Archiv für den Monat: September 2023

Rätselhaft

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Das Cover gibt nichts preis von dem, was diese Aufnahme von anderen erheblich unterscheidet: Konstatin Krimmel singt Die schöne Müllerin von Franz Schubert, erschienen bei Alpha-Classics. Begleitet wird er von Daniel Heide (Alpha 929). Betont umweltschonend fällt die Verpackung aus. Bis auf den eigentlichen Tonträger aus dem hochwertigen Kunstsoff Polycarbonat nur noch Pappe und Papier. Die feine Druckqualität macht etwas her – der photogene Sänger im Halbprofil auch. Heide schlägt ein rasantes Tempo an. Es lässt keinen Zweifel aufkommen, dass gewandert wird. Krimmel muss sich nicht dreinfinden. Er marschiert sofort los. Es wird kein fröhlicher Ausflug. Das ist mit dem ersten Ton klar. Dieser Müllerbursche ist auf dem Weg in den Tod. Der sichere Umgang mit dem Text, der schon immer eine seiner Stärken war, macht den Liedsänger Krimmel aus. Die ruhig geführte Stimme sitzt fest im Körper. Er kommt nie an Grenzen seines Baritons. Mir scheint, er ist im Vergleich mit früheren Einspielungen noch reifer geworden. So kann er alle Ressourcen auf die Gestaltung verwenden. Es dauert nicht lange, bis es anders klingt als man es gewohnt ist und verinnerlicht hat. Darauf soll es wohl auch hinaus.

Zunächst unmerklich, dann immer stärker und auffälliger werden einzelne Wörter mit Koloraturen verziert und fast schon in die Nähe der Oper gerückt. Gleich im ersten Lied gibt es zum Schluss hin auch noch ein zusätzliches „Ja“, das da nicht hingehört und auch dem Text, der sich im Booklet findet, nicht zugeteilt wurde. Der Sänger experimentiert auf subtile Weise mit dem Tempo und dehnt Figuren wie im Lied Am Feierabend bis zum Gehtnichtmehr, um gleichzeitig vorzuführen, wie man noch deutlicher singen kann als er es ohnehin die ganze Zeit über tut. In der Regel bleiben die Lieder im Einstieg unangetastet. Erst im Verlauf bauen sich die teils überraschenden Zutaten auf. Sie wirken nicht spontan sondern sehr ausgeklügelt. Auch wenn nicht alles Sinn macht, so ist die Absicht meist klar. Einen deutlichen Mehrwert in Inhalt und Aussage kann ich aber nicht erkennen, auch wenn der Sänger in einem sehr persönlichen Text im Booklet in düsteres Nachdenken gerät. Er verweist darauf, dass sich in Deutschland nach Angaben des statistischen Bundesamtes im Jahre 2021 über 9000 Menschen das Leben nahmen. Dreiviertel davon seien Männer gewesen. Fiele diese Zahl geringer aus, wenn das stereotypische „Rollenbild nicht darauf bestehen würde, dass der Mann Stärke zeigen müsse“, fragt er. Es sei leichter gesagt als getan, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Müllerbursche hat sie nicht gesucht, „sondern macht die Last der Emotionen mit sich selbst aus und teilt sie letztlich mit dem Bach, der ihm seinen Todeswunsch erfüllt“. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle, eine Berg- und Talfahrt durch die Leidenschaft“. Krimmel schließt mit einem Hinweis auf das Fünf-Phasen-Modell der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Danach wäre der Müllerbursche am Ende seines Wegs bei der 5. Phase angelegt, in der Sterbende den Tod akzeptieren.

Wenn sich also ein Dreißigjähriger bei seiner Sicht auf den Liederzyklus an knallharte Fakten der Gegenwart hält und die Romantik Romantik sein lässt, ist das nur verständlich. Sein Vortrag aber ist durch und durch rückwärtsgewandt und nur aus der Zeit Schuberts heraus zu verstehen. Damals war es übliche Praxis, Lieder verziert darzubieten. Nach Schuberts Tod hatte sich der Komponist, Pianist und Verleger Anton Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin gesichert und besorgte eine repräsentative Druckausgabe. Er bat den „berühmten, mit Schubert befreundeten Sänger Johann Michael Vogl, die Singstimme so einzurichten, dass sie möglichst großes Echo beim Publikum finde. Das tat dieser denn auch. Er fügte – sparsam – einige Verzierungen hinzu, … die er selbst gesungen hatte, wenn Schubert ihn begleitete“. Nachzulesen beim Musikwissenschaftler Walther Dürr in einem Beitrag für die Einspielung von Christoph Prégardien und seines Begleiters Michael Gees 2008 bei Challenge Classics. Die Ornamente, die Prégardien singt, „orientierten sich zwar vom Typus her an den in Diabellis Druck (und einigen Handschriften) überlieferten Verzierungen – wo der Sänger sie aber einsetzt und wie er sie im Einzelfall gestaltet, ist ganz seine eigene Erfindung“, so Dürr. Was Krimmel und Heide versuchen, ist im Prinzip also nicht neu. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich im Detail aber deutlich von der des Tenor-Kollegen Prégardien. Woran orientieren sie sich? In der Neuerscheinung gibt es nicht einen Hinweis darauf. Es bleibt rätselhaft. Vielmehr wird auf dem Cover und im Booklet der Eindruck vermittelt, als handele es sich um eine „ganz normale“ Müllerin (03.09.23). Rüdiger Winter

Oper in der Kirche

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Carl Loewe, der für seine Balladen und Lieder berühmt geworden ist, hat auch siebzehn Oratorien hinterlassen. Nach dem Tod des Komponisten im Jahre 1869 mehr und mehr dem Vergessen anheimgefallen, werden sie nun peu à peu neu entdeckt. Innerhalb weniger Jahre hat Oehms gleich zwei Titel auf den Markt gebracht hat. Auf Das Sühneoper des neuen Bundes 2019 folgte jetzt Jan Hus (2 CD OC 1720). Loewe wirkte von 1820 bis 1866 sechsundvierzig Jahre in Stettin als Kantor und Organist an der Jakobikirche. Zudem hatte er den Posten des städtischen Musikdirektors inne, gab Gymnasialunterricht und bildete am zuständigen Seminar Lehrer aus. Kurz nach Amtsantritt wurde er auf 22 Paragraphen mit seinen dienstlichen Aufgaben verpflichtet, „von denen einer ihm untersagte, Opern für die Stettiner Bühne zu schreiben“, so der Musikwissenschaftlers Klaus-Peter Koch in einem Vortrag bei einer Konferenz zum 200. Geburtstag des Komponisten 1996 in Halle, der in Band 13 der Schriften des Händel-Hauses veröffentlicht wurde (ISBN 3-910019-11-0).

Dieses Verbot erklärt die Hinwendung zum Oratorium. Dennoch stellt sich die Frage, warum Loewe, der auf dem Gebiet der Oper bereits Erfahrungen gesammelt hatte, nicht andere Bühnen zu bedienen versuchte? Dafür blieb ihm angesichts der starken Beanspruchung in Stettin einfach keine Zeit. Eine Erklärung, die auch Koch im Gespräch mit operalounge.de  teilte. In den Sommerferien – seiner einzigen Freizeit – begab sich Loewe auf Reisen, um als Sänger neue Balladen zu Gehör zu bringen und über Deutschland hinaus bekannt zu machen. Er soll eine sehr gute Tenorstimme gehabt haben. Dabei begleitete er sich selbst am Klavier. Sein Ruhm beruht nicht zuletzt auf diesen Auftritten. In der Neuzeit fanden Sänger wie Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Roland Hermann, Kurt Moll, Theo Adam oder Werner Hollweg einen neuen Interpretationsansatz, indem sie sich wieder dem Original zuwandten und diverse Zerrbilder in Gestalt gefälliger Bearbeitungen hinter sich ließen. Eine Entwicklung, die durch das segensreiche Wirken der Internationalen Carl Loewe Gesellschaft, die ihren Sitz in Löbejün, dem Geburtsort des Komponisten, hat, befördert und vorangetrieben wird. Zum bisherigen Höhepunkt der modernen Annäherung an Loewe wurde die Einspielung sämtlicher Lieder und Balladen, die cpo in Zusammenarbeit mit dem RBB, dem Südwestrundfunk und Deutschlandradio zwischen 1994 und 2003 stemmte. Sie wurde künstlerisch vom Pianisten Cord Garben betreut und kam 2009 auf den Markt. Die aus einundzwanzig CDs bestehende Edition ist nach wie vor greifbar (777 366-2).

Jahre vor Oehms war – versehen mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Cover – die erste Aufnahme des Oratoriums Jan Hus an die Öffentlichkeit gelangt. Sie erschien als Mitschnitt von Konzerten im März 2009 in St. Gallen und Arbon auf CD bei dem schweizerischen Label Kuma. Die Leitung hatte der 1949 im Kanton Graubünden geborene Dirigent und Musikforscher Mario Schwarz, der durch zahlreiche musikalische Ausgrabungen von sich Reden gemacht hat. Er leitet den Kammerchor Oberthurgau und das Collegium Musicum St. Gallen. Den Hus singt der Tenor Simon Witzig. In beiden schweizerischen Orten gab es eine starke Hinwendung zur Reformation.

Sie liegen eine Autostunde von Konstanz entfernt, wo Jan Hus, der in Böhmen bereits mehr als hundert Jahre vor Martin Luther für eine Erneuerung der Kirche gestritten hatte, während des Konzils 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er war nicht zu bewegen, seine Lehren, die er eigentlich hatte erläutern wollen, zu widerrufen. Obwohl ihm vom deutschen König Sigismund (im Oratorium Siegmund) freies Geleit für die Hin- und Rückreise zugesichert worden war, musste er als Ketzer sterben. Vor seiner Hinrichtung soll Hus gemeinsam mit dem inzwischen abgesetzte Gegenpapst Johannes XXIII., der ursprünglich das Konzil einberufen und den böhmischen Reformator eingeladen hatte, auf Schloss Gottlieben eingesperrt gewesen sein – in jenem Schloss, das 1950 von der Sopranistin Lisa della Casa erworben wurde. Sie bewohnte es mit Ehemann und Tochter fast bis zu ihrem Tod 2012. Laut Wikipedia steht es seit 2023 zum Verkauf. Es gibt also viele Gründe, warum das 1841 in der Berliner Singakademie uraufgeführte Oratorium, in der Schweiz zu neuem Leben erweckt wurde. Gedruckt lag es nicht vor. Deshalb musste auch in St. Gallen und Arbon auf Behelfsmaterial zurückgegriffen werden. Vor eine ähnliche schwierige Situation sah man sich 2013 in Tübingen gestellt. Im Rahmen der Lutherdekade, einer Veranstaltungsreihe, die am 21. September 2008 begann und 2017 mit dem 500. Jahrestags des Thesenanschlags zu Wittenberg endete, erarbeitete Musikdirektor Hans-Peter Braun mit dem Chor des Evangelischen Stifts Tübingen eine Aufführung in der Klavierfassung des Komponisten. Sie fand in der Tübinger Stiftskirche statt. Der Chor sang zur Orgel, die Solisten wurden auf einem Blüthner-Flügel und einem erst kurz zuvor auf dem Kirchendachboden aufgefundenen Pedalharmonium begleitet. Es stammt aus der 1880 von Ernst Hinkel in Ulm gegründeten Harmoniumfabrik. Als Solisten wirkten acht Studenten der Gesangsklasse von Andreas Reibenspies an der Musikhochschule Trossingen mit. Sie waren mit großem Einsatz bei der Sache, wie es dem Rundfunkmitschnitt dieses ambitionierten Projekts zu entnehmen ist.

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Georg Poplutz, der bereits im „Sühneopfer“-Oratorium mitgewirkt hatte, singt den Jan Hus / Kratschmer

Nicht nur die Uraufführung, auch der Librettist des Oratoriums August Zeune (1778-1853) weist nach Berlin. Zeune war ein bedeutender Pädagoge, Germanist und Gründer der ersten deutschen Blindenanstalt im Stadtteil Steglitz, die immer noch existiert. Er wurde in Wittenberg als Sohn eines Griechisch-Professors geboren, wo 1517 die Reformation durch Luther ihren Anfang genommen hatte. Denkbar ist, dass Zeune sein Interesse für Hus aus Wittenberg in die preußische Hauptstadt mitbrachte. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Alten Georgenfriedhof in der Greifswalder Straße nahe dem Alexanderplatz. Mit dem Werk Loewes wurde Zeune auch als Dichter wieder in Erinnerung gerufen. Robert Schumann schätzte ihn. Im Booklet greift Thomas Gropper, der Dirigent der Aufnahme, ein Zitat zum Libretto auf, das so auch im Internet kursiert: „Es ist (ein Text), der auch ohne Musik sich des Lesens lohnte, seines Gedankengehaltes, der edlen echt deutschen Sprache, der natürlichen Anordnung des Ganzen halber. Wer an Einzelnem mäkelt, an einzelnen Worten Anstoß findet, der mag sich seine Texte bei den Göttern holen. Wir würden die Komponisten glücklich schätzen, die immer solche Text zu componieren hätten.“ Eine Quelle wird nicht genannt. Sie findet sich im vierten Band der Gesammelten Schriften über Musik und Musiker von Schuman, die 1854 im Verlag von Georg Wigand in Leipzig erschienen sind und bisher lediglich als Reprint nachgedruckt wurden. Schumann verfasste seinen Text über Jan Hus anhand des Klavierauszugs. Er gelangt zu dem Schluss, dass sich Loewes neues Oratorium „in seiner Tendenz den früheren derartigen“ Kompositionen anreihe. Es sei schon vom Dichter nicht für die Kirche gedacht und halte sich für den Konzertsaal „passend oder auch bei musikalischer Gelegenheit wohl anzubringen zwischen Oper und Oratorium“.

