Archiv für den Monat: September 2023

Stephen Gould

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Am 24. Jänner 1962 in Roanoke, Virginia, USA, als Sohn eines Methodistenpfarrers und einer Pianistin geboren, kam Stephen Gould über ein Studium am New England Conservatory of Music in Boston zunächst ins Musicalfach, in welchem er acht Jahre agierte. Einem Nachwuchsprogramm der Lyric Opera of Chicago verdankte er den erfolgreichen Wechsel zur Oper, der mit seinem Debüt als Argirio in Rossinis Tancredi 1989 in Chicago seinen Anfang machte. Besonders als Wagnersänger war Gould weltweit gefragt. 2001 erfolgte sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper in München in der kleinen Partie des Melot in Tristan und Isolde. Bald schon waren es indes größere Rollen, die ihm übertragen wurden. Seinen wirklichen Durchbruch schaffte Gould bereits 2004 bei den Bayreuther Festspielen in der Titelrolle des Tannhäuser, den er auch im Folgejahr, 2019 und zuletzt noch 2022 sang. In Bayreuth etablierte er sich generell schnell als wichtige Stütze und sang dort auch den Jung-Siegfried (2006-2008), den Götterdämmerungs-Siegfried (2006-2008, 2022) und den Tristan (2015-2019, 2022), jeweils einmalig auch den Siegmund (2018) und Parsifal (2021), womit er beinahe alle wesentlichen Wagner’schen Heldentenorpartien verkörperte. Sein Debüt an der Wiener Staatsoper erfolgte ebenfalls schon 2004 (als Paul in Korngolds Toter Stadt), wo er neben den nämlichen Wagnerrollen auch als Bacchus (Ariadne auf Naxos), Kaiser (Die Frau ohne Schatten), Otello und Peter Grimes brillierte. 2015 wurde er zum Österreichischen Kammersänger ernannt. Weitere Gastspiele führten ihn ans Londoner Royal Opera House, nach Berlin, Dresden, Hamburg, Karlsruhe, Mannheim, Linz (wo er 2000 als Florestan debütierte), Graz, Genf, Rom, Florenz, Turin, Madrid, Valencia, Las Palmas, Paris, New York und Tokio. Daneben hatte er auch die Gurre-Lieder von Schönberg und das Tenorsolo in Beethovens Sinfonie Nr. 9 in seinem Repertoire. Diskographisch ist Gould neben der Beethoven-Neunten (unter Donald Runnicles) in beiden Siegfried-Partien (unter Christian Thielemann) sowie als Jung-Siegfried und Tristan (unter Marek Janowski) verewigt. Gould lebte abwechselnd in den Vereinigten Staaten und in Wien und sprach fließendes Deutsch. Erst im August 2023 musste er aufgrund gesundheitlicher Probleme überraschend sein Karriereende bekanntgeben, was er Anfang September als unheilbare Krebsdiagnose präzisierte. Am 19. September 2023 ist Stephen Gould dieser schweren Krankheit im Alter von gerade 61 Jahren erlegen. Daniel Hauser

Dracula-Horror

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Mit gläserner Bravour stellt sich Anthony Roth Costanzo, der als altägyptischer Echnaton an der Met bereits mit Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft vertraut wurde, als „I, Dionysos, son of Zeus“ vor. Erbost darüber, dass er aus Theben vertrieben wurde, sucht Dionysos einen neuen Ort und „a way for people to recognize me“. Roth Costanzo adelt mit seinem Kurzauftritt und den weiteren Dracula-Erscheinungen als Stranger und Wolf Prince die 140minütige Oper The Lord of Cries mit dem Untertitel A tragedy for singers and orchestra des amerikanischen Komponisten-Doyens John Corigliano. Ein Musiktheaterstück, das ungeachtet seiner bombastischen Anforderungen ohne harmonische und melodische Experimente auskommt, den großen Chor und die Sänger relativ konventionell einsetzt und sich durch ausgereifte technische und handwerkliche Meisterschaft und einen gewissen Instinkt für Bühnensituationen auszeichnet.

Er wollte es nochmals wissen. Rund 30 Jahre nach der Uraufführung von The Ghosts of Versailles an der Metropolitan Opera, an deren Erfolg das damalige Star-Ensemble nicht unwesentlichen Anteil hatte, brachte John Corigliano 2021 in New Mexico seine von der Santa Fe Opera beauftragte zweite Oper heraus. Eine stolze Leistung des damals 83jährigen, der wie bei The Ghosts of Versailles, wo er sich großzügig bei Beaumarchais, Mozart und Rossini bediente, wieder nach europäischer Kultur- und Literaturgeschichte griff. Aus der verwegenen Verbindung von Euripides‘ Drama Die Bacchantinnen und Bram Stokers Dracula -Roman entstand das Libretto zu The Lord of Cries, geschaffen von seinem Komponistenkollege und Lebenspartner Mark Adamo, was an Barbers Zusammenarbeit mit seinem Partner Menotti bei Vanessa und Anthony and Cleopatra denken lässt.

Adamo erzählt, wie er auf die Idee kam, „I remembered Bram Stoker’s Dracula, which is to The Bacchae what Nahum Tate’s King Lear is to Shakespeare’s: that is, the same story, with only a falsely happy ending distinguishing the compromised copy from the terrifying original. Euripides admitted what Stoker repressed: the monster isn’t on the mountain, or in the city, but in the mirror. …I concluded that mapping Dracula onto The Bacchae could accomplish two things. By using only what the book shared with the play, I could strip away all the unnecessary Gothic kitsch of the novel. And because Stoker’s Victorian England is more familiar to today’s listeners than Euripides’s Thebes is, the opera could use the novel to make the themes of The Bacchae clearer than even the original play could“. Das klingt sehr viel diffuser als es letztlich ist. Die Melange aus Griechischer Klassik und angelsächsischer Schauerliteratur belässt es mit dem London in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Schauplatz, wo Stokers Figuren – mit gewissen Abweichungen gegenüber dem Roman – mit einem geheimnisvollen Fremden, dem in unterschiedlicher Gestalt auftauchenden Dracula, konfrontiert werden: Lucy Westenra ist mit Jonathan Harker verheiratet, Professor Abraham Van Helsing ist der Ratgeber des Irrenarztes John Seward. Dionysos terrorisiert London und fordert von Seward die Carfax Abbey, was dieser dreimal verweigert. Lucy, derweilen zwischen ihren Gefühlen zu Seward und ihrem Gatten, dessen Geist nach Reisen zum Dracula Schloss verwirrt ist, hin- und hergerissen, verweigert sich ebenfalls Draculas Drängen. Dracula bringt Seward dazu, in Trance einem Wolf den Kopf abzuschlagen. Der Wolf verwandelt sich in Lucy, und Seward hält Lucys Haupt in Händen. Nachdem Dionysos höhnte, „Now look at what you’ve done“ und der das gesamte Geschehen kommentierende Korrespondent der Westminster Gazette vom Ende des wahnsinnig gewordenen Doctor Seward berichtet, erhebt der Chor am Ende warnend seine Stimme, „And deny him not“.

Ein Jahr nach der Uraufführung reiste die nahezu gleichbleibende Erstbesetzung nach Worcester unweit von Boston, wo im November 2022 im prachtvollen neo-renaissance Saal der Mechanics Hall mit dem vielfach bewährten Boston Modern Orchestra Project, dem Odyssey Opera Chorus und dem ebenso bewährten und eminent vielseitigen Gil Rose die als world premiere recording angekündigte Aufnahme von The Lord of Cries entstand (2 CD Pentatone PTC 5187 008). Ebenso wie die gleichfalls bei Pentatone erschienen Ghosts unter James Conlon präsentiert die Lord of Cries-Aufnahme ein effektvolles Stück Musiktheater. The Lord of Cries ist gelegentlich ein heftiger Schocker voll extremer Kontraste, zirzensischer Instrumentalfeinheiten und greller Klangkombinationen, in dem Corigliano seine Sänger vorbildlich bedient, weniger mit Arien, wenngleich Arien und Duette Bestandteil der Partitur sind, sondern mit explosiven Szenen für Chor und Solisten und sorgfältig austarierte Ensembles. Mit seinem keuschen, kindlich reinen Countertenor überzeugt Anthony Roth Costanzo in den vielen Gestalten des Dionysos durch einen verführerischen Sphärenklang. Der markant smarte Bariton von Jarrett Ott als Seward, David Portillos gepflegter Mozarttenor als Jonathan und Matt Boehlers nobler Bass als Van Helsing sind ausgezeichnet als seine Gegenspieler, Kathryn Henry bleibt als Lucy auf dramaturgisch nicht unrechte Weise etwas farblos. Eindringlich der intensive, sing- deklamierende Tenor von William Ferguson als Zeitungskorrespondent. Rolf Fath

Ein Wort über uns

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Ein erboster Leser rügte uns kürzlich für das Wort „indogene Ureinwohner“, nannte uns rassistisch, kolonialistisch und AfD-nah. Ein anderer warf uns dieselbe Nähe zu jenen, aber auch eine zu Frau Wagenknecht vor, was natürlich absurd ist. Ein weiterer bezeichnete eine gut fundierte Kritik als „böswillig“! Das brachte uns doch zum Nachdenken darüber, wie schnell Menschen gegenwärtig sich nicht nur in der Wortwahl sondern auch im Argument vergreifen und wie dicht uns die respektlose, gemeine Sprache der sogenannten social medias gerückt ist. Sie beherrscht unseren Alltag, ob wir es wollen oder nicht. Wir haben manche beleidigende Zuschriften im Laufe der letzten Jahre bekommen, keine wirklich zum Zitieren. Beschimpft zu werden ist das Los jeder Tätigkeit in der Öffentlichkeit.

Aber wir haben uns entschlossen, uns nicht diesem Diktat der opportunistischen political correctness zu beugen. Wir gendern nicht, weil wir das absolut albern finden (der shitstorm naht) und an das schallende Gelächter unserer europäischen Nachbarn denken, deren Sprache und Mentalität gendern zum Abwinken finden (zumal sich das nicht ins Französische, Englische, Italienische oder in slawische Sprachen übersetzen lässt). Gendern macht die Sprache kaputt, Straßenumbenennungen unsere Kultur auch – ganz nebenbei gesagt. Information zur Diskussion zu liefern statt Geschichte auslöschen ist viel wichtiger. Auslöschen haben manche Regime versucht, das hat nichts gebracht. Unter der verbieterischen, politisch korrekten Oberfläche butterts weiter. Und diese Unbildung junger Polit-Kader geht einem älteren gebildeten Menschen akut auf die Nerven. Dies Wikipedia-Wissen reicht eben nicht, nicht einmal für Doktorarbeiten oder Lebensläufe (die dann auch noch geschönt sind – Sie wissen, wen ich meine).

Wir weigern uns auch in Kategorien des LGBT zu denken und zu schreiben, weil wir an die binäre Schöpfung und die wissenschaftlichen Begründungen dazu glauben und weder uns noch anderen einen sticker auf die Stirn drücken oder in eine Box einsperren lassen wollen. Wobei wirklich jeder nach seiner facon leben muss und soll, nur nicht auf Kosten des anderen. Und jeder muss für sich entscheiden können, wie er leben will. Sich ständig zum Anwalt des anderen zu machen, weil das eigene Leben nicht genügend hergibt (spricht noch jemand von Hong-Kong, das damals ein deutsches Bundesland zu sein  schien…?), ist für jenen demütigend und patronisierend.

Und wir halten an unserem Gründungs-Credo fest, unabhängig von herrschenden Dogmen und opportunen Wohlstandsblasen-Doktrinen eine fundierte, gelebte und eben individuelle Berichterstattung zu liefern. Berichten auf Grund des eigenen gelebten Hörens/Sehens. Nicht Vorgekautes weiter zu geben. Nicht dem hype aufsitzen. Eben eine eigene Meinung haben. Man muss uns ja nicht lesen. Niemand zwingt dazu. Aber wir denken, wir liefern Vorlagen für Meinungsbildung und Anregung, für Information im besten Sinn. Nicht ideologisierte Wahrnehmung. Geerd Heinsen

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Und ein PS. aus aktuellem Anlass. Ich finde diese ganze Affäre um Anna Netrebko zum Abwinken. Diese verzerrten, fanatischen Gesichter von Protestierenden, die nie in die Oper gehen und sicher vorher von der Frau noch nichts gehört haben, dafür beleidigende und inhumane Plakate hochhalten, die genau die Sprache der social media tragen … das erinnert mich sehr an die (auch meine) Tage der 68er, die aus ihrer Ideologie heraus zum Schluss buchstäblich über Leichen gingen. Sprache erzeugt Gewalt. Vorsicht! Und auch hier wäre Information besser als Kurzschlüssigkeit. G. H.

Frauenpower

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Sollten etwa im Fahrwasser des mehr oder weniger eindringlichen Bemühens um die Gleichberechtigung der Frauen einschließlich Genderwahnsinns auch kaum oder gar nicht gewürdigte Komponistinnen zu Wort kommen bzw. zu Gehör gebracht werden? Gerade erschienen Auszüge aus den Schriften der englischen Musikerin Ethel Smyth, nun liegt eine CD mit Liedern der französischen Komponistin Cécile Chaminade mit dem Titel Saisons d’amour vor, die der Mezzosopran Katharina Kammerloher eingespielt hat. Gängige Meinung eines Teils der Musikwissenschaftler ist es, dass es einen weiblichen Mozart oder Beethoven nicht gibt, da Frauen daran gehindert wurden, ihr Talent, ja Genie zur Entfaltung zu bringen. Cécile Chaminade wurden keine derartigen Steine in den Weg gelegt, denn der Tochter aus wohlhabendem Pariser Hause wurde zwar nicht der Besuch des Konservatoriums gestattet, wohl aber der Privatunterricht in Komposition, Harmonielehre und Klavierspiel durch einige der renomiertesten Musiklehrer ihrer Zeit. Außerdem verkehrte im Salon ihrer Eltern das musikalische Paris. Bereits mit zwanzig Jahren trat sie öffentlich als Pianistin auf, sie war Mitglied der Société national de musique, die einige ihrer Werke aufführte, ihre Ballettmusik Callirhoe oder die opéra comique La Sévillane  und andere Werke erreichten eine gewisse Bekanntheit, und warum sie sich zunehmend der kleinen Form, Klavierstücken und Lieder, widmete, lässt sich nur vermuten. Tatsache aber ist, dass ihre Stücke nicht nur im Konzertsaal, sondern besonders häufig bei Veranstaltungen mit Hausmusik aufgeführt wurden, das Booklet zur CD berichtet von L’anneau d’argent, der 200 000 Mal gedruckt wurde. Chaminade konzertierte nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, ihre Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg nicht nur unter-, sondern abgebrochen. Noch bis 1944 lebte sie zurückgezogen in Monte Carlo.

Die seit vielen Jahren an der Berliner Staatsoper fest engagierte Katharina Kammerloher tat sich bereits des öfteren mit Liederabenden und Aufnahmen von Liedern hervor, und auch bei dieser CD zeigt sich die große Sorgfalt, mit der sie ihre Programme zusammenzustellen pflegt. So ergibt die Reihenfolge quasi eine Geschichte vom Erwachen der Liebe, dem Frühling, über Reifezeit und Welken in Sommer und Herbst bis hin zum Verlust, dem Winter. Die Texte stammen von zeitgenössischen Schriftstellern.

