Archiv für den Monat: Juli 2019

Überwältigendes

 

Nobel geht die Welt zugrunde! Dieses Zitat des russisch-ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol mag auf den ersten Blick nicht unpassend erscheinen für die neue Luxusausgabe, welche das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker vorlegt: Mit der 22 hybride SACDs umfassenden Hardcover-Edition Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939-1945 ehrt das führende Orchester Deutschlands seinen vermutlich bedeutendsten Chefdirigenten und beschränkt sich gleichzeitig doch bis auf eine einzige Ausnahme auf die berühmten Kriegsaufnahmen, die unter Kennern oft als seine allerbesten angesehen werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Wirklich Neues wird man hier gleichwohl nicht vorfinden. Furtwängler-Fans kennen die hier vorgelegten sämtlichen Rundfunkmitschnitte der Kriegsjahre seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Ausgaben und Klangqualitäten. Also lediglich alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz!

Zunächst aber noch einige grundsätzliche Ausführungen. Enthalten sind 42 Werke in Produktionen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), wobei die Jahre 1942 bis 1945 eindeutig den Schwerpunkt bilden, nämlich 21 der 22 SACDs ausmachen. Auf der ersten CD sind die einzig auf Schellack erhaltenen Konzerte vom 19. Jänner 1939 – und somit die einzige Vorkriegseinspielung (Furtwänglers eigenes Klavierkonzert mit Edwin Fischer) –sowie vom 13. September 1939 – also kurz nach Kriegsbeginn (Händels Concerto grosso Nr. 5 sowie Beethovens fünfte Sinfonie) – enthalten. Bereits hier zeigt sich ein Charakteristikum der Edition, haben sich doch nicht alle seinerzeit im Konzert aufgeführten Werke als Tonaufnahme erhalten. So ist die im erstgenannten Konzert ebenfalls dargebotene erste Sinfonie von Beethoven genauso verschollen wie etwa drei Minuten im Finalsatz der fünften Sinfonie im letzteren. Bei den übrigen enthaltenen Aufnahmen handelt es sich durchgehend um Tonbandproduktionen. Bereits auf dieser ersten SACD zeigt sich der Gewinn durch die Neuausgabe, ist die bisher klanglich doch nur arg desolat überlieferte Einspielung hier doch erstmals trotz aller Einschränkungen halbwegs genießbar dokumentiert.

Die Tonband-Aufnahmen sind den bekannten Überspielungen klanglich per se überlegen. Im Allgemeinen ist das Klangbild räumlicher (beinahe pseudo-stereophonisiert) und natürlicher als in den bislang landläufig bekannten offiziellen Ausgaben der Deutschen Grammophon Gesellschaft und von Melodija. Letzteres Label legte viele der Jahrzehnte lang verloren geglaubten Furtwängler-Aufnahmen, die in die Sowjetunion verschleppt worden waren, erstmals vor. Doch auch gegenüber ambitionierten neueren Ausgaben von Labels wie Tahra oder der Société Wilhelm Furtwängler können diese Neuauflagen punkten. Störgeräusche wurden behutsam gefiltert, was in den meisten Fällen durchaus als gelungen bezeichnet werden darf; nur ab und an wäre weniger vielleicht mehr gewesen, da sich besonders an den leisen Stellen gewisse Klangartefakte der entfernten Publikumsgeräusche erhalten haben. Dies mindert den grundsätzlichen Wert dieser Vorgehensweise allerdings nur marginal.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Archiv Berliner Philharmoniker

Das hochinformative, nicht weniger als 184 Seiten umfassende Begleitbuch (welches wirklich die Bezeichnung Buch verdient) listet zunächst sämtliche hier berücksichtigten Konzerte minutiös auf und spart, grau unterlegt, auch die als Toneinspielung verschollenen Werke der Programme nicht aus. Diese Akribie ist absolut begrüßenswert und hebt sich wohltuend ab von einer gewissen Schludrigkeit, wie sie bei neueren Editionen der letzten Zeit häufiger zu beobachten war. Überhaupt macht diese luxuriöse Box einiges her und rechtfertigt damit letztlich auch den hohen Anschaffungspreis, bei dem umgerechnet gut zehn Euro pro SACD aufgewendet werden müssen. Insofern versucht sich das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker bewusst von den ramschartig auf den Markt geworfenen Mammutboxen der Majors abzuheben. Klasse statt Masse. Dies gilt auch für die Spielzeiten der SACDs, die durchschnittlich nur etwa 50 Minuten Musik enthalten, dabei aber die Geschlossenheit und den Zusammenhang der einstigen Konzertprogramme wahren.

Zur künstlerischen Qualität der hier enthaltenen Aufnahmen muss im Grunde genommen nicht mehr allzu viel gesagt werden. Sie zu preisen, hieße Eulen nach Athen tragen. Auf der zweiten SACD ist ein reines Richard-Strauss-Programm enthalten mit den Vier Liedern mit Orchesterbegleitung (Solist: Peter Anders) und dem Don Juan. Auf SACD 3 hat man eine bislang vornehmlich in der Filmfassung bekannte Darbietung des Meistersinger-Vorspiels vor versammelten Arbeitern der AEG-Fabrik in Berlin vom 26. Februar 1942 berücksichtigt. Den Rest des Programms machen Schumanns Klavierkonzert (mit Walter Gieseking) sowie Beethovens Siebente aus, wobei hier unsicher ist, ob letztere ebenfalls auf den März 1942 datiert werden kann oder nicht doch eher vom Oktober/November 1943 stammt. Diese Unklarheiten verdeutlichen die schwierige Quellenlage, deren Aufarbeitung trotz intensiver Bemühungen nach wie vor an ihre Grenzen stößt. Dem Furtwängler’schen Feuerwerk tut dies freilich keinen Abbruch, sind gerade diese Tondokumente der fürchterlichen letzten Kriegsjahre doch in ihrer existenziellen Eindringlichkeit niemals überboten worden, nicht einmal vom Maestro selbst. Die meisten Mitschnitte stammen aus der bei Kriegsende leider völlig zerstörten Alten Philharmonie in Berlin, die im Booklet großartig in Farbe rekonstruiert wurde und einen vagen Eindruck ihrer einstigen Pracht vermittelt. Dort wurde auch die vielleicht berühmteste Furtwängler-Aufnahme überhaupt eingespielt: Beethovens Neunte vom März 1942 mit dem Solistenquartett Tilla Briem, Elisabeth Höngen, Peter Anders und Rudolf Watzke sowie dem Bruno Kittelschen Chor, der wenig später im selben Jahr 1942 in Deutscher Philharmonischer Chor umbenannt wurde. Die Unerbittlichkeit der Darbietung macht dieses Tondokument zum Zeitdokument ersten Ranges, mutet der Beethoven-Schiller’sche Humanismus doch kurz nach der berüchtigten Wannseekonferenz geradezu grotesk an. Eine zuweilen schwer erträgliche Angelegenheit, die nur wohldosiert konsumiert werden will, die dafür aber umso nachhaltiger wirkt. Quelle ist nach wie vor die Kopie des Moskauer Rundfunks aus dem Konvolut Russland des Reichsrundfunk-Originals, welches bis zum heutigen Tage nicht wiederaufgetaucht ist. Gleichwohl hat man hier klanglich das Menschenmögliche herausgeholt und den künstlich hinzugefügten Hall reduziert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker in der Alten Philharmonie Berlin/ Foto Rudolf Kessler/ Archiv Berliner Philharmoniker

Es ist in jedem Fall unendlich schade, wieviel an Ton-Aufnahmen der RRG aus dieser Zeit vermutlich unwiederbringlich verlorenging. Von den etwa 250 zwischen 1942 und 1945 produzierten Stereo-Aufnahmen (!) haben sich nur einige wenige erhalten, darunter das fünfte Beethoven‘sche Klavierkonzert mit Walter Gieseking, allerdings nicht unter Furtwänglers Stabführung und daher hier nicht berücksichtigt. Wie der Begleitband ausführt, ist es sicher bezeugt, dass die RRG bei den letzten Bayreuther „Kriegsfestspielen“ von 1944 eine komplette Aufführung der Meistersinger von Nürnberg unter Furtwängler per Übertragungswagen stereophon aufzeichnete. Auch diese Bänder sind verschollen. Dieses Malheur kann getrost zu den größten Unglücksfällen in der Geschichte der Tonaufzeichnung gezählt werden.

Zu den besonders hervorzuhebenden Aufnahmen dieser Box muss selbstredend auch die legendäre Interpretation der fünften Sinfonie von Bruckner gerechnet werden, welche im Oktober 1942 in der Philharmonie mitgeschnitten wurde. Wie sehr sich diese völlig säkularisierte Darbietung dieser Klangkathedrale doch vom weihrauchgetränkten Bruckner-Bild unterscheidet, das seinerzeit eigentlich dominierte. Auch Furtwänglers eigene, ein knappes Jahrzehnt später entstandene Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern wirkt im direkten Vergleich geradezu handzahm.

Dass sich Furtwängler auch für zeitgenössische Komponisten einsetzte, belegt unter anderem die Einspielung der zweiten Sinfonie von Ernst Pepping (November 1943) und des Hymnischen Konzerts für Orchester und Orgel mit Sopran- und Tenorsolo des heute praktisch vergessenen Heinz Schubert (Dezember 1942). Mit Erna Berger und Walther Ludwig standen – wie seinerzeit üblich – hochkarätige Solisten zur Verfügung. Ungewohnt auch Furtwänglers Beschäftigung mit der Musik des nordischen Komponisten Jean Sibelius, die immerhin in einigen Tonaufnahmen mündete. Der inkludierte Konzertmitschnitt vom Februar 1943 überliefert der Nachwelt eine der packendsten Aufnahmen der Tondichtung En saga sowie des Violinkonzerts (Solist: Georg Kulenkampff). Gerne hätte man den großen Furtwängler auch zumindest bei der zweiten Sinfonie des Finnen erlebt, die er augenscheinlich aber niemals einstudiert hat. Dominant freilich trotz allem Ludwig van Beethoven, dessen Werke unter Furtwänglers Stabführung besonders gut dokumentiert sind. Zu den schon genannten Aufnahmen gesellen sich noch die vierte Sinfonie (zweifach: einmal ohne, einmal mit Publikum), eine weitere Einspielung der fünften Sinfonie (diesmal vollständig), die Pastorale, die Coriolan-Ouvertüre sowie das vierte Klavierkonzert (mit Conrad Hansen).

Trotz aller Bemühungen: Der Kopfsatz der einzigen Furtwängler-Aufnahme der sechsten Sinfonie von Bruckner (November 1943) bleibt auch hier verschollen. Hiervon ebenfalls stark betroffen das Schumann-Violinkonzert (Solist: Pierre Fournier) aus demselben Mitschnitt, das einzig im Finalsatz komplett erhalten ist. Das Nämliche gilt für Furtwänglers letztes Konzert mit den Berliner Philharmonikern vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, welches am 22./23. Jänner 1945 im Berliner Admiralspalast stattfand. Einzig der Schlusssatz der ersten Brahms-Sinfonie hat sich hiervon erhalten. Auch hier gilt: Besser hat Furtwängler das wohl nie dirigiert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker: die im Krieg zerstörte Philharmonie/ Archiv Berliner Philharmoniker

Zu den bedeutendsten daneben enthaltenen Ton-Dokumenten müssen auf jeden Fall die Unvollendete (Dezember 1944) und die Große C-Dur (Dezember 1942) von Schubert, die vierte Sinfonie von Brahms (Dezember 1943), die neunte Sinfonie von Bruckner (Oktober 1944) sowie das zweite Klavierkonzert von Brahms mit Edwin Fischer (November 1942) wie auch Adrian Aeschbacher (Dezember 1943) gerechnet werden. Zu Vergleichszwecken lässt sich auch Mozarts Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 – die dem Dirigenten offenbar nahegehendste Mozart-Sinfonie –, die doppelt berücksichtigt werden konnte (1942 oder 1943 und Februar 1944), heranziehen.

Ein informatives, gut 13-minütiges, von Gert Fischer geführtes Interview mit dem Tonmeister Friedrich Schnapp aus den 1970er Jahren rundet die Edition schließlich ab. Summa summarum kann für diese Prunkausgabe nur die Höchstnote vergeben werden, da sie in allen Belangen vorzüglich abschneidet und eine spürbare Verbesserung gegenüber im Grunde genommen allen bisherigen Ausgaben bringt, was den hohen Preis erklärt und letztlich auch rechtfertigt. Ein wenig Dekadenz darf also sein. Daniel Hauser

Dank an Stefan Stahnke für die Bereitstellung der Fotos aus dem Archiv der Berliner Philharmoniker; Foto oben: Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker.

Warum?

 

Angesichts der überwältigenden Konkurrenz an Faust-Aufnahmen: Sag niemals nichts. Sonst müsste man sagen, dass nichts, aber auch rein gar nichts für diesen Faust spreche, den Ville Matvejeff im November 2016 im Kroatischen Nationaltheater Ivan Zajc in Rijeka wie in guten alten Zeiten in zweiwöchigen Aufnahmesitzungen einspielte und abschließend am 16.11. 2016 konzertant aufführte. Vermutlich auch nicht mehr der Preis, gibt es doch alle wiederveröffentlichten Referenzaufnahmen zum gleichen Preis der Naxos-Aufnahme (3 CD 8.66.456-58). Auch die Marketing-Aussage auf der Rückseite hat nichts zu sagen, „Heard here in ist 1864 London version with an additional air and without spoken Dialogue or ballet, Faust represents 19th-century French opera at its peak“. Es handelt sich schlichtweg um die „übliche“ Fassung, die man auf Bühnen oder CD erlebt. Doch, was heißt im Fall dieser „Tragikomödie der Umarbeiten“ und im Vorfeld der Uraufführung von 1859 arg gerupften Oper schon „üblich“. Die Sprechtexte überlebten mit Müh und Not die erste Saison und wurden 1860 durch Rezitative ersetzt, und die später eigens für den Umzug des Faust vom Théâtre Lyrique 1869 an die Opéra komponierte Ballettmusik – rund 20 Minuten Musik – teilt das Schicksal nahezu aller für dieses Institut eingefügten Ballettmusiken. Auf „Avant de quitter ces lieux“, die sogenannte Invocation, will seit Charles Santley, für den Gounod die Arie eingefügt hatte, allerdings kein Bariton mehr verzichten.

