Archiv für den Monat: September 2025

Thy hand, Joyce

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An Tondokumenten von Henry Purcells Dido & Aeneas besteht kein Mangel auf dem Musikmarkt, doch die Neuaufnahme bei ERATO ist mit einer exemplarischen Besetzung absolut konkurrenzfähig (5021732284884). Mit Joyce DiDonato und Michael Spyres in den Titelrollen sind zwei Sänger von Weltrang aufgeboten – beide singulär in der Vielfalt des Repertoires, in der technischen Vollkommenheit und Einzigartigkeit ihrer Timbres. Auch das begleitende Orchester, Il Pomo d´Oro, hat unter seinem Leiter Maxim Emelyanychev hohen Anteil am Ausnahmerang dieser Veröffentlichung. Sie wurde im Februar des vergangenen Jahres in der Philharmonie Essen aufgenommen und nun auf einer CD herausgebracht. Im Booklet findet sich neben den Künstlerfotos das Libretto von Nahum Tate im englischen Original sowie in französischer und deutscher Übersetzung.

Als Dido wartet DiDonato mit einer noblen Gestaltung auf, bleibt stets schlicht und diskret, sogar in der berühmten Schluss-Szene „When I am laid in earth“. Gerade weil sie in diesem Lamento auf jedes Pathos verzichtet, ist die Wirkung so stark, gipfelnde im ergreifenden „Remember me“. Danach singt Il Pomo d´Oro Choir (Einstudierung: Giuseppe Maletto) mit „With drooping wings“ einen nicht minder berührenden Abgesang. Dass die Partie des Aeneas so schmal ausgefallen ist. bedauert man angesichts der Ausnahmestimme des Baritenors Michael Spyres. Ihr dunkler, sinnlicher Klang ist erregend, im Auftritt bei „If not for mine“ auch von machtvoller Autorität. Bezaubernd singt Fatma Said die Belinda; ihre Soli am Ende des 1. Aktes, „Pursue thy conquest, Love“, und „Haste, haste to town“ im 2. sind hinreißend in ihrem stürmischen Jubel. Beth Taylor ist eine Sorceress mit üppigem Kontraalt, die bei „Wayward sisters“ furchterregend auftrumpft. Der Choir imponiert danach mit seinem Hohnlachen. Hugh Cutting ist der Spirit mit potentem Countertenor, Laurence Kilsby der Sailor mit frischem Tenor, der gemeinsam mit dem Chor bei „Come away“ für eine ausgelassene Szene sorgt.

Das Ensemble Il Pomo d´Oro lässt schon in der Overture aufhorchen mit gravitätischer Einleitung und dann rhythmisch federndem Klang. Der tänzerische Duktus des „Triumphing Dance“ am Ende des 1. Aktes und das folgende „Prelude for the Witches“ in seinem Dollergrollen sowie der „Echo Dance of Furies“ und „The Witches´ Dance“ sind weitere markante Szenen von orchestraler Pracht. Bernd Hoppe

Beachtlich

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Ein gutes Jahr für das alljährlich im Herbst stattfindende Donizetti-Festival in Bergamo war 1822, denn da wurde in Neapel des Sohnes der Stadt melodramma eroico Zoraida Di Granata uraufgeführt und stellte so nach 2022 beim Partner Wexford mit Tenor 2024 mit Mezzosopran für die Liebhaberpartie im restaurierten Teatro Sociale einen der Höhepunkte der Festspiele. Das zunächst mit großem Erfolg bedachte Werk, für dessen Tenorpartie der Komponist wegen plötzlicher Erkrankung des Sängers die Mezzofassung hatte komponieren müssen, sieht die Reconquista einmal nicht durch die Augen der christlichen Spanier, sondern die der ihren Staat auf iberischem Boden verteidigenden Mauren, die allerdings mehr mit Liebeshändeln als kriegerischen Aktionen befasst sind. Nachdem er ihrem Vater den Thron und das Leben entrissen hat, will Almuzir auch dessen Tochter heiraten, die allerdings bereits mit Abenamet verlobt ist. Dieser soll ausgeschaltet werden, indem er zwar eine Schlacht gegen die Spanier gewinnen darf, dabei aber durch Intrigen das heilige Banner der Mauren verliert. Um ihn vor dem Vollzug der Todesstrafe zu bewahren, verspricht Zoraida dem Tyrannen die Ehe, wird bei einem Treffen mit Abenament überrascht und wegen Untreue zum Tode verurteilt. Vor diesem rettet sie der in Lohengrin-Manier herbeigeeilte Abenament, und alles kann in Frieden und Freude enden, indem der Sieger zwar die Braut gewinnt, auf das Reich aber zugunsten des Gegners verzichtet. Das abschließende Rondo ist nicht der Titelfigur Zoraida vorbehalten, sondern wird vom Mezzosopran gesungen.

