Archiv für den Monat: November 2023

Maria Callas zum 100.

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Kein anderer Künstler oder Künstlerin ist in unserer Zeit so hochgehypt, so ausgequetscht, so vermarktet worden wie Maria Callas. Ihr Name ist selbst bei Klassik-Abgeneigten ein fester Begriff. Ihre Aufnahmen, vor allem auch die Live-Aufnahmen, sind (ehemals auf dem grauen Markt und manche bei der EMI, zuletzt nun Warner als deren Erbin) milliardenfach ganz oder auseinandergerissen verkauft worden. Sie erfüllte die Sehnsüchte der Fans nach Teilhabe am glamourösen Leben, sie verkörperte das Märchen von der grauen Ente, die zum stolzen Schwan wurde Sie ist bis heute Projektionsfläche für alles, was mit Kunst und Glamour zusammenhängt. Keine wie sie steht so repräsentativ für das Genre Oper. Anna Netrebko, Beverly Sills, Joan Sutherland und viele viele andere segelten und segeln in ihrem Fahrwasser. Bis heute. Sie hat der Welt der Oper die ideale, überdimensionale Diva zurückgegeben. Die Göttlichkeit der Kunst oder das Göttliche in dieser. Aber eben auch die zerbrechliche Menschlichkeit des Künstlers.

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Maria Callas in Hamburg/ Foto EMI

Am 2. Dezember 2023 jährt sich der Geburtstag von Maria Callas zum 100. Mal. Alles, alles, absolut alles ist über sie gesagt, und nur ganz wenige von uns Lebenden haben sie live erlebt (vielleicht ihre letzten Konzerte noch, und die optischen Dokumente vermitteln natürlich nicht die Magie ihrer Auftritte und haben oft – wie die Londoner Tosca – eher etwas unfreiwillig Komisches, Gestriges).

Ihre eigentliche Stärke, Ausdruckskraft, Vehemenz ebenso wie Sensibilität erschließen sich am ehesten und besten für die Nachgeborenen in ihren Live-Aufnahmen, von denen viele erhalten sind und von denen die Sammler alle haben. In unterschiedlichen Pressungen und akustischen Bedingungen.

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Es ist ja nach wie vor ein unergründliches Geheimnis, warum diese Live-Aufnahmen nur als Unikate existieren (bis auf Bellinis Pirata aus New York, den es wie die Anna Bolena der Scala sogar als alternativen house wire in Stereo gibt, ebenso  auch die Vespri 1951 aus Florenz bei Testament in erstaunlicher Qualität).  Hat denn in ganz Italien der Fünfziger nur ein einziger Fan am Radio mitgeschnitten? Gibt es jeweils nur diese einzige Aufnahme? Die originalen Bänder der RAI sind es nicht, die hat die ihren vernichtet – unbegreiflich, aber eben leider wahr. Von anderen Vorstellungen, wie etwa dem Don Carlo oder der Fedora, gibt es nichts – wenn auch hier gemunkelt wird, Frau Corelli hätte „nur“ die Auftritte ihres Mannes festgehalten, aber die sind verschwunden, wenn sie denn je existiert haben. Ebenso auch ein Gesamt-Piraten-Mitschnitt der Fedora. Wie auch der Tristan oder die Walküre aus ihren Anfängen in Italien. Der Ursprung dieser erhaltenen Live-Bänder bleibt mysteriös. Im Macbeth hörte man zudem am Ende von Akt 1 auf den frühen LP-Ausgaben (so Morgan) noch den ab- und ausfallenden Ton, überlagert von den Nachrichten der RAI. Das wurde später von Nikos Vellissiotis für seine Arkadia-Edition repariert und das fehlende Ende von Akt 1 mit einem Ausschnitt aus der Palermo-Aufnahme der Oper mit Leyla Gencer repariert, so zu hören auch in der EMI-Übernahme. Vellissiotis verklagte damals erfolgreich die EMI wegen der „Übernahme“ „seines“ Macbeth auf einen Vergleich, in Ricordi Shops Italiens standen Arkadia und EMI lange friedlich nebeneinander in den Regalen.

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Aber eben: Woher stammen die Live-Aufnahmen ursprünglich? Dass die RAI-Bänder nicht mehr existieren, weiß ich von Ina Delcampo/Melodram, die beste Beziehungen zur RAI und viele ihrer Titel von dieser bezogen hatte, zumal ihr Sohn Stefan Felderer zu den begabtesten Tonrestauratoren gehörte und viele Sammler seine Überspielungen (und auch die von Naxos) anderen vorziehen…

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Nun hat die Nachfolgerin ihrer Exklusivfirma EMI, die Warner, alle ihre dort versammelten Aufnahmen  noch einmal herausgegeben, („Maria Callas in all her roles“, 131 CDs, 3 Blurays & HDBluray-CDs, 5054197473951),  dazu aufgehübscht ein paar Blurays ihrer optisch bekannten Konzerte, in HD-Bluray–Qualität ein paar nur-akustische Auftritte dazu, die schlecht beratenen Julliard-Masterclasses (nicht die ja auch vorhandenen Interview mit Davids Frost und anderen) – alles bekannt. Und auch nicht ganz richtig, denn „all her roles“ bedeutet, alle Partien, die sie gesungen hat, und zum einen sind nur Arien keine Partien, und zum zweiten gibt es weder der Fidelio, noch Marta/Tiefland, Smaragda (in O Protomastoras von Kalomiris), die Walküre, noch die Fedora, noch die Isolde und mehr. Es müsste heißen „in all her at Warner documented roles and arias“! Also ein wenig genauer wäre schön gewesen …

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Neu sind nur (die allerdings bei Divina bereits herausgekommenen)  „Studio altenative takes and studio-sessions“ aus den Jahren 1964 – 1968 in Paris unter Nicola Rescigno, Vor-Studien zu den von ihr auf ihren Recitals dann veröffentlichten Opernarien von Rossini, Donizetti, Verdi Weber, Bizet und Berlioz. Eingefangen sind auch einige Gespräche über der Interpretation mit Rescigno, also eine Art work-in-progress Dokument, was ganz spannend ist (CD 131).

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Vermissen tut der Fan die bei Philips unter Antonio de Almeida aufgenommenen und von ihr nicht freigegebenen Duette mit Giuseppe di Stefano (Forza del Destino; I Vespri Sicilani, Don Carlo, Aida, Otello) von 1972, die wären doch ein Schmankerl für Kauffreudige gewesen und hätten das Übernahme-Geld gelohnt. Und Duette mit Franco Corelli soll es auch geben (dto. Philips), munkelt die Szene der Accolyten… Es wäre vielleicht auch möglich gewesen, die wirklich erstaunlichen Dokumente aus dem bedeutenden Film „Maria by Callas“ zu übernehmen (Butterfly und anderes optisch, wirklich aufregend und zudem: was für ein toller, bewegender Film!). Und Callas-Fans wie ich hätten da noch eine längere Wunschliste …

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Aber – ganz ehrlich – ändern diese Schnipsel und geheimnisumwobenen Raritäten etwas an der Wirkung der Stimme und vor allem an der Kunst der Sängerin Maria Callas? Wir haben uns bei operalounge ja stets von dem Klatsch, den Schlüssellochberichten, den Sentimentalisierungen und Psychologisierungen der Diva ferngehalten. Zur Einschätzung ihrer Wirkung nützen weder ersteigerte Intimwäsche (doch noch, das gabs) noch Hochglanzfotos in verklebten Leitz-Klarsichttaschen. Was bleibt ist der ganz unmittelbare Eindruck ihrer gestalterischen Kunst, die vergessen macht, dass ihre Stimme eigentlich keine schöne, glatte, palatable war, sondern eine fordernde, aggressive, beunruhigende mit einer ganz eigenen „message“ und Farbe. „Keine wie sie“, möchte man sagen, und das ist in einer jetzigen Welt der Beliebigkeit und glattgebügelten Austauschbarkeit etwas bis heute Beunruhigendes, Wunderbares.

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Freundinnen und Kolleginnen: Maria Callas und Elisabeth Schwarzkopf in Mailand während der Aufnahmen zur „Turandot“/Piccagliani/Schwarzkopf/ISBN 978-3884530184

Und als PS.: eine interessante Richtigstellung zum relativ frühen Abstieg in der Stimme der Maria Callas, der ja allgemein ihrem neuen Jet-Set-Lebenswandel, ihrem Abhungern oder intensiven Privatleben mit Onasssis zugeschrieben wird. Elisabeth Schwarzkopf, die mit der Callas nicht nur in der Turandot-Aufnahme sang sondern auch mit ihr befreundet war, gibt als Grund eine nicht behandelte/auskurierte Sinusitis an. Was sie ganz sicher als Kollegin und besorgte Freundin beurteilen konnte. In den berühmten „Schwarzkopf-Tapes“, die der englische Musikjournalist Alan Sanders aufgrund seiner Gespräche mit Elisabeth Schwarzkopf über das Jefferson-Buch über die Schwarzkopf herausgegeben hat (Alan Jefferson: Elisabeth Schwarzkof, Gollancz 1996):. Er las ihr Stellen aus dem Jefferson-Buch vor. Sie antwortete empört und an sehr vielen Stellen vernichtend berichtigend dazu, war das Buch doch ohne sie und gegen ihren Willen geschrieben worden. Sie sagt zur Callas (ich zitiere den ganzen Absatz):

AS. (liest Jefferson vor): In the 1950s and early 1960s the leading international soprano from the special category of the Wagnerians, were Maria Callas and L Schwarzkopf so different…

ES: Oh no, no, no. Because there was still Tebaldi, also you know, for instance …

AS: Los Angeles?

ES: Los Angeles of course, you see, sure.

AS (liest weiter): … in every way that there could be no rivalry between them. Schwarzkopf was never one to make public scenes, to court the press or to walk out; she was totally professional, going about her job undemonstratively and producing a superbly finished product. This resulted in a far longer career than the tragic American-Greek diva, who burned herself out far too soon.

ES: He doesn’t know about it, what happened. He shouldn’t imagine, none of them knows – they should be silent about that, you see. Besides, they are now writing about a poor woman who cannot take sense to what they say and it is really a scandal of all time. Besides, what has it got to do with her singing? Nothing. And you know not even her deterioration had to do with her private life. Oh no. She had for two years suffered from – what do you call it? – Sinusitis, yes. It wasn’t detected and so she sang against all this being filled up and she wanted to find the resonances which were not possible to find because those things were filled with pus. And Walter took her to [Dr] Griffith that’s when he (i. e. Walter) sat there holding her hand and he said, „Maria, don´t be frightened – after all, you are a Greek“. And she said, „Yes, but I am a frightened little Greek“, you see.

AS: … the tragic American-Greek diva, who burned herself out far too so.

ES: What does he know about this, the silly clot?

(Interview mit Alan Sanders in „The Schwarzkopf Tapes“, 2010; Classical Recordings Quaterly/ The Elisabeth Schwarzkopf/Walter Legge Society ISBN 978-0-95673561-0-9, p. 29)

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Und noch ein PS.: Es gibt eine Theorie (von Harold Rosenthal, dem Begründer des englischen Opernmagazins Opera und eminenter Stimmenkenner seiner Zeit), dass die vielbeschworene Belcanto-Ausbildung der Callas bei Elvira del Hidalgo in Athen die ursprünglich riesige Stimme der Callas wie durch ein Nadelöhr zwängte und dadurch zwar wendig, aber auch klein machte, so als ob man einen Jeep mit einem Porsche-Motor versehen würde, was zur Kurzlebigkeit der Stimme beitrug. Darüber kann man sich streiten, wenngleich die Dokumente aus der üppigen, robusten Nachkriegsphase dem zuarbeiten würden. Es gibt aber noch eine Anekdote um Rosenthal, der – befragt zu seiner Meinung zur Callas-Norma in London 1952 – antwortete: „Wonderful, but isn´t it sad?“ und andeutete, dass er den kommenden Verschleiß bereits hören konnte – eine weitsichtige Bemerkung.