Bereits mit dem ersten Titel, Plaintes d’amour, fällt das schöne Ebenmaß der leicht androgyn klingenden Stimme auf, macht dem Hörer aber auch dir recht verwaschene, sich von Vokal zu Vokal hangelnde Aussprache zu schaffen. Schön wiegt die Stimme sich auf der Melodie, in Avril s’éveille überzeugt sie durch Frische und Beschwingtheit. Schön phrasiert wird in Fragilité, wo der beschriebene Zustand überzeugend vermittelt wird. Wie hingetupft wirken die Töne in Absence, bruchlos steigert sich die Sängerin, was die Lautstärke betrifft, während sie sich in  Sérénade Sévillana vom Rhythmus tragen lässt. Voll jugendlicher Beschwingtheit ertönt der Mezzo in Madrigal, energischer und entschiedener und zugleich dunkler in Mon coeur chante, in L Été herrscht flirrender Übermut. Feine Melancholie überschattet Madeleine, die weiche Wehmut der Stimme wird in Chanson naive vom Piano umspielt.

Auch in einem langen Track wie La Fiancée du soldat kann die Spannung gehalten werden, in Roulis des gréves bleibt die Sägerin der Grundstimmung treu und variiert doch zugleich. Ein sehnsüchtiger Ruf nach verlorenem Glück ist Le beau chanteur, mütterliche Klänge werden in Avenir angestimmt, und ganz zart und liebevoll erklingt  Jadis!.Infini gewinnt durch den Einsatz der Violine (Jiyoon Lee) noch an süßer Melancholie, einen schönen Jubelton gibt es für Portrait, und der durchweg einfühlsame Begleiter Johann Blanchard am Klavier zeigt hier noch einmal seine Qualitäten.

Das Booklet ist informationsreich in drei Sprachen und hilfreich durch die Liedtexte in Französisch und Englisch (MDG 908 2288-6). Ingrid Wanja   

Revolutionäres aus München

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2015 gab Jonas Kaufmann sein Rollendebüt als Titelheld von Giordanos Revolutionsdrama Andrea Chénier an der Royal Opera in London. Opus Arte hatte diese Produktion als DVD herausgebracht. Nun legt das Label Bayerische Staatsoper Recordings nach und veröffentlicht in Koproduktion mit Unitel einen Mitschnitt aus dem Münchner Nationaltheater vom Dezember 2017 mit dem deutschen Tenor und Anja Harteros, die hier ihr Rollendebüt als Maddalena gab (BSOREC 1004). Das „Münchner Traumpaar“ war also nach längerer Pause wieder vereint, was für einen Ansturm auf das Kartenbüro sorgte und am Ende der Premiere (12. 3. 2017) für euphorischen Jubel des Publikums.

Philipp Stölzl als Regisseur und Bühnenbildner (in Zusammenarbeit mit Heike Vollmer) hat die Szene in mehrere Räume auf verschiedenen Etagen unterteilt, was die Anmutung einer Puppenstube hat. Häufig laufen in einzelnen Kammern stumme Aktionen parallel zum eigentlichen Geschehen ab, was für Verwirrung sorgt und von den Hauptaktionen auch ablenkt. Zumeist agiert das hungernde, darbende Volk in der untersten Ebene. Nur beim Tribunal gehört die gesamte Szene der Volksversammlung und der Anklage. Die Kostüme von Anke Winckler orientieren sich an der Historie und bieten speziell für Maddalena originelle Kreationen und für die Hofschranzen rund um La Contessa di Coigny (Helena Zubanovich mit üppigem Mezzo) extravagante Rokoko-Roben.

George Petan eröffnet die Auftritte der Hauptpersonen mit Carlo Gérards „Compiacente a’colloqui“ und lässt einen kraftvollen, virilen Bariton hören. Im 3. Akt hat er mit seinem Monolog „Nemico della patria“ eine Glanznummer, die er mit expressiver Gestaltung und reicher Stimmfülle gebührend auskostet, was das Publikum entsprechend honoriert. Anja Harteros als Maddalena hat ihre große Szene im 3. Akt mit „La mamma morta“. Zuvor zeigt sie in der Auseinandersetzung mit Gérard eine solche Widerstandskraft, dass er sogar von ihr ablässt.  Die Arie beginnt sie mit visionärer Erinnerung und im Ton ganz zurückgenommen, steigert sie aber dann zu flammender Leidenschaft.

Dritter ist Jonas Kaufmann in der Titelrolle, der sich mit dem Auftrittsmonolog „Un dì all’azzuro spazio“ blendend einführt mit baritonal getöntem, sinnlichem Tenor und sogleich die Aufmerksamkeit von Maddalena (und natürlich auch des Publikums im Saal) erweckt. Glanzvolle Spitzentöne lässt er am Ende seiner Arie im 2. Akt hören. Sopran und Tenor vereinen sich erstmals im schwelgerischen Duett „Ecco l’altare“, das sich nach Maddalenas anfänglicher Verlegenheit und Intonationstrübungen des Tenors zu rauschhafter Lust steigert. Sein Solo im 3. Akt, „Sì, fui soldato“, ist geprägt von trotzigem Aufbegehren und enormem stimmlichem Einsatz. Die wehmütige Abschiedsstimmung von „Come un bel dì di maggio“ fängt er plastisch ein, muss lediglich am Schluss Zuflucht ins Forcieren nehmen. Davon ist auch das Schlussduett nicht ganz frei, doch überzeugt hier beider ekstatische Inbrunst.

Im 2. Akt setzen auch Rachael Wilson als Bersi und Tim Kuypers als Mathieu, der wie Joaquin Phoenix aus dem Film Joker daherkommt, markante Akzente. Im 3. Akt ist es Larissa Diadkova als reife Madelon mit ausladender Stimme, die mit ihrem Auftritt „Son la vecchia Madelon“ Erschütterung erzeugt.

Marco Armiliato am Pult des Bayerischen Staatsorchesters sorgt für Spannung und

Verismo-Stimmung. Auch der Bayerische Staatsopernchor (Stellario Fagone) bietet atmosphärische Momente – so im 1. Akt mit dem bukolischen „Passiamo la sera allegramente!“ oder dem aufgeheizten Finale des 3. Aktes nach Chéniers Verurteilung. Bernd Hoppe

Verdienstvoller Frieder Bernius

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Wie eine Art Wiedergutmachung an Johann Adolf Hasse mutet die höchst aufwändige Ausstattung der CD von seiner Oper L’Olimpiade an, nachdem es die Aufführung selbst in der Dresdner Semperoper nur verkürzt und als Matinee auf die Bühne brachte. Ein Sprecher unterrichtete das Publikum in deutscher Sprache jeweils über den Fortgang der Handlung. Es gibt nicht etwa ein knappes, sondern gleich zwei üppige Booklets, beide reich bebildert, das eine mit dem Librettto in Italienisch und Deutsch, das zweite mit dem Personenverzeichnis, mit  vielen zeitgenössischen Abbildungen einschließlich einiger Notenblätter, der Handlung und vieler Figurinen für die Uraufführung, die ebenfalls in Dresden und zwar 1756 stattfand. Kurzbiographien machen den Leser zudem mit den Sängern und anderen Ausführenden der vorliegenden Aufnahme bekannt.

Das Libretto stammt natürlich von Pietro Metastasio und vermischt Antikes mit Barockem bis Rokokohaftem mit der Geschichte vom peloponnesischen König Clistene, der nach der Geburt eines Zwillingspaares den Sohn Licida aussetzen lässt, weil ein Orakel verkündet hatte, dieser würde ihm nach dem Leben trachten. Bei den Jahre danach stattfindenden Olympischen Spielen setzt der König seine Tochter Aristea als Preis für den Sieger aus, der zudem sein Nachfolger werden soll. Aristea aber hat sich längst in den Athener Megacle verliebt, der sie aber wegen seiner Herkunft nicht heiraten darf. Bei seiner Flucht aus Kreta fällt er unter die Räuber, aus deren Händen er durch Licida gerettet wird, der seinerseits heimlich verlobt ist mit der Kreterin Argene, die Clistene heiraten soll und den Anfeindungen ihrer Familie durch die Flucht in ein Schäferleben entflieht. Licida will an der Olympiade teilnehmen, da er aber nicht gut genug vorbereitet ist, springt sein Freund Megacle für ihn ein und gewinnt. Daraus entstehen nun viele Verwicklungen, Eifersüchteleien, Racheschwüre, Wahnsinnsausbrüche und Selbstmordversuche, Todesurteile und damit Anlässe für virtuose Arien, ehe Priester und Volk verlangen, dass alle begnadigt und die jeweils einander Liebenden auch einander angetraut werden. Der strenge Glaube an die Erfüllung düsterer antiker Prophezeiungen wird durch eine Art barocken, die Konflikte lösenden Deus ex Machina abgelöst.

So sehr sich die Handlung in Extremen ergeht, so sehr ist die Musik, mit einigen im Booklet aufgeführten Ausnahmen, der in der Entstehungszeit wünschenswerten Gefasstheit der Personen verpflichtet. Den Artikel über die Musik Hasses im Booklet sollte man auf jeden Fall lesen.

Nach der Unterrichtung über deren Besonderheiten  kommt der Hörer in den Genuss eines entschiedenen Zugriffs der Cappella Sagittariana Dresden und des Kammerchors Stuttgart unter ihrem Dirigenten Frieder Bernius auf den schillernden Orchesterpart und die allerdings recht knappen Chorszenen. Die einzige „tiefe“ Stimme ist die des Tenors Christoph Prégardien, der den König Clistene geschmeidig singt, allerdings die Höhen recht farblos lediglich antippt. Die Königstochter Aristea erfährt mit dem Mezzosopran von Catherine Robbin die Vorzüge eines reicheren Farbspektrums und kann mit „Tu me da me dividi“ mächtig auftrumpfen, meistert  zudem die Intervallsprünge ohne Probleme. Dorothea Röschmann ist Argene und hat für diese, wenn die Handlung es erlaubt, einen schönen Jubelton, singt variationsreich, aber immer empfindsam und dabei sehr nachdrücklich. Recht weiblich klingt der verstoßene Licida von Randall Wong, weich und biegsam ist der Sopran mit zartem Glockenton. David Cordier ist Megacle mit koloraturgewandtem Sopran, etwas scharf in der Höhe und mit gewaltigen Bögen in „Superbo de me stesso“ prunkend, empfindsam im „Se cerca, se dice“. Der Countertenor Steven Richards singt den Haushofmeister Aminta und klingt bei „Insana gioventù“ gar nicht ältlich. Nach dem Hören dieser beiden CDs versteht man, warum Hasse zu seiner Zeit so äußerst beliebt war- und er hat auch das Zeug dazu, heute auf interessierte Zuhörer zu stoßen (Hänssler 3 CD PH21053). Ingrid Wanja

Alfredo Kraus

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Zur Ehre von Alfredo Kraus, aber auch Renata Scotto. Inzwischen nicht nur als eine mehr als verdiente Hommage für den spanischen Tenor Alfredo Kraus, sondern auch als eine Würdigung der italienischen Sopranistin Renata Scotto kann die Box mit zehn Opern-Gesamtaufnahmen gelten, die alle in den Fünfzigern und Sechzigern und abgesehen von Lissabon und Edinburgh auf  italienischen Bühnen oder in italienischen Studios entstanden, wobei die Scotto häufig als Partnerin von Kraus fungierte.

Im Herbst 1999 erwartete das Berliner Publikum den Edgardo des Tenors, und man war tief erschüttert von der Todesnachricht, obwohl bekannt war, dass der Verlust seiner Gattin, die wie seine Schwester die Gastspielreisen des Stars häufig begleitet hatte, ihn 1997 schwer getroffen hatte. Vergleicht man nun heute sein Repertoire in den Sechzigern mit dem der letzten Karrierejahre, fällt auf, dass sich Stimme und damit klugerweise auch Rollenwahl im Verlauf der Jahrzehnte nicht verändert hatten, dass ein Cavaradossi und wenige Rodolfos nur „Ausrutscher“ zu Beginn der Karriere und als Beförderung derselben stattfanden. Außer italienischem Belcanto auch der opera buffa sang Kraus noch viel Französisches wie Gounod und Massenet und kann gemeinsam mit Nikolai Gedda das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, den tenore di grazia  à la Tito Schipa der Opernwelt erhalten zu haben. Die glänzen zwar nicht durch vokales Feuer, durch Süße ( die Schipa hatte) und Farbigkeit, wohl aber durch eine sichere Extremhöhe, Helligkeit und ein ausgeprägtes Stilempfinden, welches Kraus im Verlauf der Karrierejahre, als die Stimme etwas an Biegsamkeit verlor, noch verfeinern konnte.

In den Sechzigern besticht auf allen 20 CDs die Gleichzeitigkeit von vokaler Frische und ausgefeilter Technik, zudem sind die Dirigenten und die Partner durchweg hoch zu schätzende, bei den Sopranen außer der Scotto Maria Callas in der berühmten Lissaboner Traviata, Mirella Freni, Gianna D’Angelo und Teresa Stich-Randall. Interessant ist auch die Bekanntschaft mit Cherubinis wenig bekannter Oper Ali Baba.

Alfredo Kraus mit Maria Callas in der Lissabonner „Traviata“ 1957/ Foto Warner

Gleich zweimal ist Verdis Rigoletto vertreten, 1960 mit einer Studioaufnahme unter Gianandrea Gavazzeni und mit Scotto, Bastianini, Vinco und Cossotto und 1961 aus Triest unter Molinari-Pradelli und mit Aldo Protti in der Titelpartie. Bei der Studioaufnahme glänzen alle Mitwirkenden durch eine vorzügliche Diktion, der Tenor durch die helle, durchdringende Stimme, die viel Brio in „Quest`e quella“ investiert, sich rubativerliebt gibt, ironisch klingen kann und für „La donna è mobile“ viel slancio einsetzt. In der Arie verrät die Stimme nicht ihren leichten Charakter und kann doch heldisch klingen, zärtlich gibt sich das Rezitativ, energisch-elegant klingt die Cabaletta. Scottos Gilda geht alles Soubrettenhafte ab, sie ist keinen Takt lang naiv, sondern lieblich mädchenhaft und dominiert „Bella figlia d’amore“. Bastianini ist natürlich eine Wucht nicht nur in der Vendetta, Vinco hochmusikalisch und Cossotto lässt bereits das Ausnahmetimbre vernehmen.

Bereits nach wenigen Monaten Karriere war Kraus Partner der Callas in Traviata, von der man nicht weiß, ob sie die Ursache für das Fehlen der Cabaletta des Tenors war, der jedoch nur Gutes und Angenehmes über die Zusammenarbeit mit ihr zu berichten wusste. Jedenfalls scheinen beide Stars aneinander zu wachsen, sie zunächst verhalten, er bebend vor Leidenschaft, mit schönem Schwellton am Schluss der Arie. Ein Geheimnis scheint „misterioso“ zu umschweben, der Spitzenton ist spektakulär. Mario Sereni ist der Padre mit tränenumflorter Provenza.