Auch nicht Lucio Gallo, der neben Carlo Colombara und Diana Haller der einzige mir bekannte Name auf dieser Aufnahme ist. Gallos Engagement befremdet einigermaßen. Warum ruft man einen namhaften italienischen Bariton nach Rijeka, der für die Partie (mittlerweile) absolut ungeeignet ist, ältlich, unstet und hohl klingt? Würde ich ihn in Rijeka oder in Ljubljana hören, an dessen Slowenischem Nationaltheater er ebenso oft wie am kroatischen Nationaltheater in Rijeka auftritt, wäre ich vermutlich ziemlich angetan von Aljaz Farasin. Auf der CD ermüden das gleichförmige Einheitstimbre und die ebenso monochrome, irgendwie auch provinziell phantasielose Vortragsweise doch sehr rasch. Carlo Colombara liegt der Méphistophèlés wunderbar in der Kehle, Raffinement, Eleganz oder satanische Bonhomie strahlt er nicht aus, dafür verfügt er über ein ordentliches Französisches, gute Höhe und Tiefe.

Für Dina Haller ist das ein Heimspiel. Die in Stuttgart engagierte Mezzosopranistin, die kürzlich bei „Rossini in Wildbad“ einen ausgezeichneten Tancredi sang, hat in Rijeka auch schon die Adalgisa ausprobiert. Hier singt sie mit schönem Timbre, klirrigen Farben und nervös raschem Vibrato einen sinnlichen Siébel. Eine positive Überraschung ist Marjukka Tepponnen, die der finnische Dirigent Ville Matvejeff mit nach Rijeka gebracht hat, wo der 33jährige seit 2014 als Principal Guest Conductor and Music Advisor fungiert und das Haus zuletzt mit Elektra beben ließ. Tepponen war in der Bregenzer Turandot eine der Liùs, singt Fiordiligi, Mimi, Tatjana; man hört einen lyrischen, zunächst wenig charmant klingenden Koloratursopran mit festen, etwas schrillen Koloraturen und sicherer Höhe, der im vierten und fünften Akt immer souveräner klingt und große Eindringlichkeit erreicht. Es wäre sicherlich nett gewesen, diesen Faust im Helmer und Fellner-Bau der kroatischen Hafenstadt zu hören, doch für den internationalen CD-Markt ist das zu wenig.  Rolf Fath

Klangvoll, aber Konsonanten-arm

 

Unter dem Titel Lieder bringt Decca eine neue CD mit Renée Fleming heraus, welche Dokumente von 2010 und 2017 kombiniert, dabei auf Studio- und Live-Aufnahmen zurückgreift (4832335). Den ersten Teil der CD nehmen Lieder von Johannes Brahms und Robert Schumann ein, die im Januar 2017 in Budapest eingespielt wurden und von Hartmut Höll an einem Steingraeber-Flügel begleitet werden.

Unter den acht Liedern von Brahms finden sich so bekannte wie „Wiegenlied“. „Ständchen“ und „Die Mainacht“, aber auch Seltenes wie „Lerchengesang“ oder „Des Liebsten Schwur“. Das spricht für die Sängerin, sich bei der Auswahl des Programms nicht nur auf Gängiges zu stützen, sondern auch Pfade abseits des sattsam Populären zu beschreiten.

Im „Wiegenlied“, dem Auftakt des Programms, produziert die Solistin vor allem noble Töne, ist aber weniger auf Textausdeutung bedacht – ein Fakt, der ein generelles Problem in ihrer Interpretation darstellt. Zuweilen ist die Diktion so verwaschen, dass man die Worte kaum verstehen kann („Lerchengesang“). Gelegentlich machen sich auch ein Zug zum Manierismus und ein Hang zur Larmoyanz bemerkbar. Gut eingefangen wird die melancholische Trauer der „Mainacht“, der Sopran mit seinem schimmernden Leuchten findet hier zu bester Wirkung. Dagegen kommt das „Vergebliche Ständchen“ in seiner Munterkeit und Lautmalerei etwas aufgesetzt daher.

Danach folgt Schumanns Zyklus „Frauenliebe und -leben“, bei dem sich die Sopranistin gegen eine schier unübersehbare Zahl von Interpretationen behaupten muss. Der frauliche Charakter von Renée Flemings Sopran ist diesen Liedern sehr angemessen. Man vernimmt innige Töne, emphatische Aufschwünge und Momente von tiefstem  Schmerz. Höll begleitet die Sängerin bei diesem Zyklus besonders akzentuiert, setzt vor allem in den letzten Liedern der Sammlung ganz eigene Akzente. Die harschen Akkorde bei „Nun hast du mir den ersten Schmerz getan“ wirken geradezu verstörend.

Den stärksten Eindruck hinterlässt ein Live-Dokument vom Oktober 2010 aus der Münchner Philharmonie am Gasteig. Unter Christian Thielemann singt Fleming, begleitet von den Münchner Philharmonikern, Mahlers „Rückert-Lieder“. Die Stimme klingt hier betörend, flirrt und gleißt in der Höhe, schmeichelt mit ihrer cremigen Textur. In der nicht festgelegten Reihenfolge der fünf Lieder setzt  Fleming „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ an den Schluss und  findet dafür einen berührend entrückten Ton, In Thielemann und den Münchner Philharmonikern hat sie kongeniale Begleiter. Bernd Hoppe

folgenloses vergessen

 

Im Jahr 2005 profilierte sich die Staatsoperette Dresden mit einer überregional vielbeachteten Konferenz, die den Titel Operette unterm Hakenkreuz trug. Sie fiel zusammen mit der damals noch jungen Intendanz von Wolfgang Schaller, der sich explizit für die einstmals als „entartet“ gebrandmarkten Jazzoperetten der Weimarer Jahre einsetzte – lange bevor Barrie Kosky das tat und TV-Serien wie Babylon Berlin die 1920er-Jahre wieder ganz groß herausbrachten. Leider hatten die u. a. von Dirigent Ernst Theis betreuten Produktionen und Rekonstruktionen von Emmerich Kálmáns Herzogin von Chicago (1928), Paul Ábraháms Viktoria und ihr Husar (1930) und Ralph Benatzkys Im weißen Rössl (1930) nicht die Impulswirkung der späteren Komische-Oper-Projekte, weil sie in einer teils erschreckenden Provinzialität (musikalisch, besetzungstechnisch, inszenatorisch) stecken blieben. Deshalb blieben diese Staatsoperetten-Projekte mehr oder weniger folgenlos und wurden schnell wieder vergessen.

Trotzdem ist aus jener Zeit ein Tagungsband erhalten, der quasi als Auftakt für eine Neubewertung der Operette vor/nach 1933 gesehen werden kann und ein Standardwerk zum Thema ist. Jetzt, wo Wolfgang Schaller als Intendant abtritt und den Weg in Dresden frei macht, für einen neuen und vor allem international wegweisenden Umgang mit Operette, kommt nochmals ein Essayband heraus zum Thema Operette vor/nach 1933. Er heißt „…was verloren ging“, behandelt aber explizit auch die Frage, was nach der Machtergreifung der Nazis erhalten blieb.

Diesem Aspekt der Kontinuität(en) hatte sich jüngst erst Matthias Kauffmann gewidmet (Operette im ‚Dritten Reich‘. Musikalisches Unterhaltungstheater zwischen 1933 und 1945, in der Serie Musik im ‚Dritten Reich‘ und im Exil, Band 18, von Bockel Verlag, 450 Seiten, ISBN 978-3-95675-006-9) – mit Heinz Hentschke als Intendant des Metropoltheaters Berlin als einem Fokus und vielen wichtigen Aspekten wie beispielsweise „Erotik“, „Exotik“ und „Starkult“ in der NS-Zeit.

Hier nun wird ein gänzlich anderer Weg eingeschlagen: Auf 145 Seiten von insgesamt 250 Seiten des Buchs untersucht Boris Kehrmann das Wirken und Werk des Regisseurs, Groteskkomikers und Librettisten Eduard Rogati, der vorwiegend in der zweiten Reihe und an Provinztheatern tätig war (dort teils zusammen mit Walter Felsenstein). Mit einer beeindruckenden Materialschlacht schildert Kehrmann, wie in der Provinz rückwärtsgewandte und sentimentalisierte Operettentraditionen an Stadttheatern über 1933 hinaus weiterlebten – und dies auch nach 1945 taten bis in die Zeit der jungen BRD. (Die DDR-Situation kommt nicht vor.)

Kehrmanns Fazit lautet, dass es in der Provinz kaum Brüche in der Aufführungstradition und im Verständnis des Genres gab. Allerdings konstatiert er auch, dass im Nationalsozialismus Operettenschaffende wie Rogati mit ihrer „Ästhetik der Provinz“ plötzlich den Ton für die gesamte Gattung angaben. Das war der Todesstoß für eine Form des unterhaltenden Musiktheaters, das ursprünglich und bis 1933 primär eine international vernetzte, kosmopolitische und kommerzielle Theaterform war und sich über die entsprechenden Ur- und Erstaufführungsproduktionen definierte. Diesen Aspekt erwähnt Kehrmann nur en passant. Dass es zwischen den Girl-Reihen und der nackten Haut einer NS-Revueoperette und einer Erik-Charell-Produktion am Berliner Großen Schauspielhaus der 1920er-Jahre einen sehr entscheidenden Lebensgefühlunterschied gibt sowie zwischen den erotischen Anspielungen vieler Libretti und Liedtexte vor/nach 1933 ebenfalls Lebensgefühlwelten liegen, das problematisiert Kehrmann nicht. Er erklärt auch nicht, was genau an Rogatis NS-Operette Alpenglühen „pornographisch“ am Tiroler Bauern-Quodlibet sein soll. Dafür setzt Kehrmann den „dadaistischen Humor“ von synkopierten Nonsens-Schlagern wie „Kau Kaugummi“ aus der Nachkriegsoperette Chanel No. 5 (1947) gleich mit Fritz Löhner-Bedas Zwanziger-Jahre-Nonsens und attestiert einer weiteren Friedrich-Schröder-Operette Premiere in Mailand (1949) einen „leisen Hang zur Offenbachiade“.

Ich muss gestehen, dass ich das recht verstörend fand, ebenso die Verwendung von Begriffen wie „Schnulze“ (S. 93) als Beschreibung von Fred Raymonds „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, Text von Löhner-Beda. Was im 1920er-Jahre-Schlagerkontext ‚Schnulze‘ bedeutet, bei einem Autor, der auch „Ausgerechnet Bananen“, „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Do-do-do“ textete, wäre meiner Meinung nach wichtig zu erwähnen, vor allem wenn man 145 Seiten Platz hat.

Eigentlich hätte der Rogati-Essay eine eigene Publikation sein müssen, denn er erdrückt die anderen Texte im Band und steht fast im vollständigen Kontrast zu ihnen. Wobei „die anderen“ vor allem die Zeit vor 1933 behandeln. Stefan Frey untersucht Leo Falls Spanische Nachtigall (1920) und „Operettendada“, der intellektuell und musikalische extrem prickelnd ist; was ich von Chanel No. 5 nicht behaupten würde. Peter Kramer schildert das tragische Schicksal der Rotter-Brüder und den Zusammenbruch ihres Theaterimperiums 1933; es ist eine Kurzfassung seines Buchmanuskripts Die Rotters. Scherz über „Hitlers Bart“ oder warum Berlins Operettenglanz den Untergang der Weimarer Republik nicht verhindert hat (2017), das noch einen Verleger sucht. Christoph Schwandt untersucht mit Frühlingsstürme – von Jaromir Weinberger für Richard Tauber und Jarmila Novotna geschrieben und im Januar 1933 uraufgeführt – die „letzte Operette der Weimarer Republik“, die kommende Spielzeit von Barrie Kosky an der Komischen Oper inszeniert wird. Daran anschließend analysiert Thomas Seedorf den Gesangsstil Richard Taubers („Ich singe überhaupt nicht Operette, ich singe nur Lehár“). Karin Meesmann gibt mit „Pál Ábrahám: mein Name wird gemacht“ einen ersten öffentlichen Vorgeschmack auf ihre große Ábrahám-Biografie und untersucht speziell die Unterschiede zwischen der ungarischen Viktoria und ihr Husar-Originalfassung und der späteren deutschen Erfolgsversion, mit der Ábrahám 1930 der Durchbruch gelang – mit einem Text von Fritz Löhner-Beda. Giselher Schubert nimmt Kurt Weills Der Kuhhandel (1933/34) in den Blick („Die beste Tradition der Operette“).

Vielleicht hätte eine ausführlichere Einleitung der Herausgeber Heiko Cullmann von der Staatsoperette Dresden und Michael Heinemann von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden die extremen Gewichtungsprobleme dieses Essaybandes erklären und schildern können, warum ausgerechnet eine Provinzgröße wie Rogati derart viel Platz einnimmt, mit Stücken und Inszenierungen, die die Operettengeschichte kaum nachhaltig beeinflusst haben. Aber die Einleitung von Cullmann-Heinemann besteht aus drei Seiten und greift diese Aspekte nicht auf.

Trotzdem ist der Band eine wichtige Publikation, die dokumentiert, dass immer mehr Perspektiven auf das komplizierte Phänomen „Operette in der NS-Zeit und danach“ geworfen werden. Teils sind es gerade die Nebensächlichkeiten, die erschreckend aussagekräftig sind – etwa das Verhalten Rogatis bei seinem Entnazifizierungsverfahren, wo er haarsträubende Falschaussagen zu seinem Eintritt in die NSDAP machte, Falschaussagen, die typisch für die Epoche sind und über die zu lange unkritisch bis entschuldigend hinweggegangen wurde. Kehrmann schildert dies im Detail und schonungslos.

Für mich persönlich als Leser bleibt vor allem das Kapitel über die Spanische Nachtigall hängen, was dazu führte, dass ich mir sofort die Fritzi-Massary-Aufnahmen anhörte, die Truesound Transfers in einer eigenen Ausgabe herausgegeben hat. Auch wurde meine Neugierde auf Weills Kuhhandel geweckt sowie viel Vorfreude auf Weinbergers Frühlingsstürme – wobei ich mich frage, wie die Komische Oper eine Tauber/Novotna-Operette heutzutage adäquat besetzen will oder kann. Man wird es sehen.