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Nachstehend nun der Artikel über die 131 CDs (nebst DVDs) in der Warner Box „Maria Callas in all her roles“, den wir mit freundlicher Genehmigung der Firma und mit Dank wiedergeben. Wobei man auf ein gewisses grano salis hinweisen muss, denn es gibt – anders als mit dieser Edition der Eindruck entstehen mag – hier nicht, wie erwähnt,  alle Rollen und eben auch recht viele weitere Live-Aufnahmen der Callas, die auf anderen Labels wie Melodram (der Mutter der Live-Aufnahmen), Divina et al. herauskamen. So die wirklich aufregende Lucia aus Rom 1957/Melodram neben Fernandi (die Callas krank und ihre ganze Kunst zusammenraffend zu überwältigendem Eindruck) oder die für mich unerreichte RAI-Norma konzertant 1955 (mit Stignani und del Monaco in Rom unter Serafin/Cetra im Sommer vor der Scala-Premiere). Diese und viele andere sind im Laufe der Bereinigung des „grauen Marktes“ von diesem verschwunden, zum Bedauern der Sammler.

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Nun also zur Box: Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde Maria Callas im New Yorker Flower Hospital geboren, an der 5th Avenue beim Central Park. Nur wenige Monate zuvor waren ihre Eltern aus der griechischen Stadt Patras in die USA übergesiedelt, wo sie sich jenseits des East River, gegenüber von Manhattan, im Stadtteil Queens niederließen. Die vorliegende Sammlung La Divina: Maria Callas in all her roles geht den Etappen ihrer unvergleichlichen Karriere nach – im Aufnahmestudio, im Opernhaus und im Konzertsaal. Dafür wurden sämtliche verfügbaren Quellen aus den Jahren 1949 bis 1965 herangezogen – und als Überraschung einige Verdi-Aufnahmen, die 1969, vier Jahre nach Callas‘ letztem Buhnenauftritt, entstanden.

Die vorliegende Box kombiniert zum ersten Mal alle Studioaufnahmen der Callas, die 2014 in den Abbey Road Studios digital remastered wurden, mit Live-Aufnahmen ihrer Bühnenauftritte und Solokonzerte. Die Tonqualität dieser Mitschnitte, die größtenteils aus Radiosendungen stammen, ist zwangsläufig recht unterschiedlich, doch das Art et Son Studio in Annecy hat sie restauriert und optimiert. Die Sammlung folgt Callas‘ Opernrollen und hat sich zum Ziel gesetzt, jede Arie sowohl in einer Studio- als auch einer Live-Aufnahme vorzustellen. Beide Arten von Quellen ergänzen sich, und beide sind wichtig, um die Vielfalt der Rollen, die Maria Callas im jeweiligen Kontext gesungen hat, so gut wie möglich zu dokumentieren und zu illustrieren.

Nach einer Reihe von Übernahmen und Zusammenschlüssen von Unternehmen der Plattenindustrie sind alle Studioaufnahmen von Maria Callas heute bei Warner Classics gelistet. Anfänglich stand sie beim Label Cetra-Soria unter Vertrag, das der ehemalige CBS-Manager Dario Pellegrino Soria gegründet hatte (Kommentar s. unten). Im Jahr 1949 nahm sie dort drei Arien für 78er-Schallplatten auf. Von den vier Operngesamtaufnahmen, die ihr Vertrag vorsah, wurden nur zwei verwirklicht: La Gioconda im Jahr 1952 (Callas hatte 1947 ihr Italien-Debut in der Titelrolle gegeben) und La traviata im Jahr 1953. Manon Lescaut (eine Rolle, die Callas nie auf der Bühne gesungen hat) wurde erst 1957 für EMI eingespielt. Die geplante Studio-Aufnahme von Boitos Mefistofele kam nie zustande, 1954 interpretierte die Sängerin jedoch Margherita in Verona.

Im Jahr 1953, in dem Callas La traviata in Turin aufnahm, verkaufte Soria sein Label an Capitol Records und begann mit EMI und RCA zusammenzuarbeiten. Nach langwierigen Verhandlungen mit Walter Legge hatte Callas 1952 einen Folgevertrag mit dem mächtigen EMI-Produzenten unterzeichnet. Infolge der Übernahme der Rechte an den Aufnahmen verwaltet heute Warner Classics die gesamte Cetra-Soria- und EMI- Columbia-Diskografie von Maria Callas. Ihre Zusammenarbeit mit EMI begann Anfang 1953 mit einer spektakulären Lucia di Lammermoor unter Tullio Serafin, Callas‘ wichtigstem musikalischen Mentor neben Elvira de Hidalgo, ihrer Gesangslehrerin am Konservatorium in Athen. Es folgten I puritani, Cavalleria rusticana (Santuzza war 1939 ihre erste Opernrolle als Studentin in Athen gewesen) und eine gefeierte Tosca unter Victor de Sabata, ein Meilenstein des Opernrepertoires. Im Laufe dieser Zeit orientierte sie sich im Opernfach neu und setzte zunehmend auf Belcanto-Werke.

Maria Callas‘ Aufnahmetätigkeit war damals ausserordentlich rege: Von 1952 bis 1957 vollendete sie 21 Opern-Gesamtaufnahmen, die meisten davon mit dem Orchester der Mailänder Scala. Es folgten Stereoversionen von drei zuvor in Mono eingespielten Opern: Lucia di Lammermoor (1959), La Gioconda (1959) und Norma (1960). Ihre letzten Opern-Gesamtaufnahmen entstanden 1964 in Paris, wo sie Anfang der 1960er Jahre eine neue Heimat gefunden hatte: Carmen – eine Rolle, die sie nie auf der Buhne inter­pretierte – und eine weitere Tosca. Neben Opern nahm sie Soloalben auf, in denen sie nicht nur ihr Bühnenrepertoire verewigte, sondern sich auch an Rollen wagte, die sie nie komplett interpretiert hat, weder auf der Bühne noch im Studio. Nach den 1949 aufgezeichneten Arien entstanden zwischen 1954 und 1958 fünf Solo-LPs in London und Mailand sowie Anfang der 1960er-Jahre sechs weitere in Paris.

Nach zwei unergiebigen Jahren in New York (1945-47) debütierte Callas in Verona. Die um 1950 entstandenen Studioaufnahmen konnen ihren damaligen Glanz nur ansatzweise vermitteln. Zu dieser Zeit hatte sich ihre Stimme zu höchster Blüte entfaltet; im überaus arbeitsreichen Jahrzehnt von 1948 bis 1958 verfeinerte sie kontinuierlich ihre Gesangskunst, obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie mit ersten stimmlichen Problemen zu kämpfen hatte, die in erster Linie aus einem geschwächten Selbstvertrauen resultierten. Dank ihrer verbesserten Gesangstechnik konnte sie die zunehmende Anfälligkeit ihrer Stimme ausgleichen. Deshalb sind auch die Aufnahmen von Callas‘ Radiosendungen (meist bei der italienischen Rundfunk-anstalt RAI) so bedeutsam: Sie ermöglichen es, dieser »Jahrhundertstimme« gerecht zu werden und – ergänzend zu ihren Cetra- und EMI-LPs – die gesamte Bandbreite ihres Repertoires zu erfassen, das von der Klassik (die starker vertreten ist, als man denken konnte) uber die Belcanto-Opern der Frühromantik bis zu Wagner, Verdi, den Komponisten des Verismo und Puccini reicht.

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Maria Callas: Fidelio in Athen 1944/Petsalis-Diomidis

Der früheste erhaltene Live-Mitschnitt einer kompletten Oper mit Callas ist ein Nabucco aus Neapel vom 20. 12. 1949. (Die beiden kompletten Mitschnitte von Norma und Turandot in Buenos Aires sind allerdings vom Mai und Juli desselben Jahres/s. Melodram/ G. H.) Die selbstbewusste junge Sopranistin läuft hier stimmlich und musikalisch zu Höchstform auf. Die weiteren Mitschnitte von (in dieser Box versammelten/G. H.) Opernvorstellungen aus den Jahren um 1950 umfassen: Parsifal (RAI, Rom 1950 – Callas‘ einzige aufgezeichnete Wagner-Rolle, auf Italienisch gesungen); I vespri siciliani (Florenz 1951); Aida (Mexiko 1951); Armida (Florenz 1952); Rigoletto (Mexiko 1952); Norma (London 1952) und Macbeth (Mailänder Scala 1952).

Ab 1952 erschienen ihre ersten Studioaufnahmen vollständiger Opern, die von Live-Mitschnitten, vor allem aus der Scala, »überschattet« wurden: 1953 Medea; 1954 Alceste und La vestale; 1955 Andrea Chenier, La sonnam­bula und La traviata (die legendäre Visconti-Inszenierung) an der Scala sowie Lucia di Lammermoor in Berlin; 1957 Anna Bolena, Ifigenia in Tauride (die letzte Zusammenarbeit von Visconti und Callas an der Scala) und Un ballo in maschera in Mailand sowie La sonnambula in Köln. In den folgenden Jahren entstanden die legendäre Aufnahme der Traviata von 1958 in Lissabon, Il pirata in der New Yorker Carnegie Hall (1959) und Poliuto (1960) an der Scala – die letzte Produktion, in der Callas eine neue Rolle übernahm. Hinzu kommt die 1964 im Londoner Royal Opera House aufgenommene Tosca, die Oper, mit der sie 1965 ihren Abschied von der Bühne nahm.

Maria Callas als Smaragda in Kalomiris´“O Protomastoras“, Athen 1942/in „The unknown Maria Callas – The Greek Years“ von Nicholas Petsalis-Diomidis, Amadeaus 2001 – absolut empfehlenswert über die frühen Jahre ihrer Karriere (ISBNB 978-1574670592/ Amazon)

Neben den erwähnten Live-Aufnahmen vollstandiger Opern sind eine Reihe von Konzertmitschnitten erhalten, darunter einige Radiosendungen, die die RAI zwischen 1951 und 1956 in der Reihe Grandi Concerti Martini & Rossi ausstrahlte; das Konzert, mit dem Callas 1957 ihre Rückkehr nach Athen feierte; ihr im Fernsehen übertragenes Pariser Debut von 1958 mit dem Zweiten Akt von Tosca (auch auf Blu-ray verfügbar); einige Etappen aus ihrer Tournee von 1959 (Hamburg, Stuttgart, Amsterdam) sowie Aufnah­men der frühen 1960er-Jahre aus London und Paris.

Die in der Box enthaltenen Blu-ray Discs umfassen auch Videos ihrer Konzerte in Hamburg 1959 und 1962, im Londoner Royal Opera House 1962 (mit einer Kostprobe ihrer Carmen) und eine weitere Fassung des Zweiten Akts von Tosca, die 1964 in London entstand. Quelle: Warner

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Und noch ein PS. zur Geschichte der italienischen Firma Cetra, die der obige Warner-Artikel als Produkt von Soria darstellt, was nicht richtig ist. Die staatliche Cetra war die Nachfolgerin der Staatsfirma EIAR (Turandot mit Gina Cigna etc.) und veröffentlichte weitgehend Radiomitschnitte der Fünfziger, so die Verdi-Opern aus dem Jubiläumsjahr 1951. Später fusionierte sie mit einer anderen Firme als Fonit Cetra und wurde in den Achtzigern von Warner aufgekauft. Soria war die amerikanische Vetriebsfirma, die auch andere Firmen im Programm hatte und das amerikanische Label Angel gründete, das später zum EMI-Imperium wanderte/daher der kleine Engel auf den Etiketten. G. H.

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Dazu Wikipedia: C.e.t.r.a. (the name is the acronym of Compagnia per edizioni, teatro, registrazioni ed affini) was born in Turin on April 10, 1933 on the initiative of the Italian Agency for Radio Auditions (EIAR), which decides to transform the Edizioni musicali Radiofono, active since 15 September 1923 (and owned by him) in the record company, changing its name to Cetra Società Anonima; later the company will become a joint stock company. Initially, the Cetra only made its own recordings and the distribution of the discs, for the printing of which it used instead of the Parlophon as easily found on the labels.