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Carl-Loewe-Denkmal an der Jakobikirche in Stettin um 1904. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. / Wikipedia

Wer sich also mit dem Werk beschäftigt, wozu die Neuerscheinung von Oehms beste Gelegenheit bietet, wird Schumanns Urteil bestätigt finden. Schon der Prolog, der nur fünf Minuten in Anspruch nimmt, offenbart starke musikdramatische Neigungen. In die knappe orchestrale Einleitung, die nichts Gutes ahnen lässt, mischt sich ein Chor, der das Ende mit den Worten vorwegnimmt, dass „ohne Liebe man verbrannt den Frommen, darob die Nachwelt zwiefach steht verwundert“. Im Booklet ist der Text, der bislang nur schwer zugänglich gewesen ist – versehen mit Erklärungen des Dirigenten – komplett abgedruckt. Das ist umso begrüßenswerter, als die Literatur, die sich mit dem Schaffen Loewes und seinem Leben befasst, rar und sehr übersichtlich ist. Bis jetzt gibt es keine Biographie, die diese Bezeichnung verdient. Das Oratorium setzt sich aus drei Teilen zusammen, die auch als Akte verstanden werden können. Der erste spielt in Prag vor der Abreise von Hus zum Konzil. Schüler und Studenten bittet ihn in Chor inständig, „hier am sichern Ort zu bleiben“. Hieronymus (Dominik Wörner), ein Weggefährte, findet deutliche Worte: „Rom liebt den Brand, doch liebt es nicht das Licht.“ Hus (Georg Poplutz) aber ist frohen Mutes: „Was mein Gott will, das g’scheh allezeit.“ Loewe greift hier auf ein altes Lied zurück, das zum Kernbestand des lutherischen Kirchengesangs gehört. Der Text (um 1550) wird dem preußischen Prinzen Albrecht zugeschrieben, die Melodie stammt von dem Franzosen Claudin de Sermisy. Mit dem Lied eröffnet Bach seine gleichnamige Kantate BWV 111.

Das Grab des Textdichters August Zeune auf dem dem Alten Georgenfriedhof in Berlin ähnelt einem Mausoleum / Winter

Der zweite Teil schildert die Reise nach Konstanz. Mit seinem Gefolge trifft Hus im Böhmerwald auf eine Gruppe Zigeuner, die mit Gottvertrauen ihr Leben in Freiheit preisen: „Das weite Feld ist unser Zelt, des Waldes Graus ist unser Haus. Wie’s uns gefällt, so zieh’n wir aus, wie’s uns gefällt, zieh’n wir herein, da Groß und Klein zusammenhält. Frei ist die Welt.“ In die durch Hörnerklänge verstärkte romantische Stimmung mischen sich dunkle Ahnungen. Eine Zigeunerin (Ulrike Malotta) setzt zu einer Arie an, die auch aus einer Oper stammen könnte. Sie prophezeit Hus, dass sein Weg von nun an mit Trauerweiden gesäumt sein werde. Schließlich gerät eine Begegnung mit Hirten auf der Grenze nach Bayern zu einem Höhepunkt des Werkes. Hus bittet in einer biblisch anmutenden Szene um einen Glas Milch, für das er mit Worten aus dem berühmten Psalm 23 dankt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Auf dem Schloss zu Konstanz beginnt der dritte Teil mit einer kontroversen Auseinandersetzung zwischen Siegmund (wieder Dominik Wörner) und Barbara (Monika Mauch). Während der König darauf besteht, Hus als Ketzer zu verurteilen und zu verbrennen, wenn er denn nicht abschwöre, zeigt sich seine Gattin von dessen festem Blick und den „milden, klaren Worten“ beeindruckt. Sie gemahnt Siegmund an sein Versprechen, Hus freies Geleit zugesagt zu haben. Der aber antwortet: „Die Kirche lehrt, dass man dem Ketzer nicht braucht Wort zu halten.“ Vor dem Konzil bittet Hus darum, die Klagepunkte gegen ihn widerlegen zu dürfen, was abgelehnt wird. Das Urteil steht schon vorher fest, seine Widersacher zeigen sich im Chor unerbittlich: „Was aus der Hölle stammt, muss wieder in die Hölle hinab in des Feuers Grab.“ Hus aber spricht sich in der größten Soloszene des Oratoriums mit den Worten des 73. Psalms Kraft zu: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Er geht auf seinen letzten Weg zum Richtplatz vor den Toren der Stadt. Ein Chor begleitet ihn: „Seht den edlen Denker schreiten.“ Flammengeister schlagen vielstimmig auf. „Non confundar in acternum!“ („In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“), sind die letzten Worte von Hus. Mit einer feierlichen Chorfuge schließt das Werk: „Ungetrübt rein leichtet der Menschheit ewig sein Schein.“

Der Dirigent Thomas Gropper hat mit den von ihm geleiteten Arcis-Vocalsolisten München, dem Barockorchester L`arpa festante und namhaften Solisten ein Ensemble um sich geschart, das sich mit hörbarer Hingabe an die Arbeit machte. Es realisierte auch das bereits erwähnte Sühneopfer-Oratorium für Oehms, bringt also einschlägige Erfahrung mit. In beiden Produktionen sind Georg Poplutz, Monika Mauch und Ulrike Malotta dabei. 1983 gegründet, hat sich das Orchester, das mit fünfunddreißig Musikerinnen und Musikern spielt, mit klassischer und romantischer Chor-Orchester-Literatur einen Namen gemacht. Von Anfang ist es darauf aus gewesen, vergessene Werke dem Musikbetrieb zurückzugeben. Die Diskographie ist setzt sich aus mehr als dreißig Veröffentlichungen zusammen. In der jüngsten Einspielung tritt die Mischung aus Oratorium und Oper, die schon Schumann aufgefallen war, deutlich hervor. Sie äußert sich auch durch räumliche Wirkung, die mit dem Ort der Produktion, der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirche in München-Sendling zu tun haben dürfte. Dort wurde an fünf Tagen im Oktober 2022 unter Studiobedingungen aufgenommen. Wegen ihrer Akustik wurde die Kirche schon mehrfach für Einspielungen von Werken in mittlerer Besetzung genutzt. So auch die Aufnahme des Sühneopfer-Oratoriums. Rüdiger Winter

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Das große Foto oben zeigt einen Ausschnitt aus dem Gemälde „Jan Hus zu Konstanz“ von Carl Friedrich Lessing. Es entstand 1842, ein Jahr nach der Uraufführung des Oratoriums / Wikipedia

Biblisches aus der Küche

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Nach ihrer CD-Einspielung bei Erato im September 2021 verkörperte Joyce DiDonato die Rolle der Irene in Händels Theodora auch in einer szenischen Produktion des Oratoriums am Royal Opera House Covent Garden im Februar 2022. OPUS ARTE hat die Aufführung mitgeschnitten und auf einer Blu-ray Disc herausgebracht (OABD7313D). Regisseurin Katie Mitchell hat das Geschehen um die standhafte Christin Theodora im Römischen Reich ganz in die Gegenwart verlegt. Hier ist sie Angestellte in der Römischen Botschaft mit dessen Führer Valens, plant, diese zu zerstören. Schauplatz (Chloe Lamford) ist eine modern eingerichtete Küche, wo Theodora und Irene in roten Schürzen (Sussie Juhlin-Wallén) den Boden wischen und andere Arbeiten im Haushalt verrichten. Die Arbeit ist ein exemplarisches Beispiel für die zahlreichen Profanierungsversuche heutiger Regisseure. Gyula Orendt, eigentlich nicht auf Alte Musik spezialisiert, singt den Botschafter mit robuster, fast brutaler Tongebung. Während seines Airs „Racks, gibbets, sword and fire“ vergnügt er sich auf dem Tisch mit einer Angestellten – eine der vielen geschmacklosen Szenen in dieser Inszenierung. Auch bei seinem Air in Part II, „Wide spread his name“, rekeln sich leichte Mädchen in körperlichen Verrenkungen auf der langen Tafel. Stimmlich kann Jakub Józef Orlinski als Römer Didymus, der Theodora liebt, danach einen Kontrast schaffen mit seiner lieblichen Eingangsarie „The raptured soul“, auch wenn sein Counter oft einen jaulenden Beiklang aufweist. Am besten gelingt ihm das liebliche „Sweet rose and lily“ in Part II. Sein Freund, der römische Offizier Septimius, ist der Tenor Ed Lyon mit angenehm weicher Tongebung und stilistisch ganz der Tradition britischer Oratoriensänger verpflichtet. Die Titelrolleninterpretin Julia Bullock muss bis zur 3. Szene auf ihren Einsatz warten, kann dann aber bei „Fond, flattring world, adieu mit obertonreichem Sopran von schöner Fülle rundum überzeugen. Berührend ist ihr Solo „The pilgrim’s home“ im 2. Teil. Das folgende Duet mit Didymus, „To thee“,  bei dem sie ihre Kleidung tauschen, um Theodora die Flucht zu ermöglichen, und Didymus nun wie ein Transvestit im Fummel mit blonder Perücke daherkommt, lässt eine perfekte Verblendung beider Stimmen hören.

Joyce DiDonato wiederholt ihre Glanzleistung als Irene auf der Erato-Aufnahme und imponiert hier noch mit einer szenischen Darstellung von faszinierender Präsenz und packender Intensität. Gelegentlich, so gleich in ihrem ersten Air, „Bane of virtue“, riskiert sie auch derbe Akzente in Verismo-Nähe. Während Irenes Nummer baut Theodora an ihrer Bombe, unterstützt von den anderen Frauen. Irenes zweites Air, das gefühlsstarke As with rosy steps the morn, welches DiDonato betörend vorträgt, wird gestört durch Botschaftsangestellte, die die Frauen mit Pistolen bedrohen und fesseln. Darunter ist auch Septimius, der im an Koloraturen reichen Dread the fruits vehement auftrumpft und den zwiespältigen Charakter der Figur deutlich umreißt. Von ihm und den Sicherheitsleuten werden Theodora und Irene in einem Nebenraum erniedrigenden körperlichen Prozeduren ausgesetzt. Im zweiten Teil, der in ein Bordell mit roten Wänden und Table dance führt, tritt Theodora im silbernen Glitzerfummel und hellblonder Perücke auf, nun zur Prostituierten degradiert. Bedrängt von Septimius und gar in ein rotes Bett gedrängt, singt sie mit fiebriger Erregung „Oh, that I on wings could rise“.

Es musiziert das Orchestra of the Royal Opera House, also kein Originalklang-Ensemble. Aber mit Harry Bicket steht immerhin ein Spezialist für Barockmusik am Pult. Schon in der Overture setzt er markante Akzente mit flüssigem, Tempo betontem Spiel. Später trägt er die Sänger mit Verständnis und großem Einfühlungsvermögen, ohne dass sein Dirigat als reine Begleitung abzustempeln wäre.

Der Royal Opera Chorus (William Spaulding) singt engagiert und klangvoll, beschließt Part I mit dem feierlichen Go, genrous, pious youth, bei dem Didymus von Irene getauft wird. Am Ende von Part II singt er den Chorus  He saw the lovely youth, welchen der Komponist selbst noch über sein „Halleluja“ stellte. Und auch die letzte Nummer fällt dem Chor zu: „O love divine“ – zur erhabenen Musik sind der Schauplatz eines Schlachthofes mit aufgehängten Schweinehälften sowie die Bilder von Blut und Pistolen herbe Kontraste. Bernd Hoppe

Triumpf des Gesangs

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Seitdem Cecilia Bartoli künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele ist, zeichnet sich das Programm dieses Festivals durch eine originelle Programmkonzeption aus. 2019 feierte man die Kunst der Kastraten unter dem Motto „Voci celesti“. Im Mittelpunkt stand Nicola Porporas Oper Polifemo, welche an die Interpreten exorbitante Anforderungen hinsichtlich ihrer Gesangskunst stellt. Ein erlesenes Ensemble führte das Unternehmen zu triumphalem Erfolg – nach zu hören nun auf der CD-Einspielung der Oper beim Label parnassus arts productions, die im Juli/August 2021 (nach Aufführungen beim Festival Bayreuth Baroque) und August 2022 in Athen entstand (PARARTS003, 3 CDs). Bis auf die Nebenrolle der Nerea entspricht die Besetzung jener in der Salzburger Felsenreitschule 2019, wo der Counter Max Emanuel Cencic das Geschehen halbszenisch arrangiert hatte.