Dass das Wirken von Personen wie Eduard Rogati die Operette in der Nachkriegszeit prägen konnte, erklärt im Nachhinein, warum das Genre dem Untergang geweiht sein musste – egal wie viel „Hang zur Offenbachiade“ darin angeblich zu finden sein soll, von „dadaistischem Humor“ ganz zu schweigen. Da ist, für mich zumindest, der „Operettendada“ von Leo Fall oder Paul Ábrahám für die heutige Zeit deutlich anschlussfähiger. Man darf daher gespannt sein, ob die junge neue Intendantin der Staatsoperette, Kathrin Kondaurow, künftig mehr in Bewegung setzen kann als ihr Vorgänger das schaffte, der sich von diesem Band ein „Nachdenken über Prozesse von Repertoirebildung und Aufführungspraxis“ erhofft.

Dieses Nachdenken lohnt, und die Staatsoperette Dresden ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, „was verloren ging“ und wie verheerend die „Ästhetik der Provinz“ für die Positionierung der Kunstform Operette immer noch ist. Hoffen wir mal, dass Kathrin Kondaurow diese Provinzialität abschütteln kann. Hinweise darauf, wie das geht und wie’s nicht geht, finden sich auf den 250 Seiten des vorliegend Bandes zuhauf  („…was verloren ging“ Operettenkultur nach 1933; Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, hrsg. v. Heiko Cullmann und Michael Heinemann; 250 Seiten, Thelem Verlag, ISBN 978-3-95908-467-3)Kevin Clarke

 

Kevin Clarke hat 2005 zusammen mit Carin Marquardt die Tagung „Operette unterm Hakenkreuz“ für die Staatsoperette Dresden konzipiert und organisiert, die Herausgabe des Tagungsbandes hat Uwe Schneider mit den bereits fertig edierten Texten im Auftrag von Wolfgang Schaller übernommen, als damals neuer Chefdramaturg des Hauses.

 

 

Wunderklänge aus dem Märchenschloss

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Jahrzehntelang quälten wir uns mit den technisch absolut grottigen Ausgaben der Weberschen Euryanthe mit der absolut stupenden (wenngleich wortfernen) Joan Sutherland in ihren Jugendtagen bei der BBC – diese berühmte Aufnahme litt in den verschiedenen Erscheinungsformen bei Walhall, Ponto und anderen Labels unter übersteuerten Höhen, unscharfen Chorstellen und im ganzen unter eingeschränktem Hörgenuss. Wie wenn man einen Rembrandt mit der Taschenlampe betrachten muss. Jetzt hat Nimbus die BBC-Bänder vom 30. September 1955 (aus der „Itter Broadcast Collection“ des Labels Lyrita, NI 7901, 2 CDs ohne Libretto, aber mit einem ausführlichen Aufsatz und Biographien im insularen Idiom, wobei die Sammlung Itter bereits die Kopien der gelöschten BBC-Bänder darstellt, die nun ihrerseits frech Lizenzen erhob, also „original.-BBC-Bänder“ stimmt nur bedingt), und das pure Glück tut sich beim Hören auf. In bester Radioqualität  erklingt nun Webers wunderbare (und hier stark gekürzte) Oper. Was für eine Besetzung! Außer der Sutherland als vokal betörende Euryanthe singen da hochfulminant und absolut die beste Eglantine weit und breit (und für mich noch vor der Borkh auf dem Maggio Musicale Mitschnitt) Marianne Schech in dramatischem Auftritt, der seinesgleichen sucht. Unglaublich. Der Holländer Frans Vroons war damals für mich eine Entdeckung: ein solider, höhenstarker Adolar mit bester Diktion (wie alle außer La Stupenda) und schönster Rolleneignung. Überrascht hatte mich beim ersten und erneuten Hören Otakar Kraus – was für ein toller, viriler Telramund-Bass-Bariton als Lysiart. Markig, körnig, interessant im Timbre und auch er in hochengagierter Rollengestaltung. Kurt Böhme (der auf der Rückseite der CDs seinen Umlaut verloren hat) gibt einen gestandenen, langweiligen, aber stimmlich grundierten  König. Dazu der falbelhafte BBC-Chor und das dto.  engagierte Orchester unter Altmeister Fritz Stiedry, dem wir viele Wagner-Aufnahmen an der Met verdanken.

Webers „Euryabnthe“ in sensationellem Sound bei Prima Voce

Überhaupt muss man wieder mal die BBC loben, die – trotz unvergessenem „Blitz“ und Deutschen-Abneigung  jener (?) Jahre – eine Oper von Weber (wie später andere deutsche Titel) aufnahmen, vielleicht weil Weber wegen seines Oberon auch als quasi-englischer Komponist gesehen wurde? In any case – anders als die kürzlich erschienene Clemenza di Tito (nämlich als The Mercy of Titus, 1956) gab es 1955 diese Euryanthe im deutschen Original (und man soll den anderen „modernen“ Neuzugang zur Serie nicht vergessen, den Don Giovanni live aus Glyndebourne 1954 mit Sena Jurinac und Leopold Simoneau unter Georg Solti.)

Danke dafür und Dank an Nimbus, deren Prima Voce Serie bei uns eine sehr ausführliche, wenngleich Würdigung erfährt. Rüdiger Winter wird sich einen ganzen Stoß von Prima Voce CDs widmen und braucht dafür naturgemäß auch Zeit. Stefan Lauter frischt bei uns seine Erinnerungen an seine Reise nach Wyastone zum Nimbus Hauptquartier auf, und Daniel Hauser hat für uns den Nimbus-eigenen langen Text zum technischen (Klang-)Geheimnisse des Prima Voce Erfolges übersetzt. Words from the great horn also… Geerd Heinsen

Nun also der Reisebericht von Stefan Lauter: High Tech aus dem Märchenschloss – Prima Voce in den walisischen Downs. Es sind noch gute zwei Stunden mit der Eisenbahn von London Paddington Station in Richtung Swansea bis Monmouth in Wales, und dann nimmt man besser ein Taxi (oder wird, wie in meinem Fall, in einer Limousine abgeholt), bis man nach einer kurzen Fahrt durch die malerische hügelige Landschaft des Grenzgebiets zwischen England und Wales vor das Manor House von Wyastone Leys rollt. Was sich hinter der herrschaftlichen Fassade großgrundbesitzlichen Ambientes verbirgt, ist in der Tat erstaunlich, denn hier – wie auch in den nahen Fertigungsstätten in Monmouth selbst – wird High Tech nach neuesten Erkenntnissen gefertigt, und bevor man über die risikofreudige Aufnahmefirma Nimbus spricht, muß man auf das Renomee von Nimbus als gesuchte Fertigungs- und Press-Stätte für viele englische Firmen sprechen: ehemals EMI, Virgin und andere ließen und lassen hier herstellen, und das war die Ausgangssituation für die heutige Firma Nimbus.

Nimbus: Das Märchenschloss Weyastone Leys/ Nimbus

Gründe ist Graf Alexander Numa Labinsky, auch unter seinem Künstlernamen Shura German bekannt und im Programm von Nimbus mit eigenen Aufnahmen dokumentiert. Labinskys Liebe zur Musik und seine Experimentierfreudigkeit mit möglichst genauer Klangwiedergabe („Tonaufnahmen sind der aufrichtigste Versuch des Menschen, um in der Zeit zu reisen!“ ist eine seiner Überzeugungen) führten nach verschiedenen Anläufen zur Gründung der Firma, als er 1976 das Schloß von Wyastone Leys kaufte (1818 gebaut und im Laufe der Zeit mehrfach substantiell verändert, dem heutigen Besucher bietet sich ein Gemisch verschiedener Stile dar. Lustigerweise gehört bis heute das Recht auf freien Fischfang zum Grund, aber nicht das Recht auf Jagd; Forellen also gibt es reichlich auf dem großen Eichentisch des Hauses …). 1977 begann man mit der Produktion von LPs; 1982 unterzeichnete Nimbus einen Lizenzvertrag mit der das Patent haltenden Firma Philips zur Fertigung von CDs (auch hierzu eine Information: Nimbus wäre längst in der Lage, CDs von einer Spieldauer von mehr als neun Stunden herzustellen, verböte eben dieser Lizenzvertrag das nicht, denn die von Philips gesetzte „internationale“ Norm erlaubt nur eine Spieldauer von ca. 75 Minuten im besten Falle; das erinnert an die Herstellung von schnell ermüdenden Glühbirnen, während das aufgekaufte Patent für eine Dauerbirne im Safe eines Glühbirnenfabrikanten schlummert). Innerhalb eines Jahres entwickelte Nimbus ein Fertigungssystem, das weit unter den Kosten herkömmlicher Verfahren liegt. Eine Besichtigung der technischen Einrichtungen zeigt denn auch diese verblüffend ökonomischen Vorgänge, die weitgehend von Hand und immer im Einzelnen überwacht werden, von der Herstellung der Master über die Galvanisierung bis zur Vervielfältigung.

Nimbus Prima Voce: Rosa Ponselle

Dies schafft – ein ganz wesentlicher Punkt im wirtschaftlich geschüttelten Südwales – eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen hoher Qualifizierung. 1984 also fiel die erste CD vom Band, noch für einen fremden Auftraggeber, 1985 erschien dann die erste eigene Nimbus-CD. In den nächsten Jahren gab es nur Erfolge, Preise und Expansionen in Form einer neuen Fertigungsstätte im nahen Cwbran und vor allem auf dem amerikanischen Markt, wo Nimbus eine Tochterfirma in Virginia installierte, während neue Technologien entwickelt wurden (u. a. die erste Quadruble Density CD und die CD ROM mit mehr als neuneinhalb Stunden Spieldauer für Datenübermittlung, besonders für die Industrie eine wichtige Sache, mit der Nimbus einen bedeutenden Teil des Umsatzes macht). Inzwischen ist Nimbus auch weltführend auf dem Gebiet der optischen Disc-Technologie. Das inzwischen berühmten Amisonic-System – Grundlage der Nimbus-Serie „Prima Voce“ (und der gesamten Neuproduktion) – wurde erstmals 1990 vorgestellt: eine besonders eindrucksvolle „natürliche“ Wiedergabetechnik, die dem einzelnen Ton sein Umfeld läßt und einen warmen, natürlichen Klang in einer Aufnahmetechnik mit nur wenigen Mikros bevorzugt.

Nimbus: aus den Gründerjahren – Adrian Farmer und das Große Horn/ Nimbus

Der Nimbus-Katalog weist viele Einspielungen auf, die ein gezieltes Standardrepertoire ausmachen, aber anders als andere britische Firmen vermeidet Nimbus den allzu insularen Eindruck, schon weil man sich nicht auf Großbritannien allein beschränkt hat. So findet sich eine Vielfalt von Komponisten des 20. Jahrhunderts (Copland, Britten, Tippett, Strauss) oder Schumann und andere Romantiker z. B., wie die Mozart-Aufnahmen mit Roy Goodmans Hanover Band oder das Haydn-Projekt mit dem von Nimbus sehr geförderten ungarischen Dirigenten Adam Fischer, der alle Haydn-Sinfonien mit dem Austro-Ungarischen Orchester in Eisenstadt im dortigen Esterhazy-Theater aufnimmt, oder Bartok in Einspielungen ebenfalls unter Adam Fischer. Es spricht für den Mut der Firma, sich nicht von parallelen Veröffentlichungen anderer Firmen beirren zu lassen und akute Marktchancen der erzielten Qualität zu überlassen. Vivaldi, Gabrieli, Beethoven, Debussy oder Brahms – das Spektrum ist breit, und Nimbus vermeidet es sich festzulegen. Die vokalen Beiträge von Shura German wurden bereits erwähnt (Schumann, Schubert etc.), aber auch der verdiente Tenor Hughes Cuenod singt hier Mélodies von Satie oder Debussy, und der Belcanto-Tenor Raúl Giminez fand bei Nimbus Gelegenheit für seine ersten Aufnahmen mit Mozart- und Rossini-Arien; June Anderson und er nahmen Rossini-Lieder auf.

Nimbus Prima Voce: Tito Schipa

Grund für die meine Neugier an einer Firma wie Nimbus (und meinen Besuch) war die Edition Prima Voce, viele Namen lassen Sammlerherzen höher schlagen (Eidé Norena, Ernestine Schumann-Heink, Claudia Muzio, Rosa Ponselle und viele, viele mehr, die vom Kollegen Rüdiger Winter sukzessive besprochen werden, die hochpersönliche Auswahl Labinskys an Künstlern für das Prima-Voce-Programm erstaunt, denn viele fehlen, die man erwarten würde und andere finden sich, die überraschen). Was also ist das Geheimnis dieses außergewöhnlich warmen, natürlichen und frappierend „modernen“ Klangs bei den Überspielungen der alten Schellacks? Den Besucher erwartet im herrschaftlichen Manor House von Wyastone Leys der Anblick eines überdimensionalen Hornes als Schallrichter eines nach modernsten Kriterien ausgestatteten Abspielgeräts, das im großen Saal des Gebäudes installiert ist. Erste Proben: Maggie Teyte mit mir unbekannten französischen Aufnahmen – verblüffend; dann die neue Battistini-Platte in ihrer Schellack-Original-Form – ungeheuer! Dominick Fyfe, der für die Research-Seite der Produktionen zuständig ist, war in Berlin, um Tiana Lemnitz ihr Exemplar der gerühmten Zauberflöten-Ausgabe unter Beecham zu überreichen und kam mit Schellack-Schätzen der Sopranistin zurück: „Rosenüberreichung“ oder „Wesendonck-Lieder“ – sensationell! Der Klang, der aus dem Horn tönt, ist raumhaft, groß und aufregend, nie metallisch oder eng,  mit kleinen Retuschen gegen die. Norman White, Produzent und selber Sänger, wusste um die Probleme der Wiedererkennbarkeit von Stimmen auf dem technischen Medium und strahlt bei meiner offen gezeigten Begeisterung. Ich fachsimpele über die neue Nimbus-Aquisition – ein ganzer Keller voll Schellacks aus französischem Privat-Besitz: meterweise Ninon Vallin, Georges Thill, Emma Luart und, und, und … Dem Sammler läuft bildlich das Wasser im Mund zusammen. Leider haben bis heute manche noch nicht den Weg auf die Prima-Voce-CD gefunden (wenngleich – und das muss man auch fairerweise sagen – eigentlich alle Titel der Serien-Teilnehmer sich ebenfalls bei anderen Labels wie Pearl, Marston u. a. anderen finden; Prima Voce ist also nicht exklusiv sortiert, sondern besticht durch ihren ganz eigenen Klang).