In a short time, also starting the printing of its own records and with its own machinery, it became one of the leading companies in the Italian discography (at the time only 78 rpm records were printed), thanks above all to the link with the radio company EIAR, that all the major singers broadcast by the radio then recorded for the Cetra. (…) With an act dated December 16, 1957, Fonit and Cetra decided to merge into a new company, Fonit Cetra; the Cetra brand continues to exist within the new company.. (…) The company was notable for issuing many recordings of obscure or seldom heard operas and the more obscure operas of Giuseppe Verdi to coincide with the 50th anniversary of the composer’s 1901 death in 1951. Cetra opera albums were first distributed in the United States on the Cetra-Soria label (founded by Dario and Dorle Soria, who later founded Angel Records). Beginning in 1966, several Cetra opera recordings were distributed in the U.S. by Everest Records. Quelle Wikipedia 

Licht und Schatten

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Der Tenor Richard Resch sucht – und findet einen auffällig traditionellen Interpretationsansatz für seine Aufnahme der Winterreise von Franz Schubert. Sie ist bei Da Vinci Classics erschienen (C00763). Begleitet wird er vom brasilianisch-amerikanischen Pianisten Diego Caetano. Der Sänger lässt sich Zeit, er hetzt nicht durch Noten und Text. Es ist ihm wichtig, verstanden zu werden. Und das wird er auch. Resch singt eine leise Winterreise, vermeidet Härten und grelle Ausschweifungen. Sein Wanderer ist von sanfter Natur. Mitunter etwas zu sanft. Er wehrt sich gegen nichts. Kein Wunder, dass die Geschichte endet wie sie endet – in Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Die Details im Vortrag sind diskret und fein ausgearbeitet und entsprechen wohl auch den technischen Möglichkeiten seines lyrischen Tenors. Der Begleiter folgt ihm bei diesem Konzept.

In Regensburg geboren, erhielt Resch seine erste musikalische Ausbildung am humanistischen Musikgymnasium der Domspatzen, wobei er von Anfang an mit einem breiten musikalischen Repertoire in Berührung kam und mit vielen namhaften Künstlern zusammenarbeiten durfte, ist auf seiner Homepage zu lesen. Nach seinem Abitur habe er zunächst Elementare Musikpädagogik, Klavier- und Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg studiert. Neben seiner sängerischen Tätigkeit belegte er den eigenen Angaben zufolge noch ein Studium der Musikvermittlung und Konzertpädagogik am Leopold-Mozart-Zentrum und vertiefte anschließend seine Kenntnisse in Alter Musik und Ensemblegesang an der Hochschule für Alte Musik „Schola Cantorum Basiliensis“ der Musikakademie Basel. Eine intensive Beziehung hat sich Resch in seiner bisherigen Laufbahn zur Barockmusik erarbeitet. Davon scheint auch seine Aufnahme der Winterreise zu profitieren, die ganz bewusst als Erzählung des Geschehens angelegt scheint und deshalb auch an die großen Rezitative in den Oratorien von Johann Sebastian Bach erinnert.

Als problematisch erweist sich die Sängerbesetzung bei einer weiteren CD von Da Vinci Classics. Darauf singt Giuseppe Auletta, begleitet von seinem Zwillingsbruder Giovanni Lieder von Wilhelm Kempff (C00772). Kempff wirkte nicht nur als Pianist, er hat auch komponiert. Sein Werk ist ausgesprochen vielfältig und umfasst alle musikalischen Genres, einschließlich Opern. Nur wenige Werke sind je auf Tonträger gelangt. Aus seinem Liedschaffen hatte sich – um seinen bekanntesten Interpreten zu nennen – Dietrich Fischer-Dieskau für eine Schallplatte der Deutschen Grammophon bedient, auf der berühmte Intertreten mit eigenen Kompositionen vorgestellt wurden, darunter auch Ferruccio Busoni, Adolf Busch und Bruno Walter. Es ist also nur zu begrüßen, wenn derartige Ausgrabungen erfolgen. Für die neue CD wurden achtzehn Lieder von Kempff ausgewählt, darunter zwei kleine Zyklen nach Gedichten von Goethe und dem Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer. Sie gehörten zu den bevorzugten Autoren des komponierenden Pianisten, der seinem Lebensabend in Positano an der Amalfiküste verbrachte, wo er 1991 starb. Italien war seine Wahlheimat geworden. Folglich wandte er sich auch Verse mit italienischen Themen wie Meyers „Auf dem Canal Grande“ zu. Kempffs Tonsprache ist sehr erfindungsreich. Am ehesten erinnert sie an Hugo Wolf. Durch Auletta wird das aber nicht entfernt so deutlich wie durch Fischer-Dieskau. Er bleibt Kempff alles schuldig, hadert stimmlich mit Höhen, Tiefen und mit der deutschen Sprache, verwechselt die Lieder mit italienischen Schlagern. R.W.

„Eigentlich gar keine Oper“

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Eine knappe Stunde Tristan und Isolde ohne Gesang. Ist das überhaupt möglich? Für das Solistenensemble D’Accord schon. Es hat eine Version mit Streichseptett eingespielt. Die sieben Musiker sind Martina Trumpp, von der die Bearbeitung stammt, und Franziska Bauer (Violine), Daniel Schwartz und Stephan Knies (Viola), Guillaume Artus und Nicola Pfeffer (Cello) sowie Benedikt Büscher (Kontrabass). Erschienen ist die CD in umweltfreundlichem Karton bei Caviello Classics (COV 92311). Die Fassung folgt dem Aufbau des Musikdramas, das Richard Wagner selbst als Handlung in drei Aufzügen hatte verstanden wissen wollen. Auf die jeweiligen drei Vorspiele folgen die konkreten Geschehnisse, die so bezeichnet sind, dass die Hörer auf Anhieb wissen, an welcher Stelle sich die Handlung jeweils befindet. Oft reichen Textzitate wie „Frisch weht der Wind der Heimat zu“ aus dem Lied des jungen Seemanns oder „Einsam wachend in der Nacht“ aus Brangänes Wachgesang. Dann wieder sind einzelne Szenen etwas lakonisch vermerkt. Liebestrank, Ankunft auf der Burg, Jagd, Sehnsucht oder Tristans Tod, heißt es dann. Der Schluss aber, auf den alles hinausläuft in dem Werk, ist in aller Ausführlichkeit beschrieben mit „Mild und leise“ (Isoldes Liebestod). Tristan-Vertraute hätten die Notizen nicht gebraucht. Sie wisse im Schlaf, welche Musik in welcher Situation erklingt. Doch sie sind vielleicht auch nicht die ersten Adressaten für die Neuerscheinung. Sie wollen das Werk wohl auch gesungen und auf der Bühne aufgeführt erleben. Wer aber auf Gesang keinen sonderlichen Wert legt – dafür gibt es schließlich auch gute Gründe – und Wagner dennoch liebt, der ist bestens bedient mit dieser Version. Sie betont den sinfonischen Charakter der Musik.

Das Ensemble hat im Booklet Cosima Wagner als Zeugin aufgerufen. Sie habe in ihren Tagebüchern geschrieben, dass Tristan und Isolde „eigentlich gar keine Oper sei“ – jedenfalls „keine für Singstimmen mit Handlung und Orchesterbegleitung“. Wagner habe sich in diesem Werk „einmal ganz symphonisch geben“ wollen, ein Geflecht aus Harmonien undunendlicher Melodie“ erschaffen, in dem Gesang nicht unbedingt die Hauptrolle spiele. Das Experiment finde ich sehr gelungen. Ich habe die Stimmen nicht vermisst. Das Septett gleicht sie durch seinen feinsinnigen und hochsensiblen Vortrag aus. R.W.

Ein Liederzyklus in Gestalt einer Sinfonie

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Bereits vor knapp anderthalb Jahrzehnten legte Alpha eine formidable Einspielung der Sinfonie Nr. 14 von Dmitri Schostakowitsch vor. Es dirigierte Teodor Currentzis, seinerzeit noch weitestgehend unumstrittener Shootingstar der Klassikszene. Nun also eine Neuaufnahme desselben Labels, diesmal aus Frankreich (Alpha 918). Am Pult steht der finnische Dirigent Mikko Franck, seit 2015 musikalischer Leiter des Orchestre Philharmonique de Radio France, welches hier sinnigerweise auch zum Zuge kommt. Mit der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian und dem deutschen Bariton Matthias Goerne konnte man kongeniale Gesangssolisten beisteuern, die gerade in der Interaktion zu überzeugen wissen.

Die vierzehnte und somit vorletzte Schostakowitsch-Sinfonie genießt einen Sonderstatus, ist sie doch eher ein Liederzyklus und wurde vom Komponisten mitunter gar als Oratorium für Sopran, Bass und Kammerorchester bezeichnet. Der Tod spielt eine entscheidende Rolle in den elf russischsprachigen Liedvertonungen nach Vorlagen von Federico García Lorca, Guillaume Apollinaire, Wilhelm Küchelbecker und Rainer Maria Rilke. Mehr als die Hälfte, nämlich sechs davon (Loreley, Le Suicidé, Les Attentives I, Les Attentives II, À la Santé, Réponse des Cosaques Zaporogues au Sultan de Constantinople) beruhen auf Texten des französischen Dichters Apollinaire, der 1918 gerade 38-jährig der grassierenden Spanischen Grippe erlag (im Falle der Loreley nach Clemens Brentanos Vorlage). Vorangestellt sind diesen zwei Gedichte des 1936 von Franquisten ermordeten spanischen Lyrikers García Lorca (De profundis, Malagueña). Auf den Franzosen folgt der Russe Küchelbecker, der sich im Dichterkreis um Puschkin verdingte (und dessen Gedicht O Del’vig, Del’vig! als einziges im russischen Original erklingt). Den Abschluss bilden schließlich zwei Gedichte von Rilke (Der Tod des Dichters, Schlußstück).

Eine in der Summe überzeugende Neueinspielung, die zwar nicht ganz so drastisch daherkommt wie die alten sowjetischen Aufnahmen (besonders die 1969 erfolgte Weltpremiere unter Rudolf Barschai) und auch die besagte, immer noch sensationell zu nennende Interpretation von Teodor Currentzis. Gleichwohl kann man dieser Neuaufnahme aber letztlich keine gravierenden Schwachstellen bescheinigen. Klanglich gibt es weiterhin keinen Anlass zum Tadel (Aufnahme: Auditorium de Radio France, Paris, Juni 2021 und August 2022). Die sehr selten eingespielten Fünf Fragmente op. 42, gerade elfminütig, stellen eine begrüßenswerte Beigabe dar (21. 11.23). Daniel Hauser

Douglas Ahlstedt

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Geboren am 16. März 1945 in Jamestown im US-Bundesstaat New York, wandte sich der Tenor Douglas Ahlstedt schon früh der Musik zu. Er trat mit der American Boychoir School auf und sang noch im Kindesalter seine erste Opernrolle als Miles in der US-Premiere von Brittens The Turn of the Screw am New York College of Music im Jahre 1958. Studien an der State University of New York at Fredonia (Bachelor-Abschluss) und an der Eastman School of Music (Master-Abschluss) schlossen sich dem an. Sein offizielles Bühnendebüt machte Ahlstedt 1971 als Ramiro in Rossini La Cenerentola am Western Opera Theater in San Francisco. Bald schon trat er auch an der San Francisco Opera sowie beim Tanglewood Music Festival in Massachusetts auf. Infolge seines Sieges bei den Metropolitan Opera National Council Auditions erlangte er 1973 US-weite Bekanntheit. Noch im selben Jahr erfolgte sein Debüt an der Metropolitan Opera als Borsa in Verdis Rigoletto. Zahlreiche Rollen sollten an der Met bis 1988 folgen, darunter Almaviva in Rossinis Barbiere di Siviglia, Edmondo in Puccinis Manon Lescaut, Froh in Wagners Rheingold, Gastone in Verdis La traviata, der Erste Priester in Mozarts Zauberflöte und der Haushofmeister in Straussens Rosenkavalier. Die internationale Karriere ließ nicht lange auf sich warten. Von 1975 bis 1984 gehörte Ahlstedt dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein an, anschließend demjenigen der Wiener Staatsoper. Kurzzeitigere Kontrakte führten ihn nach Zürich (1980/81), Hamburg (1982-1984) und Karlsruhe (1984-1987). Zudem sang er beim Holland Festival, in Genf, an der Niederländischen Oper, in Bordeaux, in Rom, Avignon, Prag, Neapel, München, Stuttgart sowie bei den Salzburger Festspielen in den Jahren 1985 und 1987. In Nord- und Südamerika stand er auf den Bühnen in Philadelphia, Milwaukee, Dallas, Santiago de Chile und Rio de Janeiro. Von 1988 bis zu seinem Rückzug 2020 fungierte er als Professor an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Douglas Ahlstedt ist am 24. November 2023 im Alter von 78 Jahren verstorben. Er hinterlässt seine Frau Linda Foxx (Eheschließung 1969) und drei Kinder. Daniel Hauser