Recht störend macht sich zunächst il maestro suggeritore bei Rossinis Il Barbiere di Siviglia aus dem Neapel von 1958 bemerkbar, in dem Aldo Protti sich als vokaler Kraftmeier gebärdet, Kraus umso aristokratischer wirkt und la Scotto verspielt-zärtlich „una voce poco fa“ feiert.

Alfredo Kraus und Renata Scotto in „Faust“ 1970 in Tokio/Legato

Es bleibt komisch mit Donizettis Don Paquale von 1963 und eine Radioaufnahme ( mit ausführlicher Ansage )aus Edinburgh unter Alberto Erede. Leuchtend, flüssig, elegant ist der Ernesto von Alfredo Kraus, sein „Sogno soave e casto“ hört sich genau so an, und pure Poesie ist „Cercherò lontana terra“. Einen lüsternen Pasquale singt Fernando Corena, von keuscher Koketterie ist die Norina von Gianna D’Angelo, und es fehlen natürlich nicht die halsbrecherischen Duette von Pasquale und Renato Capecchi als Dottore.

Zweimal ist Vincenzo Bellini vertreten, einmal mit La Sonnambula mit Scotto und Vinco in Venedig 1961 unter Nello Santi, wo zunächst das Publikum präsenter ist als die Musik. Aussetzen könnte man auch, dass Kraus, obwohl dies kein Problem für ihn gewesen wäre, nicht die Originalfassung singt, aber trotzdem begeistert er durch eine feine vokale Linie, durch ein souveränes Spiel mit der unendlichen Melodie von „Prendi..“, hochpoetisch und durchaus dem Publikum mit ausgehaltenen Spitzentönen Zucker gebend. Sanft geflutet wird der Sopran von Renata Scotto, entrückt wirkt sie in der Schlafwandlerszene, ihre Pianissimi sind anbetungswürdig. Von schönem dunklem Ebenmaß ist der Bass von Ivo Vinco, der einige Jahrzehnte später mit seinem Neffen Marco Vinco die Partie für das Teatro Sociale di Mantova, wo Alberto Zedda dirigiert, einstudiert.

Renata Scotto und Alfredo Kraus in „La Sonnambula“ in Florenz 1963/ Foto RTM

Einer der ganz wenigen Tenöre, die einen wirklich hochklassigen Arturo in Bellinis I Puritani singen konnten, war sicherlich Alfredo Kraus, der außer mit Mirella Freni wie hier auch mit Christina Deutekom und Montserrat Caballé die Partie einspielte. Die Aufnahme von 1962 stammt aus der Heimatstadt des Soprans, Modena. Ihre Elvira fasziniert durch kindlich hingetupfte Koloraturen, eine unterhörte Reinheit des Klangs und ist hochpoetisch. Sie leuchtet über den Ensembles. Kraus stellt die unerhörten Acuti seiner Partie so wirkungs- wie geschmackvoll aus, die scheinbare Mühelosigkeit seines Singens übt eine nie wieder erlebte Faszination aus. Etwas altmodisch, wenn auch hochpräsent wirkt der Bass von Raffaele Arie, eine sichere Bank war natürlich Attilio D‘Orazi als Rivale des Tenors. Das Orchester aus Modena klingt unter Nino Verchi zunächst wie eine schlecht gestimmte banda musicale, gewinnt aber zunehmend an Format.

Die letzte und von Anfang bis Ende ihres Entstehens mit Pech verfolgte Oper Luigi Cherubinis war Ali Baba, die zunächst einen chinesischen Mandarin zum Helden haben sollte, deren Libretto mehrfach umgeschrieben wurde und die eigentlich nur zwei  Arien, die des Tenors im 1. und die des Soprans im 3. Akt enthält. Ali Baba ist hier der Vater des verliebten Soprans, die Kraus-Rolle die ihres Liebhabers. Teresa Stich-Randall singt zart, innig und rein mit schönem Triller, Kraus textverständlich und unnachahmlich raffiniert-elegant. Seine Spitzentöne werden vom Publikum in  Mailand angemessen honoriert. Dort entstand auch 1961 eine italienische Aufnahme der Perlenfischer mit Pia Malgarini und Giuseppe Taddei.

Es begann mit Lucia di Lammermoor, für die Alfredo Kraus im September 1999    in Berlin vergeblich erwartet wurde, es endet mit Lucia di Lammermoor, die er 1963 in Florenz unter Bruno Rigacci sang, mit Renata Scotto, Sesto Bruscantini und Paolo Washington.  Von Anfang an tragisch umflort klingt die Lucia der Scotto, hochvirtuos ihre Wahnsinnsarie; hell, straff, elegant, vollkommen unangestrengt präsentiert Kraus beispielhaften canto elegiaco und macht die Kassette mit 20 CDs zum erwünschten Begleiter auf die einsame Insel (Pan Classics 10449). Ingrid Wanja

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Alfredo Kraus im Kostüm des Werther/ Publicity Foto Warner/EMI

Dazu fand sich in unserem Archiv ein historisches Interview, das Ingrid Wanja 1995 mit dem Tenor in Wiesbaden machte:

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Eines der großen Wunder der Gattung Oper ist für mich die Glaubwürdigkeit einer sechzigjährigen Butterfly, eines eben- so alten Romeo. Gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen? Es ist das Wunder, das sich dank der Phantasie des Zuschauers vollzieht. Es ist das Wunder des konventionellen Thea­ters, bei dem ja die Kulissen bemalte Pappe sind; d. h., schon die Szene ist nicht Realität, sondern braucht die Phanta­sie des Zuschauers, um zum Leben zu erwachen. Der Film konnte etwas Gleichartiges nie erreichen, denn er gibt die Wirklichkeit wieder und lässt den Zuschauer passiv bleiben. Im Theater hingegen muss der Zuschauer selbst kreativ sein. Der Zauber der Sängerstimme hilf ihm dabei, dass sich das Wunder des Theaters, die Imagination, vollziehen kann.

Fast alle Tenöre haben früher oder später Probleme mit der Höhe. Wie gelingt es Ihnen, sich die sicheren Spitzentone zu erhalten? Ich glaube, dass ich mir die sichere Höhe durch zweierlei bewahrt habe: Einmal ist es natürlich ein physiologischer Aspekt; dazu kommt das Wissen um die richtige Technik. Es reicht nicht, dass ein Sänger seine Stimme entdeckt und entwickelt, sie muss ihm seine ganze Karriere hindurch quasi als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bewusst  sein. Er muss auf jeden Entwicklungsschritt reagieren, ja ihre Entwicklung bestimmen. Ich glaube, ich habe beides, die angeborene Leichtigkeit der Höhe und das Wissen darum, wie ich sie mir bewahren kann.

Heutzutage hört man von den sogenannten großen Tenoren „Che gelida manina“ fast nur noch transponiert, was denkt ein Tenor, der die letzte Szene des Edgardo stets in Es-Dur singt, über diese Kollegen? Ein Sänger sollte nie eine Rolle singen, die er nicht durchgehend in tono bewältigt. Erreicht er die Extremhöhe einer Partie nicht, dann ist es die falsche Rolle fur ihn. Wer das hohe C nicht hat, sollte den Rodolfo nicht singen.

Und die vieler Orts zu hoch gestimmten Orchester sind keine Entschuldigung? Nein, die Differenz ist minimal, nur wenige Frequenzen, und rechtfertigt kein Transponieren. Besser ware es fur den Sänger, sich das Repertoire zu suchen, bei dem keine Manipulationen notwendig sind.

Finden Sie es richtig, vom Komponisten nicht geschriebene, aber traditionell gesungene Höhen zu eliminieren? Damit bin ich nicht einverstanden. Die sogenannte traditionelle Aufführungspraxis ist im Verlauf der Zeit zur Norm geworden. Ein „La donna è mobile“ ohne Spitzenton ist dem Publikum heute nicht zuzumuten. Diese zusätzlichen hohen Töne sind sehr kurz nach der Entstehungszeit der Werke schon hinzugefügt und von den Komponisten oft schon bei den Proben, die sie selbst geleitet haben, toleriert worden. Wenn eine Arie auf ein effektvolles Finale hin komponiert ist, mit einem Crescendo im Orchester, dann ist der Spitzenton für die menschliche Stimme etwas so Natürliches wie das tutti für das Orchester. Die Komponisten haben ihn gern geduldet, wenn ein Sänger dazu in der Lage war.

Haben Ihrer Meinung nach die Cabaletten, zum Beispiel in Rigoletto und Traviata, einen Sinn im musikalischen und szenischen Kontext? Einige haben einen Sinn, andere wurden nur geschrieben, weil es der musikalischen Tradition entsprach. Ich finde, dass die Cabaletta des Duca nach „Parmi veder le lacrime“ dem Gesamtbild von der Figur nichts hinzufügt. Sie macht die Gestalt nicht komplexer, erklärt dem Publikum nichts. Außerdem ist sie im Vergleich zur Arie musikalisch nicht so wertvoll. Hingegen finde ich, daft die Cabaletta des Tenors in Traviata bedeutender ist, weil sie eine neue, sehr wichtige Seite des Alfredo zeigt. Er wird sich seiner und Violettas Situation bewusst, und er macht in  der Cabaletta dieses Reifen der Persönlichkeit deutlich. Vom Psychologischen, aber auch vom Musikalischen her ist diese Cabaletta also durchaus gerechtfertigt.

Meistens macht die Stimme eines Tenors eine Entwicklung durch, die vom Rodolfo zum Manrico oder gar Otello, von Donizetti zu Verdi führt. Ihre Stimme ist über Jahrzehnte die gleiche geblieben. Liegt das in der Natur lhrer Stimme, oder haben Sie bewusst daran gearbeitet? Eine Entwicklung macht wohl jede Stimme durch, aber häufig verlieren sich damit wichtige Vorzüge wie etwa die leichte, selbstverständlich erscheinende Höhe zugunsten der Ausbildung des mittleren Registers. Häufig geht Entwicklung auf Kosten des Timbres. Ich für meinen Teil denke, dass  Volumen nicht Qualität, nicht das berühmte „Metall“ bedeutet. Ich habe es vorgezogen, die Qualität meiner Stimme zu konservieren, statt Volumen zu gewinnen. Volumen bedeutet fur sich genommen überhaupt nichts. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, in meinem Repertoire zu bleiben und alle Partien zu meiden, die eine gewisse Anstrengung fur die Stimme erfordert hatten, denn das hätte zwangsläufig eine Einbuße an Qualität und den Verlust der Höhe zur Folge gehabt. Ich kann mit Stolz behaupten, dass ich ein Repertoire gewählt habe, in dem ich so gut wie einzigartig bin. Ein Sänger sollte ein Zeugnis für die Zukunft hinterlassen. Ich hinterlasse es in diesem Repertoire, in dem ich mich fast perfekt fühle. Absolute Perfektion existiert natürlich nicht, aber wenn man von Rossini bis Puccini alles singen will, kommt man ihr nicht einmal nahe. Ich ziehe es vor, die Nummer Eins auf einem beschränkten Gebiet zu sein.

Ist es Ihrer Meinung nach heute (1995) noch möglich, eine Karriere nach dem Muster der Ihrigen zu machen? Es ist sicherlich schwieriger, denn wir wurden noch bessergeleitet. Es gab noch wirkliche Operndirigenten, die die jungen Sanger betreuten und ihre Entwicklung förderten, die sie davor zurückhielten, ungeeignete Partien zu singen. Während der Proben vermittelten sie den Sängern, wie man ein Rezitativ singt, wie man im richtigen Stil singt, gaben viele wichtige Ratschläge in Bezug auf Technik, aber auch auf Interpretation. Die heutigen Dirigenten sind reine Orchesterdirigenten. So sind die jungen Sänger auf sich selbst gestellt, und das macht natürlich alles viel schwieriger.

Alfredo Kraus und Mirella Freni in „Manon“ an der Scala 1970/ Archivio storico Teatro alla Scala

Man musste früher unbedingt in der Provinz beginnen, an kleinen Theatern, mit weniger anspruchsvollen Partien. Man musste sich zwischen einzelnen Auftritten ausruhen. Aber die Sänger lassen sich heute keine Zeit, sie haben es eilig, Karriere zu machen, sofort viel Geld zu verdienen, berühmt zu werden. Aber um eine solide Basis für eine Karriere zu haben, muB man langsam vorangehen, sonst ist man schnell physisch und psychisch am Ende.

Gibt es eine einzige richtige Art zu singen, eine alleinseligmachende Art, Gesang zu studieren? Für mich persönlich: Ja. Ich betrachte meine Stimme als Instrument, das ich nur in perfekter Art und Weise benutzen will. Dafür gibt es nur eine einzige angemessene Technik des Singens. Die richtige Gesangstechnik wiederum ist eine durchaus exakte Wissenschaft mit eindeutigen Methoden.

Die Autorin: Ingrid Wanja/ I. W.

Das ist das Problem, denn viele Lehrer verstehen nichts von ihrem Metier. Sie richten sich nach ihrer Intuition, und das ist absolut unwissenschaftlich. Sicherlich haben die Sänger alle mehr oder weniger eine Stimme und eine gewisse Gesangstechnik. Auch ein Sänger mit falscher Technik kann  – und nicht nur fur wenige Jahre – Karriere machen, wenn die Stimme robust genug ist. Wenn einer eine schöne Stimme hat, kann er so ohne weiteres berühmt werden. Ein Instrument von einem so großen Zauber wie die menschliche Stimme kann auch ohne eine perfekte Technik fur eine gewisse Zeit die Menschen in ihren Bann schlagen.