Und dann geht es ab ins supermoderne hausinterne Soundstudio mit unüberbietbarem Blick auf die „Grounds“, die Umgebung. Adrian Farmer, Resident Music Director von Nimbus, spielt eine Digest der Aufnahmen vor: Besonders der Haydn von Esterhazy nimmt durch seine Wärme und Natürlichkeit des Klanges für sich ein, die Bartok-Aufnahmen haben eine überspringende Sonorität, und es sind diese Kriterien, die den Hörer beeindrucken. Stefan Lauter

Nimbus: aus den Grpünderjahren – Count Labinsky, Norman White und Adrian Farmer/ Nimbus

Und nun ganz offiziell – die Serie Prima Voce! Zur Einführung: Die frühe Geschichte der Tonaufnahme ist mehr als nur die Geschichte einer Erfindung und einer Industrie. Obwohl die Pioniere und Unternehmer eine wichtige und faszinierende Rolle spielten, würde ihre Arbeit uns heute wenig interessieren, wenn sie nicht mit der einzigartigen Kunst von Caruso und Melba, Schaljapin und Ponselle zusammenfiele. Es war das goldene Zeitalter des Gesangs und Prima Voce bewahrt dieses Archiv großer Stimmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Transfers, die die Unmittelbarkeit der ursprünglichen Aufführungen einfangen.

Bei Prima Voce steht die Aufführung an erster Stelle. Unser Ziel bei der Übertragung von 78er Schellackplatten auf CD ist einfach: Wir möchten den vollen Musikgenuss dieser Aufnahmen ermöglichen, ohne dass störende Oberflächengeräusche zwischen dem Interpreten und dem Hörer davon ablenken. Dies wird durch ein Verfahren erreicht, bei dem der Originalton neu aufgenommen wird, anstatt ihn neu zu remastern. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus dem Besten der neuesten und frühesten Technologien der Tonwiedergabe.

Im Folgenden eine Reihe von Artikeln, die von den für die Prima Voce-Serie verantwortlichen Tontechnikern verfasst wurden und die Techniken beschreiben, mit denen wir 78er auf CDs übertragen.

Nimbus Prima Voce: Charles Kullman

Die Suche nach 78ern: Nicht alle Pressungen wurden auf die gleiche Weise hergestellt. Norman White, Berater der Prima Voce-Serie, reist um die Welt, um geeignete 78er zu finden, die zur Vorbereitung der Übertragung auf CD dem Prima Voce-Archiv hinzugefügt werden können. Seine Reisen können zu Privatsammlungen wie auch zu den Museen führen, mit denen wir eine Verbindung haben, z. B. das Staatliche Museum für Theater und Musik in St. Petersburg. Die Erfahrungen, die Norman aus jahrelangen Sammlungserfahrungen gewonnen hat, sind für ihn von unschätzbarem Wert, da er fast instinktiv weiß, welche Label und Typen oder Zeiträume der Pressung am wichtigsten sind, und außerdem diese charakteristischen Merkmale visuell erkennen kann. Wenn man sich über 500 Platten pro Tag ansieht, hat man kaum Zeit, jeden potenziellen Kauf abzuspielen.

Manchmal ist es sinnvoll, eine bestimmte 78er zu kaufen, obwohl mehrere Exemplare derselben Aufnahme in unserem Archiv vorhanden sind, einfach weil die Qualität des Schellacks oder die Art und Weise, in der die 78er gepresst wurde, auf eine mögliche Verbesserung der Klangqualität hindeutet. Wir kommen daher häufig zu einer Übertragungssitzung mit einer Auswahl von Pressungen und verbringen einige Zeit mit der Auswahl der zu verwendenden Kopie. Nur so können wir den Hörern unserer Serie die Möglichkeit geben, Oberflächengeräusche zu vergessen und die Aufführung zu genießen.

Vorbereitung: Wir investieren viel Zeit und Mühe in jedes einzelne Prima Voce-Projekt, lange bevor wir bereit sind, ins Studio zu gehen und die Transfers der 78er fortzusetzen. Ideen für neue Ausgaben können der Veröffentlichung einer CD um einen Zeitraum von einem Monat bis zu mehreren Jahren vorausgehen und aus verschiedenen Quellen stammen: – ein Lieblingssänger derjenigen, die an der Serie beteiligt sind;/ – Sammlungen innerhalb von Museen, die zur Nutzung bereitgestellt werden;/ – wichtige Stimmen, die in unserer Serie bisher unterrepräsentiert sind;/ – Gespräche, die unsere Handelsvertreter mit dem Einzelhandel führen;/ – Briefe von anderen Sammlern, die sich für einen bestimmten Sänger einsetzen.

Nimbus: Back view of horn, Norman White and record player/ Nimbus

Ab dem Moment, in dem wir uns auf einen bestimmten Künstler konzentrieren, wird Norman White, unser Serienberater, seine Bemühungen verstärken, die relevanten Aufnahmen zu finden. Je nach Sänger und Aufnahmedauer kann diese Aufgabe sehr lange dauern. Auch wenn unser Archiv über viele Jahre aufgebaut wurde, kann man sich immer ein bisschen mehr Mühe geben, die sauberste Pressung zu finden. Einige Projekte können daher etwas länger dauern als andere.

Wenn der Künstler relativ unbekannt ist, etwa Vilhelm Herold (NI 7880), bieten diese Sitzungen die Möglichkeit, sich mit ihrer Stimme und ihrem aufgezeichneten Erbe vertraut zu machen. Ansonsten bieten sie die Gelegenheit, sich gründlich an die Stimmen bekannter Künstler zu erinnern und ihre Aufnahmen in den Kontext einer Karriere zu stellen. Aus rein praktischer Sicht ist dies die Phase, in der die Anzahl der Datensätze für die Übertragung auf eine überschaubare Größe reduziert wird. Dies entspricht in der Regel einer Spieldauer zwischen 80 und 120 Minuten, je nach Zustand der Schallplatten.

Nimbus Prima Voce: Luisa Tetrazzini

Die letzten Etappen unserer Vorbereitung sind darauf ausgerichtet, die Übertragungssitzung so reibungslos wie möglich zu gestalten. Jede 78er muss gestimmt werden, d. h. die richtige Wiedergabegeschwindigkeit muss eingestellt werden. Jede Seite muss dann mit einem professionellen Reinigungsgerät gereinigt und die von uns verwendeten Holzdorne geschärft werden. Beide Aufgaben sind extrem zeitaufwändig und langwierig, aber für die Erzielung der besten Ergebnisse unerlässlich.

Pitching (Tonhöhe): Trotz der Tatsache, dass die meisten Aufzeichnungen vor 1950 ein Etikett mit der Angabe „78 rpm“ (d. h. 78 Umdrehungen pro Minute) tragen, ist die Wiedergabegeschwindigkeit nicht selbstverständlich. Aufgrund der Unzuverlässigkeit des primitiven Aufzeichnungsgeräts, mit dem diese Aufzeichnungen erstellt wurden, kann die korrekte Wiedergabegeschwindigkeit einer Seite nur 68 rpm oder gar 88 rpm betragen. Wenn man die Aufnahme zu langsam abspielt, klingt alles matt. In ähnlicher Weise ist der Ton zu scharf, wenn die Wiedergabegeschwindigkeit zu hoch ist. Ein zeitgenössischer Zuhörer änderte einfach den Geschwindigkeitsregler des Grammophons, bis er die Stimme des Künstlers hörte, die er am Abend zuvor im Opernhaus gehört hatte. Für den modernen Zuhörer sind die Dinge etwas schwieriger.

Nimbus: Adrian Farmer und Norman White mit der Schellack-Sammlung/ Nimbus

Um die richtige Wiedergabegeschwindigkeit zu ermitteln, muss die Tonart festgelegt werden, in der die Musik geschrieben wurde, und ein Klavier verwendet werden, um die Aufnahme zu begleiten. Die Geschwindigkeit der Schallplatte kann dann über einen elektrischen Plattenteller mit fein abgestufter Tonhöhenregelung geändert werden, bis der Klang zusammenpasst. Bei dem von uns verwendeten Drehteller handelt es sich um einen Technics SP-15, bei dem die Zahlen auf der Digitalanzeige eine prozentuale Abweichung der Geschwindigkeit von den Standarddrehzahlen von 78 rpm angeben, z. B +0,1 = 78,078 rpm. Eine Veränderung von ungefähr 5,5 % auf diesem Plattenteller entspricht der musikalischen Umsetzung eines Halbtons.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die uns dabei helfen, eine Aufnahme auf die korrekte Tonhöhe einzustellen. Am offensichtlichsten muss die Stimme des Sängers natürlich klingen, ebenso wie alle Instrumente, die in der Begleitung enthalten sind. Wenn beispielsweise die Wiedergabegeschwindigkeit einer ausgewählten Seite sowohl bei +3.0 als auch bei -2.5 auf eine Tonart passt, können wir normalerweise feststellen, welche am natürlichsten klingt, insbesondere wenn wir mit anderen Aufnahmen des betreffenden Sängers vertraut sind.

Andere Hinweise liefern ebenfalls wertvolle Informationen, aber wir verwenden sie normalerweise, um zu überprüfen, was uns unsere Ohren bereits offenbart haben. Einige Beispiele sind unten angegeben:

Nimbus Prima Voce: Maria Ivogün

Das verwendete Aufzeichnungsgerät war im Verlauf dieser Sitzung in der Regel gleichbleibend, weshalb auch die Wiedergabegeschwindigkeiten von am selben Tag erstellten Aufzeichnungen in der Regel gleich waren. Sequenzen und Muster entstehen schnell, wenn man mit einer Gruppe von Aufzeichnungen arbeitet, und Anomalien können leicht identifiziert werden. Jede Regel hat jedoch ihre Ausnahme und es ist bekannt, dass die Wiedergabegeschwindigkeit zwischen Datensätzen mit aufeinander folgenden Matrixnummern und sogar zwischen dem Anfang und dem Ende einer Seite wechselt. Die 1936er Aufnahme von Schumanns Der Nussbaum mit Marian Anderson für HMV ist ein solches Beispiel.

Es ist oft bekannt, ob ein Künstler dazu neigte, eine Arie nach oben oder unten zu transponieren, und ob seine Tessitura es ihm ermöglichen würde, die höchste oder niedrigste Note zu erreichen, die wir hören.

Musikalische Grundprinzipien bestimmen das Verhältnis zwischen Instrumentalbegleitung und Tonart. Angesichts der Tatsache, dass die tiefste Note einer Gitarre ein E ist, kann es sein, dass die Aufnahme zu langsam läuft, wenn wir auf eine Gitarrenbegleitung stoßen, in der ein Bass-Es häufig zu hören ist.

Nimbus: Colourized old horn and microphone in ball room/ Nimbus

Die Übertragungssitzung: Im Gegensatz zu anderen Firmen, die dazu neigen, moderne elektrische Tonabnehmer zur Übertragung ihrer Schallplatten zu verwenden, spielen wir unsere 78er lieber mit einem Schallhorn-Grammophon. Auf diese Weise erzeugen wir einen warmen, lebendigen und äußerst naturgetreuen Klang, der vor der Ausgabe nur sehr wenig Verarbeitung erfordert (nur die schlimmsten Klicks werden entfernt). Tatsächlich ist der einzige „elektrische“ Teil des gesamten Wiedergabevorgangs der Technics SL-15-Plattenspieler, der verwendet wird, um sicherzustellen, dass die Aufzeichnung mit der richtigen Geschwindigkeit läuft.

Unser speziell angefertigtes Horn-Grammophon ist nichts anderes als eine Entwicklung von Maschinen, die es in den 1930er Jahren gab. Ohne das Problem zu haben, das Gerät in ein Wohnzimmer mit durchschnittlicher Größe einzubauen, haben wir es viel länger gemacht (seine Länge beträgt fast sechs Meter) und die Form der Hornkurve geändert. Diese Anpassungen ermöglichen es, extreme Frequenzen der Originalaufnahme klarer zu hören und einen ausgeglicheneren Klang zu erzielen. Die Stachel, die wir verwenden, bestehen aus einem biegsamen Holz und formen sich schnell so, dass sie genau in die Rille einer 78er passen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Dorn viel länger hält als eine Seite einer Schallplatte, bevor die Klangqualität beginnt sich zu verschlechtern. Abschnitte der Datensätze, die wir übertragen (normalerweise die Enden), werden daher häufig mehrmals abgespielt und die besten der verschiedenen Takes werden in der Bearbeitungssuite abgeglichen und zusammengefügt.

Indem wir die Platten im Performing Arts Center der Nimbus Foundation abspielen, geben wir den Künstlern praktisch eine zweite Chance, ihre Aufnahmen zu machen, diesmal in einer großzügigeren Akustik. Die Bedingungen, unter denen viele dieser Künstler aufgenommen haben, waren oft beengt und schwierig und man fragt sich oft, welche Chance die Stimme wirklich hatte.

Das Mikrophon, das wir verwenden, ist genau das gleiche, mit dem wir den größten Teil unserer Ambisonic-Aufnahmen machen. Es ist so positioniert, dass es zentral zur Öffnung des Horns liegt und der Abstand zum Horn variiert, abhängig von der Stimme des Sängers und der Qualität der zu übertragenden Schallplatten. Änderungen der Mikrophonposition werden während einer Sitzung auf ein Minimum beschränkt, es sei denn, die Originalaufnahmen unterscheiden sich grundlegend. Es sind keine Mixer, Fader oder Prozessoren beteiligt. Eine Sitzung in der Halle kann bis zu einer Woche dauern, in der normalerweise mindestens zwei CDs übertragen werden sollen.

Trotz aller Überlegungen und des Zeitaufwands für jede Prima Voce-Veröffentlichung bleibt das Grundprinzip sehr einfach: Wir spielen die Platten so, wie sie gespielt werden sollten, und nehmen die Ergebnisse auf, wie alle unsere Aufnahmen gemacht werden. (Quelle: Nimbus/ Dank an die deutsche Naxos/ die Distributorin für Nimbus in Deutschland, Rainer Aschemeier und Salvatore Pichireddu, für die Unterstützung! Foto oben Conchita Supervia im Ausschnitt aus dem Cover des Prima-Voce-Samplers).

Umsäuselndes Gewoge

 

Die französische Sopranistin Sandrine Piau ist vor allem berühmt für ihre Auftritte in Barockopern, hin und wieder widmet sie sich aber auch dem Lied. Nun hat sie bei alpha classics eine neue CD mit französischen Liedern aufgenommen.