Verstörend und ärgerlich

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Es kostet sehr viel Überwindung, sich das Video von der Inszenierung von Puccinis Tosca aus dem Theater an der Wien bis zum Ende anzugucken, so sehr ist die Inszenierung von Martin Kušej von Willkür gegenüber Inhalt und Text, von dem Streben nach Sex und Crime um jeden Preis geprägt, dass sie Übelkeit verursacht und wütende Verachtung gegenüber ihrem Produzenten. Da werden mehrere Personen zusammengefasst, so wie Sciarrone, der zugleich Mesner und Schließer ist, so dass er im dritten Akt Cavaradossi hohnlachend den Ring vom Finger reißen kann, dieser als Trost dafür aber auch den Hirten singen darf,  da wird eine Figur als szenisch präsente Gestalt hinzu erfunden, die Marchesa Attavanti, die von Anfang an in der Schneelandschaft mit Wohnwagen, in der das Stück nun spielt, umhergeistert, um schließlich Tosca zu erschießen, da offeriert Tosca Scarpia verschiedenste Kamasutrapositionen, ehe überhaupt von einem Handel um das Leben Cavaradossis die Rede ist, sind ihre Kostüme, ehe sie in Reizwäsche den Rest der Oper bewältigt, nicht die einer aus dem Konzert herbei geeilten Operndiva, sondern Herbertstraße letzte Ecke. Und als einziges Detail der Regie ist die Frage, ob die Laufmasche in ihren halterlosen Strümpfen Regieidee oder Bühnenunfall ist, einer Überlegung wert (Kostüme Su Sigmund, die wie viele ihrer Kolleginnen ein Faible für Schiesser-Feinripp hat ). Cavaradossi ist ein rechter Blödmann, weil er auf seine Erschießung wartet, statt in aller Ruhe nach Hause zu gehen, denn der Wohnwagen ist im dritten Akt verschwunden und weit und breit ist  kein Hindernis zu sehen.  Anette Murschetz hat eine kongeniale Bühne geschaffen, die zunächst  Eugen Onegins Duell mit Lenski erwarten lässt, ehe man außer der Schneelandschaft plus knorrigem Eichstamm den blutigen Torso an denselben, weitere abgetrennte Gliedmaßen und ein Marienbild erblickt. Im zweiten Akt öffnet sich die Vorderfront eines schäbigen Wohnwagens mit zwei Stühlen und einem Kofferradio (Schaub-Lorenz), Unmengen von Schergen kommen und gehen, Scarpia hat sich im Schnee ein Feuerchen angezündet und seine povera cena ist  wirklich eine solche, denn es gibt nichts zu essen. Das würde man ertragen, wenn nicht die Regie durch eine Häufung von Schockmomenten jede Aufmerksamkeit von der Musik ablenkt, Tosca nicht einmal gestattet, Vissi d’Arte ins Publikum, sondern mit dem Rücken zu demselben zu singen. Liegt es auch daran, dass die Arie seltsam kühl und flach klingt, auch ansonsten der Sopran zu leicht, eine typische Puccinistimme ist das zumindest in dieser Aufnahme nicht. So ist Kristine  Opolais zwar eine optisch ideale Tosca, aber auch eine mit substanzloser Mittellage und ohne ein schönes Aufblühen in der Höhe. Was für eine Angst müssen Sänger haben, dass sie sich lieber um die Wirkung ihrer Kunst bringen lassen, ehe sie sich Unzumutbarem verweigern, und wo bleibt die Verantwortung der Dirigenten gegenüber Werk und Publikum, das übrigens den Regisseur mit einem Buhorkan bedacht haben soll. Ingo Metzmacher hatte abgesagt, und was Marc Albrecht aus dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien an feinen Stimmungen (Vorspiel 3. Akt) herausholte, wäre einer besseren Optik wert gewesen.

Die vokalen Stärken von Jonathan Tetelmans Cavaradossi zeigen sich im Vittoria und La vita mi costasse, denn sein Tenor ist kraftvoll und klingt mühelos. Anzuerkennen ist auch, dass er für E lucevan le stelle sich um ein agogikreiches Singen bemühte, auch wenn es Piano und mezza voce noch etwas an Farbe mangelt. Gábor Bretz klingt als Scarpia im ersten Akt noch etwas hohl, kann aber zu Beginn des zweiten Akts mit seiner großen Soloszene mit farbigem, substanzreichem Bariton überzeugen. Schön höhnisch hört sich das Scrivete von Rafal Pawnuk als Schließer an, wie ein baritenore klingt Andrew Morstein als Spoletta, Ivan Zinovievs Angelotti darf sich noch lange im Schnee quälen, ein selbstbestimmter Tod im Brunnenschacht ist ihm nicht vergönnt. Diese Aufnahme kann man nur mit spitzen Fingern in der hintersten Schublade versenken, o meglio…. (Unitel 809704). Ingrid Wanja

           

Auf den Spuren einer Legende

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Regelmäßig arbeitet GLOSSA mit Filippo Mineccia zusammen und hat schon mehrere Alben mit dem italienischen Countertenor produziert. Das neueste ist Il castrato del granduca betitelt und bietet Arien, die für den Kastraten des toskanischen Großherzogs, Gaetano Berenstadt, komponiert wurden (GCD 923539). Das Booklet beinhaltet einen Einführungstext vom Sänger selbst in mehreren Sprachen und eine tabellarische Übersicht über die Karriere des Kastraten, welche 1708 in Neapel begann und ihn 1717 nach London führte. Dort trat er zunächst in Opern von A. Scarlatti, Mancini und Ariosti auf, bis er 1717 in Händels Rinaldo die Rolle des Argante übernahm. Der Komponist hatte sie bei dieser vierten Wiederaufnahme des Werkes eigens für Berenstadt von einer Bass- zu einer Altkastratenpartie umgearbeitet. Danach folgte eine mehrjährige Periode in Deutschland und Italien, bis er 1722 in die britische Metropole zurückkehrte und dort in mehreren Opern Händels mitwirkte. Diese Jahre bis 1724 gestalteten sich zum Höhepunkt in der Laufbahn des Sängers. Es waren vor allem Ratgeber, Väter und Schurken, die er interpretierte, auch wegen seiner riesigen Statur, die ihn für Frauenrollen ungeeignet erscheinen ließ. Händel komponierte für ihn die Titelrolle in Flavio (1723), den Adelberto in Ottone (1723) und den Tolomeo in Giulio Cesare (1724). Von London kehrte er nach Italien zurück, das er bis zu seinem Tod 1734 nicht mehr verlassen sollte. Er sang dort in Opern von Vinci, Sarro, Hasse, Giay, Giacomelli und im letzten Auftritt im Jahr seines Todes in Orlandinis La Semiramide.

Mineccia hat die Reihenfolge der Arien in seiner Anthologie streng chronologisch geordnet, was dem Hörer Gelegenheit bietet, die Karriere des legendären Sängers in ihrer Entwicklung zu verfolgen. Zu Beginn erklingen drei Arien des Argante aus Händels Rinaldo, also jener Oper, welche 1717 einen Wendepunkt in der Karriere des Kastraten markierte. Die erste, „Sorte amor“, bietet einen vehementen Einstieg in das Programm und erlaubt dem Sänger, auch seine tiefe Lage auszureizen. Auffällig ist ein zuweilen heulender Ton, der früher nicht zu bemerken war. Er findet sich in der zweiten Arie, „Ogni tua bella“, besonders stark. Das  dritte Solo, „Pregio è sol“, ist von lebhaftem Charakter und virtuosem Anspruch. Es folgt die Arie des Oreste „L’incauto che non teme“ aus Lottis Ascanio (Dresden, 1718). Sie ist von rasendem Duktus, den das Orchester mit stampfendem Rhythmus unterstützt. Mineccia kann den Erregungszustand der Figur plastisch einfangen. Die Arie des Pilade, „Vezzosetta tra questi fiori“, stammt aus Gasparinis Astianatte, in der Berenstadt 1719 in Rom auftrat. Sie gibt sich kontemplativ-gemessener. 1722 kam es in Venedig zur Aufführung von Giulio Flavio Crispo von Capelli, in der Berenstadt die Rolle des Flavio Costantino sang. Dessen Arie „Piaccia agli astri“ verlangt eine flexible Stimmführung für die Verzierungen, was Mineccia keine Probleme bereitet. Danach präsentiert er mit der Arie des Adelberto, „Bel labro formato“, aus Händels Ottone wieder ein Glanzstück des Kastraten, kann in seiner Interpretation aber einen jammernden Tonfall nicht vermeiden. Besser gefallt die folgende, munter hüpfende Arie des Sicino  „Nel tuo figlio“ aus Ariostis Oper Cajo Marzio Coriolano. Sie wurde 1723 in London gezeigt wie auch Bononcinis Farnace, in der Berenstadt den Osmano sang. Dessen Arie „O della sorte“ ist ein Klagegesang – für Mineccias Stimme wie geschaffen.

Die letzten vier Beispiele stammen aus Werken, die in Italien zur Premiere kamen: Hasses Astarto 1726 in Neapel, Vincis Didone abbandonata 1726 in Rom, Sarros Siroe 1726 in Neapel und Giays Demetrio 1732 in Rom. In der Arie des Jarba aus Vincis Oper ist der Einsatz baritonal tiefer Töne effektvoll, bei Cosroas Arie „Gelido in ogni vena“ aus Siroe ist der Vergleich mit Vivaldis Vertonung dieses Textes aufschlussreich. Stürmisch wird die Anthologie beendet mit der tobenden Arie „Non fidi al mar“ aus Demetrio – eine jener Gleichnisarien vom schwankenden Schiff auf stürmischer See, welche dem Interpreten neben starkem Ausdruck auch virtuoses Zierwerk abverlangt. Mineccia setzt hier einen glänzenden Schlusspunkt.

Mit dem Ensemble I Musici del Gran Principe unter Leitung von Samuele Lastrucci tritt ein hierzulande weniger bekannter Klangkörper in Erscheinung, der das Programm mit orchestralen Beiträgen schmückt, so mit der lebhaften Ouverture zu Tito Manlio von Ariosti, der Ouverture zu Händels Ottone und der aufgewühlten zu Hasses Astarto. Das Ensemble legt hier mit engagiertem und affektgeladenem Spiel hohe Ehre ein. Bernd Hoppe

Zwischen Paradiesen

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Ralph Fischer (promovierter Pädagoge, Buchhändler und Privatgelehrter) gehör­te zu den besten Offenbach-Kennern weltweit. Als Journalist, Vortragender und Publizist (vor allem beim Offenbachfestival Bad Ems) hat er sich über Jahre gro­ße Verdienste erworben. Im vergangenen Jahr erlag er, viel zu jung, einem Krebsleiden. Seit Jahren hatte er daran gearbeitet, sein Lebenswerk in Sachen Offenbach herauszubringen. Der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand. Glück­licherweise hinterließ er mehrere Computerdateien, die zusammenge­nommen so etwas wie sein summum opus darstellten, welches er bereits 2019, zu Offenbachs 200. Geburtstag veröffentlichen wollte.

