Jewgeni Mrawinski (in englischer Transkription Yevgeny Mravinsky / 1903-1988) gilt als einer der größten russischen Dirigenten der Sowjetzeit. Ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1938 und 1988, stand er den Leningrader Philharmonikern vor und formte sie zu einem der besten Orchester der Welt, was auch vom „Klassenfeind“ im Westen anerkannt werden musste. Sein strenger, aristokratischer Habitus machte ihn den sowjetischen Machthabern anfangs durchaus suspekt. Allein, sein Genie sorgte dafür, dass er sich Jahrzehnte lang an der Spitze halten konnte. Mrawinskis Klang war ungemein präzise, klar und zuweilen messerscharf, wurde durch das Vermeiden jedweder Emotion zuweilen aber auch als kühl und geradezu unmenschlich empfunden, was wohl nicht zuletzt auf die harten zeitlichen Umstände seines Wirkens zurückzuführen ist. Hänssler ehrt die russische Dirigentenlegende nun mit einer drei Boxen à 6 CDs umfassenden Edition, die ab 2015 im Abstand von jeweils einem Jahr erschien.
Enthalten sind zwischen 1940 und 1962 entstandene Aufnahmen, also aus der ersten Hälfte seiner Amtszeit als Chefdirigent in Leningrad. Daraus resultiert freilich, dass ein Gros der Tondokumente lediglich in Mono vorliegt – nichts für Hi-Fi-Enthusiasten. Der Klang war, wie der Kenner weiß, ohnehin immer das Hauptproblem bei den meisten seiner Aufnahmen. Selbst seine letzten Tondokumente aus den 1980er Jahren klingen allenfalls durchschnittlich. Die besten Klangresultate wurden in der Tat auf Auslandstourneen erzielt. Hieran lässt sich erahnen, dass Leningrad in der UdSSR technisch deutlich hinter Moskau zurücklag, klingen die zeitgleich entstandenen Melodija-Einspielungen Jewgeni Swetlanows doch bei weitem besser. Mrawinski machte, seinem Naturell entsprechend, übrigens seit Anfang der 1960er Jahre ohnehin keine Studioeinspielungen mehr, sondern bevorzugte das unmittelbare Live-Erlebnis.
Bis auf eine einzige Ausnahme (ein kurzer Auszug aus Webers Freischütz mit dem Staatsorchester der UdSSR) sind sämtliche Aufnahmen mit „seinen“ Leningradern entstanden, die Mrawinski nahezu ausschließlich dirigierte. Auf Vol. I der Edition liegt auf den ersten beiden CDs der altbekannte Studio-Zyklus der drei späten Tschaikowski-Sinfonien vor. Er entstand im November 1960 in Wien für die Deutsche Grammophon und zählt klanglich zu den besten Mrawinski-Aufnahmen. Hier zeigt sich freilich bereits ein grundsätzlicher Makel der Hänssler-Ausgabe: Die Aufnahmen werden nicht als eine DG-Übernahme deklariert, die Aufnahmeorte fehlen in den Booklets gar komplett. Der einführende Text liest sich zudem recht holprig und teilweise mangelhaft recherchiert (er war eben durchaus bis zuletzt Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker). Dies gibt kein allzu gutes Bild dieser Edition ab, die nur äußerlich zu glänzen weiß. Dem hohen künstlerischen Wert der Aufnahmen tut dies glücklicherweise keinen Abbruch. Sie zählen für nicht wenige noch heute als Messlatte in Sachen Tschaikowski, selbst wenn man einwenden könnte, dass Mrawinski in seinen letzten Jahren sogar noch beeindruckendere Live-Konzerte, die sich glücklicherweise in Mitschnitten erhalten haben, gelangen. Weitere hier enthaltene Werke von Tschaikowski sind drei zusätzliche Aufnahmen der vierten, fünften und sechsten Sinfonie (interpretatorisch ähnlich, klanglich klar unterlegen), Auszüge aus dem Nussknacker und aus Dornröschen sowie ein explosiver Mitschnitt des ersten Klavierkonzerts mit niemand Geringerem als Swjatoslaw Richter als Solisten. Dass Mrawinski einer der begnadetsten Interpreten der Musik seines Freundes Dmitri Schostakowitsch war, braucht nicht weiter belegt zu werden. Er leitete etliche Uraufführungen und prägte ganz entschieden die Rezeption dieses Komponisten. In der Edition liegen immerhin drei Sinfonien vor, nämlich die sechste, die Mrawinski gewidmete achte und die im Westen wenig geschätzte zwölfte. Die Unerbittlichkeit seines Stils zeigt sich gerade in diesen Werken. Welcher Dirigent hat die Trostlosigkeit der Achten besser getroffen als Mrawinski? Der wenig geliebten Zwölften, die dem Jahr 1917 gewidmet ist, verleiht er einen affirmativen Tonfall, der ihm später als blinde Verherrlichung des Sowjetregimes ausgelegt wurde. Dabei führt er, der sicherlich kein überzeugter Kommunist war, dieses gerade dadurch ad absurdum. Auf dem Felde der russischen Musik ist Mrawinski über jeden Zweifel erhaben, wie auch seine Interpretationen von Prokofjew (die sechste Sinfonie und die Suite Nr. 2 aus Romeo und Julia), Strawinski (Petruschka und Der Feuervogel) und Skrjabin (Le Poème de l’Extase) zeigen. Mit Kalinnikows zweiter Sinfonie liegt gar eine selten gespielte Rarität vor – die populärere Erste hat Mrawinski hingegen augenscheinlich nicht dirigiert.