Das ist nicht die erste Lieder-CD der Sängerin. Mit Klavierbegleitung war sie im französischen Liedrepertoire schon zu hören. Hier sind nun erstmals Orchesterlieder französischer Komponisten des späten 19. Jahrhunderts mit ihr zu hören – in der Regel originale Werke und keine nachkomponierten Instrumentierungen von Klavierliedern.

Das ist mal wieder eine Koproduktion des Labels Alpha Classics mit dem verdienstvollen Zentrum für französische musikalische Romantik (Palazetto Bru Zane) – und deren Mitarbeiter schauen erstmal nicht so genau auf die Komponistennamen, wenn sie sich in den Bibliotheken vergraben, diese Forscher holen vorurteilsvoll alles aus dem Keller, was ihnen gefällt,  und so finden sich hier sowohl unbekannte Stücke bekannter Meister wie Camille Saint-Saens, aber auch Lieder sehr wenig bekannter Musiker Louis Vierne oder Gabriel Pierné.

Eine wehmütige Themenauswahl: Dennoch empfand ich die Auswahl der Stücke diesmal recht einförmig, besonders, was ihre Stimmung angeht. Das mag auch an der Übervorsicht der Franzosen liegen, ihre Lied-Sänger in Klangmassen zu ertränken, wenn sie es mit einem Orchester auf und nicht vor der Bühne aufnehmen mussten. (Die Deutschen hatten da weniger Skrupel.)

Kein Schlagzeug und fast nie Blech – das heißt, es umsäuselt uns eine volle Stunde lang ein hochartifizielles, aber mitunter auch einförmiges Gewoge aus Streichern und Holz. Dann die wehmütige Themenauswahl: Erinnerung, Sehnsucht und Verführung lauten die Schwerpunkte, wobei es bei der Verführung wenig handfest zugeht, gemeint ist wohl eher so etwas wie die Verführungskraft der Melancholie. Mir kam nach dem vierten Lied das Leben derart düster vor, dass ich in dieser Stimmung die Leistung von Frau Piau vielleicht nicht ganz objektiv einschätze…

Natürlich gibt es nichts an der Diktion zu meckern, als Französin hat sie Heimvorteil, sie weiß in jeder Nuance, was sie singt, kennt auch doppelbödige Sprechspiele, das schwingt hier natürlich mit, zudem ist sie eine sehr neugierige, aufgeschlossene Sängerin, die sich mit Begeisterung in solche Projekte stürzt. Aber da ist seit Kurzem auch etwas Saures in der Stimme, eine gewisse Larmoyanz, die bei zwei Liedern noch nicht durchschlägt, beim fünften aber vernehmlich wird. Und das ist schade.

Portionsweiser Genuss: Mark Twain empfahl einst, seine Erzählungen nur pralinenartig zu verspeisen, jeden Tag ein oder zwei, nie eine Schachtel pro Tag. Ich empfehle maximal drei Lieder hintereinander. Denn diesmal bilden auch die eingefügten Orchesterstücke Massenets „Valse très lente“ keinen Kontrast, sie bewegen sich auf derselben melancholischen Ebene (Sandrine Piau: „Si J’ai aimé“ – Französische Orchesterlieder | Le concert de la Loge | Julien Chauvin; Alpha classics LC 00516). Matthias Käther

ÜBERZEUGENDES CHIAROSCURO

 

Spätestens seitdem es 2018 einen Gramophone Classical Music Award in der Kategorie „Recital“ für die Zusammenarbeit des Barockensembles Accademia Bizantina und Delphine Galou anlässlich der CD Agitata gab, gilt die Französin als eine der renommiertesten Altistin der Szene. Seit einigen Jahren singt sie schon in der Vivaldi-Edition des Labels Naïve, 2018 bspw. die Titelrolle in der maßgeblichen Aufnahme von Antonio Vivaldis Il Giustino (CD-Erscheinung Nr. 58 der Edition), ebenfalls mit der Accademia Bizantina unter der musikalischen Leitung Ottavio Dantone. Nun sind zwei weitere Einspielungen mit Werken von Antonio Vivaldi dieses erfolgreichen Teams verfügbar, die sich als ein emotionales Chiraoscuro aus Vivaldis Werk gekonnt kontrastieren und ergänzen. Rund 50 Werke geistlicher Musik von Vivaldi sind erhalten, Musica Sacra Per Alto (Nr. 59 der Vivaldi-Edition) vereinigt zwei Introdutione al Miserere (einer anscheinend von Vivaldi erschaffenen Variante der Solo-Motette) für Kontraalt („Filiae maestae“ RV 638 und „Non in pratis“ RV 641), eine Vesperhymne („Deus tuorum militum“ RV 612), bei der Galou durch den Tenor Alessandro Giangrande ergänzt wird, das fünfsätzige „Salve Regina“ RV 618 und ein „Regina coeli“ RV 615, das von Giangrande koloratursicher interpretiert wird. Als spannender Bonus ist das für die Feier von Mariä Himmelfahrt entstandene Violinkonzert RV 582 enthalten, das Konzertmeister Alessandro Tampieri mit Verve und Leidenschaft spielt.

Die zweite Neuerscheinung Arie E Cantate Per Contralto (Nr. 60 der Vivaldi-Edition) umfasst drei arkadische Kantaten über Liebe und Leid „Cessate, omai cessate“ (RV 684),  „O mie porpore piú belle“ (RV 685) und „Qual in pioggia dorata“ (RV 686). Da sich damit keine CD füllen lässt, ergänzte man mit Opernarien aus Tito Manlio, Il Giustino, La verità in cimento, Tieteberga und La Candace o siano Li veri amici. Das Ergebnis ist ein gut gelauntes Vivaldi-Recital. Die charaktervolle, flexible und stets angenehme Stimme Delphine Galous ist in der sakralen und profanen Sphäre sehr gut aufgehoben, auch hier widmet sie sich innig und ausgeglichen ihrer Aufgabe. Beim Zuhören stellt sich ein typischer Vivaldi-Zustand ein: irgendwie vertraut und schon mal gehört und doch wieder spannend und erstklassig interpretiert. Die Accademia Bizantina musiziert Vivaldi auf der Höhe der Zeit, dynamisch vorwärtsstrebend, die einzelnen Schönheiten stets auskostend und aufnahmetechnisch ausbalanciert. Die beiden Aufnahmen entstanden hintereinander innerhalb eines Monats und bieten als doppelter Querschnitt viel Hörfreude für Vivaldi-Fans  (Musica Sacra Per Alto, Naïve 30569. Arie E Cantate Per Contralto, 1 CD, Naïve 30584). Marcus Budwitius

Müdes Peru

 

Die Erwartungen waren groß und werden nicht erfüllt. Marc Minkowski hätte man eine rasante Périchole zugetraut, nach seinem Orphée und der Belle Hélène hätte man spritzige Parlandi und lustvolle Ensembles erwartet. Nichts wirklich davon hier. Unentschlossen im musikalischen Drive zieht sich die Geschichte bühnenrumpelnd um die moralischen Verwicklungen der  spanischen Straßensängerin dahin, nicht sonderlich interessant vorgetragen. Und man denkt, einen netten Theaterabend in Nimes zu erleben (nichts gegen Nimes). Nein, durchaus nicht: Wir sind in der Opéra nationale de Marseille, wo Minkowski  musikalischer Chef ist (wie lange?) und wo mir das das interessante Art-Decó-Haus noch von der Salammbô Reyers in angenehm in Erinnerung ist.

Immer noch unvergleichlich: Regine Crespin als Perichole…

Vielleicht ist diese freche Geschichte zu frivol für das ehrwürdige Carpo-Theater. Denn auch die Besetzung klingt eher nach Nimes als nach Marseille. Vor allem die Verkörperung der Titelpartie, die mir als Vénus im französischen Tannhäuser mit ihrem Schrei bei Rückzug in ihr habitat in Erinnerung geblieben ist, Aude Extrémo („I am not making this up“ würde Anna Russell jetzt sagen) bleibt langweilig, schwerblütig und viel zu mütterlich, eher die Patriarchin einer Zigeunerfamilie als die Tambour-schwingende gosse, die sich vor Hunger an die Männer verkaufen will. Hier hungert niemand. Und mit Frau Extrémo steht bzw. fällt nun die ganze Pikanterie, denn eine Perichole im Slow-Motion-Gang einer matronalen Carmen geht eben nicht.

Man denke an Teresa Berganza bei jüngst wieder Warner/EMI, die war auch ein Flop. Mit mehr Stimme. Und zudem eine echte Spanierin (was der Figur nichts nützte). Nein – es sind auf CD die rasante, durchaus nicht mehr junge Régine Crespin, die bei Erato/EMI ihre Zeilen unvergleichlich serviert (gestützt von einem ebenfalls in die Jahre gekommenen Alain Vanzo). Und es ist die tolle Suzanne Lafaye auf der alten EMI-Aufnahme, die genau diesen nötigen Falcon-Ton in der Stimme hat, nicht Mezzo und nicht Sopran und voller, fast wie wie zufälliger Rollengestaltung.

Und ein Muss: Suzanne Lafaye als Perichole unter Igor Markhevitch ...

Die Übrigen auf der neuen Aufnahme sind nicht unrecht. Den attraktiven Stalislas de Babeyrac hätte man gerne optisch erlebt, und sein Pequillo ist hübsch (hat aber nicht die Präsenz eines Vanzo), die übrigen sind angenehm (Alexandre Duhamel, der verdiente Eric Huchet, Marc Mauillon und viele mehr. Die Kräfte des Chéf-eigenen Orchesters Les Musiciens du Louvre bleiben unauffällig ohne den Schwung eines Markhevitch-geleiteten Ad-hoc-Orchesters im Umkreis von Aix-en-Provence. Aber ehrlich gesagt höre ich da dann lieber die alte Erato/EMI-Aufnahme unter dem Genannten, auf der uns eben diese urfranzösischen Sänger/Schauspieler wie Suzanne Lafaye, Raymond Amade  oder Christoph Benoit eine Zauberwelt an Illusion eröffnen. Wo wir ihnen glauben, was sie uns vorspielen. „Je T’adore, Si Je Suis Folle“ – singt er, wie kann sie da widerstehen? Ich auch nicht.

Pardon Maestro Minkowski, ich hab ihn immer verehrt, aber niemand kann alles. Dies hier jedenfalls nicht. Und wie mein verehrter Kollege Lührs vom rbb so richtig anmerkt: Haben wir eine Périchole wirklich im Offenbach-Jahr gebraucht? Nicht eher eine Madame Favart, eine Créole, einen Roi Carotte? Dommage, eine vertane Chance (2 CD im üblichen Buch-Format mit französisch-englischen Aufsätzen und dto. Libretto beim Palazetto Bru Zane, BZ 1036). Geerd Heinsen

Deutsch-französische Aspekte

 

Konnte man bisher in puncto CD-Würdigung den Eindruck gewinnen, der zweite große Jubilar des Jahres 2019, Jacques Offenbach (200. Geburtstag), sei im Vergleich zu Hector Berlioz (150. Todestag) ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden, so berichtigt Warner Classics dies nun umso mehr durch eine wahrhaft monumentale, nicht weniger als 30 CDs umfassende Box Offenbach – The Operas & Operettas Collection (Warner 0190295499570).

Bereits auf den ersten Blick steht bei dieser Veröffentlichung der deutsch-französische Aspekt im Vordergrund, der sich bei Offenbach natürlich auch biographisch niederschlägt. Enthalten sind nicht nur französischsprachige Aufnahmen der Opern und Operetten, sondern auch viele deutschsprachige Produktionen von Orpheus in der Unterwelt, Die schöne Helena, Pariser Leben (alle geleitet von Willy Mattes), Die Großherzogin von Gerolstein (unter Pinchas Steinberg) sowie Hoffmanns Erzählungen (unter Heinz Wallberg). Gemein ist ihnen, dass es sich fast ausschließlich um Einspielungen aus den 1970er und 80er Jahren handelt – meist WDR-Electrola-Ware, über die man sich durchaus streiten kann, haftet ihr doch eine gewisse Muffigkeit und Biederkeit an. Offenbach in Deutsch verliert meist seinen Witz und seinen gôut. Und weder Anneliese Rothenberger noch Grit van Jüten sind Nachfolgerinnen der großen Hortense Schneider.

Die ältesten und lohnenderen Aufnahmen sind Ba-ta-clan und Les Bavards von 1966 bzw. 1967 aus Strasbourg unter dem Dirigat von Marcel Couraud aus dem Repertoire der Erato – köstlich und spritzig. Michel Plasson zeichnet verantwortlich für originalsprachigen Versionen von Orphée aux Enfers, La Belle Hélène, La Vie parisienne sowie La Périchole. Les Contes d’Hoffmann werden von Sylvain Cambreling, Les Brigands von John Eliot Gardiner und Pomme d’Api, Monsieur Coufleuri sowie Mesdames de la Halle von Manuel Rosenthal verantwortet; letzterer steuert auch sein berühmtes Arrangement Gaîté Parisienne bei.

Die berühmteste Grande-Duchesse auf CD: Regine Crespin auf Sony, leider vergriffen; aber die alte Leibowitz-Aufnahme mit Eugenia Zareska gehört ebenfalls zu meinen Lieblingen (Preiser und als MP3-Doiwnload bei Naxos)/ G. H.

Hinzu gesellen sich Auszüge aus La Fille du tambour-major (Dirigent: Félix Nuvolone) und La Gande-duchesse de Gérolstein (Dirigent : Jean-Pierre Marty). Abgerundet wird die Kollektion durch diverse Operettenarien mit Janes Rhodes (ah, was für ein Charme und welche finesse des Servierens) unter dem einstigen Wunderkind-Dirigenten Roberto Benzi. Als Zugaben sind zudem Auszüge aus Gaîté Parisienne in einem Arrangement für drei Klaviere (Giorgia Tomassi, Carlo Maria Griguoli, Alessandro Stella) sowie die Fables de La Fontaine für Bariton (François Le Roux) und Klavier (Jeff Cohen) inkludiert. Hierbei handelt es sich auch um die neuesten Produktionen (2013 und 1990). Leider liegt die berühmteste Grande-Duchesse der Neuzeit, die mit der Crespin, bei der CBS/Sony, dommage. Und leider wird die Périchole von der humorlosen Teresa Berganza nebst ungeeignetem José Carréras niedergemacht. Da wäre die schöne alte mit Suzanne Lafaye von der EMI netter gewesen. Und über das Vie Parisienne mit der unvergleichlichen Suzy Delair (im Soundtrack eines Films) geht eh´ nichts (Musidisc, vergriffen).