Fischer gehörte zu den bedeutenden deutschen Kennern des CEuvres von Jacques Offenbach, den er als Person verehrte und dessen Musik er seit seinem ersten Klavierunterricht zutiefst in sich aufgesogen hatte. Mit der ihm eigenen Wissbegierde und seinem Hang zu ungewöhnlichen Wegen ist er seit Schul­zeiten sinnend, forschend und schreibend allem, was Offenbach betraf, nach­gegangen. Ein imponierendes Textcorpus ist die Frucht dieser jahrzehnte­langen Denkarbeit. Sie schlug sich vielfach in Veröffentlichungen im Rahmen der ,,Bad Emser Hefte“ nieder, mit deren Herausgeber, Dr. Ulrich Brand, Fischer ein freundschaftliches Verhältnis verband. In gewisser Weise ist der hier vorli­egende Band die logische Fortsetzung und Vollendung der Arbeit mit den Bad Emser Heften“, so Peter Hawig (selbst einer der renommiertesten Offenbach-Spezialisten). Er hat die Texte aus dem Nachlass geordnet, zusammen­geführt und postum als Buch herausgebracht, nicht ohne zu betonen:

„Insgesamt kann und soll das Fragmentarische der vorliegenden Veröffentli­chung nicht geleugnet werden. In diesem Sinne belassen wurde: kleine, eher liebenswürdige Inkonsequenzen des Autors, etwa die Werktitel einmal in Kur­sivschrift, einmal in Kapitälchen zu schreiben. Das verweist auf unter­schiedliche Entstehungs­zeiten der Texte. Der Leser wird sich zurechtfinden. Schließlich hat er, allem Fragmentarischen zum Trotz, ein Buch imponierenden Umfangs und Gewichts in den Händen, und ‚Gewicht‘ versteht sich hier auch in qualitativem Sinne. Denn Ralph Fischers summum opus weist so viele innovative Zugänge und Untersuchungsweisen, so viele gründliche Ergebnisse, einen so weiten Fun­dus an Informationen auf, dass es trotz seines unvollendeten Status einen erheblichen Fortschritt in der Offenbach-Forschung darstellt.“ Tatsächlich ist das im wahrsten Sinne des Wortes schwergewichtige Buch überwältigend. Die perspektivische Weite des schon ob seines Fleißes bewundernswerten Werks, seine Anlage, für jedermann eicht verständliche Sprache (sein überwältigender Informationsgehalt und seine Übersichtlichkeit der Gliederung machen das Werk zu einem konkurrenzlosen Nachschlage­werk in Sachen Offenbach, auf das man gewartet hat, denn immer noch scheiden sich an Offenbach (wie an Wagner) die Geister. Das hierzulande weit verbreitete Vorurteil, seine Werke seien anspruchs­lose, seichte „Operetten“, scheint nahezu unausrottbar. Das Offenbach-Ver­ständnis der Deutschen, das vorherrschende Offenbachbild hierzulande ist weitgehend verzerrt, verharmlost, ja falsch. Und der Umgang mit Offenbach ist schlichtweg respektlos. Wobei der Offenbach-Missbrauch, die Offenbach-Missachtung meist auf Unkenntnis und unhinter­fragten Vorurteilen beruht. Dem arbeitet das Buch von Ralph Fischer engagiert entgegen

Der obige Titel übrigens bezieht sich auf Siegfried Kracauers Gesellschaftsbiographie des Zweiten Kaiserreichs (Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Amsterdam 1937). Darin heißt es: „Offenbach erfüllt sie (die ,,Operette“, DDS) mit einer Musik, die das Paradies verspricht. Auch Halévy (Ludovic Halévy, Offenbachs wichtigster Librettist, DDS) ist dem Paradies zugewandt, wenn er der Operette (das gilt auch für die Opera bouffe, und die meint er, DDS) den Stempel seiner Skepsis aufdrückt; aber einem Paradies, das verloren ist. Zwischen verlorenem und verheißenem Paradies gaukelt so die Operette dahin – eine plötzlich auftauchende, rasch verschwindende Erscheinung, die sich dem groben Zugriff entzieht (…) Frivoler Doppeldeutigkeit voll (…) geht (sie) überhaupt nicht ganz ins gesellschaftliche Leben ein, schwingt sich vielmehr, im vergangenen und künftigen Paradies beheimatet, ungreifbar durch die Zeit und aus der Zeit hinaus.“

Fischers These lautet daher: „Ofenbachs Werk ist ein Werk des ,Dazwischen‘: ideell zwischen den Paradiesen, real zwischen den Kulturen. Es ist aber auch ein Werk zwischen den Gattungen.“+

Karl Kraus, auch einer der bedeutendsten Offenbach-Versteher, meinte in der Zeitschrift „Die Fackel“: Offenbachs Musik habe mehr Menschlichkeit als (…) sämtliche sozialen Heilsehren, deren Opfer erbarmungswürdig, deren Nutznießer erbärmlich bleiben.“

In diesem Sinne widmet Fischer gerade das Jüdische bei Offenbach, das schon Anton Hen­seler, der erste und wichtigste deutschsprachige Offenbachbiograph (Jakob Offenbach, Berlin 1930) herausstellte, besondere Aufmerksamkeit.  Die genealogischen Recherchen Fischers sind respektheischend. Vor allem des erste seiner fünf Kapitel widmet sich in diesem Sinne der Herkunft, Kindheit und Jugend des Komponisten „zwischen Offenbach und Köln“.

„Zwischen Oper und Operette“ ist das zweite Kapitel überschrieben, in dem der Versuch einer gattungsspezifischen Einordnung der Bühnenwerke Offenbachs gemacht wird. Hier könnte man Fischer eine gewisse Inkonsequent in der Ver­wendung der Gattungsbezeichnungen vorwerfen. Sei´s drum. Die Ent­wicklung von den Vorläufern Offenbachs bis zu seinen Nachfolgern wird zutreffend dargestellt.

Verdienstvoll sind auch seine Ausführungen zur Kompositions­weise und zur theaterpraktischen Arbeit des Komponisten, „weil es sie in dieser Kompaktheit bisher nicht gibt.“ ((Peter Hawig). Man erfährt interessantes über Komposi­tionstechnik, Formen der Bühnenwerke, Orchesterbesetzung und bekommt Einblicke in die „Kompositionswerkstatt“.

Fischer weist zurecht darauf hin: „Die Verengung Offenbachs allein auf Satire und Parodie verdeckt nicht nur Qualitäten seines Werks, die mit diesen Kate­gorien nicht zu fassen sind, sie sorgt auch für Missverständnisse. So ist mancher Autor geneigt, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit, ‘Satire!‘ oder, Parodie!‘ zu rufen und jedes nur erdenkliche Rezitativ, das sich in Offenbachs Werken finden lässt, gleich zur Verspottung der Oper seiner Zeit zu erklären.” 

Der enormen Spannweite des Offenbachschen Œuvres zwischen Synagoge und Pariser Boulevard ist das vierte Kapitel gewid­met. Das fünfte ist ein Werkführer, der selbst mit seinen Lücken, „innerhalb der Forschung einzig“ dasteht, wie Peter Hawig zurecht betont.

Auf nahezu 450 Seiten werden Werk und nahezu vollständiges Werkverzeichnis, Gattungen und Phasen der Entstehung sowie Inhaltsangaben und Kommentare geliefert. Das allein macht das Besondere des Buches aus und sichert ihm seinen Stellenwert als Standardnachschlagewerk.

Ganz davon abgesehen, findet man in ihm diverse Literaturverzeichnisse unterschiedlicher Medien, ein Werkregister und einen Bildteil. Der Herausgeber hat auf eine Bebilderung des Buches abseits der üblichen ikonographischen Pfade Wert gelegt. Er zeigt im weitesten Sinne ,,Memoriale“, also Büsten, Gedenktafeln, Reliefs, Ausmalungen und Illustrationen, die auf verschiedene Weise und an verschiedenen Orten an Offenbach erinnern.  Es sei angemerkt, dass das bemerkenswerte Coverfoto des Buches die Offenbach-Büste aus dem Théâtre des Variétés zeigt, die man meines Wissens in der Offenbachliteratur nie sah.

Hervorheben möchte ich, dass fortlaufender Text samt zugehöriger Fußnoten jeweils auf derselben Seite gedruckt sind was dem Lesekomfort enorm zugute­kommt.

Man könnte einwenden: Die umfassende musik­geschichtliche Beschlagenheit des Autors zeigt sich in seinen aus­führ­lichen, vielleicht allzu ausführlichen Einordnungen und Exkursen. Aber wohl nur in dieser umfassenden Gründl­ichkeit vermittelt sich „der weit-gespannte Kosmos, in dem Offenbach sich bewegte, aus dem heraus er allein verständlich ist und in dem wir als Leser uns immer besser auskennen, fast wohlfühlen“ (Peter Hawig).

Um das klarzustellen: Das Buch von Ralph Fischer ist kein Buch der musik­wissenschaftlichen Analyse. Es will eher „Appetit machen auf die Musik Offenbachs“ (Hawig). Und das in einer Sprache, die frei ist von jeglichem musikologischen Fachjargon.

Ralph Fischer ist – wie der Herausgeber betont – nicht unparteiisch Offenbach gegenüber, „er wirbt fort­lau­fend für ihn… Er wirbt darum, dass man ihn anhöre, ihm zuhöre, auf sich wirken lasse, im Konzertsaal und vor allem im Musik­theater — nicht im Entziffern von Noten, sondern im neugierigen Sich-Einlassen.“

Ich darf daran erinnern, was Martin Geck in seiner Wagnerbiographie bekannte: „Ich kann nur über die Kunst schreiben, die mich, bei all ihrer Widersprüchlich­keit letztendlich fasziniert.“ Um das Wort “Liebe“ nicht zu gebrauchen. Warum denn auch nicht, nur wer von Liebe zu einem Komponisten erfüllt ist, hat einen Sinn für dessen Intimstes und die Nuancen seines Werks.

Man kann nach der Lektüre des Buches von Ralph Fischer nur Peter Hawig zustimmen, der als letzten Satz in einem seiner Offenbach-Bücher schrieb: „Offenbach macht glücklich.“ Dieter David Scholz (mit Dank an den Autor und das online-Magazin Der Opernfreund)

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Ralph Fischer: Ein Wegweiser zu Jacques Offenbach: Herkunft und Leben, Werk und Wirkung; Aus dem Nachlas herausgegeben von Peter Hawig. Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2023,926 S.,

Vor neuen Rollendebüts?

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Dass der deutsche Tenor Daniel Behle Spaß am Spiel mit der Sprache hat, kann man vermuten, wenn man von CD-Covern wie MoZart oder UN-ERHÖRT Kenntnis nimmt, und auch seine neueste Aufnahme gibt sich optisch verspielt mit einem in der Mitte thronenden Richard, der von einem Strauss und einem Wagner flankiert wird. Sicher ist der große Respekt des Sängers vor den Texten, die er singt, und zwar so ausgeprägt, dass man selbst bei üppiger Orchesterbegleitung, wie bei beiden Komponisten üblich, jedes Wort versteht, man tatsächlich einmal auf den Abdruck der Texte im übrigens liebevoll und vorzüglich gestalteten Booklet verzichten könnte.

Beworben wird die CD übrigens mit einer Aussage des Dirigenten Thomas Rösner, der das Lob des von ihm geleiteten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra singt und dieses als  mit einem „sound…wonderfully soft and malleable“ begabt sieht und es damit für besonders geeignet für die Wiedergabe von deutscher romantischer Musik hält. Davon kann man sich beim Hören überzeugen, auch bei dem des Vorspiels zu Wagners Meistersingern, dem einzigen reinen Orchesterstück auf der CD, das eher leichtfüßig als stampfend, eher duftig als schwül daher kommt.

Drei Opernarien von Wagner in aufsteigender Linie vom Lyrischen über das Noch-Zwischenfach zum Heldischen, was die Anforderungen an die Stimme betrifft, sind auf der CD. Den Lohengrin hat Behle bereits auf der Bühne gesungen, Stolzing und Tannhäuser noch nicht. In der Gralserzählung ist die reine, klare, Stimme von müheloser Emission in allen Lagen und bei allen geforderten Lautstärken gleich präsent, gleich farbig, werden auch die kleinen Notenwerte präzise wiedergegeben, entzücken eine ätherische „Taube“ und ein strahlender „Gral“. Sehr berührend ist das schmerzlich umflorte „muss er von euch ziehn“.  Auch bereits bühnenreif dürfte der Stolzing sein, dessen Preislied sich zwischen Erzählton und Emphase bewegt, „Parnass“ wie „Paradies“ zum Strahlen bringt und nie der Versuchung eines Einheitsfortes erliegt. Bei der Romerzählung des Tannhäuser erscheinen vor dem geistigen Auge und auch dem Ohr des CD-Hörenden die bereits recht abgekämpften, sich mehr oder weniger schwer tuenden Heldentenöre vergangener Vorstellungen und scheinen sich anklagend zu äußern über so viel Ungerechtigkeit, einem frischen, von keinerlei Mühsal durchlebter Aufführungen berührten Kollegen zuhören zu müssen, dessen ausgeruhte, für die Partie recht leichte und helle Stimme nichts von der Mühsal zweier Preislieder für Venus und unzähliger „Erbarm dich mein“ verrät.