Was bedeutet fur Sie Perfektion? Ja, was ist Perfektion? Etwas, das es nicht gibt. Es existiert nur das Streben nach Perfektion. Es ist das Streben in uns, immer besser zu werden, das Bewusstsein, dass das Beste von heute schon das nicht mehr Akzeptierbare von morgen ist. Es ist das Ziel, das wir nie ganz, aber immerhin teilweise erreichen werden. Und das gibt schon eine große Genugtuung und den Ansporn, sich weiter zu vervollkommnen. Ingrid Wanja (1995; Dank auch an Wolfgang Denker für die Archiv-Arbeit)

Loy allerorten

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Das kann er. Gesellschaftsszenen inszenieren. Bis in die Nebenfiguren raffinert ausgeleuchtet mit Augenaufschlag und Fingerschnippen, erotische Annäherungen abseits des Hauptgeschehens. Das hatte Christof Loy im strahlend hellen Einheitsraum für Salome gerade in Helsinki demonstriert, als er die Szene anschließend im Mai 2022 im marmorschweren dunklen, selbstverständlich von Johannes Leiacker entworfenen Jahrhundertwend- und Art Deco-Ambiente für Schrekers Schatzgräber in Berlin als Abendgesellschaft abwandelte. Loy ist ein Schatzfinder, wo manchmal nur Tand verborgen ist. Das ist meist vorhersehbar brillant, so in dieser Aufführung an der Deutschen Oper, wo Loy u.a. Schrekers ebenso erfolgreichen und ebenso lange vergessenen Kollegen Korngold mit dem Wunder der Heliane gehuldigt hatte – ebenfalls bei Naxos auf DVD verfügbar wie die Berliner Francesca da Rimini von Zandonai. Korngold und Schreker hatten mit Die tote Stadt bzw. Der Schatzgräber die größten Opernerfolge des Jahres 1920 geliefert. Zeitgleich mit dem Schatzgräber (Blu-ray Naxos NBDO173V) kam ebenfalls bei Naxos die bereits Ende 2018 am Theater an der Wien erarbeitete Euryanthe heraus (DVD 2.110656). Im Gegensatz zum Schreker, den ich in Straßburg gesehen hatte, wohin er noch im Herbst 2022 als französische Schatzgräber-Erstaufführung wanderte, blieb die Euryanthe auf Wien beschränkt. Das rätselhafte Märchen vom fahrenden Spielmann Elis, dem „Schatzgräber“, der mit seiner Wünschelrute den Schmuck der über den Verlust depressiv gewordenen, dekorativ drapierten Königin wiederbeschaffen soll, wird von Loy in seinem psychologisch verästelten Salonstück elegant umschifft. Den Schmuck hat die junge Els, eine manipulative Frau und Mordanstifterin, deren Verführungskunst die Männer fast reihenweise zum Opfer fallen und die am Ende nur der Narr vor dem Schafott retten kann. Elis, der eine wunderhafte Liebesnacht mit ihr erlebt und sich von ihr abgewendet hatte, singt sie in den Tod. Dreh- und Angelpunkt ist Schrekers rauschhafte Musik, die Marc Albrecht mit dem Orchester der Deutschen Oper großräumig und süffig, doch nie entfesselt erklingen lässt. Als bodenständige Servierkraft kann Elisabet Strid als Els kühle Ekstasen entwickeln, wohingegen ihr die Zartheit des Schlafliedes schon ein wenig Mühe bereitet, überzeugender ist ihr schwedischer Landsmann, der große Daniel Johansson in der nicht minder strapziösen Titelpartie als Elis. Das große Ensemble nutzt seine Möglichkeiten sich in der Abendgesellschaft zu profilieren, wobei sich alle lauernd umschleichen, elegant posieren, smart im Smalltalk zuneigen, anzügliche Nähe aufbauen: darunter Clemens Bieber als Kanzler, Gideon Poppe als Schreiber, Patrick Cook als Albi, Michael Adams als Graf, Thomas Johannes Mayer als Vogt, Tuomas Pursio als König. Loy verliert keinen aus dem Blick, auffallend gleich zu Beginn Seth Caricos mindestens so locker spielender wie singender Junker. Ausgezeichnet Michael Laurenz als sympathischer rührender Narr, dem die Herzen zufliegen.

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Bemerkenswert rund, saftig in den Holzbläsern und weich in den Streichern erklingt bereits die Ouvertüre zur Euryanthe, wobei Constantin Trinks mit den ORF Symphonie-Orchester den warmherzigen Ton beibehält, der sich offenbar im nicht allzu großen Theater an der Wien so vorteilhaft entfaltet. Wie auch die vielen markanten Chöre mit dem Arnold Schönberg Chor. Ähnlich groß war das nur wenig jüngere Kärntnertortheater, wo im Oktober 1823 die Uraufführung der Großen romantischen Oper Euryanthe stattgefunden hatte. Man muss sich nicht erneut über Helmina von Chézys Librettos auslassen, das im Übrigen, da hat Christof Loy vollkommen recht, nicht übler als viele andere ist. Staunen darf man jedes Mal erneut, wenn man, selten genug, diese Oper hört, die man unwillkürlich in einen Zusammenhang mit dem Lohengrin setzt. Aber, auch da hat Loy recht, „man wird dem Stück nicht gerecht, wenn man ihm nur in einen musikhistorischen Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zukommen lassen will. Eine Wertschätzung muss doch auch möglich sein, ohne auf das voraus zu blicken, was dann noch kommt“. Mit seinem ziemlich guten Ensemble ließ Trinks im Dezember 2018 die Musik wirken, während Loy in dem außerordentlich tiefen weißen Raum von Johannes Leiacker mit vier tiefen raumhohen Fenstern auf der einen Seite, einem Flügel in der Mitte und einem Eisenbett auf der anderen Seite, fern von französischem Mittelalter des 12. Jahrhunderts schöne Bilder zu den mal mehr oder weniger eingetrübten Seelenlandschaften kreiert. Die Damen in 50er-Jahre Ensembles, die Herren kommen in feschen Anzügen und Stiefeln, zur Jagd-Saison im dritten Akt mit Janker und kurzen Lederhosen, die böse Eglantine im langen roten Kleid. Erlesen. Geschmackvoll. Die Nachkriegssituation, „Ein langer Krieg ist zu Ende“, wird szenisch nicht aufgegriffen. Lysiart begehrt Euryanthe, die ihrerseits Adolar liebt, von dem sie wiedergeliebt wird. Adolar wird von Eglantine begehrt. Ein schiefes Liebesquartett im bürgerlichen Salon. Das fiese und gemeine daran ist, dass die finsteren Lysiart und Eglantine ihre Lüste und Wünsche perfide ausspielen und die arglose Euryanthe der Untreue beschuldigen. Unverschuldet wird Euryanthe mit einem Makel versehen. Die Intrige wirkt besonders perfide, da bei Loy die Protagonisten im Raum anwesend sind, wenn von ihnen gesprochen wird. Der weite weiße Rock und das schwarze Oberteil der Titelheldin könnten etwas trutschig wirken, wozu auch der Text von Euryanthes Cavatina „Glöcklein im Tale“ passt, aber Jacquelyn Wagner macht aus der damenhaft distanzierten Tugendstatue mit der Perlenkette eine moderne junge Frau, deren Geliebter verändert aus dem Krieg zurückkehrt, die plötzlich den grabschenden Händen der Männer ausgesetzt ist und dann noch die Kraft für das reichlich weichgezeichnete Happyend („Hin, nimmt die Seele mein“) findet. Wagner vermittelt das fast glaubwürdigt, ist mit ihrer unermüdlich strahlenden Jubel-Stimme und dem ausgezeichneten, vielversprechenden jugendlich-dramatischen Sopran geradezu ideal. Ganz Ausdruck und Emphase ist Theresa Kronthaler, sie singt die barfüßige Eglantine mit rundem, höhenstarkem Mezzosopran, aber auch harschen Ausdruckstönen, vielfach mit einer Spur Überforderung und Hysterie. Beider großes Duett im ersten Akt bleibt langweiliger als es sein müsste. Norman Reinhardt hat in den Partien, die er zu Beginn seiner Karriere sang, eine gewisse Beweglichkeit gezeigt, doch sein weißer Tenor wirkt in der Höhe nicht frei, wobei Adolars Romanze „Unter blühnden Mandelbäumen“ auch kein dankbarer Auftritt ist, singt sich dann aber bis zum Hochzeitsfest frei. Andrew Foster-Williams ist stets ein lockender Singdarsteller, der sich zunehmend das dramatische Bösewichtfach erobert, auch wenn es ihm nicht wirklich liegt, und der sich nicht scheut nackt über die Bühne zu laufen, was er dann auch als Jochanaan in der erwähnten Salome als Lustobjekt der Gesellschaft ausgiebig machte. Foster-Williams macht Lysiart zur faszinierendsten Figur der Oper und fesselt vom ersten Auftritt an, als Verführer, heimlich Liebender, der sich in seiner Szene zu Beginn des 2. Akts nackt der schlafenden Euryanthe nähert, und letztlich als Retter der Beschuldigten; das ist das reiche Psychogram eines schutzlos Liebenden, gezeichnet mit vibrierend expansivem Bariton, der seine Schwärze aus der scharfen Artikulation erhält. Rolf Fath

Wiener Henze-Initiative

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Innerhalb von zwei Wochen kam es im November 2017 zu zwei bedeutenden Aufführungen des Oratorio volgare e militare in zwei Teilen für Sopran, Bariton, Sprechstimme, gemischten Chor, Knabenstimmen und Orchester von Hans Werner Henze: Das Floß der Medusa. In Hamburg, wo die geplante Uraufführung 1968 nicht über die Generalprobe hinauskam, dirigierte Peter Eötvös das SWR-Symphonie-orchester Mitte November (SWR Classic 19082), im Wiener Konzerthaus hatte Kollege Cornelius Meister mit dem ORF Radio-Symphonieorchester bzw. ORF Vienna Radio Symphony Orchestra bereits Anfang des Monats die 30. Ausgabe des Festivals „Wien modern“ eröffnet. Das Festival war froh, mit einem gar nicht so neuen Werk den Finger am Puls der Zeit zu haben und mit einem historischen Schiffsunglück und der Geschichte vom Floß der Medusa von 1816 einen Bezug zu den heutigen Flüchtlingsbooten herstellen zu können. Die Medusa war auf ihrer Reise nach Afrika gekentert, worauf sich die Offiziere in Rettungsboote verfügten und für Besatzung und Passagiere ein – wie sich später herausstellte – untaugliches Floß bauen ließen, so dass von den rund 150 ins Meer treibenden Menschen auf dem Floß nur 15 überlebten. Théodore Géricaults Monumentalgemälde vom Untergang der Medusa geriet 1819 zu einem eindringlichen Zeitdokument und führte einen politischen Eklat herbei. In Wien hatte 1971 unter Miltiades Caridis mit dem ORF-Symphonieorchester die offizielle Uraufführung stattgefunden. Beide Städte spielen also in der Aufführungsgeschichte des Oratoriums eine zentrale Rolle. Das Hamburger Konzert veröffentlichte der SWR 2019 auf seinem eigenen Label, der Wiener Konzertmitschnitt folgte jetzt bei Capriccio (C5482), wo bereits Cornelius Meisters Stuttgarter Aufführung von Der Prinz von Homburg auf CD erschienen war (C5405) und mittlerweile aus der Wiener Staatsoper zusätzlich Henzes Das verratene Meer unter Simone Young (C5460) folgte.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich so rasch wieder einer derart bannenden Aufführung des Floß der Medusa wie der Wiedergabe durch Eötvös und das SWR Symphonieorchester begegnen würde (https://operalounge.de/cd/oper-cd/oratorium-der-grausamkeit); wobei gerechterweise auch das SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor und Freiburger Domsingknaben genannt werden müssen, ebenso wie der fabelhafte Arnold Schönberg Chor und die Wiener Sängerknaben, beide eine Klasse für sich, im Fall der nicht weniger packenden Wiener Aufführung ihren Rang als Ausnahmeklangkörper untermauern. Beide Chöre werden szenisch eingesetzt: Auf der linken Bühnenhälfte steht der „Chor der Lebenden“, der sich im Laufe des Abends zugunsten des auf der anderen Seite des Podiums positionierten „Chor der Toten“ verkleinert. Cornelius Meister ist der souveräne, suggestiv sachwaltende Regisseur dieses komplexen Stückes, bei dem Sven-Eric Bechtolf den distanziert nüchternen Erzähler Charon gibt, der von den Ereignissen mitgerissen wird, Dietrich Henschel mit überragender Wort- und Tonbehandlung den Überlebenden Jean-Charles und Sarah Wegener mit scharf gleisnerischer Hingabe La Mort gibt. Rolf Fath

Hörenswerte CD, fragwürdiges Booklet

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Nach an Komponisten, nämlich Händel und Verdi, orientierten CDs  und einer mit dem Titel Rebirth thematisch festgelegten Aufnahme widmet sich die bulgarische Sängerin Sonya Yoncheva nun The Courtesan, den auf höherem Niveau käuflichen Damen, von denen sie meint, diese würden sich in dem Moment dem Tod weihen, in dem sich zur wahren Liebe bekennen. Daran ist vieles wahr, so wenn man an Thais denkt, die ohne das Bekenntnis zum Christentum weiterhin ein feines Leben hätte führen können, trifft auch noch auf  Giordanos Stephana aus Siberia zu, aber dann wird es schon mühsam, denn Mimi, die Puccinis wie Leoncavallos, wäre auch ohne die Hinwendung zur wahren Liebe gestorben, ebenso Violetta, Mascagnis Iris wollte nie Kurtisane werden, Massenets wie Puccinis Manon wird nicht die wahre Liebe, sondern ihre Gier nach Reichtum zum Verhängnis, Madama Butterfly ist Ehefrau und wird auch vom Fürsten Yamadori als zukünftige solche zukünftige umworben, eine Geisha keine Kurtisane, und Dalila kommt nicht in die Versuchung, sich der wahren Liebe zum Opfer zu bringen. Wozu also der Versuch, alle diese so unterschiedlichen Damen unter ein Motto zu zwingen, obskure Behauptungen wie „Sinnlichkeit ist die weiblichste aller Sprachen“ aufzustellen und sich mit einem Spruch wie dem, sie widme die CD allen Frauen, „die sich nicht immer ausdrücken dürfen“ ins Vage zu flüchten. Eine Petya Iwanowa setzt dem Booklet-Text noch die Krone auf mit der Behauptung, „all dies könnte heute nicht aktueller sein“, verfolgt den mehr oder weniger ehrenhaften Beruf zurück bis zu Aspasia und liefert so ein besonders peinliches Beispiel für den Versuch einer intellektuellen Untermauerung, wo diese so überflüssig wie anfechtbar ist.

Zum Glück ist die CD um Klassen besser als das Booklet. Sie beginnt mit dem Duett Thais-Nicias, in dem der Sopran glasklar und so keusch klingt, als habe die Bekehrung bereits stattgefunden, das Vibrato ist vorbildlich, und in der großen Arie kann man die elegante Gesangslinie bewundern, verbindet die Sängerin Klarheit mit Eindringlichkeit. Massenets Manon überzeugt ebenfalls durch die elegante Stimmführung, durch die Wehmut, die über allem zu schweben scheint. Fleischiger, substanzreicher und damit angemessen erscheint der Sopran für Puccinis Manon Lescaut, die aber durchaus noch mädchenhaft für die „trine morbide“ ist, bereits mit einem Hauch von tristezza versehen, die in „Sola perduta“ zur Verzweiflung wird, so dass „non voglio morir“ dem Hörer zu Herzen geht.  Auch Mimi ist zweimal vertreten, obwohl bei Puccini wie Leoncavallo eher Musetta eine Kurtisane ist. Schlank und kokett darf sich die Letztere geben, da sie Musetta beschreibt, was Puccini betrifft, wagt es die Rezensentin selbst auf die Gefahr hin, als “Vokal-Rassistin“ zu gelten, zu behaupten, dass der bulgarische Sopran im Vergleich zur beispielhaften Mimi von Mirella Freni doch recht kühl klingt. Für Butterfly hat die Yoncheva die notwendige präsente Mittellage, lässt viele schöne Details vernehmen, ohne die große Linie zu vernachlässigen, dazu kommt als weiteres Plus der zugleich kindliche wie wissende Ausdruck. Schön ausgestellt werden nach einleitendem Sprechgesang kann der Sopran in Siberia, das Verletzbare der Iris wird trotz urgesunder Stimme  in Mascagnis gleichnamiger Oper nachvollziehbar, zu weit dem tenore lirico entwachsen ist die Stimme von Charles Castronovo für Verdis Alfredo, und Dalila klingt zwar mezzotief, aber nicht mezzodunkelverführerisch. Marco Armiliato dirigiert das Orchester des Carlo Felice Genova und könnte kein besserer Begleiter sein.   Das Label zeigt eine Signatur außer syn (Eigenproduktion?), wobei Frau Yoncheva eigentlich bei der Sony unter Vertrag ist. Ingrid Wanja

Massenets Oper „Ariane“

.Wieder einmal ist das Münchner Rundfunkorchester eine fruchtbringende Verbindung mit dem Palazzetto Bru Zane eingegangen. Am 29. Januar 2023 gab’s  ein Konzert von Jules Massenets Oper Ariane in München, das dann  beim Palazzetto Bru Zane in dessen CD-Buch-Reihe der Französischen Romantischen Oper im Frühjahr erschienen ist (Radioband und Nachaufnahmen). Ein schönes Joint-venture, wie man von anderen Unternehmen dieser Art in der Vergangenheit weiß (so die Proserpine von Saint-Saens, Le Tribut de Zamora von Gounod oder dessen Cinq-Mars)

Massenets „Ariane“: Die bedeutende Lucienne Bréval war die Ariane der Uraufführung/ Wikipedia

Die Besetzung ist jung (Amina Edris, Marianne Croux, Judith van Wanroij, Kate Aldrich, Julie Robard-Gendre, Jean-François Borras, Yoann Doubrouque, Jean-Sébastien Bou, Philippe Estèphe sowie Chor des Bayerischen Rundfunks und Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Laurent Campellone, der die Oper bereits beim Massenet-Festival in Saint Etienne 2007 dirigierte). Opernliebhaber des Besonderen, die es nicht ins Konzert geschafft hatten, konnten am Radio der Live-Übertragung folgen. Und man muss bei dieser Gelegenheit den wirklich fabelhaften Service des Münchner Rundfunkorchesters loben, der das französisch-deutsche Libretto in drei Druck- (bzw smartphone-) Versionen sowie den nachstehenden Einführungsartikel auf seiner Seite zum Downloaden anbietet, chapeau! das war gut angewandtes Beitrags-Geld.