Das Werk wurde 1735 im Londoner King’s Theatre am Haymarket uraufgeführt, brillant besetzt mit den zwei führenden Kastraten der Zeit: Senesino als Ulisse und Farinelli als Aci. Letzterem fiel jene Arie zu, welche der berühmte Sänger der Legende nach jede Nacht dem  depressiven spanischen König  Philipp V. vortrug und ihn damit aus seiner Melancholie befreite. Porporas Musik ist ein Fest für Gesangsvirtuosen und viele seiner Arien wurden von renommierten Interpreten in deren Konzerte und Recitals aufgenommen.

Das Libretto von Paolo Antonio Rolli fußt auf der von Ovid in seinen Metamorphosen geschilderten Dreiecksgeschichte mit der Nymphe Galatea, die den Hirten Aci liebt, und dem Zyklop Polifemo, der Galatea begehrt und Aci aus Eifersucht mit einem Felsbrocken erschlägt. Dieser aber wird in einen Fluss verwandelt, dessen Wellen die Nymphe auf ewig umspielen. Schon Händel hatte diese Geschichte 1732 in seiner Serenata Aci and Galatea in Musik gesetzt. Porporas Vertonung aber ist eine Huldigung an die Sänger und deren Bravour.

Gesanglich wird die Neuaufnahme von Yuriy Minenko als Aci diminiert – durchaus kein unbekannter Sänger, doch rangiert er bei weitem nicht in der Liga um Fagioli, Cencic, Jaroussky und Sabada, wohin er zweifellos gehörte. Schon in seinem Auftritt mit „Dolci, fresche aurette grate“ betört er mit schmeichelnden Tönen, wunderbar untermalt vom Orchester mit wiegendem, kosendem Melos. Am Ende des 1. Aktes setzt er in „Morirei del partir“ mit schmerzlichem Ausdruck einen einprägsamen Kontrast. Furios trumpft er auf bei „Nell’attendere il mio bene“ im 2. Akt, feuert die Koloraturen mit Attacke ab und kann auch seinen enormen Stimmumfang demonstrieren. Jeder Zuhörer wartet natürlich auf „Alto Giove“ im 3. Akt, in der Minenko magische Momente schafft mit überirdisch schwebenden Tönen und höchster Kunstfertigkeit im Vortrag. Und mit dem letzten Solo der Oper, der Aria „Senti il fato“, kann er noch einmal mit stürmischen Koloraturrouladen brillieren. Der zweite Counter, Max Emanuel Cencic als Ulisse, hat mit „Core avvezzo“ einen stürmischen Auftritt zu absolvieren, was ihm blendend gelingt. „Fortunate pecorelle“ im 2. Akt ist von getragenem Zuschnitt und profitiert von delikater Tongebung und feiner Phrasierung. „Quel vasto“ im 3. Akt verlangt wiederum Vehemenz im Ausdruck und furios herausgeschleuderte Koloraturläufe, was Cencic souverän meistert. Die anhaltende Hochform des Sängers ist erfreulich und soll hier explizit erwähnt werden.

Die russische Sopranistin Julia Lezhneva ist seit längerer Zeit eine feste Größe in den Produktionen von Max Emanuel Cencic. Auch hier als Galatea besticht sie wiederum mit ihrer scheinbar grenzenlosen Virtuosität, die sie schon in ihrer ersten, zärtlich getupften Aria, „Se al campo e al rio“, ausstellen kann. Mit der vehementen Aria „Ascoltar no“ beendet sie den 1. Akt in fulminanter Manier. Genüsslich kostet sie die Aria im 2. Akt „Fidati alla speranza“ mit kosenden Trillern und raffinierten Vorschlägen aus. Ein weiteres Glanzlicht setzt sie im 3. Akt mit ihrem letzten Solo „Smanie d’affanno“, welches sie mit schmerzerfüllten Tönen ausbreitet. Mit Aci hat sie im 2. Akt zwei Duette: In dem lieblichen „Placidetti zeffiretti“ umschmeicheln sich die Stimmen bezaubernd, in „Tacito movi e tardi“ ist die Stimmung geprägt von bangen Gedanken an die Zukunft. Am Ende des Werkes gibt es sogar ein Terzetto („La gioia immortal“), in welchem sich die Stimmen von Galatea, Aci und Ulisse höchst kunstvoll vereinen.

Selten wurde die Titelfigur einer Barockoper vom Komponisten einem Bassisten anvertraut – Pavel Kudinov absolviert sie mit Glanz und stilistischer Kompetenz. Mit der Aria „M’accendi in sen col guardo“ führt er sich Achtung gebietend ein. Im 3. Akt hat er mehrere Soli, von denen das pochende Arioso „Crudel“, die energische Aria „Dun disprezzato amor und das träumerische Arioso „Ma i piè“ in ihrer kontrastreichen Charakteristik hohe Anforderungen an den Interpreten stellen.

Die Besetzung komplettieren zwei weitere Nymphen – Calipso und Nerea -, die von der Mezzosopranistin Sonja Runje und der Sopranistin Narea Son wahrgenommen werden. Letzterer fällt, gemeinsam mit Galatea, die erste Nummer des Werkes zu – Aria e Duetto „Vo presagendo“, in der Lezhneva mit klagenden Tönen aufwartet, während Son eine sinnliche Stimmung beisteuert. Mit „Sorte un’umile capanna“ hat sie auch ein träumerisches Solo, in welchem die angenehme Stimme zu schöner Wirkung kommt. Reizend ist ihre muntere Aria Una beltà che sa zu Beginn des 2. Aktes, die sie kokett vorträgt und mit feinen Verzierungen schmückt. Calipso hat mit „Giusata non ha delle tue forze“ eine sublime Aria, die sie mit schwebender Stimme ungemein delikat singt. Alle Sänger vereinen ihre Stimmen in den tutti-Passagen – mit dem Ergebnis eines ausgewogenen Zusammenklanges.

Wie oft bei parnassus-Produktionen steht George Petrou am Pult des Ensembles Armonia Atenea und erweist sich einmal mehr als Spezialist für das Barockgenre. Sogleich in den beiden einleitenden Ouvertüren setzt er markante Akzente, differenziert prägnant zwischen den gravitätischen  und lebhaften Tempi. Das zeichnet insgesamt seine Interpretation aus, die von vielfachen Stimmungen und spannenden Affekten geprägt ist. parnassus gebührt Dank: Nach der Einspielung von Porporas Carlo il Calvo ist dieser Polifemo eine weitere Großtat. Bernd Hoppe

Aufführungs-Kritiken

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Hier nun findet sich eine Übersicht der in operalounge.de besprochenen Live-Aufführungen der letzten Zeit, ob nun unter der Rubrik „Die besondere Oper“ oder unter „Festivals“ (und die Dame oben ist die Muse der Musik, Calliope, hier von Charles Meynier 1798 gemalt/Cleveland Museum of Art/Wikipedia).

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Die besondere Oper: Auch 2022/23 sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. G. H.

Deutsche Oper Berlin Tschaikowsky Pique Dame (März 2024); Anhaltinisches Theater Dessau Szymanowsky König Roger (März 2024); Theater für Niedersachsen Hildesheim Berlioz Béatrice et Bénedict (Februar 2024); Deutsche Oper Berlin Benjamin Written on Skin (Januar 2024); Komische Oper Berlin Rimsky-Korssakoff Der goldene Hahn (Januar 2024); Theater Essen Bertin Fausto (Januar 2024); Theater Dortmund Holmés La Montagne Noir (Januar 2024); Berlin Deutsche Oper Bellini Anna Bolena (Dezember 2023); Verona Ponchielli Il Parlatore eterno (Dezember 2023); Pompeji Marzano I Normanni a Salerno (Dezember 2023);  Rugby  Temple Speech Room Bottini Elena e Gerado (Dezember 2023);  Straßburg, Opéra National du Rhin Délibes Lakmé (November 2023); Teatro alla Scala Mailand Faccio Amleto (Oktober 2023); Theater Bielefeld Zandonai Zaza (November 2023); Annaberg-Buchholz Eduard_von-Winterstein-Theater Zandonai Don Buonaparte (November 2023); Theater für Niedersachsen Hildesheim Adam Wenn ich König wäre (Oktober 2023); Theater an der Wien Donizetti Les Martyrs (Oktober 2023); Komische Oper Berlin Henze Das Floß der Medusa (September 2023): Theater Erfurt Weingarten Orestes (Juni 2023); Berlin Philharmonie Moniuszko Paria (September 2023); Komische Oper Berlin: Thomas Hamlet (23); Theater Braunschweig: Godard Dante (Oktober 23); Theater Bielefeld: Leoncavallos Zazà (Oktober 2023); Ernst-von-Winterstein Theater Annaberg-Bucholz: Alberto Franchettis Komödie Don Buonaparte (Oktober 2023);  Teatro Regio Turin: Fromenthal Halévy: La Juive (September 2023); Deutsche Oper Berlin: Jules Massenets Hérodiade (am 15. 6. 2023); Zandonais Francesca da Rimini an der Deutschen Oper Berlin am 29. 5. 2023 ; Felix Weingartners Orestes am Theater Erfurt. am 27.05.2023: Paria von Stanislaw Moniuszko in der Berliner Philharmonie; Ambroise Thomas` Hamlet an der Komischen Oper Berlin; Benjamin Godards Dante am Staatstheater Braunschweig: Krieg und Frieden von Sergej Prokofjew an der Bayerischen Staatoper 18 März 2023: Saverio Mercadantes Francesca da Rimini an der Oper Frankfurt 26.2.23:  Georges Bizets  Ivan IV am Staatstheater Meiningen am 24.2.23: Giacchino Rossini Le Siège de Corinth am Theater Erfurt am 25.2.23; Uraufführung in Ulm Charles Tournemires Legende  de Tristan; Massenets Hérodiade an der Opéra National de Lyon am 23. November 2022; Donizettis Caterina Cornaro am Stadttheater Gießen; Modest MusorgskysBoris Godunow am Teatro alla Scala 7. Dezember 2021;  Verdis Alzira Opéra de la Wallonie Liege 01.12.22; Asger Hameriks Vendetta an der Königlich Dänischen Oper in Aarhus; Wilhelmine von Bayreuth L’Homme Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth; Franz Schreker Der ferne Klang an der Opéra de Stasbourg; Albert Lortzings Undine an der Oper Leipzig 2022; Teatro Comunale Pavarotti Freni in Modena Mefistofele 9. Oktober 2022; Deutsche Oper Berlin Gioacchino Rossini Semiramide 20./22. 10. 2022; In der Berliner Philharmonie Léo Délibes Lakmé 27. 9. 2022; Opéra National de Montpellier Occintanie Ambroise Thomas Hamlet (Tenor) 27. 08. 22; Louise Bertin  Le loup garou an der Opera Southwest in Albuquerque 11. September 2022; Im Berliner Konzerthaus Mascagnis Zanetto und Wolf- Ferraris Il Segreto di Susanna 14.6.2022; Gustave Adolph Kerker The Belle of New York am TFN Hildesheim 26. Mai 2022; Guirauds/Masenets Fredegonde am Theater Dortmund 2022;  an der Budapest Staatsoper Erkels Hunyadi László 2022; Nino Rotas Aladin und die Wunderlampe am TFN Hildesheim 19.02.2022; In Budapest Hubays Geigenbauer von Cremona/ Dohnányis Tante Simona/ Poldinis Hochzeit im Fasching 2022;  An der Opéra National du Rhin in Straßburg Die Vögel von Walter Braunfels 2022;  Am Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg Ralph Benatzkys Der reichste Mann der Welt/ Erich Zeisls  Leonce und Lena 2022; In Osnabrück Theater am Domhof Karol Rathaus’ Fremde Erde 2022; 

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Festivals 2023: Musikfest Berlin: Les Troyens von Hector Berlioz 02. 09., 23; Bel Canto Ritrovato Festival Pesaro & Fano Luigi Riccis Il birraio di Preston & Konzert in Fano 24.8.2023; Salzburger Festspiele 2023 Orfeo ed Euridice/ Bohuslav Martinus The Greek Passion/ Bellinis Capuleti e i Montecchi/ Hector Berlioz´Les Troyens August 2022; Rossini Opera Festival Pesaro 2023 Eduardo e Cristina/ Adelaide di Borgogna/ Aureliano in Palmira August 2023; Festival Alte Musik Knechtsteden  Giovanni Alberto Ristori Orfeo August 2023; Bayreuther Festspiele 2023 Parsifal & Der fliegende Holländer August 2023; Innsbrucker Festwochen der Alten Musik Antonio Vivaldi Olimpiade 8. August 2023/ Bernardo Pasquinis Idalma 23. 6. 2023; Rossini in Wildbad: Giovanni Pacini Gli Arabi nelle Gallie August 2023; Festival Ancient Music New York/ Lincoln Center Ricci Crispino e la Comare; Festival Palazzetto Bru Zane 2023 Louise Bertin Fausto Paris 20. Juni 2023; Musikfestspiele Potsdam Sanssouci L’Huomo von Andrea Bernasconi Juni 2023/  Marc-Antoine Charpentier David et Jonathas; Schloss Rheinsberg Osterfestspiele Carl Heinrich Graun La clemenza di Silla

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Festivals 2022: Auch in 2022 waren wir bei der Auswahl der vorgestellten Festivals sehr wählerisch und konzentrierten uns – wie bei Live-Aufführungen überhaupt – auf wenige und für uns interessante Aufführungen, von denen wir einige Rezensionen der Wichtigkeit der Operntitel wegen weiterhin auf unserer Seite stehen lassen . G. H.