Die drei Wagner-Arien sind eingestreut in eine Auswahl bekannter Orchesterlieder von Richard Strauss, beginnend mit Cäcilie, die rauschhaft, sich von Strophe zu Strophe steigernd, Einzelheiten präzise hervorhebend wie diese in den Gesamtzusammenhang einbettend und die große Linie nie vernachlässigend daher kommt. Die Mittellage des Tenors hat im Vergleich zu frühen Aufnahmen bedeutend an farbiger Substanz gewonnen, es stehen ihr viele Ausdrucksmittel, so  das Hellerwerden für „lichter Sonnenschein“ im anschließenden Ruhe, meine Seele, zur Verfügung. Das bekannte Ständchen erfreut mit ganz lichtem und leichtem Beginn, um umso rauschhafter am Schluss zu klingen, eine ähnliche Entwicklung nimmt die Heimliche Aufforderung, die im Plauderton beginnt, um sich zu einem großen Bogen für die Schlusszeile zu steigern. Wunderschön ist die feine Differenzierung von einem zum nächsten, dann zum abschließenden „Welch ein Glück“, das ätherisch klingende Lächeln in Befreit. Den Abschluss für diese den Hörer beglückende CD bildet Morgen , in dem „stummes Schweigen“ zum Klingen gebracht wird (Prospero 0072). Ingrid Wanja  

Ryland Davies

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Der walisische Tenor Ryland Davies wurde am 9. Februar 1943 als Sohn eines Stahlarbeiters in Cwm, Ebbw Vale, Wales, geboren. Bereits während seines Studiums am Royal Manchester College of Music (bei Frederic Cox) trat er in Manchester als Paris in Glucks Paride ed Elena auf. Sein professionelles Debüt erfolgte 1964 an der Welsh National Opera in Cardiff als Almaviva in Rossinis Barbiere di Siviglia. Davies setzte seine Studien in Italien fort und gewann als erster den John Christie Award des Glyndebourne Festival im Jahre 1965. Glyndebourne blieb er lange Jahre treu und sang dort bereits 1964 im Chor. Es schlossen sich Ende der 1960er Jahre zunehmend größere Rollen an, darunter der Nemorino in Donizettis Elisir d’amore, der Belomte in Mozarts Entführung aus dem Serail und der Ferrando in Così fan tutte. Mit dem Lenski sang er 1975 eine Tschaikowski-Partie, gefolgt von Komponisten wie Britten (Lysander in A Midsummer Night’s Dream), Prokofjew (der Prinz in Die Liebe zu den drei Orangen) und Janáček (Tichon in Katja Kabanowa). Zuletzt konnte man Ryland Davies in Glyndebourne 2001 als Don Basilio in Le nozze di Figaro erleben. Innerhalb des Vereinigten Königreiches sang er an der Scottish Opera (Debüt 1966 als Fenton in Verdis Falstaff), an der Sadler’s Wells Opera bzw. English National Opera in London (zwischen 1967 und 1999) und insbesondere am Royal Opera House, Covent Garden (von 1969 bis 2015). Auch außerhalb seines Heimatlandes konnte Davies eine internationale Karriere vorweisen, so etwa 1970 bei den Salzburger Festspielen als Cassio in Verdis Otello unter Herbert von Karajan sowie 1971 und 1974 an der Opéra de Paris in diversen Mozart-Rollen. In den USA debütierte er 1970 an der San Francisco Opera (wiederum als Ferrando) und sang später auch an der New Yorker Met und an der Chicago Lyric Opera. Weitere Gastspiele führten ihn nach Berlin, Hamburg und Montpellier. Daneben verfolgte Ryland Davies eine erfolgreiche Tätigkeit als Konzertsänger, u. a. in Bachs Messe in h-Moll, Mozarts Requiem, Haydns Jahreszeiten und der Nelson-Messe sowie Mendelssohns Elijah. Seine stimmlichen Qualitäten wurden als lieblich und lyrisch, insgesamt als spezifisch italienisch gerühmt, seine Diktion galt als tadellos. Er lehrte am Royal Northern College of Music in Manchester (1987-1994), am Royal College of Music in London (1989-2009) und an der Royal Academy of Music. Zu seinen Schülern gehörten Ian Bostridge, Sam Furness, Jacques Imbrailo, David Butt Philip, Stuart Jackson, Robert Murray und Andrew Staples. Diskographisch ist Ryland Davies seit den 1960er Jahren mannigfaltig dokumentiert. Darunter befinden sich im Studio entstandene Operngesamtaufnahmen von Mozart (Idomeneo unter Davis, Entführung unter John Pritchard, Così unter Georg Solti), Donizetti (Lucia di Lammermoor unter Richard Bonynge), Cimarosa (Il matrimonio segreto unter Daniel Barenboim), Berlioz (Les Troyens unter Colin Davis) und Massenet (Esclarmonde und Thérèse unter Bonynge, La Navarraise unter Henry Lewis), daneben Händels Messiah (unter Raymond Leppard) und Judas Maccabaeus (unter Charles Mackerras), Haydns Jahreszeiten (unter Davis) und das Mozart’sche Requiem (wiederum unter Davis). Er war zweimal verheiratet, zunächst mit der Mezzosopranistin Anne Howells (zwischen 1966 und 1981), ab 1983 mit der Sopranistin Deborah Rees, mit welcher er eine Tochter hatte. Ryland Davies erlag am 5. November 2023 im Alter von 80 Jahren den Folgen einer Tumorerkrankung. Daniel Hauser

Geld regiert auch Venedig

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I due Foscari ist Verdis sechste Oper, sie wurde 1844 in Rom uraufgeführt. In mancher Beziehung ist sie die „kleine Schwester“ seines 37 Jahre später entstandenen „Simon Boccanegra“, denn beide Opern behandeln das Schicksal eines Dogen. Bei den „Foscari“ ist es Francesco Foscari, der Doge von Venedig, dessen Sohn Jacopo unschuldig in die Verbannung geschickt wurde. Aus der kehrte er heimlich zurück, wird aber sofort erneut verurteilt. Das Flehen seiner Gattin Lucrezia bleibt fruchtlos, denn in dem Ankläger Loredano haben die Foscaris einen mächtigen Feind. Jacopo stirbt, bevor die Verbannung vollzogen wird. Und Loredano betreibt erfolgreich die Absetzung des Dogen Francesco, der völlig gebrochen tot zusammenbricht.

Man sollte dieses Frühwerk nicht unterschätzen. „I due Foscari“ bietet eine Fülle herrlichster Musik, in der große Duette eine ebenso breiten Raum einnehmen wie die eindrucksvollen Chorpassagen. Und Verdi arbeitet mit seinen thematischen Reminiszenzen mitunter fast leitmotivisch. Auch Carlo Bergonzi hat diese Oper offenbar sehr geschätzt und das von ihm gegründete Restaurant in Busseto „I due Foscari“ genannt.

Die vorliegende Aufnahme entstand 2022 bei den Opernfestspielen Heidenheim und überzeugt vor allem durch ihre musikalischen Qualitäten. Marcus Bosch am Pult der von ihm gegründeten Cappella Aquileia musiziert hier mit viel Impetus, mit großem Bogen und besonders mit viel Sinn für die Feinheiten der instrumentalen Details. Seine Interpretation ist von Gefühl und Spannung gleichermaßen getragen. Einen großen Anteil an dem positiven Eindruck hat auch der famose Tschechische Philharmonische Chor Brünn, der klangvoll und präzise singt.. Die Leistungen der Solisten bewegen sich durchweg auf hohem Niveau. Die Lucrezia verlangt eine Sängerin mit kraftvoller, aber auch koloraturfähiger Stimme. Beides seht Sophie Gordeladze zu Gebote. Mühelos überstrahlt sie Chor und Orchester. Darstellerisch kann sie den verzweifelten, hochemotionalen Kampf für ihren Mann Jacopo überzeugend verdeutlichen. Die Figur des Jacopo ist etwas eindimensional – eigentlich lamentiert er nur ständig über sein Schicksal oder nimmt Abschied von seiner Familie. Verdi hat dazu aber wunderschöne Arien und Duette geschrieben, die Héctor Sandoval mit sehr schöner Tenorfarbe und ansprechender Gestaltung auskostet. Francesco Foscari ist eine der vielen, berührenden Vaterfiguren Verdis. Der Konflikt, dass er wie ein Vater fühlt, aber wie ein Doge handeln muss, wird bei der sensiblen Gesangsleistung von Luca Grassi nachvollziehbar. Der Intrigant Loredano hat nur wenig zu singen, was man bei Robert Pomakov bedauern mag. Dafür ist er als diabolischer Strippenzieher omnipräsent. Musa Nkuna und Julia Rutigliano komplettieren als Barbarigo und Pisana das Ensemble.

Nicht ganz so viel Freude macht die szenische Seite. Regisseur Philipp Westerbarkei hat den Grundgedanken, dass Geld die Welt und insbesondere auch Venedig regiert, doch überzogen. Alle sind hier bestechlich – das Volk, der mächtige Rat der Zehn und auch Pisana, die eigentlich eine Vertraute von Lucrezia ist. Die lässt sich sogar auf ein Verhältnis mit Loredano ein. Scheine wechseln ständig den Besitzer, das Geld wird laufend aus Kübeln über die Bühne geschüttet. Das ist dann doch irgendwann zu viel des Guten. Der Chor und Loredano sind ständig präsent, auch bei den eigentlich intimeren Szenen. Jacopo wird mit einer Schlinge um den Hals hereingeführt, was nichts Gutes ahnen lässt. Warum Lucrezia mehrfach Kleider und Perücken wechselt, bleibt unklar. Ansonsten ist die Personenführung oft starr.

Die Bühne (von Tassilo Tesche) liegt weitgehend im Dunkel. Sie wird nur wenig variiert. Von Venedig ist nichts zu spüren, nur ein Holzsteg deutet auf die Anwesenheit von Wasser hin. Für Jacopos Verbannung wird ein gelbes Schlauchboot auf die Bühne gehievt. Störend ist die mitunter etwas unruhige Kameraführung. Insgesamt eine vor allem hörenswerte Aufführung. (Coviello Classics COV92314 Blu-Ray)

Wolfgang Denker

In einer anderen Welt

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In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht Erato neue Alben  mit ihrem Exklusivstar Jakub Józef Orlinski. Die aktuelle Ausgabe mit dem polnischen Countertenor ist Beyond betitelt und präsentiert Kompositionen des Frühbarock, des italienischen seicento, darunter mehrere Entdeckungen und Weltersteinspielungen. Wirklich bekannt in der Auswahl sind nur Claudio Monteverdi, Giulio Caccini und Francesco Cavalli. Von ersterem erklingen zu Beginn Ottones Auftrittsarie „E pur io torno qui“ aus der Poppea und die Canzone a voce sola „Voglio di vita uscir“. Der klangvollen Stimme ist ein klagender Ton eigen, der vielen Titeln der Anthologie entgegen kommt, so auch den beiden Monteverdi-Auszügen. Der zweite verlangt dazu eine äußerst flexible Stimmführung, über welche der Sänger souverän verfügt. Von Caccini ertönt das populäre Madrigale a voce sola „Amarilli, mia bella“, welches in allen Sammlungen der Arie antiche zu finden ist und unzählige Male interpretiert wurde. Seine Schlichtheit findet in Orlinskis Interpretation adäquaten Ausdruck. Von Cavalli gibt es eine Arie aus der seltenen Oper Pompeo Magno – die des Titelhelden „Incomprensibil nume“, eine der Weltpremieren des Albums. Den ernsten, getragenen Duktus der Komposition nimmt der Counter in seinem schmerzlichen Gesang auf.