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Warum nun noch ein Massenet für den Palazzetto, fragt sich der grundsätzliche Opern-Fan? Wäre die Ariane (die es nur auf einem weiteren Radio-Live-Mitschnitt gibt/ unten mehr) nicht wirklich eine Rarität, würde man die Augenbrauen noch höher ziehen ziehen. Andere Palazzetto-Veröffentlichungen – wie die jüngste geplante – sind keine. Die angekündigte Hérodiade aus Lyon 2022 ist in der Titelpartie fragwürdig besetzt und kommt – wie inzwischen bei manchen Palazzetto-Veröffentlichungen – als Doublette oder sogar Triplette daher, unnötig wie ein Kropf (wie die Périchole oder eine erneute Vestale … und auch eine neue Griselidis …).  Man schüttelt doch den Kopf ob der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses (zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird). Aber selbst angesichts der Seltenheit der Ariane: gibt es nicht andere, brennendere Titel zur Wiederauferweckung? Etwa  Zampa, Dom Sebastien, eine französische Agnes von Hohenstaufen, Charles IV/Halevy, eine ungekürzte und gut gesungene Juive, Les Fées du Rhin, Le Freyschütz,   Marie Stuart/Niedermeyer, Lancelot/Joncieres, Fervaal/D´Indy, Monna Vanna/Février, St Julien l´hospitalier/Erlanger, Antar/Dupont, Aben-Hamlet/Dubois, La Samaritaine/D´Ollone, Julien/Charpentier, L´attaque du moulin/Bruneau   und viele, viele mehr (sogar eine diesmal dritte Reine de Saba/Gounods, weil die vorhandenen entweder klanglich oder besetzungsmässig nicht ausreichen) …  Ach ja, um mit Carmen zu sprechen: „C´est ne pas interdit de rever!“

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Wie dem auch sei, hier ist nun also Massenets Ariane in einer Neuaufnahme beim Palazetto Bru Zane, auf 3 CDs angefüllt mit dem zweisprachigen Libretto und verschiedenen Aufsätzen (die leider nur in Französisch/Englisch wie immer, obwohl es drei deutschprachige Länder und damit ein immenses Käuferpotenzial gibt – unverständlich und auch diskriminierend, finde ich, nicht einmal eine deutsche Inhaltsangabe) von Alexandre Dratwicki, Jean-Christophe Branger, Michela Niccolai und Gabriel Fauré, dazu zwei historische Interviews mit Massenet selbst.  Nach der CD-Kritik und einem Blick auf sonst noch Verfügbares folgt eine Einführung von Florian Heurich aus dem Programmheft des Münchner Rundfunk Orchesters für das besagte Konzert. G. H.

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Die Rezension: Das Herausragende an der Aufnahme von Massenets später Ariane beim Palazzetto Bru Zane sind für mich die mitwirkenden Herren, der sensationelle Chor und das raumgreifende Münchner Rundfunk Orchester unter Laurent Campellone.

Über den Damen liegt für mich auch bei der CD ein Vorbehalt, wie im Konzert. Was umso bedauerlicher war, als bei der Uraufführung 1906 und späteren Wiederaufnahme 1937 immerhin solche absoluten Stars wie Lucienne Bréval oder die große Germaine Lubin (Foto oben) die Titelrollen verkörperten, letztere unterstützt von niemandem Geringeren als Georges Thill in der Partie des Thésée. Und wenn man sich verdeutlicht, dass die Sängerinnen der Pariser Premieren zeitgleich auch Wagners Brünnhilden, Kundrys oder Ortruds sangen, hatte man doch Erwartungen an die Mutigen, die sich diesen Partien nähern.

Diese späten Opern einer sterbenden Epoche, die ihr Ende mit dem 1. Weltkrieg fand, bedürfen der Opulenz, der unglaublichen Eleganz, der Großräumigkeit der Präsentation, um zu wirken. Sie waren für eine uns unvorstellbare Üppigkeit gedacht, für ein müdes, blasiertes Publikum und den Ikonen der Bühne auf den Leib geschrieben.

Ihnen weitgehend handwerklich-solide beizukommen, wird ihnen nicht wirklich gerecht und kann sie nur blasser ins Leben zurückholen als sie sind, so lobenswert der Versuch auch ist (und ob diese Oper nun wirklich danach schreit, zum Leben erweckt zu werden, lässt sich auch diskutieren angesichts der vielen, die vielleicht wichtiger sind als die x-te Massenet-Oper). Die letzten Erfolge in dieser Reihe waren sicher solche „Schinken“ wie die Esclarmonde mit Joan Sutherland oder auch Zandonais Francesca mit der Kabaivanska bzw. Sotto. Oder Le Cid mit der wunderbaren Carol Neblett. Oder Les Troyens mit der Veasey, Baker oder Lear. Überdimensional, mythisch.

In München und auf der Aufnahme des Palazzetto wird die Grand-Opéra zu einer Moyens-Opéra,  kocht man auf kleinerer Opern-Flamme, liedhafter oft und definitiv lyrischer statt heroisch, gelegentlich auch vokale Kleinkunst (Arianes Beitrag im 3. und letzten Akt), wenngleich der Ariane-erfahrene Laurent Campellone an lautem Schmackes nicht spart und diesem gigantischen Kitschkasten zu einiger orchestraler Wiederbelebung verhilft: weniger die Streicher als vielmehr wunderbare Holzbläser und tolles Blech beim Münchner Rundfunk Orchester, dabei durchaus auch heruntergeschraubt zu leisen Passagen, um die Mitwirkenden nicht im Klang zu ertränken: sehr anständig! Und dazu der wirklich total wortverständliche Chor mit himmlischen Sopranen und sonoren dunklen Stimmen. Man kann mitschreiben. Und badet im Klang. Stellario Fagone  sei Dank.

Die solistischen Herren sind exzellent. Der recht helle, mag sein etwas zu lyrische Jean-Francois Borras gibt dem Thésée vielleicht weniger Virilität denn frische Jungenhaftigkeit, und seine Diktion – wie die seines Bariton-Kollegen Jean-Sébastien Bou als expressiver, schön(!) singender und eben französisch timbrierter Pirithous – ist exemplarisch, ein Genuss auch seine geforderte Strahlkraft der nicht sehr großen (gegen Schluss etwas loserschwingenden) Tenorstimme. Dazu kommen Philippe Estèphe und Yoann Dubruque in kleineren Partien, ebenfalls hervorragend ebenfalls französisch im Timbre.

Die Damen lassen mir einen gemischten Eindruck. Amina Edriss singt als Mezzo-Ariane in den leiseren Momenten, wenn sie nicht drücken muss, betörend, einfach betörend, leider oft nicht wirklich wortverständlich und mir viel zu oft zu liedhaft. Solange sie über mezza-voce nicht hinausgehen muss, ist es wirklich ein Fest an schmaler Opulenz, und das muss man absolut anerkennen. Zu vieles über mezzo-forte klingt mir eng, hart erarbeitet, in der knappen Höhe dann mit einem auf die Dauer nervenden engen Pianissimo-Dauerton endend (was mich das an die Höhen-Tricks von Leyla Gencer, Renata Scotto und Montserrat Caballé erinnert, sich um freie Höhen herumzumogeln), und das signalisiert, das Mehr nicht möglich ist (ähnlich wie Cecilia Bartoli in den letzten Momenten ihrer verdienstvollen Norma). Dieses sich Strecken nach den hohen Noten macht die Oberstimme eintönig und zudem ermüdend zu hören, bei aller durchaus vorhandenen Erotik und Süße in der Mezzo-forte-Mittellage. Aber die Partie ist eindeutig zu groß für sie – die braucht eine Sutherland, Crespin, Esposito, auch Netrebko oder DiDonato, eben eine erfahrene Operndiva mit gegefüllter Handwerkskiste. Dies ist eine Diven-Partie. Für diese geschrieben (Lucienne Bréval). Und diese Opern sind nichts für junge Stimmen. Dennoch: Ich bin hin-und hergerissen zwischen Bewunderung und Augenbrauenhochziehen. Singen kann Frau Edriss, sans doute, aber vielleicht nicht diese großen Partien, und nicht so hohe und nicht so große (und unter Druck wird die Stimme an den Rändern unruhig). Sie ist ein Mezzo, ein Falcon, und kein dramatischer Sopran wie Bréval oder Lubin.

Zu Massenets „Ariane“: Amina Edriss singt die Titelpartie/ © Ralf Wilschewski

Die am Radio noch gelegentlich schartig klingende Mezzostimme von Kate Aldrich als Phèdre hat sich für die Aufnahme erstaunlich erholt, bei guter Höhe, selten brustiger Tiefe und im Gesamten von großem Format.  Wobei ohne Libretto in der Hand oft nicht klar ist, wer welche der beiden Schwestern wann singt. Hier – denke ich – herrscht ein Besetzungsfehler. Weil Ariane ein dramatischer Sopran mit leuchtender Höhe ist (Germaine Lubin!) und kein Falcon mit knapper wie Frau Edriss. Kate Aldrich hatte ihre leisen, lyrisch-schönen Mezzo-Momente, unter Druck wabert die Stimme an den Rändern. Vielleicht rächen sich zu viele Carmen, zu mal open-air.

Julie-Robard-Gendre singt die Perséphone, für mich recht unruhig-quallig, eindrucksvoll auch im Monodram sicher, aber stimmlich bei dem starkem Registerwechsel nicht wirklich ein Gewinn. Und bei einer so tiefliegenden Erda-Ulrica-Stimme erstaunlicher Weise auf Kosten des Wortes (naja, bei dem zum Teil abenteuerlichen Text von Camille Mendès – was für ein Kitsch, wahrlich kein Hoffmannsthal!) Da hatte ihre Rollenkollegin Anne Pareuil in Saint Etienne 2007 wirklich die Nase vor und zeigte, was ein gut geführter französischer Alt ist (nachzuhören bei youtube). Wobei man auch sagen muss, dass Massenet gemeine Intervallsprünge für alle drei Frauenpartien geschrieben hat. Die Männer habens da besser.

Judith van Wanroij, Hauskraft beim Palazzetto, lässt (als erbarmende Göttin Cypris) gewisse Verschleißspuren hören, besonders in den hohen Noten, sie verliert Farbe in der Stimme. Auch hier zu viel oder unzureichende Technik? Und auch Marianne Croux in der kleinen Partie der Eunoe macht stimmlich nicht viel her außer einer hellen, recht unruhigen Stimme. Noch mal zum Lehrer?

Dennoch: Ich würde jedem Neuling für diese Oper raten gleich Akt 3 anzusteuern, da ist richtig was los. Und Akt 4 hat´s ebenfalls in sich an Drama, Schwulst und Köstlich-Kitschigem. Massenet Zauberkasten vom Besten. Die Begegnung mit diesem Spätwerk eines müden, ausgebufften und vielleicht auch zu erfolgreichen Komponisten ist als solche periphär, aber interessant verfügt das Werk im Dauerparlando doch über viele schöne Stellen (das Finale allzumal), die in Teilen stark an Wagner erinnern. So in Akt 2 oder das Aufflammen der Leidenschaft in Akt 5 á la Tristan. Und der Beginn des letzten Aktes klingt verdächtig nach dem Walkürenritt. Anderes erinnert an Lalo (Le Roi d´Ys) und reicht zu Massenets Esclarmonde oder zum Roi de Lahore zurück, so das Grazien-Ballett im 4. Akt (und der tolle orchestrale Kitsch dazu). 1906 war eben schon sehr, sehr spät, und der Rückgriff auf Vergangenes geht einher mit den weniger schönen sozialen/politischen Entwicklungen in einem Frankreich nach Versailles (die Ausstattung der 3-CD-Buch-CD BZ 1053 hat wie stets hohes Niveau mit dem Libretto und einführenden Artikeln, die allerdings nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann).   Geerd Heinsen

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Zu Massenets „Ariane“: Cecile Perrin sang die Titelpartie in Saint-Etienne 2007/Opéra de Bordeaux

Verbreitung und Verfügbares: Ariane, Oper in 5 Akten von Jules Massenet, Libretto von Catulle Mendès, Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier, Erstaufführungen in Brüssel 1907, Turin 1907, Buenos Aires 1908; Wiederaufnahme an der Pariser Oper nach dem Brand 1937.

Bei youtube gibts dank des Kanalisten Job die Aufführung aus Saint-Etienne von 2007 unter dem forschen Laurent Camepllone vom dortigen Massenet-Festival mit dem Haustenor Luca Lombardo, der damals für sowas zuständig war, sehr gut und unerschrocken. Barbara Ducretet als Phèdre und Anne Pareuil nebst Cyril Rovery sind mehr als solide und präsentieren das Werk werkgerecht eben auf dem Niveau einer guten Provinzbühne. Wäre da nicht die saure, stumpfe Stimmer von Cecile Perrin, die doch vor allem imSchluss Schaden anrichtet (wie in dem sonst sehr lobenswertem Fernand Cortèz unter Jean-Paul Pénin). Brrrrrrrr…

Eine weitere Gesamtaufnahme gibt´s aus London auf einem obscuren kleinen Label von 1977 in der ersten modernen Wiederaufnahme unter Fraser Golding am Pult der Pisa Opera Group (never heard before) mit Stella Wright in der Titelpartie, akustisch ist das eine trübe Sache.

