaus suspekt. Allein, sein Genie sorgte dafür, dass er sich Jahrzehnte lang an der Spitze halten konnte. Mrawinskis Klang war ungemein präzise, klar und zuweilen messerscharf, wurde durch das Vermeiden jedweder Emotion zuweilen aber auch als kühl und geradezu unmenschlich empfunden, was wohl nicht zuletzt auf die harten zeitlichen Umstände seines Wirkens zurückzuführen ist. Hänssler ehrt die russische Dirigentenlegende nun mit einer drei Boxen à 6 CDs umfassenden Edition, die ab 2015 im Abstand von jeweils einem Jahr erschien.

Enthalten sind zwischen 1940 und 1962 entstandene Aufnahmen, also aus der ersten Hälfte seiner Amtszeit als Chefdirigent in Leningrad. Daraus resultiert freilich, dass ein Gros der Tondokumente lediglich in Mono vorliegt – nichts für Hi-Fi-Enthusiasten. Der Klang war, wie der Kenner weiß, ohnehin immer das Hauptproblem bei den meisten seiner Aufnahmen. Selbst seine letzten Tondokumente aus den 1980er Jahren klingen allenfalls durchschnittlich. Die besten Klangresultate wurden in der Tat auf Auslandstourneen erzielt. Hieran lässt sich erahnen, dass Leningrad in der UdSSR technisch deutlich hinter Moskau zurücklag, klingen die zeitgleich entstandenen Melodija-Einspielungen Jewgeni Swetlanows doch bei weitem besser. Mrawinski machte, seinem Naturell entsprechend, übrigens seit Anfang der 1960er Jahre ohnehin keine Studioeinspielungen mehr, sondern bevorzugte das unmittelbare Live-Erlebnis.

Bis auf eine einzige Ausnahme (ein kurzer Auszug aus Webers Freischütz mit dem Staatsorchester der UdSSR) sind sämtliche Aufnahmen mit „seinen“ Leningradern entstanden, die Mrawinski nahezu ausschließlich dirigierte. Auf Vol. I der Edition liegt auf den ersten beiden CDs der altbekannte Studio-Zyklus der drei späten Tschaikowski-Sinfonien vor. Er entstand im November 1960 in Wien für die Deutsche Grammophon und zählt klanglich zu den besten Mrawinski-Aufnahmen. Hier zeigt sich freilich bereits ein grundsätzlicher Makel der Hänssler-Ausgabe: Die Aufnahmen werden nicht als eine DG-Übernahme deklariert, die Aufnahmeorte fehlen in den Booklets gar komplett. Der einführende Text liest sich zudem recht holprig und teilweise mangelhaft recherchiert (er war eben durchaus bis zuletzt Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker). Dies gibt kein allzu gutes Bild dieser Edition ab, die nur äußerlich zu glänzen weiß. Dem hohen künstlerischen Wert der Aufnahmen tut dies glücklicherweise keinen Abbruch. Sie zählen für nicht wenige noch heute als Messlatte in Sachen Tschaikowski, selbst wenn man einwenden könnte, dass Mrawinski in seinen letzten Jahren sogar noch beeindruckendere Live-Konzerte, die sich glücklicherweise in Mitschnitten erhalten haben, gelangen. Weitere hier enthaltene Werke von Tschaikowski sind drei zusätzliche Aufnahmen der vierten, fünften und sechsten Sinfonie (interpretatorisch ähnlich, klanglich klar unterlegen), Auszüge aus dem Nussknacker und aus Dornröschen sowie ein explosiver Mitschnitt des ersten Klavierkonzerts mit niemand Geringerem als Swjatoslaw Richter als Solisten. Dass Mrawinski einer der begnadetsten Interpreten der Musik seines Freundes Dmitri Schostakowitsch war, braucht nicht weiter belegt zu werden. Er leitete etliche Uraufführungen und prägte ganz entschieden die Rezeption dieses Komponisten. In der Edition liegen immerhin drei Sinfonien vor, nämlich die sechste, die Mrawinski gewidmete achte und die im Westen wenig geschätzte zwölfte. Die Unerbittlichkeit seines Stils zeigt sich gerade in diesen Werken. Welcher Dirigent hat die Trostlosigkeit der Achten besser getroffen als Mrawinski? Der wenig geliebten Zwölften, die dem Jahr 1917 gewidmet ist, verleiht er einen affirmativen Tonfall, der ihm später als blinde Verherrlichung des Sowjetregimes ausgelegt wurde. Dabei führt er, der sicherlich kein überzeugter Kommunist war, dieses gerade dadurch ad absurdum. Auf dem Felde der russischen Musik ist Mrawinski über jeden Zweifel erhaben, wie auch seine Interpretationen von Prokofjew (die sechste Sinfonie und die Suite Nr. 2 aus Romeo und Julia), Strawinski (Petruschka und Der Feuervogel) und Skrjabin (Le Poème de l’Extase) zeigen. Mit Kalinnikows zweiter Sinfonie liegt gar eine selten gespielte Rarität vor – die populärere Erste hat Mrawinski hingegen augenscheinlich nicht dirigiert.