Bloß auf den ersten Blick erwarten den Hörer bei der Warner-Kompilation Dopplungen, unterscheiden sich die deutschen von den französischen Fassungen der Werke doch teilweise ganz frappierend, was durchaus auf des Komponisten eigenem Zutun beruht. Während sich der deutschsprachige Orpheus der Urfassung bedient, liegt seinem französischen Pendant die ungleich umfangreichere Zweitfassung zu Grunde. Bei der Schönen Helena verhält es sich insofern umgekehrt, als hier die deutsche Fassung erweitert wurde. Die französischsprachige Aufnahme leidet zudem an opernartiger Überhöhung, was durch die Mitwirkung von Jessye Norman, die für solch ein Repertoire nicht unbedingt berühmt war, freilich begünstigt wird.

Die Idiomatik überwiegt vornehmlich in den älteren französischen Produktionen, was sich durch die mitwirkenden Sängerinnen und Sänger wie Régine Crespin, Huguette Boulangeot, Mady Masplé, René Terrasson und Michel Sénéchal ausdrückt. Die deutschsprachigen Varianten haben fraglos für manche deutsche Hörer ihren Reiz (sicherlich nicht für Franzosen), begegnet man doch den zwar legendären, aber für Offenbach wenig geeigneten Namen wie Anneliese Rothenberger, Nicolai Gedda, Benno Kusche, Adolf Dallapozza und sogar Theo Lingen (als Hans Styx im Orpheus). In manchem Falle erfreulich ist, dass einige vergriffene Aufnahmen mittels dieser Edition nun wieder greifbar werden, so die älteren Einakter und die solide Fille du Tambour-major mit der idiomatischen Eliane Lublin. Auch Les Brigands profitieren von einer nationalsprachigen Crew mit der bezaubernden Colette Alliot-Lugas, Michel Trempont und dem höhensicheren Tibère Raffali – da sieht man, wie Offenbach mit idiomatischen Stimmen zum Leben erweckt wird, und man bedauert einmal mehr die Politik der EMI, die internationalen Stars in dieses empfindliche Genre gepresst zu haben. Keine gute Idee schon damals.

Zu begrüßen sind die ansprechend gestalteten CD-Hüllen mit dem jeweiligen ursprünglichen Cover. Dafür ist das Beiheft kaum der Rede wert, Libretti sucht man vergebens. Immerhin werden die kompletten Besetzungen, Aufnahmedaten und -orte verzeichnet, was mittlerweile auch nicht mehr unbedingt die Regel ist. Klanglich genügen diese sämtlich in Stereo eingespielten Produktionen auch heutigen Ansprüchen. Daniel Hauser/ Geerd Heinsen

Eigenwillige Auswahl

 

150 Jahre Wiener Staatsoper – Die Jubiläumsedition: Bei Orfeo schrumpft diese ereignisreiche Zeitspanne allerdings auf 65 Jahre. Erst auf der letzten Seite des schmalen Booklets offenbart sich ziemlich kleingedruckt und kommentarlos, was es mit der individuellen Zeitrechnung auf sich hat. Die in die Sammlung aufgenommenen Opern wurden zwischen 1955 und 2016 mitgeschnitten. Mit Alban Bergs Wozzeck ist zumindest der Neuanfang im Haus am Ring, der als bedeutendes Ereignis in die Musikgeschichte eingegangen ist, dokumentiert. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war es am 5. November 1955 mit Fidelio von Ludwig van Beethoven unter starker Anteilnahme internationalen Besucher und Medien eröffnet worden. Über Lautsprecher wurde die von Karl Böhm geleitete Premiere ins Freie übertragen. Angeschlossen waren Rundfunkstationen mit Millionen Hörern in aller Welt. Die BBC hielt große Szenen als Film fest. Obwohl es nur wenige Fernseher gab in Österreich wurde die Eröffnung vom ORF gesendet. Auf Fidelio folgten neue Produktionen von Mozarts Don Giovanni, mit dem das Opernhaus 1869 eröffnet worden war, die an selber Stelle 1919 uraufgeführte Frau ohne Schatten von Richard Strauss, Verdis Aida, Wagners Meistersinger und der Rosenkavalier, ebenfalls von Strauss. Ihren Abschluss fand die festliche Opernserie am 25. November mit Wozzeck, auf den noch ein Ballettabend mit Giselle von Adolphe Adam und Der Mohr von Venedig von Boris Blacher folgte.

Wie aus einer Dokumentation des Online-Merker hervorgeht, hinterließ Wozzeck den „geschlossensten Eindruck. Nehers Bühnenbilder und Schuhs Inszenierung steigerten die Stimmung des Werkes ins Visionäre, womit sie sich mit der Musik trafen, die trotz ihres strengen Formengebäudes visionär ist und etwas von der Wirkung einer musikalischen Atombombe hat“. Die Philharmoniker unter Böhm hätten ihre „moderne Lieblingsoper mit der gleichen Hingabe wie eine Straussoper“ gespielt“. Und weiter:Walter Berrys Wozzeck verdeutlichte Not und Vision des Unterdrückten. Dazu sang er die Partie, sang sie sogar noch dort, wo das Singen nicht mehr möglich scheint. Christl Goltz als Marie, erregend in ihrer weiblichen Brutalität, Karl Dönch als Doktor, voll skurriler Dämonie, und Peter Klein als tragikomischer Hauptmann boten eine vollkommene Leistung. Mit 28 Vorhängen übertraf die Aufführung alle vorangegangenen.“ Unerwähnt bleibt Max Lorenz in der Rolle des Tambourmajor. Lorenz war schon seit Ende der 1920er Jahre als Heldentenor ein Star in Wien und hatte auch unmittelbar nach Kriegsende in der Ausweichspielstätte, dem Theater an der Wien, an alte Erfolge anschließen können. Im neuen Haus sollte es bei drei Vorstellungen in dieser Rolle bleiben. „Was ein Mann! Wie ein Baum!“, sagt Margret zu Marie. In der Erscheinung mag das noch zutreffend gewesen sein für Lorenz, in der Stimme nicht mehr. Seine Mitwirkung reduziert sich aufs Museale. Er steuert nur noch seinen Namen bei und keine künstlerische Leistung, die in die Zukunft weist. Und dennoch war es angebracht und nobel, Lorenz noch einmal eine Bühne zu geben. Von alledem ist bei Orfeo nichts zu lesen. Den spärlichen Angaben zufolge ist dieser Wozzeck eine ganz gewöhnliche Vorstellung im November 1955 gewesen. Nicht einmal für den Hinweis auf den Tag der Vorstellung hat es gereicht. Im dürren Booklet finden sich lediglich die Track-Listen und eine Inhaltsangabe. Das ist zu wenig und zu lieblos für so eine Gedenkedition für eines der traditionsreichsten Opernhäuser der Welt.

Alle Vorstellungen dieser Festwochen haben als Tondokumente überlebt, wenngleich in unterschiedlicher Klangqualität. Bis auf die Aida, die in einigen inoffiziellen Pressungen in das Jahr 1956 verlagert wurde, was schon deshalb unmöglich ist, weil der Dirigent Rafael Kubelik nur für vier Aufführungen im Rahmen der Eröffungsfestspiele im November 1955 zur Verfügung stand, sind alle anderen Opern bei ihrer Veröffentlichung genau terminiert. Don Giovanni und Aida, in Italienisch komponiert, wurden deutsch gesungen, was sich unter Herbert von Karajan, der 1957 auf Böhm an der Spitze des Hauses folgte, ändern sollte. Orfeo selbst hatte 2005 mit einem Mitschnitt der Frau ohne Schatten-Premiere vom 9. November überrascht. Aus dem Enthusiasmus dieser Aufführung erwuchs noch im selben Jahr die berühmte erste Studioproduktion, für die Böhm bis auf den Barak von Ludwig Weber, der aus rechtlichen Gründen durch Paul Schoeffler ersetzt werden musste, das gesamte Ensemble mitnahm. Mit der Aufführung und der Produktion im Großen Saal des Musikvereins, zu der die Decca erst überredet werden musste, trat die Festspieloper ihren späten internationalen Siegeszug an. Insofern hätte dieses Werk auch die neue Edition geschmückt.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – nicht nur diese fehlt: der Wiener Wagner-Felsen Gertrude Grob-Prandl hier als Isolde mit Max Lorenz in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

Stattdessen gibt es anderen Strauss, so eine der vielen Elektra‘s mit Birgit Nilsson, die zehn Jahre nach der Wiedereröffnung mitgeschnitten und 2014 ebenfalls von Orfeo offiziell herausgegeben wurde nachdem es bereits Veröffentlichungen – noch als LP – auf dem so genannten grauen Markt gegeben hatte. Für mich ist das ihre beste Aufnahme auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie singt noch nicht so eisig und erbarmungslos, wirkt menschlicher und anrührender. Ebenbürtig neben ihr agieren Leonie Rysanek als entschlossene, im Anflug in die Höhen etwas matte Chrysothemis und Regina Resnik als angstgeschüttelte Klytämnestra. Unter den fünf Mägden sticht Gundula Janowitz unverkennbar gläsernem Ton hervor, und die Aufseherin Danica Mastilovic wurde später selbst eine berühmte Elektra. Noch aus Tausenden herauszuhören ist Gerhard Unger als junger Diener Gerhard Unger mit seinem frischen Tenor. Eberhard Waechter, der den Orest singt, wird bereits sehr vernehmlich von seiner schweren Stimmkrise geplagt und gibt eine tragische Figur ab, weshalb die Frage erlaubt sein muss, ob es wirklich Sinn machte, den Mitschnitt erneut an die Öffentlichkeit zu bringen.

Näher an die Gegenwart heran führt die Ariadne auf Naxos von 2014, deren Entstehungsschichte ebenfalls mit Wien eng verbunden ist. Nach der erfolglosen Uraufführung der ersten Fassung in Stuttgart wurde 1916 an der damaligen Hofoper das Werk in seiner endgültigen Form präsentiert. Bei dem Mitschnitt in der Edition dürfte es sich um den Einstand von Christian Thielemann als Dirigent der Oper vom 12. Oktober handeln, der damals zu Recht sehr gefeiert wurde. Genannt wird der genaue Vorstellungstermin nicht. Arthaus/Unitel kündigen eine separate DVD-Version an. Die Szene im Bild würde dem Verständnis auf die Sprünge helfen, das die Tonspur über weite Strecken schuldig bleibt. Wer das Stück nicht auswendig kennt oder kein Libretto zur Hand hat, ist verloren und kann im turbulenten Prolog kann allenfalls dem Musiklehrer (Jochen Schmeckenbecher), dem Tanzmeister (Norbert Ernst) und dem Haushofmeister (Peter Matic) folgen. In der eigentlichen Oper, wenn auch musikalisch mehr Ruhe einkehrt, treten die Stimmen von Soile Isokoski (Ariadne), Daniela Fally (Zerbinetta) und Johan Botha (Bacchus) deutlich hervor.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – auch diese fehlt: lange Jahre unersetzlich Elisabeth Höngen, hier als Amme/ Foto Fayer

Noch in glänzend Form ist Eberhard Waechter, der spätere Direktor der Wiener Staatsoper, im Fidelio aus dem Jahr 1962, bei dem es sich um den Premierenmitschnitt vom 25. Mai handelt, was unerwähnt bleibt. Dabei trat Herbert von Karajan in der Doppelfunktion als Dirigent und Regisseur in Erscheinung. Waechter singt den Don Fernando mit großer Würde und tiefer innerer Bewegung angesichts des Wiedersehens mit dem tot geglaubten Freund Florestan, den er nun im Ketten gelegt findet. Selten dürfte die Oper aufregender und packender geklungen haben. Es ist, als stehe die Aufführung unter Hochspannung. Christa Ludwig sang zum ersten Mal die Leonore. Mit ihrer Nervosität heizte sie das Drama erst richtig an. Sie setzte stimmlich alles auf eine Karte – und gewann. Mit diesem Debüt hat die Sängerin, die jüngst ihren 90. Geburtstag beging, Operngeschichte geschrieben. Auch Gundula Janowitz debütierte als selbstbewusste Marzelline an der Seite von Waldemar Kmentt als Jaquino. Als hochindividuelles Ausdrucksmittel könnte mit dem zeitlichen Abstand zur Aufführung die Indisposition von Jon Vickers als Florestan durchgehen. Sein Kampf gegen die gesundheitsbedingte Einschränkung, den er mit Professionalität ausficht, verwächst mit der Rolle und macht die Figur nach langer Kerkerhaft glaubhafter. Don Pizarro ist Walter Berry, Rocco Walter Kreppel. In der Edition ist der Mitschnitt, den sich Orfeo bei der Deutschen Grammophon ausgeliehen hat, völlig unter Wert verkauft. Warum ausgerechnet dieser Fidelio, frage ich mich, zumal die originale Ausgabe mit einem inhaltsstarken Booklet noch im Handel ist.

1977 kehrte der einstige künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper, Herbert von Karajan, nach langer Abwesenheit an seine alte Wirkungsstätte zurück, dirigierte Aufführungen von Bohème, Trovatore und als Neuproduktion am 10. Mai in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle Mozarts Le Nozze di Figaro. Anna Tomowa-Sintow, die die Contessa singt, trat erstmals am Haus auf und hinterließ mit ihrer betont fraulichen Anlage der Rolle so großen Eindruck, dass fortan zu den Lieblingen des Publikums gehörte. Ileana Cotrubas gab die Susanna, Frederica von Stade den Cherubino, Tom Krause den Grafen und José van Dam den Figaro. Ins Jahr 1988 führt Rossinis Il viaggio a Reims – auch ein Premierenmitschnitt vom 20. Januar unter Claudio Abbado – mit der hinreißenden Lucia Valentini-Terrani als Marchesa Malibea. Im April 2013 sang Anna Netrebko in vier Vorstellungen von Eugen Onegin die Tatiana. Eine davon ging in die Edition ein, offenbar die erste vom 12. des Monats. Dirigent ist Andris Nelsons, der zunächst etwas schleppende Tempi anschlägt, dann aber tief einzudringen versteht in dieses russische Seelendrama. In der ersten Szene sind die Stimmen nach meinem Eindruck nicht sehr gut auseinander zu halten. Das gibt sich, wenn der Chor abtritt und die Stunde der Solisten schlägt. Für die Netrebko, umjubelter Star des Abends und von Kritikern gar mit der Duse verglichen, ist die Rolle ein Heimspiel, für ihren Landsmann, den viel zu früh verstorbenen Dmitri Hvorostovsky als Onegin ebenfalls. Dmitry Korchak, der Lenski, beschwört in seiner großen Szene vor dem Duell auf bewegende Weise die Tradition der alten russischen Tenorschule wie der Gremin von Konstantin Gorny den Vergleich mit seinen berühmten Vorgängern russischer Zunge auch nicht scheuen muss.