Donizetti-Festival Bergamo 2022 La Favorite, Chiara e Serafina, L´Aio nel´ imbarazzo; David und Halevy beim Wexford Festival Opera 2022 La tempesta & Lalla-Roukh 24 + 25 . Oktober 2022; Festival Radio France Opéra National de Montpellier Occintanie Ambroise Thomas Hamlet (Tenor) 27. 08. 22;  Bregenzer Festspiele 2022 Puccinis Madama Butterfly und Giordanos Siberia 20. + 21. Juli 22; Rossini in Wildbad 2022 Armida, Ermione 15. + 16. Juli 2022; Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Inseln Scarlattis I portentosi effetti della Madre Natura/ Johann Friedrich Reichardt Die Geisterinsel 18. 6. 2022/  Carlo Pallavicino Le Amazzoni nell’isole fortunate

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Unbekanntes aus Budapest

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Schon mehrfach wurde auf diesen Seiten über Einspielungen auf dem Label GLOSSA mit dem ungarischen Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi berichtet. Jetzt gilt es, wieder eine neue Aufnahme  vorzustellen – und noch dazu eine veritable Rarität. Komponist dieser Tragédie lyrique Polydore ist der 1680 in Livorno geborene Jean-Baptiste Stuck. Die künstlerische Laufbahn führte den virtuosen Cellisten über Florenz und Neapel bis nach Paris, wo er 1755 starb. Von seinen Opernwerken sind vier komplett erhalten – eines in italienischer Sprache (Il Cid) für Livorno, die anderen in Französisch für Paris. Polydore ist das letzte von ihnen, uraufgeführt 1720 an der Académie royale de musique à Paris. Das Libretto aus dem 3. Buch der Aeneis stammt von Simon-Joseph Pellegrin, der sich auch als Autor von Rameaus Hippolyte et Aricie einen Namen machte.

Die trojanische Prinzessin Ilione wurde nach ihrer Heirat mit Polymnestor zur Königin von Thrakien. Ihr Gatte liefert ihren Bruder Polydore den Griechen aus, damit er geopfert werden kann. Dafür würden die Griechen die Hand ihrer Prinzessin Déidamie dem Sohn von Polymnestor, Déiphile, bieten. Der alte Timanthe offenbart jedoch, dass er die beiden Prinzen Polydore und Déiphile in deren Jugend vertauscht habe, womit Polymnestor seinen eigen Sohn den Griechen ausliefert, was er am Ende, geplagt vom Geist des Toten, mit seinem Leben büßt.

Die Oper vereint italienisches Melos und französische Elemente, die vor allem in den zahlreichen Tanzeinlagen zum Ausdruck kommen. Schon im Prologue finden sich Loure, Bourée, Sarabande und Premier et Deuxième Passepied. Deren reizvolle Instrumentierung erlaubt dem Orchester ein ungemein farbiges und vitales Spiel. Die Tragédie enthält einen Prologue, wie es derzeit üblich war, doch ohne die gängigen Lobreden auf den Herrscher, und fünf Actes. Die beiden ersten bieten jeweils am Ende ein Divertissement. Am Ende des 4. Aktes findet sich eine ombre-Szene, während der 5. ohne Divertissement und ganz überraschend mit dem Selbstmord von Polymnestor, König von Kreta, endet. Das war ein solch bestürzender Moment, dass bald ein Chor, der die Liebe von Déidamie und Polydore besingt, hinzugefügt wurde. Vashegyi jedoch hat sich in seiner Einspielung für das originale Finale mit Polymnestors ergreifendem Rezitativ „Terre, pour m’engloutir“ entschieden. Der Dirigent beweist wieder sein Gespür für die Musik mit ihrer Delikatesse und den wechselnden Stimmungen. Wie gewöhnlich hat er ein im französischen Barockgenre erfahrenes und versiertes Ensemble versammelt. In der Titelrolle imponiert der Bassist Tassis Christoyannis mit nobler Stimme und autoritärem Vortrag. Sein Air im 2. Akt, „Du plus charmant espoir“, steht für seine Fähigkeit, auch mit Zartheit und Süße zu singen. Thomas Dolié ist der Polymnestor und gleichfalls  kompetent in Gesang und Gestaltung. Judith van Wanroij gibt im Prologue die Vénus und dann die Déidamie. Ihr Sopran ist gewöhnungsbedürftig in seiner Larmoyanz und Strenge. Zu Beginn des 4. Aktes hat sie ein kantables Air zu singen („Beaux lieux“) und danach ein inniges Duo mit Polydore („Quel sort pour nos tendres amours“), wo die Stimme angenehmer klingt. Und am Ende der Oper findet sie in dramatischen Rezitativen („Il va combattre“/ „Quel bruit afffreux!“) zu überzeugendem Ausdruck. Hélène Guilmette ist mit beherztem Gesang eine starke Ilione, die die Angst um ihren Bruder ins Zentrum ihrer Interpretation rückt. In nicht weniger als fünf, allerdings kleineren Partien ist der renommierte Countertenor Cyrille Dubois besetzt, der freilich in der Höhe auch gequält klingen kann. Zudem ist der Bassist David Witczak in mehreren Rollen zu hören. Als Le Grand Prêtre hinterlässt er den stärksten Eindruck.

Zum glänzenden Gesamteindruck tragen das Orfeo Orchestra mit inspiriertem Musizieren und der Purcell Choir mit kultiviertem Gesang bei. Die Aufnahme dürfte jeden Liebhaber französischer Barockmusik erfreuen. Sie entstand im September 2022 in Budapest (GCD 924014, 3 CDs). Bernd Hoppe

Völlerei und Frömmigkeit

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Dem Booklet mit dem Libretto ist ein Glossar vorangestellt. Denn wer sollte außerhalb der Schweiz wissen, dass „fidlätaub“ zornig, „karisiert“ lieben und „frinä“ zufrieden bedeutet. Im Singspiel Eine Engelberger Talhochzeit gibt fast jedes Wort dem ungeübten Ohr Rätsel auf. Es wurde von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720-1789) in Engelberger-Dialekt komponiert. Die Gemeinde mit derzeit weniger als viertausend Einwohnern liegt im Kanton Obwalden in der Zentralschweiz und ist ein gesuchtes Urlaubsziel. Talhochzeit leitet sich von Talschaft her, worunter die Gesamtheit von Land und Leuten eines Tales zu verstehen ist. In einer historischen Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1958 ist das Werk bei Relief auf CD herausgekommen (CR 1927). Das Libretto, das der Komponist offenbar selbst verfasste, schwankt „zwischen Farce und Frömmigkeit, zwischen Völlerei, Respekt vor der geistlichen und weltlichen Autorität, sowie starken Gefühlen tiefer Gläubigkeit munter hin und her“, heißt es im Booklet-Text von François Lilienfeld. Die Sprache sei oft sehr derb. Der Komponist gehöre zu den schillerndsten Persönlichkeiten der schweizerischen Musikgeschichte. „Unter seinen diversen Beschäftigungen nahmen Musik und Religion eine führende Position ein, doch wusste er seine vielfältigen Talente auch in anderen Bereichen geltend zu machen.“ Seine wechselvolle Biographie liest sich so: „Meyer von Schauensee stammte aus einer Luzerner Patrizierfamilie. Schon früh lernte er Orgel und Cello. 1738 trat er in ein Zisterzienser-Kloster ein, das er allerdings bereits nach einem Jahr wieder verliess. Von 1740 bis 1742 erhielt er Geigenunterricht bei Ferdinando Galimberti in Mailand.1742 bis 1744 nahm er als Söldner im Dienste des Königs Emanuel III. am österreichischen Erbfolgekrieg teil. Nach seiner Rückkehr war er in der öffentlichen Verwaltung in Luzern tätig, doch nahmen Musik und geistliche Berufung eine immer zentralere Rolle in seinem Leben ein. 1752 wurde er Priester.“ Nach Angaben von Lilienfeld hinterließ er ein umfangreiches Oeuvre mit geistlicher Musik, instrumentale Kompositionen und Bühnenwerke. Leider sei vieles davon verschollen, die meisten der erhaltenen Werke nur als Manuskript zugänglich. 1939 wären die damals bekannten Akte eins und zwei der Engelberger Talhochzeit anlässlich der Schweizerischen Landesausstellung nach der Rekonstruktion von Hans Vogt und Hans Visscher von Gaasbeck in Zürich zur Aufführung gelangt. Nachdem man auch das Manuskript des dritten Aktes aufgefunden habe, wurde die Oper im Dezember 1958 vom Radio-Studio Basel aufgenommen und im April 1959 erstmals gesendet. Die vorliegende CD-Ausgabe entstand auf der Grundlage der Aufnahmebänder von Radio Basel. Im Fernsehstudio Zürich war 1974 eine gekürzte Fassung unter Armin Brunner produziert worden.

Die „Talhochzeit“ ist die erste Tonaufnahme mit Edith Mathis / Relief (Privatarchiv der Sängerin)

Nach den Worten von Lilienfeld kann guten Wissens behauptet werden, dass Die Engelbergische Talhochzeit – ein seltenes Dokument innerschweizerischen Musiklebens aus dem XVIII. Jahrhundert – zu den Raritäten, ja Kuriositäten, der Operngeschichte gehöre. Das beginne schon beim Text: Es gebe wohl nicht viele Opern mit „schweizerdeutschem“ Libretto, noch dazu in einer eher „abgelegenen“ Mundart. „Diese stand natürlich einer internationalen Verbreitung im Weg. Dazu kommt, dass keine Helden auftreten und die Liebesgeschichte alles andere als romantisch ist. Es wird den einfachen Landleuten – buchstäblich – auf’s Maul geschaut.“ Die Handlung sei ungewöhnlich. Sie beginne mit einer trotzig durchgesetzten Eheschliessung. Es folge ein horrend teures Hochzeitsmahl, zu dem allerdings die Eingeladenen nicht erscheinen. Die Familie esse und trinke bis zu Überfluss und Übelkeit. Doch kaum sei das Brautpaar getraut, fingen die Streitereien an. „Und das Ende ist für eine opera buffa, wie der Komponist seine Schöpfung einordnete, vollends unerwartet: In einem traurigen, resignierten Trio-Finale bereuen die Protagonisten ihre Beschäftigung mit weltlichen Dingen und besingen Frieden, Zucht, Ehrbarkeit.“ Die Musik sei ansprechend, eingängig und enthalte zahlreiche italienische Einflüsse. Das Orchester bestehe ausschliesslich aus Streichern, der Satz sehr sorgfältig konstruiert, so Lilienfeld.

Bereits auf dem Cover schmückt sich die Neuerscheinung mit dem Hinweis, dass es sich bei dieser Produktion um die erste Tonaufnahme der damals erst zwanzigjährigen Edith Mathis handelt. Sie singt die selbstbewusste Braut, das Gretli – singt die Rolle mit einer Stimme, wie sie ihr die Natur hat zukommen lassen. Noch ist alles Talent. Doch wer genau hinhört, wird bei der Anfängerin bereits den unverwechselbaren lyrischen Ton der Reifezeit angelegt finden. Zudem lässt sie die Fähigkeiten erkennen, sich diszipliniert ins Ensemble einzufügen, was ihr später vornehmlich in den Opern von Mozart zu Gute kommen wird. Mit der Aufnahme werden zudem Sängerinnen und Sänger in Erinnerung gerufen und mit Kurzbiographien vorgestellt, die heute weitgehend vergessen sind, darunter die Sopranistin Rosmari Thali, die Altistin Adele Räber, die Tenöre Peter Remund und Robert Boog sowie der Bassist Eduard Stocker. Eine Herausforderung des besondere Art watet auf den mit Remund besetzten Gastwirt Felix, der das Hochzeitsmahl in einer virtuosen Erzählung anpreist, die an Leporellos Registerarie in Mozart Don Giovanni denken lässt, der 1787 und damit fünf Jahre nach der Talhochzeit uraufgeführt wurde. Die Arie des Wirts „kann als wahrscheinlich einzige vertonte Speisenkarte der Theatergeschichte gelten“, wird im Booklet ausdrücklich vermerkt. R.W.