Weiters gibt es Einzelschönheiten wie Joyce DiDonato mit „Ô frêle corps… Chère Cyrpris“ (Erato), Nathalie Manfrino mit C’était si beau! (Decca), eine Dame namens Rima Tawil singt dies ebenfalls, dem orchestralen Lamento der Ariane mit Richard Bonynge (Decca). Sogar das Zwischenspiel zu Akt 4 gibt´s  für zwei Harfen und das kurze Ballett in Akt4 für Klavier. Enorm. Zudem finden sich jede Menge alter Franzosen (Muratore, Thill, Marguérite Mérenthie – die es in die historischen Urnen der Pariser Opernkeller 1907 geschafft hatte) auf zwei Massenet-CDs bei Malibran. G. H.

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Massenets „Ariane“: Bühnenbild zur Wiederaufführung 1937 an der Pariser Opéra Garnier/ BNF Gallica

Florian Heurich: Nach einer gewissen Fin-de siècle-Opulenz in der Kunst machte sich um 1900 zunehmend ein Interesse an der Antike bemerkbar und damit am Klassischen und Archaischen. Rund fünfzig Jahre zuvor hatte Hector Berlioz mit Les troyens bereits das unumstößliche Monument eines antiken Sujets aus dem Blick der Romantik geschaffen, und insbesondere das Spätwerk von Jules Massenet war dann geprägt von Stoffen aus dem Altertum und der Mythologie. Die 1906 uraufgeführte Ariane steht am Beginn dieser Phase, darauf folgten noch der als Fortsetzung und Partnerstück konzipierte Bacchus (Uraufführung 1909) sowie Roma (1912) und Cléopâtre (posthum 1914). „Es war vor vier oder fünf Jahren, ich hatte gerade Le jongleur de Notre-Dame beendet, als ich zu meinem Verleger sagte: Da ich schon bis ins 13. Jahrhundert zurückgegangen bin, würde ich nun gerne bis in die Antike gehen“, äußerte Massenet wenige Tage vor der Uraufführung von Ariane in einem Zeitungsartikel. Gerade in dieser Oper werden der Klassizismus und die mythologische Geschichte jedoch mit Zutaten aus der Kunst der Jahrhundertwende angereichert: Symbolismus, ein Hang zur Morbidität, Gegenüberstellung von reiner und erotischer Liebe, sinnliche Opulenz, verklärender Erlösungstod, thematische und musikalische Bezüge zu Wagner.

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Massenets „Ariane“: Lucy Arbelle war Massenets Favoritin, mit ihr verband sich eine intime Beziehung; sie sang die Perséphone/ BNF Gallica

Insbesondere in ihrer Wagner-Verehrung fanden sich mit Massenet und seinem Librettisten Catulle Mendès zwei Geistesverwandte. Beide hatten das legendäre Pariser Tannhäuser-Fiasko 1861 miterlebt, Mendès besuchte Wagner 1869 sogar in Tribschen am Vierwaldstättersee und reiste 1876 zu den ersten Festspielen nach Bayreuth. Massenet wiederum sah den Ring in Brüssel und kam 1886 nach Bayreuth. So ist Ariane nicht nur durchzogen von einigen wiederkehrenden Motiven, durch die Massenet an Wagners Leitmotivtechnik anknüpft, es gibt bisweilen auch Bezüge zu Wagners Gedankengut und zu inhaltlichen Elementen: Die Sirenen am Beginn und am Ende erinnern etwa an die Rheintöchter, der Kampf Thésées mit dem Minotaurus an Siegfrieds Drachenkampf, und in Arianes Tod schwingt die Idee eines erlösenden Selbstopfers mit. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die beiden Sopranistinnen Lucienne Bréval und Louise Grandjean, die bei der Uraufführung Ariane und Phèdre sangen, fast zeitgleich in Paris und an anderen europäischen Bühnen als Brünnhilde, Isolde oder Kundry zu hören waren. In der Aufführung von 1937 war die große Germaine Lubin als Ariane zu erleben, ebenfalls eine berühmte Wagner-Sängerin. G. H.)

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Gleichzeitig ist Massenets Oper über den in der Ägäis angesiedelten Ariadne-Mythos aber auch ein mediterraner Gegenentwurf zur germanischen Sagenwelt und ein Aufbruch in eine neue künstlerische Phase mit einem neuen Themenbereich. Die zuvor entstandenen Opern Grisélidis (Uraufführung 1901) und Le jongleur de Notre-Dame (1902) sowie das über viele Jahre sich hinziehende Projekt Amadis (posthum 1922) spielten allesamt in einem mittelalterlichen Umfeld, und mit Chérubin (1905) wurde ein stilisiertes Rokoko-Ambiente à la Mozart heraufbeschworen.

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Massenets „Ariane“: Lucien Muratore war der erste Thésée/ BNF Gallica

Bei Catulle Mendès hatte es Massenet dann mit einem der prominentesten französischen Literaten des späten 19. Jahrhunderts zu tun, den eine gewisse Exzentrik umgab und in dessen Werken die Dekadenz des Fin de siècle mitschwingt. Die 1904 begonnene gemeinsame Arbeit an Ariane, die später mit Bacchus fortgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch als schwierig. Obwohl – oder gerade weil – die beiden Künstler ästhetisch und gedanklich auf einer Wellenlänge lagen, führten Misstrauen und Animositäten dazu, dass sich ihre Treffen auf das absolut Notwendige beschränkten. Gegenüber der Öffentlichkeit beteuerte Massenet jedoch immer wieder die gegenseitige Inspiration: „Schon in unserem ersten Gespräch, noch bevor ich selbst etwas über die Themen, an die ich gedacht hatte, gesagt hatte, sprach der Dichter den Namen Ariadne aus: Das war mehr als genug, um mich dazu zu bringen, meine Gedanken zu präzisieren.“

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Im Oktober 1905 war das Werk fertig, und die Uraufführung am 31. Oktober 1906 im Palais Garnier geriet zu einem großen Erfolg, sodass die Oper 61 Mal gegeben wurde, bevor man sie 1908 aus dem Programm nahm. Insbesondere der III. Akt, der auf der Insel Naxos spielt und mit seinen vielfältigen Personenkonstellationen, Gefühlsumschwüngen, zentralen Handlungsmomenten und musikalischen Höhepunkten der komplexeste des Stücks ist, erhielt einhelliges Lob, und die Arie der Perséphone aus dem vierten Akt musste jeden Abend wiederholt werden. Diese nur in einer kurzen Episode auftauchende Rolle hatte Massenet eigens für die junge Mezzosopranistin Lucy Arbell (mit bürgerlichem Namen Georgette Wallace) konzipiert, inspiriert durch deren Anregungen während eines Sommeraufenthaltes in ihrem Haus in Saint-Aubin-sur-Mer in der Normandie im August 1905. Überhaupt hatte er den in die Unterwelt führenden IV. Akt nur dieser Sängerin zuliebe in die Oper eingefügt, und als Widmung schrieb er in den Klavierauszug: „In zärtlicher und dankbarer Erinnerung an das liebe Haus in St-Aubin schenke ich Fräulein Georgette Wallace dieses Manuskript, von dem ein ganzer Akt für Lucy Arbell von der Opéra komponiert wurde.“

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Massenets „Ariane“: Szene aus der Aufführung in Saint-Etienne/ OMSTE

Neben Perséphone, dieser Figur der Unterwelt, die sich in zarter Melancholie nach allem Lebenden sehnt, haben Massenet und Mendès mit den drei Hauptfiguren Ariane, ihrer Schwester Phèdre und Thésée zwar ein klassisches Liebesdreieck aus Ehefrau, Nebenbuhlerin und untreuem Mann geschaffen, durch die familiären Beziehungen der beiden Frauen eröffnet sich jedoch ein breites Gefühlspektrum zwischen den Figuren. Zärtliche Hingabe und lodernde Passion treffen auf schwesterliche Liebe und Eifersucht. Als vierte Hauptfigur repräsentiert Pirithoüs genau jene kämpferische Kraft, die Thésée zunehmend seinen sentimentalen Gefühlen und seiner Zerrissenheit zwischen den zwei Frauen und damit zwischen Liebe und Leidenschaft opfert.

Massenets „Ariane“: Jean-Francois Delmas war der Périthoués der Uraufführung/ BNF Gallica

Mendès, der in seinen ausführlichen Szenenanweisungen sehr konkret die Schauplätze, Situationen und das Bühnengeschehen beschreibt, entwirft auch sehr genaue Charaktere: „Ariane ist die instinktive, absolute Liebe, ohne intellektuelle Hindernisse, ohne subtilen Unterton: die Liebe, die mit sich selbst zufrieden ist und sich mit allem abfindet, solange es Liebe bleibt. Ariane ist die zarte Frau, die sogar Lügen und Beleidigungen akzeptiert, solange sie geliebt wird und vor allem, solange sie liebt. […] Phèdre ist die vom Schicksal aufgezwungene Liebe, die Fatalität der Leidenschaft. […] Thésée ist die junge, sehr starke und sehr charmante Männlichkeit.“

Massenet zeichnet all diese kontrastierenden Charaktereigenschaften in der Musik nach. So ist Ariane erfüllt von lyrischer Innigkeit, während Phèdre eine zum Teil durchaus dramatische Partie voller expressiver Ausbrüche zu bewältigen hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt, wenn Ariane a cappella in höchster Lage von ihrem „zerbrechlichen Körper“ singt, der „zu schwach für so viel Liebe“ ist, in dem darauffolgenden Gebet an die Liebesgöttin und in ihrer Arie „La fine grâce de sa force“, deren Melodie im weiteren Verlauf der Oper noch mehrmals motivisch auftaucht, offenbart sich der zarte Charakter der Titelfigur. Ihre Schwester hingegen präsentiert sich mit exaltierten Rufen von hinter der Bühne und einer wilden Verfluchung eben dieser Göttin Aphrodite. Auch während des nachfolgenden Kampfes Thésées mit dem Minotaurus werden die beiden so unterschiedlichen Frauentypen deutlich: Die eine wagt kaum hinzuschauen, die andere beobachtet voller Faszination das blutige Geschehen – die Lichtgestalt Ariane einerseits und andererseits das Nachtwesen Phèdre, die Kriegerin, die sich der Jagdgöttin Artemis verschrieben hat. Unter Fanfaren erscheint schließlich Thésée als strahlender Held, der das Ungeheuer besiegt hat, und man feiert die Abreise der drei.

Der II. Akt nimmt uns mit auf das Schiff, auf dem Ariane, Phèdre und Thésée durch die Ägäis segeln, und in der sanft wiegenden ersten Szene werden all die Inseln aufgezählt und bestaunt, an denen man vorbeifährt: Delos, Paros, Melos, Andros, Lemnos. Damit ist die passende Atmosphäre geschaffen für das sinnliche Zwiegespräch von Ariane und Thésée. In diese Meeresidylle bricht Phèdre quasi als Vorbotin des Sturms ein, der sogleich ausbricht, begleitet von Phèdres rasender Anrufung des Hades. Dieser Akt, in dem sich das Gefühlsleben der Figuren in den unberechenbaren Naturgewalten widerspiegelt, endet in der Idylle des Anfangs. Dadurch kündigt sich die Insel Naxos, an der das Schiff anlegen wird, als paradiesischer Sehnsuchtsort an.

Der auf dieser Insel spielende III. Akt, das Herzstück der Oper, galt schon bei der Uraufführung als „großartiges Meisterwerk, das von allen Seiten bejubelt wurde“. Man sieht Thésée, der zunehmend Arianes überdrüssig wird, man sieht die Zuneigung zwischen den beiden Schwestern in einem intimen Duett – und die Gewissensbisse Phèdres, die sich schließlich doch zu einem leidenschaftlichen Liebesduett mit Thésée hinreißen lässt. Arianes Monolog bildet den emotionalen Höhepunkt des Akts, wenn sie erkennt, dass sie sowohl von der Schwester als auch vom Ehemann betrogen wurde. Schließlich siegt jedoch die schwesterliche Liebe, als ein Trauerzug den Tod Phèdres ankündigt. Ariane beschließt, die Schwester aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Der IV. Akt, in dem Ariane in den Hades hinabsteigt, wirkt wie ein musikalisch und theatralisch wirkungsvolles Intermezzo, das durch das morbide, irreale Ambiente und die episodisch vorkommende Figur der Perséphone die eigentliche Handlung für einen Moment unterbricht. Perséphone, die Göttin der Unterwelt, taucht hier als melancholische Weltschmerzfigur auf und damit als ein weiterer Kontrast zur strahlenden Ariane. Hier kommen auch die Dekadenz des Fin de siècle und der Symbolismus des Librettos am deutlichsten zum Ausdruck, etwa indem Perséphone durch eine schwarze Lilie charakterisiert ist, während Arianes frische Rosen ein Stück Leben in das Reich der Toten bringen. Auch die Ballettszene, der Widerstreit der drei Furien und der drei Grazien, lässt diesen Akt als dunkle, allegorische Episode innerhalb der mythologischen Liebesgeschichte erscheinen.

Als ein regelrechter Coup de théâtre taucht Ariane mit der wieder zum Leben erweckten Phèdre im letzten Akt aus der sich öffnenden Erde auf und vereint die Schwester mit Thésée, während sie selbst verzichtet. Wenn sie am Ende dem Gesang der Sirenen folgend ins Meer geht, dann weist diese letzte Szene durchaus beabsichtigte Parallelen zu Wagners Rheintöchtern auf. Nach einem letzten ekstatischen Monolog verschmilzt Arianes Stimme mit denen der Wasserwesen, und sie wird eins mit dem Meer, das bereits zuvor ein zentrales Motiv der Oper war – als Spiegel der Emotionen, zerstörerisch und erlösend zugleich. Florian Heurich 

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Erlaubnis zur Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters 29. Januar 2023. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Wiedergutmachung

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Als erstes flößt Karin Meesmanns Buch mit dem Titel Pál  Ábrahám-Zwischen Filmmusik und Jazzoperette Ehrfurcht ein, ganz profan wegen seines mehrere Kilo umfassenden Gewichts (man ist froh, dass man es nicht bei der Post abholen musste, weil ein Nachbar sich seiner annahm), dann wegen des Portraits auf dem Titelblatt, das einen Komponisten mit schwermütig gesenktem Blick zeigt. Das Foto stammt aus dem Jahr 1938 und wurde aufgenommen, als der in den Zwanzigern und frühen Dreißigern in Berlin und anderswo in Deutschland gefeierte Komponist im italienischen, heute kroatischen Ausland sein Auskommen suchen musste, ehe er mit dem Umweg über Kuba in den USA landete, verwirrt auf einer Kreuzung zu dirigieren versuchte und in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht wurde. Beinahe obszön wirken in diesem Zusammenhang die ebenfalls auf dem Cover abgebildeten blonden Schönheiten, die des Komponisten Musik auf der Bühne und im Film zum Erfolg verhalfen, bleiben durften wie Lilian Harvey oder Marika Rökk oder ebenfalls emigrierten wie Gitta Alpar oder Fritzi Massary.