„150 Jahre Wiener Staatsoper “ – auch Agnes Baltsa – fester Posten in Wiener Besetzungen –  fehlt in der Kompilation (hier mit Luis Lima in „Cavalleria rusticana“)/ Wikipedia

Dieser Mitschnitt macht auf sehr erfreuliche Weise deutlich, welch überzeugende und geschlossene Wirkung sich einstellen kann, wenn die Solisten Muttersprachler sind und sich die Texte nicht phonetisch einpauken müssen. Indem sie wissen, was sie singen, teilen sie sich auch dem Teil des Publikums mit, welcher ihre Sprache nicht versteht. Hvorostovsky taucht in Verdis Un ballo in maschera als René Ankarström an der Seite von Krassimira Stoyanova als Amelia, Piotr Beczala als Gustaf, Nadia Krasteva als Ulrica und Hila Fahima als Oscar wieder auf. Dirigent ist Jesús López Cobos. In der Edition ist der April 2016 als Aufführungszeitraum genannt. In diesem Monat gab es laut Archiv der Staatsoper vier Vorstellungen in identischer Besetzung. Welche nun aufgenommen wurde, bleibt unbekannt. Nachdem er als Riccardo Forth in Bellinis Puritani erstmal in Wien zu hören gewesen ist, blieb Hvorostovsky ein gern gesehener Gast. Die Krankheit hatte ihm inzwischen stimmlich zugesetzt. Mit dem alten Germont in Traviata sang er im November seine letzte Opernrolle. Ein Jahr später ist er in London gestorben.

„150 jahre Wiener Staatsoper“: nicht nur diese fehlt – Superstar der Karajan-Ära Renata Tebaldi, hier als Celebrity auf dem Cover von TIME-Magazin.

Die Schwedin Nina Stemme trat 2003 erstmals als Senta im Fliegenden Holländer im Haus am Ring auf. Es folgten Sieglinde, Brünnhilde, Leonora (Forza del destino), Ariadne, Tosca, Marschallin, Minnie, Elektra, Leonore, Kundry. Im Oktober 2019 kommt die Färbersfrau in der Frau ohne Schatten hinzu. Am 13. Juni 2013 hatte Wagners Tristan und Isolde in einer neuen Produktion, die von Franz Welser-Möst, betreut wurde, Premiere. Daran schlossen sich im selben Monat in dichter Reihenfolge vier weitere Vorstellungen an. Immer waren die Stemme die Isolde und Peter Seiffert der Tristan. Orfeo gibt sich mit dem Datum des Mitschnitts auch hier vage und nennt lediglich den Juni. Dem hohen Paar bleibt nichts erspart. Der gnädige Strich im zweiten Aufzug ist aufgemacht. Die Stemme steht die Partie mit eiserner Entschlossenheit durch. Nach reichlich Wagner in aller Welt ist Seiffert, der die sechzig überschritten hatte, noch immer ein beeindruckender Tristan, der seine Kräfte ökonomisch einzuteilen weiß und nach Pausen, die ihm die kräftezehrende Partie zuweilen lässt, mit immer neuer Energie ins Geschehen zurückkehrt. Gestalterisch bringt der Däne Stephen Milling reichlich Kapital ein, was seiner Klage eine gewisse Kurzweiligkeit verleiht.

In dem als Bonus ausgewiesenen Doppelalbum schimmert schließlich noch etwas vom alten Glanz auf, dem die Wiener Staatsoper bis heute ihren Ruhm verdankt. Es gibt Szenen mit Lisa della Casa, Anneliese Rothenberger, Maria Reining, Sena Jurinac, Mirella Freni, Edita Gruberova. Placido Domingo, Luciano Pavarotti, Franco Corelli, geleitet von Dirigenten wie Hans Knappertsbusch, Joseph Keilberth, Josef Krips, Karl Böhm. Genannt werden nur die Aufnahmejahre. Sonst nichts. Rüdiger Winter

Il vecchio cor

 

Im Alter von 76 Jahren bestieg Leo Nucci am 23. und 25. November 2018 im Münchner Prinzregententheater und zwei Tage darauf im Müpa in Budapest das Konzertpodium, um nochmals das „Vecchio cor“ des greisen Dogen Francesco Foscari schlagen zu lassen. Nicht zum ersten Mal, wovon man sich auf DVDs mit Aufführungen aus Neapel (2000) und Parma (2011) überzeugen kann. Vermutlich wird er den 65. Dogen von Venedig, den Lord Byron in seinem Verstragödie The Two Foscari und Verdi in seiner Oper I due Foscari verewigten, auch nicht zum letzten Mal verkörpert haben, nähert er sich doch erst jetzt dem wahren Lebensalter des Francesco Foscari an (1373-1453). Der in München und Budapest entstandene Mitschnitt des Bayerischen Rundfunks (2 CD 900328) baut vor allem auf die Präsenz des Baritons, dessen Ton in der erwähnten Romanza („O vecchio cor, che batti“) etwas nasal, trocken und eng klingt, der aber auf seine gute Technik bauen kann und in dem vorausgehenden Szene immer noch von bedeutender Autorität ist und die Gebrochenheit des alten Dogen vermittelt, der das Urteil unterschreiben muss, welches seinen Sohn Jacopo, der in eine Mordintrige verwickelt ist, zu lebenslangem Exil verbannt. Während Jacopo eher in die Linie der leidensfähigen, sanft aufbegehrenden Verdi-Helden gehört, was Ivan Magri vor allem in der Preghiera des zweiten Aktes ausdrucksstark und mit sicherer Emphase vermittelt, ist Francescos Schwiegertochter Lucrezia eine geradezu wild aufbegehrende junge Frau, die sich leidenschaftlich für ihren Mann einsetzt. Für die 1844 in Rom von Marianna Barbieri-Nini kreierte Partie, die drei Jahre später auch die erste Lady Macbeth war, ist Guanqun Yu zu handzahm und wenig leidenschaftlich. Für die Lucrezia braucht es eine im Kern dramatische Stimme. Sehr gut sind Miklós Sebestyén als der unversöhnliche Loredano vom Rat der Zehn, der Vater und Sohn Foscari stürzen will, und István Horváth als Senator Barbarigo, der Mitleid mit Lucrezia und ihren Söhnen zeigt. Der kroatische Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters Ivan Repušić, der bereits im Jahr zuvor eine Luisa Miller mit Marina Rebeka aufführte und aufnahm, hat offenbar ein fabelhaftes Gespür für den frühen Verdi, dessen Cabaletten er mit zündender Kraft voranpeitscht. Die Szenen sind mit drängendem Elan verblendet, die Atmosphäre, was Verdi mit „tinta“ umschrieb, in den düsteren Gemächern des Palastes in den dunklen Bratschen- und Celloklängen zwingend eingefangen und der Chor des Bayerischen Rundfunks grandios inszeniert.   Rolf Fath

Singen als Daseinsakt

 

Wer will schon die Frage nach dem größten Sänger neuerer Zeit entscheiden? Toscanini, weil er totaler Willensmensch war! Callas, die er in ihrer Frühzeit hörte? “Eine große, häßliche Stimme!“; Caruso, dem er feurig eine Weltkarriere vorhersagte? Als sie 1901 zutraf, war das Feuer aus. “Yes, you make much money, but no, n o , NO !“ Zum größten ihm je begegneten Vokalisten erklärte Toscanini ausgerechnet sein nacktes Negativ, einen Sünder wider alles, was er sein Lebtag der Opernwelt oktroyiert hatte: Fjodor Schaljapin, der weder vom Taktstock noch von den Noten zu fesseln war, weniger ein Sänger als ein kochender Lavastrom.

Fjodor Iwanowitsch Schaljapin mit Maxim Gorki, Ende 19. Jh./ Wikipedia

Sein Portraitist, Maxim Gorki, beschreibt das Publikum eines Recitals als minutenlang stumm und unbeweglich, “als habe man eine zähe, feste, schwere Flüssigkeit über sie gegossen !“ Die Darbietung bescherte kein Behagen, nur “bleiche, angstverzerrte Gesichter.“ Angst wovor ? Mag sein vor dem Jammer des Daseins, der Flüchtigkeit des Glücks, dem Schrecken Boris Godunows, wenn die Orchesterglocken ihm die Stunde schlagen und er der Niederträchtigkeit seiner Existenz gewahr wird: “Können meine Gebete meine Sünden löschen ? Prestitie, prestitie“, Erbarmen “o, smert.“ Oh Tod. Unmöglich, diese Zeile von Schaljapins Stimme zu trennen ! Erbarmen mit der bête humaine, der Sterblichkeit von Freud und Leid, umschreibt wohl am besten die innere Quelle, aus der der Unsterbliche schöpfte. Was unsterblich bleibt ist indes nur ein Schemen, ein Untoter, der aus 248 in Schellack geritzten Musiknummern schallt.

Was haben diese armseligen Fragmente von der unschönen Wahrhaftigkeit schaljapinscher Kunst der Nachwelt mitzuteilen ? Sie ist noch fürchterlicher geworden, das regt sie aber nicht mehr auf. Abgebrüht wie man ist, reagiert unsereins auf die Barden der “Oh Mensch“ Ära eher allergisch. Nun ist dem Melomanen das spröde, knurrige Timbre dieses Basso profondo durchaus ins Ohr gewachsen, nebst einigen anderen seines Fachs. Man denke an das sanft vernebelte Schmachten Ezio Pinzas, an den blausamtenen Umhang Alexander Kipnis’, den nobel gekörnten seduttore Cesare Siepi, den gruftigen Yi-Kwei Sze, die Orgel Mark Reizens, den mitternächtlichen Ol’ man river Paul Robeson; eine pelzige Wohltat nach der anderen. Unser Mann verhält sich anders, man wird nicht gewärmt von seinem schneidenden Organ, es geht unter die Haut, ist kreuzungemütlich wie ein Kirchenvater, kündet Verdammnis. So gehört er in den Klangkosmos der Schallplattengeschichte, kolossal vorhanden, auf Anhieb erkennbar wie all’ diese Altheiligen.

Zar Fjodor/ Wikipedia

Die Erschaffung der Schallplatte als künstlerisches Medium wird gewöhnlich auf den 11.4.1902 datiert, als ein 29jähriger Gott aus den Sielen Neapels im Mailänder Grand Hotel vier Matrizenseiten besang. Disc 1 der Schaljapin Gesamtedition des Restaurators Ward Marston korrigiert den Mythos Caruso, indem man einen ebenfalls 1873 Geborenen am 23.01.1902 im Continental Hotel Moskau vernimmt, der mit gleicher Pranke eine vokale Physiognomie in Wachs preßte, die noch vier Generationen danach so gegenwärtig scheint als sei hier die Vergänglichkeit unterbrochen. Nebst ihm und Caruso existiert kein weiterer so zeitloser Sänger unter den Männern.

Doch anders als das in Carrara Marmor gemeißelte Melodram des Napolitaners, schön wie der junge Morgen, ist Schaljapins Vortrag blutig, wächst aus der Erde, trägt ein Schicksal, eine schwarze Kruste, aus der die Freude als temporäre Erlösung von dem Übel heraussprudelt wie eine Fontäne. Die Stimmfarben sind  überreich, doch nie auf Farbeffekte angelegt wie bei dem eitlen Battistini. Und ob das Organ prunkvoll klingt oder mager, groß ist, ausgeglichen oder brüchig, ist ganz unbeachtlich. Dieser Mensch treibt Gesang um sein Herz aufzureißen, deklamiert nicht, sondern bohrt in den Abgründen als gäbe Dostojewski das Schreiben auf und heulte Lieder. Man kann gar nicht krass genug den Abstand betonen, zu dem was gemeinhin Stimmkunst ist, will und kann. Obwohl die seinige nach allen Regeln fabulös ist, hält man sie nicht dafür, weil das Artifizielle klassischen Singens spurlos verdunstet und er wie unbeschwert davon “im Wald und auf der Vogelweid’“ spaziert. Die Kunst fällt nirgends als Kunststück auf und ein Liebeslied besteht nicht aus Schmelz, sondern ist von Zärtlichkeit durchtränkt zum Steinerweichen.

Silbermünze zu Ehren Schaljapins/ wega

Seltsamerweise verträgt sich diese Magie mit Stücken, die man außerhalb ihrer Sphäre wähnt, Brahms’ Saphische Ode, Beethovens Tomba oscura, Griegs Intimitäten, Mozarts Registerarie. Bellini und Donizetti baden in lupenreinstem Legato; wenn er will, macht er es den Salbadern vor, und ohne Luftholen ! Man mag als die Vollendung aller Gaben die in der Marston Edition versammelten russischen Volkslieder aus der Aufnahmezeit 1902 – 1910 ansehen. Die Schlachtrösser des Repertoires – Boris, Mephisto, Philipp – wohnen bereits unkündbar in der Erinnerung, direkt aus seinem Munde oder auch transportiert von seinem großen Imitator Christoff. Der mag allerdings nicht von seinem Prachtorgan absehen. Die anspringende Lebendigkeit, das Mutterlaut Syndrom der schaljapinschen Vortragsart berührt jedoch am tiefsten in den unbegleiteten und wunderschönen Gesängen vom Versinken der Sonne, der Landstraße und dem Dahinfließen der ewigen Ströme. Hier ist Singen keine Darbietung mehr, sondern ein Daseinsakt wie Atmen, Gehen, Ruhen, Fühlen, das, was nicht anders geht !

 

Portrait of Fjodor Schaljapin – Boris Michailowitsch Kustodijew 1922/ Wiki engl.