Aus den Archiven

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Der SWR hatte schon seit langem seine Archive mit Aufnahme-Schätzen geöffnet, unter dem Titel Legendary Singers nun einen Schuber mit Einspielungen von Martina Arroyo, Marilyn Horne, Peter Anders (2 CD), Dietrich Fischer-Dieskau und Nicolai Gedda zusammengestellt. Da gibt es zunächst zwei Liederabende der Schwetzinger Festspiele: Im Schwetzinger Schloss wurde am 25.05.1968 ein Liederabend der fulminanten Martina Arroyo und des Altmeisters Leonard Hokanson am Flügel aufgezeichnet und übertragen. Die technisch geglättete Fassung lässt keinen Hinweis auf ein Live-Erlebnis mehr erkennen, begeistert aber nach wie vor. Mit ihrem klaren, in allen Lagen bestens durchgebildeten Sopran und differenzierter Gestaltungskunst fasziniert Martina Arroyo nach wie vor; in Liedern von Gioacchino Rossini, Franz Schubert, Johannes Brahms, 4 Spirituals und den Zigeunerliedern von Antonin Dvorak lässt sich ihre hohe Sangeskunst eindrücklich nachvollziehen. Leonard Hokanson ist ein partnerschaftlicher Mitgestalter (SWRmusic, 93.719).

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Fast 24 Jahre später, am 25.04.1992 fand ein reiner Rossini-Abend der stupenden Marilyn Horne und ihres kongenialen Begleiters Martin Katz statt – ein Beitrag zum 200.Geburtstag des Komponisten. In unseren Breiten hört man Rossini-Lieder leider viel zu selten. Besonders hervorzuheben sind das eindringlich vorgetragene Assisa à piè d’un salice, das kleine Koloraturfeuerwerk Canzonetta spagnuol und das nur auf einem Ton gesungene Adieux à la vie!, bei dem der Pianist die melodische Hauptaufgabe exquisit löst. Höhepunkt ist die von Rossini selbst als „Cantata“ bezeichnete Giovanna D’Arco aus seiner späten Schaffenszeit: Bei dieser teilweise opernhaft großen Szene zieht die Sängerin alle Register ihrer Koloraturfähigkeit und ihres großen Stimmumfangs; der Pianist geht auf jede Nuance der Interpretation mit subtiler Begleitung ein. Zwei kleine Schmankerln beenden den tollen Abend, das flotte Cruda sorte! Amor tiranno! aus L‘italiana in Algeri und Di tanti palpiti aus Tancredi (SWRmusic, CD 93.721).

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Dietrich Fischer-Dieskau sings Baroque Arias lautet der Titel der CD, die in den Jahren 1952-54 vom SWR eingespielt wurde, also in Dieskaus früher Zeit; in Wahrheit sind es allerdings geistliche Solo-Kantaten, nicht gerade typisch für seine Berühmtheit. Mit der fünfteiligen Kantate Aus der Tiefe rufe ich, Herr zu dir von Gottfried Heinrich Stölzel beginnt der „Arienreigen“, gefolgt von Franz Tunders sehr basslastiger Kantate Da mihi, Domine. Bei Dietrich Buxtehudes Kantate Ich suchte des Nachts passen Dieskaus Bariton und der helle Tenor von Helmut Krebs gut zusammen, eine interessante Duett-Kantate! Die Streicher werden hier durch eine blitzsaubere Oboe ergänzt. Etwas schlicht kommt die Osterkantate Erstanden ist der heilige Christ von Nicolaus Bruhns daher; auch hier ergänzen sich die beiden Sänger ausgezeichnet. In Adam Kriegers Kantate An den Wassern zu Babel saßen wir tritt die sichere Altistin Erika Winkler hinzu; gemeinsam legen sie Kriegers verschlungene Melodik ansprechend frei. Mit Nicolaus Bruhns‘ Choralkantate De profundis clamavi beweist Dieskau einmal mehr, dass ihm die recht hoch liegende Bass-Kantate mit barocken Verzierungen besonders liegt. Die vorzüglichen Instrumentalisten schaffen den sicheren Boden, auf dem sich die Sänger in allen Kantaten frei entfalten können (SWR Music, CD 94.218).

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Nicolai Gedda sings Arias & Lieder umfasst Studioeinspielungen mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, die Lieder sind Live-Konzertmitschnitte. Vom  schwedischen Tenor mit intonationsreinen Spitzentönen und großer Koloratur-Geläufigkeit sind sechs Opern-Highlights zusammengestellt: Adolphe Adams spritziges Mes amis écoutez l’histoire (Le postillon de Lonjumeau), Christoph Willibald Glucks ausdrucksstarkes Welch Gefühl schwellt meine Brust (Alceste)  und das flotte, höhensichere Auf Kalchas falle dieses Schwert (Iphigenie in Aulis), W.A. Mozarts emotionsreiches Fuor del mar (Idomeneo), Giacchino Rossinis mit Höchstschwierigkeiten gespicktes Que les destins prospères… (Le Comte Ory) und Michail Glinkas kriegerisches Brüder, im Sturm (Ein Leben für den Zaren) mit lyrischem Zwischenteil. Unter der versierten Leitung von Ernest Bour begleitet das Orchester schwungvoll. Mit den Liedern von Franz Schubert, Francis Poulenc und Nicolai Rimsky-Korsakov mit dem sicheren Pianisten Werner Singer beweist Gedda beim Bruchsaler Schlosskonzert am 19.10.1960, dass er auch die Kunst der „Miniaturen“ versteht und in mehreren Sprachen beste Textverständlichkeit erzielt. Das gilt gleichermaßen für die Lieder von Claude Debussy, Joaquin Nin und Ottorino Respighi, sowie für die weniger bekannten, aber lohnenden Lieder von Francesco Balilla Pratella, Alfredo Casella und Vito Carnevali, die im Schloss Ludwigsburg am 03.04.1965 mit Erik Werba als ebenbürtigem Partner am Klavier erklangen (SWR Music,  CLASSIC CD 94.212).

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Last not least: Peter Anders singt Arien und Lieder, jeweils eine CD, eingespielt in den Jahren 1946-52. Zu den Opern-Aufnahmen leitet Otto Ackermann das in allen Gruppen sicher aufspielende Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg: Die Gralserzählung aus Lohengrin, die Blumenarie aus Carmen, Wilhelm Kienzls Selig sind… aus dem Evangelimann, Florestans große Szene aus Fidelio und Durch die Wälder, durch die Auen aus dem Freischütz sind die Solo-Nummern, in denen Peter Anders die Strahlkraft und Farbpalette seiner klaren Tenorstimme eindrücklich beweist. Gemeinsam mitt Sena Jurinac erklingen Duette aus der verkauften Braut, Otello, Madama Butterfly, La Bohème und Carmen, in denen sich die beiden Stimmen nahezu ideal verbinden. Zwei Operetten-Einspielungen aus Johann Strauß‘ Zigeunerbaron, wobei das Orchester von dem versierten Paul Burkhard geleitet wird und die Sopranistin Nata Tüscher im Duett mitwirkt, runden die Opern-CD ab.

Die Lieder-CD enthält Vertonungen von Franz Schubert, Robert Schumann, Ludwig van Beethoven und Peter Tschaikowsky. Der Liedgesang scheint dem Sänger ein besonderes Anliegen gewesen zu sein; hier kommt seine hohe Gestaltungskunst besonders gut zur Geltung. In der von dem erfahrenen Pianisten Heinz Mende begleiteten Schubert-Gruppe fällt der muntere Musensohn durch seine Frische auf. Die übrigen Lieder werden vom ebenfalls eindrucksvoll auf den Sänger eingehenden Hubert Giesen mitgestaltet. In der Schumann-Gruppe zwingen z.B. in Intermezzo die zwischendurch eigenwilligen Tempoverzögerungen zu intensiverem Hinhören. Beethovens An die ferne Geliebte gefällt ebenso wie die wunderbaren Romanzen Tschaikowskys wie Einst zum Narr’n, Unendliche Liebe oder Warum?. Diese CDs sind eine gute Erinnerung an den Ausnahmesänger Peter Anders (SWR Music,  CD 1-2 94.214).                (25.09.2023)   Marion Eckels

Gemischte Platte

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Piotr Beczala hat im spanischen Valencia mit dem Orquestra de la Comunitat Valenciana Arien und Szenen aus dem Verismo aufgenommen, die PENTATONE unter dem passenden Titel VINCERÒ! herausgebracht hat Die CD enthält Puccini-„Schlager“ aus u.a. Tosca, Fanciulla, Butterfly und natürlich Turandot, aber auch die beiden berühmten Szenen aus Mascagnis Cavalleria rusticana und Leoncavallos Pagliacci; Adriana Lecouvreur und Andrea Chénier sind ebenfalls vertreten. So kann der Opern-Star unserer Zeit die ganze Fülle und vielfarbige Palette seines charakteristischen Tenors ausbreiten. Wieder beeindruckt die gleichmäßige Linienführung der Stimme durch alle Lagen bis in strahlende Höhen. Unterstützt wird er von dem sicheren spanischen Orchester und in wenigen Szenen von dem klangausgewogenen Cor de la Generalitat Valencia, beide souverän von Marco Boemi geleitet (PENTATONE PTC 5186 993).

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Ein schönes Beispiel dafür, dass der polnische Tenor auch die intimere Form des Lieds beherrscht, ist die CD mit Romanzen von Pyotr Tchaikovsky und Sergei Rachmaninoff, die Piotr Beczala und Helmut Deutsch im Markus-Sittikus-Saal Hohenems (Veranstaltungsort der Schubertiade) aufgenommen haben. Die Künstler haben insgesamt 31 meist recht kurze Romanzen ausgewählt, die sie mit ihrem ganzen Können ausdeuten. Dabei fällt auf, wie technisch ausgereift die Stimmführung des Sängers ist: Bei durchgehend perfekter Intonationsreinheit vermag er die Stimme in wunderbar klangschönes piano zurückzunehmen, aber ebenso an passenden Stellen dramatische, fast opernhafte Aufschwünge zu präsentieren. Wie selbstverständlich trifft er den oft schwelgerischen Duktus der Romanzen und die lyrisch zurückhaltende Nachdenklichkeit der russischen Lieder. Wesentlich an den Interpretationen beteiligt ist der Altmeister der Klavierbegleitung, der stets sensibel auf den Sänger eingeht, gute Tempi bei den Vorspielen vorgibt und den unterschiedlichen Stimmungen der Lieder in den Nachspielen weiter nachspürt. Auf diese Weise kann man bestes partnerschaftliches Musizieren erleben (PENTATONE PTC 5186 866).

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Ganz anders kommt die CD mit dem Titel Remembering Tebaldi daher: Die US-amerikanische Sopranistin Melody Moore erinnert an den 100. Geburtstag der großen Renata Tebaldi, indem sie mit dem Transylvania State Philharmonic Choir & Orchestra unter Lawrence Foster Opernarien singt. Geordnet  sind diese nach drei Wirkungsperioden der Tebaldi: Aus ihrer frühen Zeit gibt es Arien aus Mefistofele, L’amico Fritz, Andrea Chenier und La Bohème, die die Sängerin mit ruhiger Stimmführung in allen Lagen stets höhensicher interpretiert. Aus der Periode an der Mailänder Scala hört man neben Ausschnitten aus Rossinis Mosè in Egitto und Verdis Quattro pezzi sacri Aidas Ritorno vincitor! sowie eine Szene aus Catalanis La Wally. In diesen recht unterschiedlichen Stücken beeindruckt die Vielseitigkeit des Soprans, der z.B. in der Aida-Arie schön aufblüht und im Gebet aus Mosè die soliden Chor-Solisten und den Chor unaufdringlich überstrahlt. Der dritte Teil der CD betrifft die MET-Periode mit Leonoras Pace-Arie sowie Ausschnitten aus Manon Lescaut, La Traviata, Adriana Lecouvreur und Suor Angelica. Auch hier gefällt, wie die Sängerin ihre volltimbrierte Stimme entsprechend der jeweiligen Stimmung ausschwingen lässt. Am Schluss wird an das letzte Konzert der Tebaldi mit italienischen Liedern und Arien in der Carnegie-Hall erinnert, indem ein Scarlatti-Lied, arrangiert für Sopran, Oboe und Streicher, musiziert wird. Durchweg ist das Orchester unter der umsichtigen Leitung von Lawrence Foster der Sängerin eine sichere Unterstützung (PENTATONE PTC 5187 070).