Mit Girolamo Frescobaldi beginnt die Reihe der Titel weniger bekannter Tonsetzer. „Così mi disprezzate?“ ist eine Aria di passagaglia aus seinem Primo libro d’arie musicali per cantarsi. Orlinski serviert das Stück mit Verve und erregtem Ausdruck. Eines der ältesten Stücke der Sammlung (von 1620) ist „Udite, lagrimosi spirti“ aus Claudio Sacracinis Le seconde musiche. Es  steht für die damals gängige Monodia accompagnata. Auch hier besticht die farben- und affektreiche Gestaltung durch den Sänger. Rhythmisch reizvoll ist eine Tarantella, „Chi vuol ch’il cor gioisca“, aus Pietro Paolo Cappellinis Raccolta di Ariette. Der Sänger entspricht mit ausgelassen temperamentvollem Gesang ideal dem Charakter dieses Stückes. Als Ersteinspielung sind drei Arien aus Giovanni Cesare Nettis Oper La filli zu hören. Erstere, „Misero core“, ist ein wehmütiges Klagelied, die zweite, „Sí, sì, sciolga“, auftrumpfend, die letzte, „Dolcissime catene“, wiederum  wehmutsvoll. Später folgen noch zwei Szenen aus seiner Oper Crinalba als Kabinettstücke mit verstellter Stimme und imitiertem Gelächter. Pompeianos Arie „La certezza di sua fede“ aus Antonio Sartorios Antonino e Pompeiano ist ein tänzerisch inspirierter Gesang von fröhlicher Art. Wirklich heroisch mit seinem Trompetengeschmetter und dem fulminanten Gesang ist Eugerios „A battaglia“ aus Giuseppe Antonio Bernabeis Il segreto d’amore in petto del Savio – ein musikalischer Höhepunkt der Platte. Perfekt dazu passt das folgende Concerto „Tamburetta“ von Adam Jarzebski in seiner martialischen Verve. Die drei Arien in Giovanni Battista Vitalis Huldigungskantate „Donde avvien che tutt’ebro di vera gioia“ verlangen dem Interpreten ein Höchstmaß an Bravour ab und lassen Orlinskis Virtuosität hell erstrahlen. Mit einem Klagelied des Amore, „Lungi dai nostri cor“, aus Sebastiano Moratellis La faretra smarrita endet die Sammlung besinnlich.

Bei dem im Dezember 2022 in Padova entstandenen Album begleitet das renommierte Barock-Ensemble Il Pomo d’Oro. Dem Sänger ist es ein inspirierender Partner und mit mehreren Instrumentalbeiträgen von Johannes Hieronymus Kapsberger, Johann Caspar von Kerll, Carlo Pallavicino, Biagio Marini und Adam Jarzebski bietet es nicht nur veritable Raritäten, sondern auch exquisite musikalische Genüsse.

Aufwändig gestaltet ist das Artwork der CD (5054197726453) mit mehreren durch Wasserspritzer und Blattgoldteilchen verfremdeten Fotos. Wirklich ärgerlich ist die winzige Schriftgröße der Texte, zudem auf nervösem schwarz/grauem Fond, im Booklet. Bernd Hoppe

Weit mehr als nur „Der Vampyr“

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Obwohl er einer der führenden romantische Opernkomponisten Deutschlands zwischen Weber und Wagner war, fristet Heinrich Marschner (1795-1861) seit langem ein Schattendasein und wird auf den Bühnen kaum aufgeführt. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der mageren Diskographie aus, wo selbst seine beiden populärsten Opern, Der Vampyr (1828) und Hans Heiling (1833), unzureichend vertreten sind. Wieder einmal ist es Naxos zu verdanken, sich eines zu Unrecht Vergessenen anzunehmen. Die kompletten Ouvertüren und die Bühnenmusik Marschners sollen sukzessive erscheinen. Nun ist bereits Vol. 2 auf dem Markt (Naxos 8.574482).

Eines der früheren Werke Marschners stellt die Bühnenmusik zu Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg dar. 1810 geschrieben, erfolgte die Uraufführung – gekürzt und unter dem Titel Die Schlacht von Fehrbellin (1675) – indes erst 1821, ein Jahrzehnt nach des Autors Suizid. Aus demselben Jahr 1821 stammen die fünf Instrumentalstücke des Komponisten, vier Entr’actes und eine sogenannte Schluss Symphonie. Besonders jenes Vorspiel zum ersten Akt hat mit bald neun Minuten Spielzeit das Gewicht einer echten Ouvertüre. Mit einer knappen halben Stunde Musik könnte man diese fünf Stücke fast als eine Art sinfonische Suite begreifen. Ein genuin romantischer Tonfall ist ihnen ganz unstrittig inhärent. Gekonnt changiert Marschner zwischen einfühlsamer Liebestollheit und aufpeitschender Dramatik.

Von der 1842 entstandenen weltliche Kantate Klänge aus dem Osten kommt die elfeinhalbminütige Ouvertüre zu Gehör. Die weiteren orchestrierten Lieder und Chöre des Werkes heißen sich wie folgt: Zigeuner Gesang, Assat’s Ständchen, Maisuna’s Lied, Räuberchor sowie Kampf der Räuber, Flucht Maisuna’s und Wiederfinden. Wiewohl eigentlich wenig orientalisches Flair verbreitet wird, hat Marschner doch ein beachtliches Instrumentalwerk geschaffen, das auch einer seiner Opern vorangestellt sein könnte.

Einen großen Misserfolg musste Marschner mit seiner ambitionierten hochromantischen Oper Kaiser Adolph von Nassau (1845) hinnehmen, deren Libretto der Geistliche Heribert Rau beisteuerte. Anlass der Komposition war die Vermählung des hannoverischen Kronprinzen (und späteren letzten Königs) Georg mit der Prinzessin Marie von Sachsen-Altenburg. Die Uraufführung fand kurioserweise indes nicht in Hannover, sondern in Dresden statt. Die musikalische Leitung oblag niemandem Geringeren als Richard Wagner. Die auf den ersten Blick erstaunliche Weglassung der monumentalen Ouvertüre in dieser Neuerscheinung erklärt sich offenbar dadurch, dass das zu Naxos gehörige Sublabel Marco Polo diese bereits Anfang der 1990er Jahre in einer mustergültigen Einspielung unter Alfred Walter auf den Markt brachte (Bestellnummer 8.223342). So sind diesmal allein das Ballett aus dem ersten Aufzug sowie der Marsch aus dem zweiten enthalten.

Der Dirigent Dario Salvi/Foto Salvi

Marschners vorletzte Oper Austin wurde zwar bereits in den Jahren 1850/51 fertiggestellt, gelangte indes aufgrund des Todes König Ernst Augusts von Hannover (1851) erst mit sechsjähriger Verspätung zur Erstaufführung. 1857 lediglich sechsmal auf der Bühne, verschwand sie danach in der Versenkung. Der Plot ist im Königreich Navarra des späten 15. Jahrhunderts angesiedelt und behandelt die dortigen Thronwirren. Die relativ überschaubare Einleitung (gut fünfminütig), der prachtvolle Krönungsmarsch (sechs Minuten) aus dem zweiten und das ausgedehnte, knapp viertelstündige Ballett aus dem dritten Akt bilden die musikalische Auswahl. Ein gewisser Einfluss der französischen Grand Opéra lässt sich ausmachen.

Für die formidable künstlerische Umsetzung sorgt einmal mehr der talentierte Dirigent Dario Salvi, längst mehr als ein Geheimtipp. Mit dem Philharmonischen Orchester Hradec Králové (Königgrätz) konnte ein weiterer renommierter tschechischer Klangkörper gewonnen werden. Auch klanglich gibt es keine Beanstandungen zu machen. Die Einspielung entstand im September 2022 im Konzertsaal der Philharmonie in Hradec Králové. Das englischsprachige Beiheft ist informativ genug, um den Wissensdurst des geneigten Hörers hinreichend zu stillen. Daniel Hauser

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Bereits vor geraumer Zeit erschien Vol. 1 der Reihe (Naxos 8.574449). Von den fünf inkludierten Werken sind sage und schreibe vier Weltersteinspielungen. Die einzige Nichtpremiere stellt die kaum fünfminütige Ouvertüre zur Oper Der Holzdieb nach Johann Friedrich Kinds Lustspiel (1823) dar. Mit der Ouvertüre zur Oper Der Kyffhäuser Berg (1816) – adaptiert nach der Volkslegende von August von Kotzebue – legt man erstmals die Einleitung zu Marschners frühestem Bühnenwerk überhaupt vor. Der damals gerade 21-Jährige zeigt indes schon hier eine unbestreitbare Befähigung zur Tonschöpfung. Bei den drei übrigen Werken handelt es sich um Schauspielmusik, wie sie im 19. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte. Von Schön Ella – für Kinds Volkstrauerspiel nach der unheimlichen Ballade Lenore von Gottfried August Bürger – und Ali Baba, oder Die vierzig Räuber – für Karl Gottlob Theodor Winklers Schauspiel – (beide 1823) inkludiert das Label nicht bloß die hörenswerten Ouvertüren, sondern auch weitere Instrumentalstücke, darunter diverse Entr’actes und die recht umfängliche Ballettmusik. Die Ouvertüre zum Liederspiel Die Wiener in Berlin von Karl Eduard von Holtei (1825), humoristisch auf die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Preußen referierend, stellt den Abschluss der mit gut 71 Minuten ordentlich bestückten CD dar.

Eine wirkliche Individualität mag diesen frühen Werken aus des Komponisten Dresdner und Leipziger Phase zwar letztlich noch etwas abgehen, doch sind bereits hier das melodiöse Talent Marschners und sein Einfallsreichtum unverkennbar. Für die Einspielungen zeichnet abermals das sehr bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter dem Dirigenten Dario Salvi verantwortlich. Glücklicherweise tut sich bei den Pardubitzern zu keinem Moment das Gefühl eines zu dünnen Streicherklanges auf, wie es bei Kammerensembles teilweise der Fall ist. Dafür sorgt auch die von der Tontechnik sehr adäquat eingefangene Akustik im Hause der Musik zu Pardubice in der Tschechischen Republik (Aufnahme: 24.-26. und 31. Jänner 2022). Die Textbeilage (nur auf Englisch) ist ausreichend informativ. Daniel Hauser

FRÉDÉRIC CHASLIN

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Frédéric Chaslin ist ein wahrer Tausendsassa. Seit Jahrzehnten einer der gefragtesten Dirigenten, ist der Franzose auch ein vielbeschäftigter Komponist mit einem beeindruckenden Werkverzeichnis, das unter anderem mehrere Opern beinhaltet. Auch als Pianist bestreitet Chaslin regelmäßig Konzerte und macht Studioaufnahmen, außerdem hat er verschiedene Bücher geschrieben. Zurzeit leitet er „Les Contes d’Hoffmann“ an der Dresdner Semperoper. Beat Schmid hat mit dem Künstler über Offenbachs Oper und deren verschiedene Fassungen gesprochen, sowie über seine Tätigkeit als Komponist, seine Ausbildung als Assistent Barenboims und Boulezs und vieles mehr.

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Im Oktober und November kehren Sie wieder an die Dresdner Semperoper zurück. Auf dem Programm steht „Les Contes d’Hoffmann“, in der Produktion, die unter Ihrer musikalischen Leitung in der Spielzeit 2016/17 dort Premiere feierte. Sie dirigieren diese Oper seit Jahrzehnten, in Häusern wie der Metropolitan Opera, der Wiener Staatsoper bis zuletzt in diesem Jahr an der Mailänder Scala. Könnten Sie Ihre Herangehensweise an diese Oper erklären, den Unterschied zwischen den verschiedenen Versionen und ob Sie sich letztendlich für eine bestimmte Ausgabe entschieden haben? Beabsichtigen Sie, eine eigene kritische Ausgabe zu veröffentlichen? Es gibt eigentlich nur noch drei offizielle Fassungen. Die ursprüngliche französische (Choudens), die damalige von Oeser für Alkor, für die viel Material plötzlich aufgetaucht ist, und natürlich die Fassung von Schott, die ein Haufen von Manuskripten auf den Markt gebracht hat. Ich bemühe mich seit Jahren darum, ein wenig Ordnung und Klarheit hinein zu bringen, aber das ist eine sehr schwierige Sache. Denn es ist völlig unklar, was Offenbach wirklich geschrieben hat und was seine Pläne für Hoffmann Erzählungen gewesen wären. Es ist wirklich eine Detektivarbeit « à la Sherlock Holmes ». Ich bereite eigentlich eine neue Edition vor, in der ich alles klar vorstellen werde, und mich besonders bemühen werde, die Orchestrierung zu vereinigen. Denn es gibt zu viele Hände, die sich im 20. Jahrhundert eingemischt haben. Und man spürt das stilistisch an manchen Stellen. Ich habe damit bereits im März für die Mailänder Scala begonnen, aber dann hat die Zeit gefehlt, diese neue Edition bis dahin fertigzustellen.