Nach einer Einleitung, in der die Autorin die Quellen von Ábraháms Musik, zumindest der ihm Erfolg bringenden, den Verbunko der Zigeuner und den afroamerikanischen Jazz, und die von ihr benutzten Quellen wie Rezensionen, Daten, Briefe, amtliche Dokumente und mehr, nennt, und dem Prolog, der das Ende der Lebensgeschichte vorwegzunehmen scheint, geht sie chronologisch vor, so dass sich nach 500 Seiten ein Ring zu schließen scheint. Danach gibt es noch ca. fünfzig Seiten Anhang, vor allem ein umfangreiches Personenregister.

Nach Deutschland, aus dem er fliehen musste, wird der schwerkranke, wegen einer nicht ausgeheilten Syphilis dement gewordene Komponist mit anderen Unglücklichen zurückgeschickt, wo er, wie der Leser ganz am Schluss erfährt, noch einige Jahre in einer Anstalt, aber auch in häuslicher Gemeinschaft mit seiner in Europa gebliebenen Ehefrau verbringt. 

Bereits in diesen ersten Kapiteln kann der Leser die weite stilistische Spanne zwischen das Gefühl aufwühlender Belletristik und streng wissenschaftlicher, mit vielen Anmerkungen versehener Abhandlung bewundern und goutieren, dazu sich an dem vielfältigen Bildmaterial erfreuen. Natürlich betritt Meesmann mit der Schilderung einer Zeit, in der man noch nicht von einem N- oder einem Z-Wort, das man heute auf keinen Fall benutzen darf, sprach, sondern sich der Begriffe ungeniert bedienen durfte , stark vermintes Gelände, tut aber das einzig Richtige, indem sie über diese Zeit in den damals üblichen Begriffen ohne sprachliche Verrenkungen schreibt.

Allein fast fünf Seiten umfasst das Inhaltsverzeichnis, das es dem Leser erlaubt, sich allein durch das Lesen desselben bereits ein wenn auch oberflächliches Bild dessen zu verschaffen, was ihm bevorsteht. Es geht um die Herkunft Ábraháms aus der erst ungarischen, nach 1919 serbischen Batschka, in der übrigens bis 1945 auch viele deutsche Siedlungen waren. Oft wird ein Stein namens Pál Ábrahám ins Wasser geworfen und zieht weite Kreise, so die Geschichte der ungarischen Oper oder die des ungarischen Films, die Musik der Roma, die ungarische Volksmusik, und in einem Exkurs gibt es sogar eine Analyse mit Notenbeispielen aus Viktoria und ihr Husar. In einem ständigen Wechsel zwischen Biographischem und allgemein Historischem wie der Entwicklung des Antisemitismus in Ungarn wird übergegangen zu ersten Kompositionen wie einer Ungarischen Serenade, einem Cellokonzert und einer Puppenoper, und es wird deutlich, dass Ábrahám seine Zukunft eigentlich in der Oper, in jedem Fall aber in der Klassik sah, durch erste Erfolge mit Chansons aber in eine andere Richtung getrieben wurde, wozu auch das Studium an der Handelsakademie und die Gründung einer Agentur gehörten.

Die „Revolution des Gesellschaftstanzes“, die Hinwendung zu Charleston und Shimmy eröffnet neue Möglichkeiten im Komponieren von „Futtermusik“, die ihren Erzeuger ernähren kann. Das Buch vermittelt einen Überblick über diese aus Amerika stammende Unterhaltungsmusik, zeigt zudem auf, wie Ábrahám zu Jazzrevue und Filmmusik kam, über Kompositionen zur Begleitung von Stummfilmen, zu seiner ersten Operette Zenebona und dem ersten großen Erfolg mit Viktoria und ihr Husar, wo das seriöse Paar noch Walzer tanzt, während beim Buffopaar Foxtrott und Csardas den Ton angeben. Um die Figur von Ábrahám herum entfaltet die Autorin ein detailreiches Bild vom kulturellen Leben der Zwanziger, einschließlich Josefine Baker und Jonny spielt auf, der Neuaufstellung des Orchesterapparats einschließlich Jazzinstrumenten, der Geschichte des Tonfilms im allgemeinen und der UFA im besonderen. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ ist nicht von Ábrahám, aber der Text stammt von einem der Gebrüder Rotter, die eine wesentliche Rolle im Buch spielen. Über deren tragisches Schicksal erschien vor einiger Zeit ein umfangreiches Buch. Die Musik zum Erfolgsfilm Die Drei von der Tankstelle kann Ábrahám nicht komponieren, weil er erkrankt, doch mit Ball im Savoy, Die Blume von Hawaii, Märchen im Grandhotel und Roxy und ihr Wunderteam schreibt er sich in die Annalen der Operetten- und Filmmusik.

Eine weite Spanne ist es zwischen der Darstellung der Aufführungspraxis der Jazzoperette zum tragischen Schicksal der Renate Müller, der Privatsekretärin im gleichnamigen Film mit der Musik von Pál Ábrahám, so wie zwischen den flotten Unterhaltungsfilmen der Zwanziger und Dreißiger und ihren lauen, flauen Remakes in den Fünfzigern. Vermarktung und Urheberrechte und die Entstehung des Schlagers „Ich bin ja heut‘ so glücklich“ aus einem Ausruf werden gleichermaßen berücksichtigt, Otto Braun und der Preußenschlag  sowie Carl von Ossietzky behaupten sich neben den großformatigen Filmplakaten und den Ansichten der Villa in der Fasanenstraße, derer sich das Paar nur für kurze Zeit erfreuen kann. Da ist es gut, dass vieles auch in die Anmerkungen ausgelagert wurde, damit der Leser den Überblick nicht verliert. Mit Begriffen wie dem der „Reichsfluchtsteuer“ deutet sich das kommende Unheil an, für kurze Zeit bieten Wien, Budapest, Holland noch Auftrittsmöglichkeiten, ehe Austrofaschismus und schließlich der Krieg  Scharen deutscher und aus anderen Ländern stammender Künstler in die USA treiben, wo es wohl noch Arbeiten an einem Potemkinfilm gibt. Ein Appell von Künstlern erwirkt nach 1945 die Rückführung des Komponisten nach Deutschland- oder war es eine Abschiebung? Nach einer Knieoperation stirbt Ábrahám in Hamburg. Ein Epilog würdigt ihn u.a. als Erfinder der Jazzband im inner circle inmitten des Orchesters und  sieht eine Art Wiedergutmachung an der Berliner Komischen Oper, früher Metropol Theater, durch Barrie Kosky. Als solche kann sich aber auch dieses so sympathische wie faktenreiche Buch ansehen (Karin Meesmann: Pál Ábrahám – Zwischen Filmmusik und Jazzoperette; Hollitzer; Wien 2023; 550 Seiten; ISBN 978 3 99094 016 7). Ingrid Wanja  

     

Félicien Davids „Lalla-Roukh“

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Während Halevys Shakespeare-Oper La tempesta nicht überzeugen konnte, brachte Davids Lalla-Roukh dem 71. Festival von Wexford 2022 die Ehre zurück. Es ist schwer zu verstehen, warum dieses Werk, das so voller kontinuierlicher und einprägsamer Melodien ist, nicht zum Standardrepertoire gehört, und doch war Wexfords Produktion erst die zweite Wiederaufnahme in der Neuzeit und die erste in Europa. Die erste Wiederaufnahme erfolgte durch die amerikanische Opera Lafayette, die Lalla-Roukh 2013 in Washington und New York aufführte; bei einer späteren CD-Aufnahme bei Naxos dieser Aufführung wurden alle gesprochenen Dialoge gestrichen, die von der frankophonen Besetzung in New York gekonnt vorgetragen worden waren. G. H.

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Dazu zum einen die Rezension der bislang erstmaligen europäischen Aufführung aus Wexford 2022 von Charles Jernigan, zum anderen und zuvor den einführenden Artikel Ralph P. Locke zur Oper anlässlich der Erstaufnahme bei Naxos von der Opéra Lafayette unter Ryan Brown 2013, den wir mit Dank dem Booklet zur Einspielung entnahmen.

Ralph P. Locke: Felicien David (1810-1876) Lalla Roukh. Die Literatur und die Künste reagierten auf dieses wachsende Bewusstsein für die fernen Länder und Kulturen mit einer Flut von Romanen, Kurzgeschichten, Theaterstücken, Gemälden und Buchillustrationen, die alle vorgaben, ein Gefühl für das Leben im „Osten“ (oder „Orient“) zu vermitteln – ein Begriff, der damals alle Länder der riesigen Region von Nordafrika, der Türkei und der arabischen Halbinsel bis nach Südasien, China und Japan umfassen konnte. Museumsbesucher können diese Faszination heute dank der lebendigen Gemälde – von Ingres, Delacroix und anderen – von Haremsfrauen und arabischen Häuptlingen nachvollziehen. Selbst wenn Schriftsteller und Maler die Länder, die sie darstellten, nicht persönlich kannten, fühlten sie sich oft frei, die extravaganten Fabeln zu imitieren, die sie in Tausendundeiner Nacht (erstmals 1707-14 übersetzt) gelesen hatten, Fabeln, die zwar auf Arabisch geschrieben waren, aber manchmal in weiter östlich gelegenen Ländern wie Persien oder Indien spielten.

Davids „Lallah-Roukh“: Bühnenbild zuu Uraufführung/Wikipedia

Die Opernwelt, insbesondere die französische, beteiligte sich aktiv an diesem Trend, „den Orient“ für den westlichen Konsum darzustellen. Georges Bizet basierte seinen exquisiten Einakter Djamileh (1872) auf einer Haremserzählung von Alfred de Musset. Leo Delibes‘ faszinierendes Lakmé (1883) beschreibt die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung zwischen einem englischen Soldaten und der Tochter eines Brahmanenpriesters. („Lakmé“ war vermutlich eine Vereinfachung des gängigen indischen Frauennamens Lakshmi).

Einer der Pioniere des „musikalischen Orientalismus“, wie er manchmal genannt wurde, war Felicien David. Der schüchterne Musiker aus dem Dorf Cadenet in der Nähe von Aix-en-Provence war mit Anfang zwanzig als Mitglied der Saint-Simonian-Bewegung in die Türkei und nach Ägypten gereist, einer frühen sozialistischen (oder „utopisch-sozialistischen“) Bewegung – etwa zeitgleich mit den Fourieristen und den Oweniten -, die versuchte, den Vizekönig von Ägypten davon zu überzeugen, einen Kanal durch die Landenge von Suez zu schlagen. Die Saint-Simonisten argumentierten, dass ein verbesserter Handel zwischen den Nationen eine größere gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Völkern schaffen würde, was wiederum Spannungen abbauen und Kriege verhindern würde. (Das Kanalprojekt wurde schließlich drei Jahrzehnte später von einem internationalen Konsortium aus Regierungen und Banken verwirklicht).

David: „Lalla-Roukh“/ Frontespiece zum  Walzer aus der Oper als Klavierauzug in New York/Wikipedia

Nach der Rückkehr der Missionare aus Saint-Simon nach Frankreich begann David, Klavierstücke und Lieder zu veröffentlichen, die auf Melodien und Trommelrhythmen basierten, die er im Nahen Osten gehört hatte. Im Dezember 1844 machte er in der Pariser und internationalen Musikpresse Schlagzeilen mit der Uraufführung von Le desert, einem weltlichen Oratorium mit gesprochener Erzählung, das eine arabische Karawane, den vom Wind verwehten Wüstensand und die Wonnen der Nacht in einer Oase beschreibt. Le desert ist erst kürzlich durch den Mitschnitt einer Live-Aufführung in Berlin (1989) wieder in das Bewusstsein des musikbegeisterten Publikums gerückt (dazu auch den Artikel in operalounge.de im Rahmen der „Vergessenen Oper“).

Felicien David ließ Le desert weitere Werke folgen, die an Orte erinnern, die im Westen eher als exotisch empfunden werden. Dazu gehören zwei biblische Oratorien (das eine handelt von Moses auf dem Sinai, das andere von Adam und Eva im Garten Eden); ein Werk – wiederum mit gesprochener Erzählung – über Christoph Kolumbus‘ erste Reise in die Karibik (es enthält einen „Tanz der Wilden“ und ein Wiegenlied, gesungen von einer reinen Indianerin); und La perle du Bresil, dessen Hauptfigur eine Eingeborene aus Südamerika ist, die sich in einen portugiesischen Seemann verliebt. Davids nicht exotische Instrumentalwerke – vor allem mehrere Klaviertrios, Streichquartette und kurze Stücke für Streichquintett – wurden vor kurzem mit großem Erfolg in Konzerten und auf Tonträgern wiederaufgenommen. Aber das wohl stärkste seiner Werke ist eine andere exotische (oder spezifisch „orientalistische“) Oper, Lalla Roukh (1862), die dank der Opera Lafayette nun zum ersten Mal seit vielleicht einem Jahrhundert oder mehr wiederaufgeführt wird.

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David: „Lalla-Roukh“/Emma Calvé im Kostüm der Titelheldin/Wikipedia

Lalla Roukh, benannt nach ihrer Hauptfigur, basiert auf einem viel gelesenen literarischen Werk, Lalla Rookh, des irischen Dichters (und Freund von Lord Byron) Thomas Moore. Die Rahmenhandlung in Moores Buch ist eine Prosaerzählung über eine mogulische – also muslimische – Prinzessin aus Delhi, die nach „Bucharia“ (Buchara, im heutigen Usbekistan) reist, um den Mann zu treffen, mit dem sie verheiratet werden soll. Auf dem Weg dorthin singt ihr ein Minnesänger namens Feramorz vier bemerkenswerte Geschichten vor und gewinnt nach und nach ihre Liebe. (Moore hat diese vier Geschichten nicht in Prosa, sondern in Versen verfasst.) Am Ende der Reise erfährt die Prinzessin zu ihrer Freude, dass Feramorz in Wirklichkeit der verkleidete König von Bukarien ist. Moore stellt abschließend fest, dass der König, der ihre Liebe als einfacher Minnesänger gewonnen hatte, es nun verdiente, sie als König zu genießen“, und fügt hinzu, „dass die entzückte Lalla Rookh in Erinnerung an ihre gemeinsamen Reisen den König nie bei einem anderen Namen als Feramorz nannte“.

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Robert Schumann hat eine der vier Erzählungen des Buches als Grundlage für sein Oratorium Paradies und die Peri (1843) verwendet. Die Librettisten von Lalla Roukh, Michel Carre und Hippolyte Lucas, entschieden sich stattdessen dafür, die grundlegende Prosaerzählung der Prinzessin und des Minnesängers zu adaptieren; sie benannten die letztgenannte Figur in Noureddin um und entfernten jede Erwähnung des Islams und der Moguln, wodurch sie die Handlung aus der jüngeren Geschichte herauslösten und ihr eher einen märchenhaften Charakter verliehen. (Der Kämmerer Baskir beschwört mehrmals Brahma und gibt sich damit eindeutig als gläubiger Hindu zu erkennen.) Lalla Roukh wurde 1862 in Paris (an der Opera Comique) uraufgeführt. Es wurde sofort als ein Höhepunkt in Davids abwechslungsreicher Karriere anerkannt und erreichte in weniger als einem Jahr hundert Aufführungen. Eine Musikzeitschrift berichtete, dass der Klavierauszug, der in einer Auflage von 1000 Exemplaren erschien, bereits am ersten Morgen ausverkauft war.