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Schließlich soll über eine CD mit Spirituals berichtet werden, die der amerikanische Countertenor Reginald Mobley und der französische Pianist Baptiste Trotignon präsentieren. Traditionals in besonderen Arrangements sind gemischt mit  Transkriptionen und Melodien von Harry T. Burleigh (1866-1949) und Florence Price (1887-1953), dabei das titelgebende Because und so bekannte Spirituals wie Sometimes, Nobody knows, My Lord, what a morning oder Deep river. Die beiden Künstler korrespondieren aufs Feinste miteinander, indem der Counter mit seiner klaren Stimme großen Umfangs die Spirituals eindringlich interpretiert und der versierte Pianist ebenso wie der Sänger diese gekonnt und variantenreich vom Jazz aus betrachtet (ALPHA 936) (25. 09. 23).  Gerhard Eckels

Vielseitig, temperamentvoll, subtil

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Ferenc Fricsay brannte für die Musik und verbrannte vielleicht an ihr. Fricsay war, wie Peter Sühring in einer neu erschienenen Monographie über den Dirigenten schreibt „als musikalischer Künstler ein Besessener, dessen Drang zu musizieren, Musik unter seinen Händen entstehen zu lassen, unersättlich war.“ Das berichten auch die ihn kannten und Musiker, die mit ihm arbeiteten. In den penibel vorbereiteten Proben rasch und zielstrebig voranschreitend, unerbittlich in seinen Forderungen –dabei gelegentlich auch ungerecht und unangenehm gegenüber den Musikern. Er war aber alles Andere als ein eitler Musik- oder gar Selbstdarsteller. „Er hatte die Vorstellung, dass man die Musik erschaffe, indem man als Dirigent – wie ein werkbezogener Doppelgänger des Komponisten – die Musiker des Orchesters dazu inspiriert, ihre jeweilige Stimme im Sinne der Partitur und des in ihr vorgestellten Gesamtklangs zu spielen, sofern dieser aus den Noten erkennbar sei“ (Sühring, S. 21, dazu die Besprechung des Buches s. unten)

Fricsay selbst betonte, dem Dirigenten stünden im Konzert „sein Gesichtsausdruck, seine Hände, sein Dirigentenstab, außerdem die mit diesen Mitteln ausgeführten Bewegungen und schließlich die Fähigkeit zum Führen … kurz Suggestion zur Verfügung. Und weiter: „Das Hauptziel ist, dass der Dirigent die in den Proben gegebenen Anweisungen bei den Musikern wieder wachruft und diese noch womöglich mit neuen Gedanken erweitert, ohne dass er damit den musikalischen Ablauf mit unpassenden Bemerkungen stört oder die Leitung des Orchesters hemmt.“ Fricsay war sogar der Auffassung, ein guter Dirigent spiele „das ganze Werk als Pantomime dem Orchester und auch dem Publikum vor, doch ständig etwas früher, als das Orchester es zum Klingen bringt, denn die Verzögerung zwischen der Wahrnehmung und der Ausführung darf nicht außer Acht gelassen werden“ (zit. nach Sühring, S. 21 f.). Wie er selbst dieses Ideal umsetzte, kann man anhand von Probenausschnitten auf einer CD und einer DVD verfolgen. Wie minuziös und detailliert Fricsay probte, verrät der (akustische) Mitschnitt einer Probe von Smetanas Moldau mit dem Symphonieorchester des Süddeutschen Rundfunks. Allerdings zeigt die anschließende Aufführung doch, dass die Musiker eher über ein Kurzzeitgedächtnis verfügen. Denn manches klingt eben nicht ganz so, wie vorher geprobt und wie der Dirigent es eigentlich wollte.

Fricsay mag dem heutigen Musikpublikum nur noch bedingt in Erinnerung sein. Bis zu seinem frühen Tod war er vor allem in Berlin zu erleben. Hier hatte er mit dem RIAS- und späteren Radio-Symphonie-Orchester (heute Deutsches Symphonie-Orchester) seine wohl künstlerisch bedeutendste Heimat gefunden. Die Deutsche Grammophon-Gesellschaft versicherte sich schon 1949 des jungen, talentierten Dirigenten, der nicht nur als Chefdirigent des RSO Berlin sondern auch als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin das Musikleben der Stadt stark prägte. Die meisten Aufnahmen dieser 86-CD-Box entstanden mit dem RSO Berlin. Außerdem ging Fricsay mit den Berliner Philharmonikern, den Wiener Philharmonikern, dem Bayerischen Staatsorchester sowie dem Pariser Lamoureux-Orchester ins Aufnahmestudio.

Wenn der Name Fricsay fällt, dann denken viele gleich an ungarische Musik. Fricsays Repertoire war freilich breit und vielseitig. In der vorliegenden Box sind 60 Komponisten vertreten – von Bartók, Beethoven, Brahms, Mozart bis zu Verdi, Wagner und Weber. Außerdem enthält die Sammlung allein acht Operneinspielungen von Gewicht.

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Mozart war ein, wenn nicht der Schwerpunkt von Fricsays Arbeit. Das belegen allein knapp 50 Aufnahmen mit Symphonien, Klavierkonzerten, Opern, geistlichen Werken und unterschiedlich besetzter Orchestermusik. Bleibende Highlights sind dabei die Klavierkonzerte Nr. 19, 20 und 27 mit Clara Haskil und Symphonien mit dem RIAS-Orchester und den Wiener Symphonikern, wobei die Wiener Aufnahme gelungener erscheint. Neben Mozart war Bartók der wichtigste Komponist in Fricsays Repertoire, hier hat er exemplarische Einspielungen hinterlassen – man denke nur an die auch heute noch faszinierende Gesamtaufnahme der Klavierkonzerte und der Klavierrhapsodie mit seinem Landsmann Géza Anda, die durch ihre Luzidität sowie ein faszinierendes, fabelhaftes Zusammenspiel aller Beteiligten imponiert. Weitere Bartók-Höhepunkte sind das zweite Violinkonzert mit Tibor Varga, das Klavierkonzert Nr. 3 mit Monique Haas und der Operneinakter Herzog Blaubarts Burg mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hertha Töpper. Auch die Musik des anderen großen ungarischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, Zoltán Kodály, ist bei Fricsay in besten Händen, wie anhand der Maroszeker Tänze, der Tänze aus Galánta, der Háry-János-Suite oder des Psalmus Hungaricus erfahrbar ist.

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Beim klassischen und romantischen Repertoire ging es Fricsay mehr um die Vielfalt denn um vermeintliche Vollständigkeit. Mit den Berliner Philharmonikern entstand ein fast kompletter Zyklus der BeethovenSymphonien (mit Ausnahme der Nr. 2, 4, 6): stellenweise etwas konventionell in Ton und Gangart, aber immer deutlich, sehr artikuliert, spannend, nie falsch heroisch, manchmal unerwartet drängend im Tempo. Sehr ausgewogen und zugleich voller Überraschungen spielt Annie Fischer das Dritte Klavierkonzert. Zu bewundern ist, wie Géza Anda, Wolfgang Schneiderhan und Pierre Fournier das Tripelkonzert musizieren, wie hier die Solisten miteinander und mit dem Orchester konzertieren. Symphonien von Haydn werden animiert, spannungsreich, nie behäbig oder gar zopfig musiziert. Brahms ist u. a. mit dem Zweiten Klavierkonzert (G. Anda), dem Konzert für Violine und Violoncello (W. Schneiderhan, Janos Starker) in beseelten und leidenschaftlichen Interpretationen vertreten.

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Die wichtigsten Opern-Dokumente sind die Aufnahmen von Mozarts Entführung aus dem Serail, Die Zauberflöte, Don Giovanni, Le nozze di Figaro mit den bedeutenden und bewährten Sängerinnen und Sängern der Zeit (wie Ernst Haefliger, Maria Stader, Josef Greindl, Dietrich Fischer-Dieskau, Sena Jurinac, Irmgard Seefried), dem fabelhaften RIAS-Kammerchor und dem RSO Berlin. Mozarts Idomeneo entstand 1961 mit Waldemar Kmennt, Ernst Haefliger, Elisabeth Grümmer, Pilar Lorengar u.a., dem Chor der Wiener Staatsoper und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen. Insbesondere der Berliner Don Giovanni mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle, Karl Christian Kohn als Leporello, Sena Jurinac als Donna Anna und Maria Stader als Donna Elvira ist nach wie vor eine mitreißende Referenzaufnahme. 1956 entstand Glucks Orpheus und Eurydike mit Dietrich Fischer-Dieskau und Maria Stader als Protagonisten, 1952 wurde in Berlin Wagners Der fliegende Holländer mit Josef Metternich, Josef Greindl, Annelies Kupper, Wolfgang Windgassen u. a. eingespielt. Beethovens Fidelio nahm Fricsay 1957 in München mit Leonie Rysanek, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau u. a sowie dem Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper auf. Bei den Vokal– bzw. Chorwerken reicht die Spannweite von Mozarts Requiem und Großer Messe c-Moll, Haydns Jahreszeiten über Rossinis Stabat Mater und Verdis Messa da Requiem bis zu Kodálys Psalmus Hungaricus und Strawinskys Oratorium Oedipus Rex.

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Manche Werke sind in zwei Einspielungen vertreten – mit dem gleichen oder verschiedenen Orchester/n. Die Wahl für die eine oder andere Aufnahme ist weitestgehend subjektiv. Auffällig ist indes, dass ein Fortschritt in der Aufnahmetechnik (wie der Wechsel von Mono zu Stereo) kein qualitativer Sprung sein muss. Bedeutender scheint mir, dass Fricsay in seinen frühen Interpretationen vielfach raschere Tempi wählte, mit mehr Temperament und Leidenschaft musizieren ließ. Beispielhaft: Die Aufnahme der Neunten Symphonie von Dvořák mit den Berliner Philharmonikern imponiert auch heute noch, doch ungleich drängender, packender, feuriger und auch (in Mono!) klanglich direkter ist die Einspielung mit dem RIAS-Symphonieorchester. Auch Tschaikowskys Sechste Symphonie wurde zweimal aufgenommen. Die frühere (Mono-) Einspielung mit den Berliner Philharmonikern ist interessanter, zügiger in den Tempi, spannender als die spätere (stereophone) mit dem RIAS-Orchester, die mir konventioneller und spannungsärmer erscheint. Verdis Messa da Requiem (großenteils ähnlich besetzt) ist in der Aufnahme von 1953 drängender, eindringlicher, nicht über-dramatisch, klanglich gelungener als die Produktion von 1960, die stellenweise zu getragen ist und dadurch an Spannung verliert, aber andererseits auch sehr feine pianissimi bietet.

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Die Edition erinnert erfreulicherweise auch an seinerzeit bedeutende Interpretinnen und ihre männlichen Kollegen. An erster Stelle ist die ziemlich in Vergessenheit geratene schweizerische Pianistin Margrit Weber (1924-2001) zu nennen, deren Karriere 1955 begann, als Fricsay sie in Winterthur kennenlernte und gleich von ihrem Klavierspiel beeindruckt war. Er lud sie zu Konzerten ein und nahm mit ihr eine Reihe konzertanter Kompositionen auf: de Fallas „Nächte in spanischen Gärten“, Rachmaninows Paganini-Rhapsodie, seltener gespielte Werke wie die Concertinos von Francaix und Honegger, die reizvollen Bagatellen von Alexander Tscherepnin, nicht zu vergessen die Strauss’sche Burleske und die spröden Mouvements von Strawinsky. Die Geigerinnen Johanna Martzy und Erica Morini sind mit den Konzerten von Dvorák bzw. Bruch und Glasunow zu erleben. Sie spielen diese Werke virtuos, schlank, gefühlvoll, aber nicht sentimental und werden vom RSO subtil begleitet. Mit Wolfgang Schneiderhan erlebt man Mendelssohns Violinkonzert e-Moll ebenfalls schlank, frei von Schnörkeln, ohne jedes Auftrumpfen, immer gut eingebettet in den Orchesterklang.

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Von den Komponisten des 20. Jahrhunderts lagen Fricsay – wenn man das an seinen Aufnahmen misst – besonders Boris Blacher, Rolf Liebermann, Gottfried von Einem, Werner Egk, aber auch Hans Werner Henze und die schon als Klassiker zählenden Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Karl Amadeus Hartmann – außerdem Frank Martin, dessen apart besetzte Petite symphonie concertante schon dank der vortrefflichen Solistinnen Irmgard Helmis (Cembalo), Gerty Herzog (Klavier), Sylvia Kind (Harfe) eine der wertvollsten und schönen Einspielungen mit dem RIAS-Symphonie-Orchester ist.

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Fricsay beherrscht als gebürtiger Ungar auch die „leichte“ Musik, war mit dem Idiom Österreich-Ungarns bestens vertraut, konnte den Orchestern, mit denen er arbeitete, sogar eine gewisse Walzerseligkeit abgewinnen. Mit Peter Anders, Anny Schlemm und weiteren Solisten, dem RIAS-Orchester und RIAS-Kammerchor stellte er eine respektable Fledermaus auf die Beine. Lange vor anderen Dirigenten interpretierte er die Symphonien von Tschaikowsky schlank, unsentimental, ohne Pathos, sehr temperamentvoll. Er setzte sich auch für den russischen Komponisten Reinhold Glière ein, dessen Dritte Symphonie „Ilja Murometz“, eher ein grandioses Orchesterpoem denn eine herkömmliche Symphonie ist. Nicht zuletzt nahm er sich auch der „kleineren“ Orchesterwerke der Klassik und Romantik an, widmete diesen die gleiche Sorgfalt in der Aufführung und Inszenierung wie den „großen“ Werken des Repertoires.