Ich habe den „Hoffmann“ in mehr als 30 verschiedenen neuen Produktionen und über 500 Vorstellungen im Laufe von 25 Jahren dirigiert. Für meine Herangehensweise ist sowohl meine Erfahrung, als auch meine eigene Ausbildung als Komponist, und natürlich als Dirigent zentral. Nachdem ich zwölf Opern selber geschrieben habe, und vieles von anderen Komponisten gründlich studiert habe, erlaube ich mir nun, ein wenig tiefer in diese Partitur zu schauen. Wie gesagt, ich bereite meine eigene Fassung vor. Ich bin der Meinung, dieses Stück wird für immer und ewig unvollendet bleiben, man muss aber eine richtige Anzahl von möglichen Kombinationen anbieten, sodass jede Produktion sich das Stück wieder „zusammenbasteln“ kann. Nur wichtig für mich ist, ganz genau zu wissen, was Offenbach ist, was 50 % Offenbach ist und was null Prozent Offenbach ist. Das ist das Ziel meiner zukünftigen Edition. Aber um Ihre Frage genauer zu beantworten:

Die „originale“ Choudens-Edition ist eine Mischung aus dem, was Offenbach und seine engen Freunde, Ernest Guiraud und Raoul Gunsbourg hinterlassen haben. Es hat bis zu 20 Jahre gedauert, bis der Antonia-Akt zu dem « vollendet » war, wie man es heute hören kann. Die « Barcarolle » zum Beispiel, war in der ersten Partitur im Antonia-Akt, denn es gab noch keinen Giulietta-Akt. Das kann man sogar auf IMSPL.COM nachlesen, unter Hoffmanns Erzählungen, ganze Partituren.

Dann hat Fritz Oeser für Alkor ein paar « Erfindungen » gemacht, besonders die « Violinen » Arie im Antonia-Akt für die Rolle des Nicklausse, und den ziemlich pompösen Schluss der Oper, der sehr wagnerisch klingt, wenig nach Offenbach. Aber jetzt liebt jeder dieses Finale. Ob es echt Offenbach ist, kann ich nicht sagen, denn ich habe umsonst mehrmals um das Manuskript gebeten und nie eine Antwort bekommen. Eines ist sicher: das Arrangement und die Orchestrierung sind von Oeser, denn Offenbach hat NUR die Arie des « Kleinzack » orchestriert. Das, zum Beispiel, wird bearbeitet, damit es nach einem echten Offenbach klingt.

Dann kam die Schott-Fassung mit extrem viel neuem Material. Die Quelle habe ich gefunden, und sie liegt nun in der Bibliothek der Universität Stanford, wo man sie online lesen kann. Mehrere hundert Seiten, die nicht aus Offenbachs Feder sind. Die Schott-Fassung hat auch sehr viele Fehler, manchmal «italienische Ausdrucks-Hinweise» wie « meno molto », was im Italienischen nicht existiert. « Wenig viel », oder « less much » oder « moins beaucoup » funktioniert in keiner Sprache. Ein kleines Beispiel von vielen anderen Fehlern.

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Sie sind ja auch Komponist und haben unter anderem mehrere Opern geschrieben. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben? Schreiben Sie lieber Instrumentalmusik oder Vokalmusik? Ich schreibe zwar Instrumentalmusik, aber meine Vorliebe geht zur Stimme, zur Oper, zu Liedern. Alles, was ursprünglich aus einem Text stammt. Das Drama interessiert mich mehr als alles andere, darum bin ich Opern-Dirigent geworden. Ebenso denke ich, dass eine Sinfonie ein inneres Drama hat, das man wie ein Opern-Dirigent oder Opernregisseur betrachten kann. Mein Stil würde ich etwas zwischen Britten und Bernstein ansiedeln, manchmal extrem in Richtung Popmusik gehend, aber immer durch den Filter meiner klassischen Ausbildung.

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Sprechen wir über Ihre neueste Oper, Monte Christo. Wie ist sie entstanden? Wie sind Sie auf das Thema gekommen, und was können Sie unseren Lesern über die Charakteristika dieser Oper erzählen? Es ist eigentlich nicht mehr meine neueste Oper, denn ich habe inzwischen ein 60 minütiges Stück nach Jean Cocteau für Mezzosopran und Orchester komponiert. Sozusagen der Zwillingsbruder von La Voix Humaine. Eine komische Oper für Lissabon, mit einem Text von Jose Saramago. Das Stück wird nächstes Jahr uraufgeführt. Und gerade schreibe ich die letzte Seite von „Der kleine Prinz“ nach Saint-Exupéry. Monte Christo habe ich vor drei Jahren fertig geschrieben und ich bin froh, dass das Werk noch nicht uraufgeführt worden ist. Denn vieles habe ich inzwischen verbessert. Es handelt sich um eine Oper, die eine Brücke zwischen der klassischen Oper und der musikalischen Komödie schlägt. Ein wenig wie Bernsteins Candide

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Zuletzt sind zwei Alben erschienen, für die Sie sowohl Musik geschrieben haben, als auch als Pianist beziehungsweise als Dirigent vertreten sind. Können Sie uns mehr über das Poulenc Album erzählen und über Rendez-Vous? Rendez-vous ist ein Zyklus von 6 Melodien für Sopran, Trompete und Klavier, nach drei verschiedenen Dichter. Die Idee war, das Repertoire für dieses Mini-Ensemble auszuweiten und ein richtiges Konzertprogramm zusammenzubauen. Deswegen haben wir auch sechs Texte schreiben lassen, die zu jeder Melodie passen.

Das Poulenc Album, das in Venedig am Teatro La Fenice aufgenommen worden ist, besteht aus « La Voix Humaine » mit Juli Cherrier-Hoffmann, meine Frau, und sieben Melodien von Poulenc, ursprünglich für Klavier, die ich für das Album orchestriert habe, damit nun auch ein Poulenc-Zyklus zum Konzertrepertoire für Sopran und Orchester zählt.

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Und welche Beziehung haben Sie zum deutschen Repertoire? Ich bin ja quasi im deutschen Repertoire geboren. Als Pianist, als Assistent in Bayreuth (1988), als Student in Salzburg, als Generalmusikdirektor in Mannheim (2004-2007) und generell in 22 Jahren an der Wiener Staatsoper.

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Sie waren der Assistent von Daniel Barenboim und Pierre Boulez. Wie war Ihre Beziehung zu diesen musikalischen Giganten und wie war die Zusammenarbeit mit ihnen? Diese Zusammenarbeit ist der Boden, auf dem ich jetzt stehe. Drei Jahre mit jedem. Barenboim hat mir alles über die Kunst des Klanges beigebracht, mit Boulez habe ich gelernt, die verschiedenen Aspekte der Musik gründlicher zu betrachten und die Organisation der Arbeit optimal vorzubereiten. Die beiden waren bzw sind extrem verschieden. Für mich deshalb wie zwei Seiten einer Medaille.

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Sie dirigieren gleichermaßen Opern und Symphonien: Haben Sie eine Vorliebe für eines der beiden Genres? Nein, beide sind notwendig, um ein kompletter Dirigenten zu sein. Und es ist wichtig, regelmäßig zur Symphonie zurückzukehren, denn nur da arbeitet man gründlich und bis zum Kern…

Und drei Worte zu ihrem musikalischen Werdegang? Wie haben Sie zur Musik gefunden? Wir wissen, dass Sie eine Art Wunderkind und mit 9 Jahren der jüngste Organist Frankreichs waren… Es hat mit fünf angefangen, mit Klavier und « Komposition ». Ich schrieb mit Zeichnungen, die für mich eine Bedeutung hatten. Das Heft habe ich noch immer, kann es leider nicht mehr entziffern. Die Orgel war eine Art Mini-Orchester für mich und eine Vorbereitung für das, was später gekommen ist. Regelmäßig kehre ich zurück zur Orgel, sowohl um die Technik nicht zu verlieren, als auch, weil ich einfach Lust darauf habe. (alle Fotos Martinez)

Bruckner live aus München

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Zweifellos war der Niederländer Bernard Haitink (1929-2021) eine der prägenden Dirigentengestalten der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, wozu insbesondere seine lange Zeit an der Spitze des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters (1961-1988) beitrug. Ein Zyklus der Sinfonien Anton Bruckners, eingespielt für Philips zwischen 1963 und 1972 (und auch die seinerzeit noch sehr periphere Nullte umfassend), begründete Haitinks Ruf als ernstzunehmenden Brucknerianer. In der Digitalära folgten, ebenfalls auf dem Philips-Label, Studioaufnahmen der Sinfonien Nr. 3, 4, 5 und 8 mit den Wiener Philharmonikern. Mittlerweile ist zudem eine zunehmend unüberschaubare Anzahl an Live-Mitschnitten aus Rundfunkarchiven von Bruckner-Sinfonien veröffentlicht worden, darunter am bemerkenswertesten vielleicht die Fünfte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks von 2010 (BR-Klassik) sowie die Achte mit der Staatskapelle Dresden von 2002 nach der Elbhochwasserkatastrophe (Hänssler).

Die nunmehrige Neuerscheinung (2 CDs) kommt, wie im ersteren Falle, bei BR-Klassik (Bestellnummer 900212) mit dem entsprechenden BR-Klangkörper heraus und enthält, wie im letzteren, abermals die Sinfonie Nr. 8, zu der Haitink offenkundig eine besonders enge Verbindung pflegte. Es handelt sich um die Tonkonserve eines im Dezember 1993 aufgezeichneten Konzerts aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Haitink bedient sich, wie in seinen insgesamt drei Studioeinspielungen für Philips (Concertgebouw 1969 und 1981, Wien 1995), der Haas-Edition von 1939, dirigierte aber auch ab und an die Nowak-Edition von 1955, wie aus einer Auflistung bei abruckner.com hervorgeht. Die Fassungsfrage kann bei diesem Komponisten mitunter zu größten Unterschieden führen, doch halten sie sich im Falle der Achten in Grenzen. Ein Blick auf die Spielzeiten offenbart ein Tendenz zur Zurücknahme der Tempi. Kam der Dirigent in seiner ersten Einspielung 1969 noch mit 14 Minuten für den Kopfsatz aus, genehmigt er sich 1993 dreieinhalb Minuten mehr. Ähnliches lässt sich für die übrigen Sätze feststellen: Das Scherzo ist mit knapp 16 Minuten zweieinhalb Minuten langsamer als in den 1960er Jahren, das berühmte Adagio übertrifft in der Neuveröffentlichung mit einer geschlagenen halben Stunde alle anderen Haitink-Aufnahmen recht deutlich. Und auch der Schlusssatz kommt auf stattliche 25 Minuten Spielzeit und steht rein quantitativ an der Spitze. Das etwa 88-minütige Werk verteilt sich auf den beiden CDs, wie bei der Achten unumgänglich (CD-Wechsel zwischen dem zweiten und dritten Satz). Eine gewisse Verschiebung von einer vorwärtsdrängenden Dramatik hin zu einer kontemplativeren Lesart ist kaum abzustreiten. Das sehr luftige und andernorts verdeckte Details hörbar machende Klangbild aus Bayern, in der frühen Concertgebouw-Einspielung von 1969 recht kompakt und in jener von 1981 leider zu verwaschen, lässt auch die sehr ordentlich abschneidende Wiener Studioaufnahme aus den 90ern weit hinter sich.

Gewissermaßen als Zugabe wurde auf der ersten Disc das Te Deum beigesteuert, welches auf einem Konzertmitschnitt vom November 2010 aus der Münchner Philharmonie im Gasteig beruht. Dieses gewiss berühmteste Vokalwerk Bruckners spielte Haitink bereits 1966 im Concertgebouw Amsterdam sowie 1988 im Wiener Musikverein ein. Die Tempomaße unterscheiden sich in allen drei Aufnahmen eher unwesentlich (23:30 in der Neuerscheinung). Neben dem vorzüglichen Chor des Bayerischen Rundfunks konnte ein hochkarätiges Solistenquartett gewonnen werden: Krassimira Stoyanova (Sopran), Yvonne Neef (Mezzosopran), Christoph Strehl (Tenor) und Günther Groissböck (Bass). Klanglich profitiert die BR-Aufnahme von einer überlegenen Leistung der Tontechniker.

In der Summe künstlerische Leistungen ohne Fehl und Tadel und eine lohnende Anschaffung auch für diejenigen, die „ihren“ Haitink-Bruckner komplett im Regal stehen haben. Daniel Hauser