„La perle du Brésil“/Poster für die Oper von David/OBA

Kein anderes Stück aus Lalla Roukh erlangte jemals den dauerhaften Ruhm von „Charmant oiseau“, einer Arie mit Flötenobligato (aus La perle du Bresil), die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von vielleicht einem Dutzend berühmter Sopranistinnen aufgenommen wurde, darunter Luisa Tetrazzini, Emma Calve, Mado Robin und in jüngerer Zeit Sumi Jo. Doch die Partitur von Lalla Roukh ist mit Juwelen gespickt. Häufig bewundert wurden seinerzeit die Nummern mit dem mehr oder weniger komischen „zweiten Paar“: Mirza, Lalla Roukhs Diener, und Baskir, der pompöse und hinterhältige Kammerherr des Königs von Buchara. Baskir erhält zwei melodiöse Strophenlieder, in denen er seinem Ärger („De pres ou de loin“ (CD 1 4)) und später seiner Angst („Ah! funeste ambassade (CD 2 5)) Luft machen kann. In ähnlicher Weise erhält Mirza eine Reihe attraktiver Strophenpaare (Baskir wird als alt und dumm verspottet: „Si vous ne savezplus charmed“. (CD 1 0)).

Besonders bezaubernd ist ein komisches Duett („Tout ira bien demain“ (CD 2 7)) für Baskir und den Minnesänger Noureddin, in dem die beiden einen Plan entwickeln – und darüber lachen -, um den großen König von Buccharie zu überlisten. Da Noureddin in Wirklichkeit eben dieser König ist, ist der wahre Betrüger Baskir, der sowohl dem Publikum als auch seinem (unerkannten) Meister wie wenig vertrauenswürdig er ist. Opernliebhabern mag die generelle Ähnlichkeit zwischen diesem Duo-Bouffe und einem der wunderbarsten komischen Ensembles der gesamten Oper auffallen: dem Quintett des zweiten Aktes in Bizets Carmen (1875) für die Titelfigur und die vier Zigeunerschmuggler („Nous avons en tete une affaire“). Beide Nummern enthalten einen kontrastierenden langsamen Mittelteil, der die Rückkehr der schnellen Eröffnungsmusik (mit im „Patter“-Stil gesungenen Worten) noch atemloser klingen lässt als zuvor. Bizet war sicherlich vertraut mit

Davids Werk vertraut. Die Ähnlichkeit könnte jedoch eher darauf zurückzuführen sein, dass sich beide Komponisten an den Normen der französischen komischen Opern und Operetten zeitgenössischer Komponisten wie Auber und – ab den 1850er Jahren – Offenbach orientierten.

David: „Lalla-Roukh“/Illiustration von David selbst und das Frontespiece zur Ausgabe seiner Oper/Wikipedia

Vielleicht neidisch auf die Aufmerksamkeit, die David immer wieder erhielt, wurde Auber mehrmals mit den Worten zitiert: „Ich wünschte, er würde von seinem Kamel herunterkommen!“ Mit anderen Worten: Gibt es in David mehr als sanfte Beschwörungen von fernen, halb erdachten Schauplätzen? Die vielen Stärken von Davids großer Oper Herculanum (1859, im alten Rom angesiedelt und beim Palazzetto Bru Zane als CD erschienen) sind eine klare Antwort auf Aubers Spott. Aber das gilt auch für die bereits erwähnten effektvollen komischen Nummern in Lalla Roukh, von denen keine im musikalischen Stil exotisch ist.

Das Gleiche gilt für die beiden bemerkenswerten Arien der Titelfigur, die jeweils zu Beginn des jeweiligen Aktes stehen: Sous le feuillage sombre“ (CD 1 3) und „O nuit d’amouf“ (CD 2 2). Die melodischen Linien in diesen beiden Sopranarien sind so schön geformt und so geschickt harmonisiert und orchestriert, dass man sich fragt, warum sie noch nicht den Weg in Arienkonzerte und -aufnahmen gefunden haben. Die emotionale Tiefe von Davids Prinzessin aus Delhi wird hier anschaulich dargestellt und lässt uns an ihrem Schicksal teilhaben. Besonders hinreißend ist die eröffnende Gesangsmelodie der ersten Arie: Auf eine fünftaktige Phrase folgt eine siebentaktige Phrase, die die Unkonventionalität der Prinzessin, aber auch ihre Unruhe andeuten soll. Das Unbehagen von Lalla Roukh ist verständlich: Sie ist einem fremden König versprochen, den sie nie kennengelernt hat, und wird sich allmählich eines einsamen, wortgewandten Mannes bewusst, der Nacht für Nacht in ihrer Nähe süß singt. Die zweite melodische Phrase ihrer Arie dehnt sich über den ersten Taktschlag hinaus – „mes yeux ont pu le voir“ – und lässt die Musik weiterfließen, als wolle sie ihre innere Sehnsucht signalisieren.

David: „Lalla-Roukh“/Buchwerbung für den Roman von Moore/Danaorg

Der aufrichtige, liebevolle Mann, der Lalla Roukh ein Ständchen bringt, ist natürlich Noureddin (d. h. der König von Buchara). Vielleicht weil er sich so sehr bemüht, wie ein Inder von bescheidener Herkunft zu klingen, gibt ihm der Komponist ein Gesangssolo, das mit auffälligen pseudo-östlichen Anklängen versehen ist, die typisch für französische Werke dieser Zeit sind, die im Nahen Osten, in Zentralasien oder in Indien spielen. Diese Romanze, „Ma maftresse a quitte la tente“ (CD 1 9) – aufgeführt von

Noureddin auf Anweisung von Lalla Roukh – dient als Kernstück eines ausgedehnten Szenenkomplexes in der Mitte des 1. Aktes (im 2. Akt wird Noureddin eine nicht weniger attraktive Barcarolle singen: uO! ma mattresse? (CD 2 6).) Wir können diesen exotischen Stil – mit seinen schnellen, trommelähnlichen Rhythmen auf dem Abwärtsschlag, seinen lang ausklingenden Pedaltönen (auf der Tonika, der Dominante oder einer offenen Quinte) und seiner dekorativen Verwendung chromatischer Bewegungen (hier dem Orchester zugewiesen) – als ein identifizierendes musikalisches Merkmal der Unterschicht (oder der niedrigen Kaste) des Ostens betrachten. Viele der gleichen stilistischen Merkmale finden sich in dem klangvollen Chor für die Sklaven der Prinzessin, die das Abendmahl servieren, der dieselbe Szene einleitet und beendet („Voici le repas du soi?“ (CD 1 5)). Einige der gleichen exotischen Elemente tauchen auch in den Ballettnummern des 1. Aktes auf. Hier werden die unaufhörlichen Trommelrhythmen durch Tamburine unterstrichen, und manchmal werden eigenartige melodische Phrasen einer Solo-Oboe zugeordnet, als ob sie ein „nasal“ klingendes Instrument wie die Schlangenbeschwörer des Nahen Ostens und Indiens imitieren sollten, die zu jener Zeit oft gezeigt wurden.

David: „Lalla-Roukh“/Figurine zur Uraufführung/Wikipedia

„Orientalische“ Züge tauchen wieder in der Orchesterbegleitung eines Abschnitts des Liebesduetts für Lalla Roukh und Noureddin auf (bei den Worten „Charmante vallee, de fleurs etoilee“ (CD 1 !): Bezauberndes Tal, mit Blumen übersät). Die „Entscheidung“ des Orchesters, der von Lalla Roukh gesungenen und dann von Noureddin wiedergegebenen Musik diese Färbung hinzuzufügen, verkündet, dass diese beiden Menschen trotz oberflächlicher Unterschiede Seelenverwandte sind, und deutet an, dass Lalla Roukh schließlich die Kraft finden wird, der Welt ihre Liebe zu dem bescheidenen Sänger der Märchen zu erklären. Das kunstvolle Duett wird mit einer kraftvollen Erklärung Noureddins zu den Worten „Ah! je ne suis, helas, qu’un pauvre poete“ (Ach, ich bin nur ein armer Dichter!) fortgesetzt. Noureddins Melodie ähnelt hier Melodien, die Donizetti einigen seiner Tenorhelden zugewiesen hat (z. B. Edgardos letzte Cabaletta in Lucia di Lammermoor „Tu che a Dio spiegasti gl’ali“). Vermutlich wollte der Komponist damit die aufrichtige Hingabe Noureddins an diese Frau betonen, die – wie er behauptet – weit über seinem bescheidenen Stand steht. Wenn Noureddins erstes Solo ihn als einen „Orientalen“ aus einer niedrigeren Kaste auswies, so hilft uns dieser temperamentvolle Schrei italienischer dolore zu spüren, dass er – d. h. der König in der Verkleidung des Spielmanns – voll und ganz verdient.

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David: „Lalla-Roukh“/Buchillustration aus der Ausgabe von Thomas Moores Roman Paris 1886/Doverpress

Dass Davids Oper an einem magischen Ort spielt, wird durch die Musik verdeutlicht, die sofort erklingt, wenn sich der Vorhang hebt. Ebenso wie die Bühnenbilder und Kostüme (in der ursprünglichen Inszenierung gehörten dazu eine gemalte Kulisse mit Gipfeln des Himalaya und, was noch merkwürdiger ist, Bananenstauden), erzeugt auch Davids Musik den Eindruck einer fernen Andersartigkeit – wiederum ohne exotische musikalische Mittel. Die Diener der Prinzessin staunen über das fruchtbare Land, in dem sie, müde von der Reise, übernachten können („C’est ici le pays des roses“ (CD 1 2): Hier ist das Land der Rosen“), und ihre Melodie, die so anmutig und formschön ist wie jede in der leichten Oper des 19. Jahrhunderts, entführt uns in die besondere, halb imaginäre Welt, die Moore und die Pariser Librettisten erdacht haben.

In diesem geheimnisvollen Land hielten sich Davids Zeitgenossen gerne auf. Den Opernliebhabern von heute geht es vielleicht genauso. Lalla Roukh hat viel zu lange darauf gewartet, wiederentdeckt zu werden. Leon Durocher, der die erste Inszenierung in der Revue etgazette musicale de Paris besprach, hatte absolut Recht: „Alles an ihr ist fein, vornehm, edel und elegant. Die Melodie fließt reichlich, und die Harmonie ist immer einfach und natürlich, aber nie banal. Die Orchestrierung breitet geniale und prächtige Farben vor unseren Augen aus (sozusagen)“. Welch eine Freude, diese Oper aus den verstaubten Regalen zurückzuholen, in die sie zu lange verbannt warRalph P. Locke

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Den Artikel von Ralph P. Lockes entnahmen wir mit Dank aus der Naxos-Aufnahme der Oper von 2013/8.660338-39;  übersetzt durch DeepL/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Und nun Charles Jernigan zur Aufführung der Oper in Wexford 2022: Lallah-Roukh balanciert die Liebesgeschichte mit einer Reihe von komischen Figuren aus: dem Botschafter, der die Prinzessin nach Samarkand bringen soll, Baskir (ein Bass) und der Hofdame der Prinzessin, Mirza.  Die Musik ist üppig und melodiös und geschickt instrumentiert.  Die „orientalische“ Atmosphäre wird durch den Einsatz bestimmter Instrumente und Harmonien erreicht, wobei keine authentischen indischen oder persischen Melodien verwendet werden.  Es ist schwer zu verstehen, warum eine Oper, die einst so beliebt war, nach 1900 so schnell und vollständig von der Bildfläche verschwand, obwohl sie in den letzten 40 Jahren des 19.

Lalla Roukh war auch sehr einflussreich, da sie praktisch die erste der „orientalischen“ Opern war.  Man kann Bruchstücke davon in Berlioz‘ Les Troyens (Berlioz war voll des Lobes über das Werk), in Les pêcheurs des perles und Carmen sowie in Lakmé hören.  Wenn Davids Werk überhaupt überlebt hat, dann nur durch die Werke anderer, bekannterer Komponisten.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Wexfords Inszenierung, wie auch die der Opera Lafayette vor einem Jahrzehnt, trug der lautstark geäußerten Kritik Rechnung, dass „orientalische“ Opern Artefakte des Kolonialismus seien (???) und verbannt werden sollten (sogar Madama Butterfly!). Die Musik bietet jedem Hauptdarsteller eine Arie in jedem Akt.  Die beiden Arien der Lalla Roukh sind erstaunlich abwechslungsreich und schön: „Sous le feuillage sombre“ und „O nuit d’amour“.   Noureddin, der Minnesänger-König, singt im ersten Akt eine Romanze in typischer Couplet-Form („Ma maitresse a quitté la tente“), um die Prinzessin zu unterhalten, und im zweiten Akt singt er außerhalb der Bühne eine Barcarolle („O, ma maitresse“), ein äußerst charmantes Stück, das sicherlich von Ernestos Serenade in Donizettis Don Pasquale inspiriert wurde.  In beiden Akten gibt es Duette, und eines davon, ein komisches Duett zwischen Baskir und Noureddin, in dem ersterer darüber lacht, wie er den König überlisten wird, ohne zu wissen, dass er dem König in Verkleidung gesteht, könnte uns an das Schmugglerquintett in Carmen (1875) erinnern, würde aber die frühen Zuhörer von Carmen an Lalla-Roukh erinnern.  Das Liebesduett im zweiten Akt endet mit einem Abschnitt, der Ralph Locke, einen Musikwissenschaftler, der über David geschrieben hat, an Edgardos „Tu Che a Dio spiegasti l’ali“ in Lucia di Lammermoor erinnert. In Davids Händen sind all diese Nummern von einzigartiger Schönheit und suggestiver Wirkung.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Gabrielle Philiponet, ein hervorragender französischer lyrischer Sopran mit einem kraftvollen unteren Register, führte die Besetzung an. Sie war eine wunderschöne und ausdrucksstarke Lalla Roukh, die das Märchen im Märchen überzeugend spielte. Pablo Bemsch, Mitglied des Young Artist Program am Covent Garden, war ihr Nourreddin, der Barde, der in Wirklichkeit ein König war. Seine Stimme war sanft im französischen Stil und hätte für die zarten Melodien, die er singt, ein wenig süßer sein können, aber auch er war überzeugend. Ben McAteer sang und spielte die komische Rolle des Baskir mit viel Humor und einer Stimme, die der Aufgabe leicht gewachsen war. Die vierte bemerkenswerte Rolle ist Mirza, der Diener von Lalla Roukh, dessen Duett mit Lalla an das Blumenduett aus Lakmé erinnert, das zwanzig Jahre später erscheinen wird. Die Mezzosopranistin Niamh O’Sullivan spielte die Rolle mit Bravour. Der bekannte Schauspieler Lorcan Cranitch gab den Erzähler mit gutem Humor und anrührender Empathie. Emyr Wyn Jones und Thomas D. Hopkinson spielten die Nebenrollen von Bakbara und Kaboul gekonnt. Stephen White dirigierte mit absoluter Überzeugung und einem Gespür für die hinreißenden Melodien.  Der Wexford Festival Opera Chorus wurde in seinen wilden, zirkusähnlichen Kostümen zu Individuen. Charles Jernigan/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator

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