Erstaunlich ist an dieser Edition die hohe Dichte an französischer Musik, was andererseits einmal mehr die engen Beziehungen zwischen Russland und Frankreich verdeutlicht, die auch nach der Oktoberrevolution nicht über Nacht eingestellt wurden. Bereits in Ravels Boléro zeigt sich eine spezifisch russische Darbietung, die sich stark von westlichen unterscheidet. Der raue Tonfall der Leningrader trägt hierzu selbstredend seinen Teil bei. Zudem beinhaltet die Edition Ravels Pavane pour une Infante defunte, Debussys La mer und Nocturnes Nr. 1 & 2 sowie Orchesterwerke von Bizet. Besonders herausragend ist indes Mrawinskis Aufnahme der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, deren Dämonie er trotz mangelhafter Tontechnik hervorragend herüberbringt. Als dritter großer Bereich, der bei Hänssler abgedeckt wird, erweist sich das deutsch-österreichische Repertoire. Dies beginnt erstaunlicherweise bereits in der Wiener Klassik mit Haydns Sinfonie Nr. 101 Die Uhr und Mozarts Sinfonie Nr. 39 sowie dem Konzert für Flöte und Harfe. Von wienerischem Schönklang sind diese akkuraten Aufnahmen freilich meilenweit entfernt. Am ehesten fühlt man sich hier vielleicht noch an George Szell, der in gewisser Weise der amerikanische Gegenpart zu Mrawinski war, erinnert. Selbst Bach (Orchestersuite Nr. 2 BWV 1067) und Weber (Auszüge aus Euryanthe und Oberon sowie die Aufforderung zum Tanz) werden nicht ausgespart. Schwerpunkte in der Spätromantik bilden sodann Wagner, Bruckner, Brahms und Richard Strauss. Die inbrünstig gespielten Auszüge aus Tannhäuser, Walküre und Götterdämmerung lassen Wehmut aufkommen, da Mrawinski Vokalwerke so gut wie nie dirigierte – und folglich auch keine kompletten Opern. Dass hier leider einmal mehr klanglich desolate Monoaufnahmen gewählt wurden, in denen man Details mehr erahnen als wirklich hören kann, obwohl er diese Werke später nochmal in Stereo aufgenommen hat, verwundert bei der Einseitigkeit der Edition schon fast nicht mehr.
Eine ungemein modern erscheinende Interpretation von Bruckners Achter sticht in ihrer puristischen Entschlacktheit besonders hervor – der Einsatz für den tief frommen Komponisten dürfte Mrawinski in der Sowjetunion Chruschtschows einiges abverlangt haben. Mit Swjatoslaw Richter hat Mrawinski wieder einen kongenialen Partner beim zweiten Klavierkonzert von Brahms zur Verfügung. Eine starke Interpretation der Alpensinfonie von Strauss mit gewaltigen Höhepunkten und stellenweise zurückgenommenem Zeitmaß schließlich rundet die Edition ab. Abgesehen von den uralten Aufnahmen aus den 1940er Jahren ist der Klang einigermaßen brauchbar, wenn man keine High-End-Ansprüche stellt. Es ist bedauerlich, dass im Rahmen der Edition keine Aufnahmen nach 1962 berücksichtigt wurden, gibt es aus der Spätphase des Dirigenten doch zumindest vermehrt Stereoproduktionen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier bewusst aus Gründen des Copyrights gehandelt wurde, unterlagen Aufnahmen bis 1962 doch noch der auf fünfzig Jahre begrenzten Schutzdauer (sie wurde vor wenigen Jahren dann auf siebzig Jahre ausgeweitet). Inwieweit hier Einspielungen des russischen Labels Melodija übernommen wurden, kann nur gemutmaßt werden, da detaillierte Informationen zu den Aufnahmen, wie bereits erwähnt, fehlen. Es bleibt also ein zwiespältiger Eindruck bei diesen Veröffentlichungen. Jewgeni Mrawinski hätte eine sorgfältiger recherchierte Edition verdient. Die bislang von Hänssler vorgelegte Edition kann ohnehin nicht dem Anspruch gerecht werden, die Diskographie dieses bedeutenden Dirigenten beispielhaft abzudecken, werden doch die letzten gut zwanzig Jahre seiner langen Schaffensperiode völlig ausgespart. Anders gesagt: Es müssten eigentlich noch weitere Boxen folgen, wollte Hänssler eine dieses Namens würdige „Yevgeny Mravinsky Edition“ vorlegen. Der Fokus liegt bis dato fast ausschließlich auf uralten Aufnahmen aus den 1940er und 50er Jahren, die Mrawinski in späteren Jahren zuweilen nicht nur tontechnisch, sondern auch interpretatorisch in noch überzeugender Weise vorlegte. Daniel Hauser