Erstaunlich ist an dieser Edition die hohe Dichte an französischer Musik, was andererseits einmal mehr die engen Beziehungen zwischen Russland und Frankreich verdeutlicht, die auch nach der Oktoberrevolution nicht über Nacht eingestellt wurden. Bereits in Ravels Boléro zeigt sich eine spezifisch russische Darbietung, die sich stark von westlichen unterscheidet. Der raue Tonfall der Leningrader trägt hierzu selbstredend seinen Teil bei. Zudem beinhaltet die Edition Ravels Pavane pour une Infante defunte, Debussys La mer und Nocturnes Nr. 1 & 2 sowie Orchesterwerke von Bizet. Besonders herausragend ist indes Mrawinskis Aufnahme der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, deren Dämonie er trotz mangelhafter Tontechnik hervorragend herüberbringt. Als dritter großer Bereich, der bei Hänssler abgedeckt wird, erweist sich das deutsch-österreichische Repertoire. Dies beginnt erstaunlicherweise bereits in der Wiener Klassik mit Haydns Sinfonie Nr. 101 Die Uhr und Mozarts Sinfonie Nr. 39 sowie dem Konzert für Flöte und Harfe. Von wienerischem Schönklang sind diese akkuraten Aufnahmen freilich meilenweit entfernt. Am ehesten fühlt man sich hier vielleicht noch an George Szell, der in gewisser Weise der amerikanische Gegenpart zu Mrawinski war, erinnert. Selbst Bach (Orchestersuite Nr. 2 BWV 1067) und Weber (Auszüge aus Euryanthe und Oberon sowie die Aufforderung zum Tanz) werden nicht ausgespart. Schwerpunkte in der Spätromantik bilden sodann Wagner, Bruckner, Brahms und Richard Strauss. Die inbrünstig gespielten Auszüge aus Tannhäuser, Walküre und Götterdämmerung lassen Wehmut aufkommen, da Mrawinski Vokalwerke so gut wie nie dirigierte – und folglich auch keine kompletten Opern. Dass hier leider einmal mehr klanglich desolate Monoaufnahmen gewählt wurden, in denen man Details mehr erahnen als wirklich hören kann, obwohl er diese Werke später nochmal in Stereo aufgenommen hat, verwundert bei der Einseitigkeit der Edition schon fast nicht mehr.

Eine ungemein modern erscheinende Interpretation von Bruckners Achter sticht in ihrer puristischen Entschlacktheit besonders hervor – der Einsatz für den tief frommen Komponisten dürfte Mrawinski in der Sowjetunion Chruschtschows einiges abverlangt haben. Mit Swjatoslaw Richter hat Mrawinski wieder einen kongenialen Partner beim zweiten Klavierkonzert von Brahms zur Verfügung. Eine starke Interpretation der Alpensinfonie von Strauss mit gewaltigen Höhepunkten und stellenweise zurückgenommenem Zeitmaß schließlich rundet die Edition ab. Abgesehen von den uralten Aufnahmen aus den 1940er Jahren ist der Klang einigermaßen brauchbar, wenn man keine High-End-Ansprüche stellt. Es ist bedauerlich, dass im Rahmen der Edition keine Aufnahmen nach 1962 berücksichtigt wurden, gibt es aus der Spätphase des Dirigenten doch zumindest vermehrt Stereoproduktionen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier bewusst aus Gründen des Copyrights gehandelt wurde, unterlagen Aufnahmen bis 1962 doch noch der auf fünfzig Jahre begrenzten Schutzdauer (sie wurde vor wenigen Jahren dann auf siebzig Jahre ausgeweitet). Inwieweit hier Einspielungen des russischen Labels Melodija übernommen wurden, kann nur gemutmaßt werden, da detaillierte Informationen zu den Aufnahmen, wie bereits erwähnt, fehlen. Es bleibt also ein zwiespältiger Eindruck bei diesen Veröffentlichungen. Jewgeni Mrawinski hätte eine sorgfältiger recherchierte Edition verdient. Die bislang von Hänssler vorgelegte Edition kann ohnehin nicht dem Anspruch gerecht werden, die Diskographie dieses bedeutenden Dirigenten beispielhaft abzudecken, werden doch die letzten gut zwanzig Jahre seiner langen Schaffensperiode völlig ausgespart. Anders gesagt: Es müssten eigentlich noch weitere Boxen folgen, wollte Hänssler eine dieses Namens würdige „Yevgeny Mravinsky Edition“ vorlegen. Der Fokus liegt bis dato fast ausschließlich auf uralten Aufnahmen aus den 1940er und 50er Jahren, die Mrawinski in späteren Jahren zuweilen nicht nur tontechnisch, sondern auch interpretatorisch in noch überzeugender Weise vorlegte. Daniel Hauser