Und nun sei die Großtat Ward Marstons gerühmt, der die Sisyphosarbeit des Besorgens und Reproduzierens dieses von 1902 – 1936 entstandenen Erbes von Schellacktürmen geleistet hat. Niemand außer einer Handvoll Gralshüter hätte je die Moskau- Petersburger Sitzungen 1902 – 1908 registriert; sie sind aber unerläßlich. Die damaligen Grenzen des Trichteraufnahmeverfahrens vergißt man anbetrachts der prallen Manneskraft des Dreißigjährigen, die darin halbwegs passabel aufbewahrt ist. Die nach Einsatz von Mikrophonen ab 1925 festgehaltene Stimme des Mittfünfzigers ist gravitätischer, schründiger, aber vollkommen intakt; gelegentlich verblüfft der Realismus der phonographischen Abbildung, verglichen mit dem heutigen Klangmatsch. Die letzten Aufnahmen 1933 – 1936 erreichen nachgerade High Fidelity. Wie kann man die vier Ausschnitte aus Don Quichotte, dem Ritter von der traurigen Gestalt, anders als mit gefalteten Händen hören ? Hier endet jede Vergleichbarkeit. Zwei Jahre vor seinem Tod schließt sich der Kreis mit dem Lied der Wolgaschiffer: “Ay-da, da ay, Ay-da, da ay. Pesni solnyshko poyom.“ – wir singen Lieder an die Sonne. Wahrlich !

Um wieder auf das Parisurteil Toscaninis zurückzukommen: Si, si; es ist begründet ! Der einzige Mißerfolg, einem Witz Schaljapins zufolge war, dass Nikolai ihm 1917 den Zarenthron nicht übergeben hat. Dann wäre die Russische Revolution nicht passiert. So kehrte er denn erst 56 Jahre nach seinem Tod in Paris heim, als Asche. Ward Marstons Edition zeigt aber an, dass die Glut in dem Rest nicht erlischt.

(Die Marston-Box enthält  13 CDs, 51301-2 (auf allen dieselbe),  veröffentlicht 2018. Es gibt ein reich illustriertes Beibuch mit allen Texten sowie Aufsätzen von Michael Scott, Michael Aspinall und Ward Marston, dazu persönliche Erinnerungen von Gerald Moore und Ivor Newton, English only, Texte jeweils in Originalsprache u. engl. Übersetzung.) Jörg Friedrich

Zum zweiten Mal auf CD

 

Vieles an Rossinis Eduardo e Cristina ist ungewöhnlich. Schon der Ort, das Königliche Schloss in Stockholm, will so gar nicht in die Reihe von Rossinis sonstigen Opernschauplätzen passen. Vielleicht versetzten die Librettisten Andrea Leone Tottola, der kurz zuvor für Ermione verantwortlich war, und Gherardo Bevilacqua-Aldobrandini die Story (nach Giovanni Schmidt Odoardo e Cristina) auch an einen Ort, der Rossini als das nördliche Ende der  Welt vorkommen musste, um zu verschleiern, dass die im April 1819 am Teatro San Benedetto in Venedig uraufgeführte zweiaktige Seria aus bestehendem Material zusammengeflickt war: aus Adelaide di Borgogna (Rom 1817), Ricciardo e Zoraide (Neapel 1818) und der kurz zuvor erfolglos uraufgeführten Ermione (Neapel 1819)Dazu ein paar rasch geschriebene Nummern und Rezitative, alles passend, um der Tochter des Impresarios ein glänzendes Debüt zu bereiten. Auch das Libretto war im Grunde solch ein Fleckerlteppich: das heimlich verheiratete Ehepaar Cristina und Eduardo, sie die Tochter des Königs, er General der schwedischen Armee, entstammt dem Typ des bürgerlichen Trauerspiels, der heroische Teil der Geschichte, Eduardos erfolgreicher Kampf gegen die Russen, der den schwedischen König Carlo dazu bewegt, dem Paar zu vergeben, entspricht der Tradition der Heldenoper à la Tancredi; auch in Eduardo und Cristina sind der Krieger Eduardo mit einem Kontraalt, der Vater mit einem Tenor besetzt.

Vorläufer war diese: „Eduardo e Cristina“, ebenfalls aus Wildbad 1997, bei Bongiovanni

Zwei Jahrzehnte feierte das Publikum Eduardo e Cristina. Dann wurde Eduardo e Cristina zu  „Rossinis forgotten opera“. Charles Jenigan, der im Beiheft zur Neuaufnahme auf die Praxis des Pasticcios eingeht – er verwendet weitgehend den Begriff centone – bemerkt richtig, Eduardo e Cristina „is perhaps the last centone by a major composer, written just before Romanticism made a work like it impossible“Eduardo e Cristina sei die letzte der Opern Rossinis, die in neuerer Zeit wieder auf die Bühne gelangte (1997 Bad Wildbad) und selbst das Rossini Opera Festival in Pesaro hat bislang einen Bogen darum gemacht. „Rossini in Wildbad“ stellt das heldische Pasticcio im Juli 2017 neuerlich konzertant vor; der Mitschnitt von 1997 unter Francesco Corti erschien bei Bongiovanni.

Mit der Neuaufnahme aus der Trinkhalle in Bad Wildbad fügt Naxos (2 CDs 8.660466-67) seinem Rossini-Katalog einen weiteren Baustein zu. Gianluigi Gelmetti leitet eine einerseits breit würdevolle, dennoch sehr vitale Aufführung, formt das „Best of“ geradezu lustvoll aus und treibt Chor, Orchester (die Virtuosi Bruenensis und den Camerata Bach Chor aus Posen) und Solisten zu einer spannend und dichten Aufführung an. Unkundige werden zunächst mit dem anfangs dünn wirkenden Klang des Orchesters, der vom Chor holzschnittartig intonierten Introduzione und der nicht ausgewogenen Balance fremdeln. Doch rasch packt Gelmettis Elan. Die gesanglichen Leistungen sind befriedigend. Man ist immer wieder überrascht, wie kompetent die Wildbader Primadonna Silvia Dalla Benetta sich die entlegensten Partien aneignet und ihnen ein Gesicht verlieht. Ihr Ton ist streng, ein bisschen fordernd, das Timbre keinesfalls verführerisch, sie singt aber stil- und gestaltungssicher, vor allem dramatisch. Als schwedischer General muss sich Laura Polverelli kräftig ins Zeug legen, ihr Eduardo wirkt wie Cristinas kleiner Bruder, wobei sie auf der CD vorteilhafter als live klingt. Immer geschmackvoll und mit schönem Timbre singt Kenneth Tarver den König Carlo, währen Baurzhan Anderzhanov leer ausgeht und als schottischer Prinz Giacomo weder die Hand der Prinzessin noch eine Arie bekam. Es gibt keine bessere Alternative!  Rolf Fath

Banales Märchenspiel

 

Der erste Entwurf des Bayreuther Lohengrin 2018 von Neo Rauch und Rosa Loy habe ihm Brabant als ein untergegangenes Land gezeigt, erzählt Yuval Sharon, „ohne Elektrizität, ein Land, das die Energie verloren und das Verlorene zum Göttlichen überhöht hat“. Entsprechend dunkel ist, es als der Heerrufer die Grafen, Edle und Freie von Brabant unter der Gerichtseiche zusammenruft, wo der König Heinrich mit hängenden Insektenflügeln auf einem Isolator kauert. Blaugrauer und schilfig dunkler als im Festspielhaus muten die Szenen auf den beiden DVDs der vorjährigen Bayreuther Aufführungen an (2 DVD DG 004400735616), wie ein alter Film, aus dem man bestimmte Farben herausgefiltert hat, ein Gemälde aus alten Zeiten, aus dem die Figuren in ihren historischem Wämsern, Radkragen und Kniebundhosen aus dem Transformatorenhäuschen in den Lichtkreis treten. Rauchs Kulissen und Sharons übersichtliche Arrangements setzen bewusst auf die Anmutung ausgestanzter Märchenbilder und niedlicher Szenen zwischen Bilderbuch und „Toteninsel“, van Dyck und böser Königin. Würden die Mannen keine Bärte tragen, könnte man sie ohne weiteres für die sieben Zwerge und ihre possierlichen Freunde halten. Dass diese Scharade nicht ins Banale und Lächerliche oder unfreiwillig Komische abrutscht, davor bewahrt sie Christian Thielemann, der die Musik so aufrichtig, ernsthaft und anrührend mit der Aura des Märchenhaften und Übersinnlichen entfaltet. Die Bildregie rückt den Betrachter nah ans Geschehen heran, meidet die Totale weitgehend oder unterstreicht beim Blick von schräg unten oder oben den Charakter des Figurentheaters oder märchenhaft Entrückten, wodurch sich der Eindruck von der Live-Aufführung etwas korrigiert, wirkt bei den Lichtblitzen, die das Papphäuschen beim Erscheinen des Superelektrikers Lohengrin durchzucken und der Luftnummer beim Zweikampf Lohengrins mit Telramund aber auch ein bisschen wie Augsburger Puppenkiste. Dadurch gerät die stets präsente und immer böse um die Ecke guckende Waltraud Meier ins Hintertreffen. Inmitten dieser flämischen und puppenspielhaften Veduten wirkt Lohengrin in seinem Piloten- oder Elektrikeroverall tatsächlich wie der Ritter aus einer fremden Welt. Piotr Beczala singt diesen zupackenden Handwerker mit der Zuversicht eines Sängers, der keine Uniform scheut und nie lächerlich wirkt, mit aufrichtigem Ton, der ganz zart und lyrisch bleibt, aber über ausreichend Durchsetzungsvermögen verfügt, um die Gesangsbögen zu formen und sie mit Nachdruck und Bedeutung zu unterlegen. Beczala spielt den Schwanenritter mit einer ätherischen Entrücktheit und Unschuld, zu schön, um wahr zu sein. Alle klingen, scheint mir, vorteilhafter als in der von mir im Vorjahr besuchten Aufführung. Auch Anja Harteros singt mit konzentrierterem Ton, wenngleich ohne den Dornröschenglanz, ist in „Euch Lüften“ vom einigem reifem Liebreiz, doch letztlich keine ideale Elsa. Mustergültig Georg Zeppenfeld als Heinrich mit schlankem, schön zentriertem und auf Linie bedachtem Bass, der auf den DVD nicht so leicht und hell wie im Haus klingt, voll dunkler Würde in seinem Gebet. Seinem Heerrufer, einen eifernden politischen Steifbügelhalter, gibt Egils Silins wütende Attacke und ironische Zwischentöne, Tomas Konieczny dem Telramund berstende Wucht. Szenisch ist seine Begegnung mit der wilden Seherin auf der DVD womöglich noch uninteressanter als live. Auch wenn Waltraud Meier als kluge, weniger intrigante als raffinierte Ortrud – Sharon bezeichnet sie als „Überlebenskünstlerin“, die „beabsichtigt, Elsa vor der giftigen Gesellschaft zu retten, um sie in eine Freidenkende zu verwandeln“ –  nach dreißig Jahren in ihrem letzten Bayreuther Festspielsommer mit sorgfältiger Diktion und stimmgestalterischer Autorität die Summe ihre Erfahrung zieht und in den „Entweihten Göttern“ geschickt ihre Grenzen ausreizt.

Auf DVD habe ich dieses drollig unvollkommene, platt papierene Märchenspiel von der Emanzipation der Elsa, die anfangs demütig zu ihrem Retter aufblickt, sich im orangefarbenen Schlafgemach und schließlich im ebenso schrill orangefarbenen Kleid als Ausreißerin erweist, ihr Ränzel packt und mit dem grünen Männchen davon geht – Sharon ist alles andere als ein Meister der Personenführung –  eher genossen als im Festspielhaus Rolf Fath

Olè

 

Die spanische Sopranistin Nuria Rial macht bei ihrer Stammfirma deutsche harmonia mundi/Sony immer wieder mit ausgefallenen Programmen auf sich aufmerksam. Jetzt hat sie unter dem Titel Muera Cupido spanische Bühnenmusik um 1700 herausgebracht, die 2018 in Sevilla aufgenommen wurde (19075868472). Die Auswahl umfasst Kompositionen von Francisco Guerau, Sebastián Durón, Giovanni Bononcini und José de Nebra. Letzterer dürfte der bekannteste Tonschöpfer der Anthlogie sein, nicht selten wurde er gar als der beste spanische Komponist des 18. Jahrhunderts betrachtet. Er schrieb Zarzuelas und Opern, verband darin Elemente des italienischen Stils mit volkstümlichen spanischen Rhythmen, wie Fandango und Seguidilla, was ihn zum prominentesten Vertreter der Madrider Bühnenmusik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte. Aus der Zarzuela Viento es la dicha de Amor stammt die Arie „Selva Florida“. Die Sopranistin stattet dieses Liebeslied mit zärtlich-weichen Tönen und fein getupften staccati aus. Aus einer weiteren Zarzuela, Vendado es amor, no es ciego, erklingt der rhythmisch reizvolle Fandango „Tempestad grande, amigo“, in welchem die Sängerin mit südländischem Temperament für sich einnimmt. Die Arie „Adiós, prenda de mi amor“ aus der Oper Amor aumenta el valo beschließt die Sammlung  eher nachdenklich.

Begonnen hatte sie mit einem Instrumentalstück von Guerau, einer Pavane, arrangiert vom Dirigenten der Aufnahme, wie später auch die Xácara desselben Komponisten. Die ersten Vokalbeiträge stammen von Durón aus dessen Zarzuelas El imposible mayor en amor le vence Amor und Las nuevas armas de Amor. Die Aria „Yo  hermosísima Ninfa“  aus ersterer Komposition stellt den Sopran mit kristallklarem wie lieblichem Ton ins beste Licht. Auch die Arietta ytaliana „Quantos teméis al rigor“ aus der zweiten entzückt mit reizenden Klängen von kokettem Ausdruck. Später hört man mit „Sosieguen, descansen“ noch ein kapriziöses Solo humano aus seiner Zarzuela Salir el Amor del Mundo. Bononcinis Kantate „Pastorella che tra le selve“ gehört zum Bestand der Spanischen Nationalbibliothek. Deren heiter-pastoralen Charakter kann die Sopranistin mit munterem Gesang bestens vermitteln. In einer anonymen Komposition, der Cantada „All’assalto de pensieri“, ist vor allem Virtuosität gefragt, welcher die Interpretin mühelos gerecht wird. Von der Accademia del Piacere unter Leitung von Fahmi Alqhai wird sie inspirierend und sehr Affekt betont begleitet. Bernd Hoppe