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Der Autor unseres Artikels zu Ferenc Fricsay, Helge Grünewald: Jahrgang 1947, studierte in Berlin Politikwissenschaft, Soziologie und Musikwissenschaft. Seit 1973 als Musikjournalist tätig. Arbeit für verschiedene Rundfunkanstalten (SFB, DeutschlandRadio), Orchester (Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Berliner Philharmoniker), die Berliner Festspiele, Zeitschriften (FONO FORUM, Klassik heute), Zeitungen sowie Schallplattenfirmen. Von 1989 bis 2006 Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Philharmoniker, danach bis 2016 Dramaturg mit Zuständigkeit für Ausstellungen, das Archiv des Orchesters, die Herausgabe historischer Aufnahmen sowie die von ihm initiierte Filmreihe »Musik bewegt Bilder«. Seit 2016 ist er Präsident der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, seit 2011 Juror beim PdSK/ Foto Ines Grabner

Zur Edition gibt es ein stattliches, informatives Begleitbuch mit vielen Abbildungen. Ausgesprochen ärgerlich ist allerdings die Gewohnheit, die CDs bei solchen „Complete“-Editionen in den miniaturisierten Hüllen der Originalausgaben zu präsentieren. Doch leider finden sich zu oft gar nicht Werke in der Hülle, die auf dem Cover stehen. So darf die Hörerschaft dann mühsam anhand des Booklets mit seinem Verzeichnis aller CDs die Titel suchen, die sich zwar auf dem Cover, aber nicht auf der enthaltenen CD finden. Das trübt den Genuss!

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.Eine ideale Ergänzung, informative und anregende Lektüre zu der umfangreichen Edition der DG bietet das fast zeitgleich erschienene Buch von Peter Sühring: „Ferenc Fricsay – der Dirigent als Musiker“ (edition text & kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2023). Der Autor versucht in seiner Monographie, „eine neue Sicht auf Leben und Wirken des Dirigenten zu geben“, vor allem „auf Grundlage einer Erschließung seines Nachlasses im Archiv der Akademie der Künste in Berlin“. Der 200 Seiten starke Band ist (zum Glück) keine der Musikerbiographien, wie man sie kennt.

Sühring verfolgt weniger die persönliche Biographie des Dirigenten als dessen künstlerische Entwicklung: von der Kindheit und Jugend und der musikalischen Ausbildung über die Arbeit als Kapellmeister von Militärorchestern (die auch Unterhaltungsmusik und anspruchsvolle symphonische Werke aufführten), als Dirigent des Philharmonischen Orchesters in Szeged (auch Opern) über die Tätigkeit am Budapester Opernhaus bis zum internationalen Debüt in Salzburg (1947) und der Entscheidung für Berlin als künstlerischer Mittelpunkt. Hier dirigierte Fricsay im Herbst 1948 zunächst das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, reüssierte dann rasch an der Städtischen Oper (später Deutscher Oper Berlin). Erst danach begann seine Arbeit mit dem RIAS-Orchester.

Das Verdienst von Peter Sühring ist es, auch die Komplikationen bei Fricsays künstlerischer Arbeit in Berlin detailliert aufzuzeigen: die Schwierigkeiten, die das RIAS-Orchester hatte, seine Auflösung und Neugründung als Radio-Symphonie-Orchester Berlin, die Probleme, die Fricsay als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper und auch an der Münchner Oper hatte, weil er sich weigerte, faule Kompromisse einzugehen und seine hochgesteckten künstlerischen Ziele und Forderungen aufzugeben. Das Buch ist zugleich eine Geschichte des Musiklebens in Nachkriegsdeutschland, besonders in Berlin.

Zum Glück ist die vorliegende Monographie keine „Hagiographie“ Ferenc Fricsays. So bleibt sein persönliches Schicksal, seine Krankheitsgeschichte nicht ausgespart. Auf der einen Seite standen Verausgabung, kräftezehrende Arbeit, auf der anderen Enttäuschung über das Nichterreichen hochgesteckter Ziele. Fricsays Schwachstelle waren sein Magen und Darm, er litt an psychisch bedingten somatischen Störungen und Krankheiten, die letztendlich zu seinem frühen Tod führten. Nach Jahren, in denen die Krankheit immer wieder zuschlug, und mehreren Operationen mit zum Teil folgenden Komplikationen starb Ferenc Fricsay am 20. Februar 1963 im Alter von 48 Jahren in Basel. Die Erinnerung an ihn kommt 60 Jahre nach seinem Tod genau zur richtigen Zeit. Helge Grünewald

„Ring“ zum Dritten aus München

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Das konzertante Ring-Projekt von Simon Rattle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (dessen neuer Chefdirigent Rattle seit dieser Spielzeit ist) biegt allmählich in die Zielgerade ein. Auf dem Eigenlabel von BR-Klassik kommt dieser Tage nun Siegfried auf den Markt (900211). Über das „Stiefkind“ der Tetralogie wurde an anderer Stelle bereits einiges gesagt. Tatsächlich vollzieht sich im zweiten Tag ein gewisser Bruch zwischen dem zweiten und dritten Aufzug, als Wagner eine jahrelange Pause einlegte. Und doch, so scheint es, hat dieser Ring-Teil durchaus seine bedingungslose Anhängerschaft. Auffällig bei der Neueinspielung aus der Münchner Isarphilharmonie im Gasteig HP8 (Aufnahme: 3.-5. Februar 2023) ist das Faktum, dass sie auf nur drei CDs daherkommt. Mit einer Gesamtspielzeit von 3 Stunden 53 Minuten liegt Rattle indes eigentlich im Durchschnitt. Karl Böhm und Pierre Boulez (beide Philips) waren etwa 10 Minuten schneller unterwegs. Hans Knappertsbusch (Orfeo) und James Levine (DG) benötigten indes fast 20 Minuten mehr. Bei Rattle passen die drei Aufzüge jedenfalls auf jeweils eine Disc, was man als Vorteil betrachten kann.

Die Besetzung ist, Stand heute, prominent: Simon O’Neill in der Titelrolle, Michael Volle als Wanderer und Anja Kampe als Brünnhilde zählen zu den derzeit bekanntesten Wagnerinterpreten weltweit. Es gesellen sich hinzu Peter Hoare als Mime, Georg Nigl als Alberich, Franz-Josef Selig als Fafner, Gerhild Romberger als Erda sowie Danae Kontora als Waldvogel. Der neuseeländische Tenor Simon O’Neill ist wahrlich kein Anfänger in Sachen Siegfried, immerhin legte er bereits eine Gesamtaufnahme unter Jaap van Zweden vor (Naxos). Stimmlich ist er der Partie in all ihren Facetten mühelos gewachsen und hält sie dank heldischen Stimmmaterials bis zum Ende ohne erkennbares Nachlassen durch. Die Wortdeutlichkeit Michael Volles vermittelt in Zeiten, wo dies keineswegs mehr die Regel ist, diese Grundvoraussetzung für eine wirklich idiomatische Rollendurchdringung. Sein reichhaltiger Erfahrungsschatz aus dem Kunstlied kommen hier gewiss zugute und machen es verschmerzbar, dass er nicht ganz die Stimmgewalt früherer Interpreten erreicht. Dies gilt auch für Anja Kampe, für welche die Brünnhilde zwar eher eine Grenzpartie darstellt, die dies durch ihre für sich einnehmende Ausstrahlung und glaubhafte Darstellung aber vergessen macht. Beim aus England stammenden Peter Hoare stört die nicht ganz einwandfreie deutsche Diktion, obgleich er das Potential für den Mime grundsätzlich mitbringt. Georg Nigl, der hier sein Alberich-Debüt feiert, lässt hingegen vollumfänglich aufhorchen. Gerne hörte man seinen düsteren Alben auch in der weit ausgedehnteren Partie im Rheingold. Franz-Josef Selig bietet einen kaum weniger beeindruckenden Kurzauftritt als Fafner. Danae Kontora ist als Stimme des Waldvogels ohne Fehl und Tadel. Gerhild Romberger hinterlässt als Erda einen bleibenden Eindruck und kann sich mit den berühmtesten Vorgängerinnen messen.

Seine Wagner-Qualitäten hat der BR-Klangkörper bereits mehrfach bewiesen. Auch dieses Mal ist die Orchesterleistung stupend, weise geführt durch denjenigen Dirigenten, den man in Sachen Wagner unverdienterweise zu lange kaum auf dem Schirm hatte. Sir Simon Rattle lässt, unterstützt von diesem Weltklasse-Orchester, manche altbekannte Stelle geradezu aufblühen, etwa die hier sehr strahlende Erweckung Brünnhildes und den häufig als etwas aufgeblasen empfundenen Aktschluss in selten gehörter Transparenz. Der ausgezeichnete Klang unterstreicht dies noch. Eine stimmlich in der Summe überzeugende und orchestral herausragende Gesamtleistung. Daniel Hauser

Osmanische Grüße

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Als Joseph Haydns Entführung aus dem Serail galt den Zeitgenossen dessen Oper L’Incontro improvviso und war damit eines der vielen Musikwerke in orientalischem Milieu und/oder zumindest mit orientalischem Personal, die nach der Aufhebung der Belagerung der Stadt Wien durch die Türken unter Zurücklassung nicht nur eines Sackes Kaffee, sondern auch einer Janitscharenkapelle sich großer Beliebtheit erfreuten. Allerdings musste erst einmal ein Jahrhundert seit der Bedrohung vergangen sein, und der Geist der Aufklärung musste die Gehirne durchlüftet haben, ehe man im Fremden nicht mehr den Feind, sondern durchaus, siehe Bassa Selim, den an Toleranz sogar Überlegenen zu schätzen gelernt hatte. Die opera semi seria wie der Incontro ist dabei bereits die zweite Form der Türkenoper, die zuvor lediglich als opera seria anzutreffen war. Mit ihrem teilweise komischen Personal gehören Entführung wie Incontro zu dieser Gattung.  Die reine opera buffa in orientalischem Milieu war erst einer späteren Zeit vorbehalten und fand mit Rossinis L’Italiana in Algeri oder IL Turco  in Italia ihren Höhepunkt. In den meisten dieser Werke ging es um die Entführung und Befreiung europäischer oder einheimischer Frauen aus dem Harem.

Haydn komponierte seine Oper anlässlich eines Festes, dass sein Brotherr Fürst Esterhazy zu Ehren der Kaiserin Maria Theresia und eines ihrer Söhne auf Schloss Eszterhaz gab. Wohl auch weil Haydns Werk ausschließlich orientalisches Personal hat, findet sich in ihm nicht der Kontrast zwischen „europäischer“ und an die türkischen Janitscharen erinnernder Musik, sondern eher eine an den Orient gemahnende Instrumentierung. Übrigens ging die Musik zu einigen wenigen Rezitativen verloren, so dass sie gesprochen werden.

Das Libretto ist eine Adaption eines bereits von Gluck verwendeten Textbuchs mit dem Titel La rencontre imprevue. Die persische Prinzessin Rezia ist von Seeräubern entführt und an den Sultan von Ägypten verkauft worden. In seinem Harem lebt sie in Gesellschaft zweier Gespielinnen, Balkis und Dardane.   Ihr Verlobter Ali, Prinz von Basra, sucht sie verzweifelt. Er hat einen  verfressenen Diener, Osmin, der vom Derwisch Calandro zum Eintritt in den reichen Essensprofit versprechenden Bettelorden überredet wird. Es wird die Flucht der Rezia und ihrer Gefährtinnen organisiert, sie scheitert, aber der Sultan vergibt allen und lässt sie ziehen.

L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg versetzt den Hörer unmittelbar in eine heitere Stimmung durch sei frisches, zupackendes Aufspielen, nicht zuletzt durch den leicht orientalischen Anstrich, den es der Musik verleiht. Vorwiegend hell, leicht und damit ein wenig eintönig wirkt das Gesangsensemble, denn erst ganz zum Schluss bringt der Sultan von Michael Wagner mit seinem dunklen Bass eine weitere Farbe ins musikalische Geschehen.  Empfindsam geht Bernhard Berchtold seine Partie, den Prinzen Ali, an, sein langes Rezitativ singt er kultiviert und sensibel, leider nicht mit einer Stimme wie aus einem Guss, sondern mit recht flach klingender Mittellage. Im Duett „Son quest‘ occhi“ mit seiner Partnerin kann er sich enorm steigern. Diese ist Elisabeth Breuer mit kindlich klingendem soprano leggerissimo, der klar und silbrig, dazu höhensicher erklingt, koloraturgeläufig ist und nur in der absoluten Extremhöhe an seine Grenzen gerät. Ihre Gefährtinnen sind Annastina Malm als apart klingende Dardane, manchmal etwa scharf, aber angenehm agogikereich, und Anna Willerding als Balkis, licht und fein der Sopran, doch leider etwas verwaschen und unbestimmt. Es gibt ein sehr anmutiges Terzett der Damen, in dem alle drei reüssieren können, so wie auch das Duett Osmin/Calandra zu den Höhepunkten der Aufnahme gehört. Angenehm textverständlich ist der Osmin von Markus Miesenberger, der seinen Charaktertenor mit schöner Geläufigkeit einsetzt, auffallend textverständlich ist. Weniger kann damit der Calandra von Rafael Fingerlos glänzen, dafür aber mit einer auffallend süffigen Farbe aufwarten kann. Insgesamt lohnt die Bekanntschaft mit dieser anderen Entführung durchaus, ist die CD höchst empfehlenswert und das dazu gehörende Booklet höchst informationsreich ( 2 CD CPO 555 327-2). Ingrid Wanja

Bezaubernde Violetta

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An DVD-Aufnahmen von Giuseppe Verdis Oper La Traviata besteht wahrlich kein Mangel. Die neue Aufnahme aus dem Teatro del Maggio Musicale Fiorentino ist vor allem wegen Nadine Sierra in der Titelpartie interessant. Die Sängerin verfügt über eine sehr schöne und wandlungsfähige Stimme, mit der sie die unterschiedlichen Anforderungen der drei Akte makellos erfüllt. Die Koloraturen in ihrer Arie „É strano“, die Melancholie und Betroffenheit des zweiten Akts sowie die Verklärung im Schlussbild –  für alles findet sie den richtigen Ausdruck. Auch rein optisch ist mit ihrer beredten Mimik und mit ihrer Körpersprache eine faszinierende Persönlichkeit: eine Violetta zum Verlieben. Auch Francesco Meli macht als Alfredo neben ihr eine gute Figur. Anfangs kommt er etwas lässig und schnöselig daher, verdeutlicht aber bald seine echten Gefühle. Sein schlanker Tenor verfügt über eine sichere Höhe und viel Differenzierungsvermögen. Der Dritte im Bunde war zum Zeitpunkt der Aufnahme am 28.9.2021 bereits 79 (!) Jahre alt. Es ist Leo Nucci, der als Giorgio Germont noch einmal das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit einbringt. Er macht seine Sache erstaunlich gut, muss aber mit manch steifem Ton dem Alter Tribut zollen. Seine Arie „Di Provenza“ gestaltet er mit viel resignativer Melancholie. Optisch sieht er ein bisschen wie Günter Wewel aus…

Regisseur Davide Livermore liefert eine solide, unspektakuläre Inszenierung. Die Bühne ist meistens in sanftes Halbdunkel getaucht. Im ersten Akt ist man Zeuge einer ausgelassenen Party, bei der ordentlich gequalmt und getrunken wird. Violetta sieht in ihrem kurzen Kleidchen wie ein Party-Girl aus. Alle vergnügen sich und tanzen wuselig umher. Die Getränke werden von einer alten Bediensteten auf einem Servierwagen gefahren, den sie wie einen Rollator vor sich herschiebt. Der taucht auch am Schluss wieder auf, nur sind jetzt Medikamente darauf.

Der zweite Akt zeigt kein Landhaus, sondern eher ein Filmset mit Scheinwerfern. Auch hier wuseln noch einige Party-Gäste herum. Im zweiten Bild dieses Aktes sieht es ähnlich aus wie im ersten. Zur Belustigung tritt sogar ein kleinwüchsiger Torero auf. Anrührend ist der Schluss gelungen. Violetta geht verklärt in ein Lichtermeer, während eine Doppelgängerin tot auf dem Sterbelager liegt. Auch die Party-Gäste sind wieder da. Sie schreiten jetzt wie Geister der Vergangenheit in einer Art Trauerzug durch die Szene.

Am Pult steht Altmeister Zubin Mehta, der die Aufführung routiniert, aber manchmal auch mit gemächlichem Tempo leitet. (Dynamic 37955). Wolfgang Denker

Schloss zu gewinnen

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In dramatischer wie musikalischer Hinsicht verdiene La Princesse de Trébizonde so viel Aufmerksamkeit wie La Belle Hélène oder La Grande Duchesse de Gérolstein. Der das sagt, ist Jean-Christophe Keck, dessen Ausgabe von Offenbachs Baden-Badener Opéra-bouffe im Rahmen seiner Offenbach Edition Keck das Material der Uraufführung im Schwarzwälder Kurort im Sommer 1869 und der wenige Monate in Paris aufgeführten Version sichtete und herausgab. Opera Rara griff zu und präsentiert die Princesse als Dreiakter in der Form, wie sie im Dezember 1869 am Théâtre des Bouffe-Parisiens erstmals aufgeführt wurde, ergänzt um Passagen aus der zweiaktigen Baden-Badener Fassung, die aus dramaturgischen Gründen geopfert wurden (2 CD ORC63).

Vielleicht liegt die Missachtung der Prinzessin von Trapezunt daran, dass es sich bei der Prinzessin aus dem Kaiserreich am Schwarzen Meer im Gegensatz zu den beiden anderen Damen nur um eine Puppe handelt. Sie ist die Attraktion des Schaustellers Cabriolo, der mit seiner Schwester Paola und seinen beiden Regina und Zanetta sowie dem Diener Tremolini seine Künste auf einem Marktplatz darbietet. Durch einen Zufall, ein unter die Tageseinnahmen geratenes Lotterielos, verschlägt es die Schausteller auf ein Schloss, während sich die Adeligen unters Volk mischen. In seinem musikalischem Vexierspiel nimmt Offenbach spätere TV Container-Formate vorweg, löst Standesunterschiede auf und gab einen Typus vor, von dem die Operetten noch ein halbes Jahrhundert zehren konnte. Die große Unbekannte aus Offenbach Werkkatalog war vor wenigen Jahren im Rahmen der Osterfestspiele in Baden-Baden erstmals wieder in das Theater zurückgekehrt, wo sie 1869 unter Offenbachs Leitung erstmals erklungen war; damals allerdings bereits in der dreiaktigen Fassung, die seit Offenbachs Überarbeitungen de rigieur war.

Trapezunt mutiert bei Offenbach nicht zu einem Sehnsuchtsort der Musikbühne des 19. Jahrhunderts. Die Prinzessin ist die Attraktion im Wachsfigurenkabinett Cabriolos. Versehentlich bricht ihr seine Tochter Zanetta die Nase ab, weshalb sie selbst als Puppe posiert. Prompt verliebt sich Prinz Raphael in sie. Ebenso prompt gewinnen die Gaukler mit dem Lotterielos des Prinzen ein Schloss. Eine hübsche Idee der Librettisten Nuitter und Tréfeu und Offenbachs, der immerhin durch den Casino-Betreiber Bénazet an die Oos gelockt worden war und im mondänen Modebad Stoff für weitere Operetten gefunden haben sollte. Cabriolos zweite Tochter Regina verliebt sich in den Clown Tremolino, seine Schwester Paola in Raphaels Erzieher Sparadrap. Das alles lässt sich nicht erzählen, muss man auch nicht, ist pure Buffonerie, welcher Karl Kraus ein „buntes Raketenfeuer phantastischer Erfindung“ beschied und Offenbach in erstaunlich viele kleine Chansons und Couplets verpackte, die er im rasanten Tempo ins erste Finale treibt, bevor die Handlung auf das Schloss Cabriolos schwenkt, wo sich die Truppe schrecklich langweilt. Nun kommt die Handlung richtig in Fahrt, bis zum dritten Finale drei heiratswillige Paare zusammenfinden und Raphaels Vater Prinz Casimir das Schlusswort spricht „Allons! Mariez-vous tous“.

Das geht musikalisch alles schwuppdiwupp. Kaum hat sich Antoinette Dennefeld als Régina mit dunkel schwerem Mezzo, der gerade noch apart und nicht ordinär wirkt, vorgestellt, lässt Virginie Verrez als Prinz Raphael mit seiner Tauben-Romanze, Romance de tourterelles, die Herzen dahinschmelzen; Raphael ist ein Romanzen-Prinz, denn im dritten Akt hat Offenbach ihm eine nicht minder schmachtende Romanze zugedacht. Anne-Catherine Gillet ist in Frankreich eine Konstante in Aufführungen komischer Oper von Offenbach, Auber, Varney, Lecocq und Messager und gestaltet die Zanetta mit Witz, Eleganz und mit Geschmack. Der Kanadier Josh Lovell klingt als Raphaels Vater zweifellos zu jung, doch das muss nicht stören, denn er kann hinsichtlich Tempo, Schmelz und Charme, etwa in den Couplets de la canne, gut mit mithalten mit solchen Buffonisten wie dem drollig stimmlosen, aber erfahrenen Christophe Mortagne als Tremolini und Loïc Félix als Erzieher Sparadar oder Christophe Gay als Cabriolo. Sie erweisen sich alle als idiomatisch glänzende, spritzige Singakteure, die durch die Ensembles wippen. Nicht nur die perlenden Ensembles zeigen, welchen Spaß die Truppe bei den konzertanten Aufführungen im September 2022 in London hatte, wobei es Paul Daniel gelingt, anfängliche Bedenken, dass er und das London Philharmonic Orchestra vielleicht doch zu akademisch klingen könnten, in den Eskapaden des dritten Aktes mit den herrlichen Nummern, darunter die Couplets und das Rondo der Pagen, die irrwitzigen Ariette du mal de dents und das Brindisi et Grand galop, wegwischt. Das hat alles Witz und Tempo, ist nie vorlaut und überschäumend. Und dann gibt es quasi als Zugabe noch eine gute halbe Stunde Musik aus der ursprünglichen Fassung. Viele Stücke wurden in Paris durch nicht minder originelle Alternativen, etwa das Grand duo zwischen Zanetta und Raphael oder „Mal de dents“-Ensemble, ersetzt bzw. wurden, wie das Quartett „Oh les belles femmes“ in Fantasio, anderweitig wiederverwendet. Ein großer Spaß. Rolf Fath

Stephen Gould

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Am 24. Jänner 1962 in Roanoke, Virginia, USA, als Sohn eines Methodistenpfarrers und einer Pianistin geboren, kam Stephen Gould über ein Studium am New England Conservatory of Music in Boston zunächst ins Musicalfach, in welchem er acht Jahre agierte. Einem Nachwuchsprogramm der Lyric Opera of Chicago verdankte er den erfolgreichen Wechsel zur Oper, der mit seinem Debüt als Argirio in Rossinis Tancredi 1989 in Chicago seinen Anfang machte. Besonders als Wagnersänger war Gould weltweit gefragt. 2001 erfolgte sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper in München in der kleinen Partie des Melot in Tristan und Isolde. Bald schon waren es indes größere Rollen, die ihm übertragen wurden. Seinen wirklichen Durchbruch schaffte Gould bereits 2004 bei den Bayreuther Festspielen in der Titelrolle des Tannhäuser, den er auch im Folgejahr, 2019 und zuletzt noch 2022 sang. In Bayreuth etablierte er sich generell schnell als wichtige Stütze und sang dort auch den Jung-Siegfried (2006-2008), den Götterdämmerungs-Siegfried (2006-2008, 2022) und den Tristan (2015-2019, 2022), jeweils einmalig auch den Siegmund (2018) und Parsifal (2021), womit er beinahe alle wesentlichen Wagner’schen Heldentenorpartien verkörperte. Sein Debüt an der Wiener Staatsoper erfolgte ebenfalls schon 2004 (als Paul in Korngolds Toter Stadt), wo er neben den nämlichen Wagnerrollen auch als Bacchus (Ariadne auf Naxos), Kaiser (Die Frau ohne Schatten), Otello und Peter Grimes brillierte. 2015 wurde er zum Österreichischen Kammersänger ernannt. Weitere Gastspiele führten ihn ans Londoner Royal Opera House, nach Berlin, Dresden, Hamburg, Karlsruhe, Mannheim, Linz (wo er 2000 als Florestan debütierte), Graz, Genf, Rom, Florenz, Turin, Madrid, Valencia, Las Palmas, Paris, New York und Tokio. Daneben hatte er auch die Gurre-Lieder von Schönberg und das Tenorsolo in Beethovens Sinfonie Nr. 9 in seinem Repertoire. Diskographisch ist Gould neben der Beethoven-Neunten (unter Donald Runnicles) in beiden Siegfried-Partien (unter Christian Thielemann) sowie als Jung-Siegfried und Tristan (unter Marek Janowski) verewigt. Gould lebte abwechselnd in den Vereinigten Staaten und in Wien und sprach fließendes Deutsch. Erst im August 2023 musste er aufgrund gesundheitlicher Probleme überraschend sein Karriereende bekanntgeben, was er Anfang September als unheilbare Krebsdiagnose präzisierte. Am 19. September 2023 ist Stephen Gould dieser schweren Krankheit im Alter von gerade 61 Jahren erlegen. Daniel Hauser