Trist und trübe ist trotz des glücklichen Ausgangs die Bühne von Gary McCann, der den Chor in Kostüme steckte, die  an Israelis oder Ukrainer  aus der abendlichen Tagesschau erinnern, in modernster Militärausrüstung, aber sich zwischen antiken Ruinen bewegend, die auch einen idyllischen Garten mit Erinnerungen wachrufendem Rosenstock in Form einer angeknabberten Säule darstellen müssen. Die Damen sind mit 50er-Jahre-Kleidchen plus Strickjacke auch nicht glamouröser bedacht, aber jeder Einwand gegen die Aufführung schwindet zunehmend, wenn der akustische Eindruck die Herrschaft übernimmt, beginnend mit der spannungs-, variations- und farbenreich die vorstellungseinleitenden Sinfonia unter Alberto Zanardi, der das Orchestra Gli Originali souverän durch die Partitur führt. „La regia funziona“, sie ist Bruno Ravella zu verdanken, und das ist schon viel.

Die eigentliche Sensation aber sind die Sänger, die die sich auf dem Anspruchsniveau einer Lucia di Lammermoor, man höre sich nur das Sextett an, bewegen, selbst die der „kleineren“ Partien, die der Tradition entsprechend von Mitgliedern der Bottega Donizetti gesungen werden. Dazu gehört immerhin die Basspartie des bösen Strippenziehers  Ali, dem Valerio Morelli einen fulminanten Auftritt im zweiten Akt verschafft und dem er durchgehend vokale Geschmeidigkeit und Durchschlagskraft verleiht. Ohne Asiaten auf der Opernbühne kommen auch die Italiener nicht mehr aus, und Konu Kim  verleiht dem intriganten, erst zum Schluss geläuterten Almuzir einen hellen Trompetenton, bejubelte Spitzentöne und einen insgesamt  instrumental geführten Tenor.  Schlank, hell und koloraturgewandt ist der Sopran von Zuzana Marková, sie singt ihre Partie voll lyrischer Emphase und bestreitet mit dem Tenor ein höchst anspruchsvolles Duett.  Ganz und gar wunderbar ist Cecilia Molinari als Abenamet mit dunkel getöntem, schön gerundetem, geschmeidigem Mezzosopran, der auch zur ungefährdeten heldischen Attacke fähig ist und im Rondo funkelt und leuchtet. Angenehmes steuert Lilla Takács als Ines bei, schüchtern bleibt Tuty Hernández als Almanzor. Markant sind die Herren vom Coro dell’Accademia Teatro alla Scala und insgesamt würde man bedauern, dass dieses wirklich zu Unrecht vergessene Werk wieder für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwindet.  Immerhin hat Dynamic nun für die erste Video-Aufnahme gesorgt (Dynamic 58068). Ingrid Wanja           

90 Minuten Unterhaltung

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Durchaus keine Garantie dafür, die Lachmuskeln des Hörers zu strapazieren, gibt die Gattungsbezeichnung farsa, nach deren einer Uraufführung der Mutter Rossinis vom aufführenden Impresario sehr nachträglich zur Geburt des gerade seinen Ruhm beginnenden Komponisten gratuliert wurde. Es geht um L’inagnno felice mit durchaus ernstem Inhalt, der Wiederzusammenführung eines edlen Paares, das einst durch höfische Intrigen voneinander getrennt wurde, indem der Gatte die des Ehebruchs beschuldigte Gattin auf hoher See aussetzen ließ, ein Steiger sie rettete und als „Nichte“ in seinen Haushalt aufnahm und im Verlauf der Handlung erlebt, wie die beiden Liebenden einander wiederfinden, alle Missverständnisse aufgeklärt werden und dem lieto fine nichts mehr im Weg steht. Das der Doppel-CD beiliegende Booklet berichtet ausführlich über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Stücks, das etwa gleichzeitig mit dem frivolen und deshalb bald auf den Index gesetzten L’equivovo stravagante  komponiert wurde.

Nicht nur Pesaro und Bad Wildbad nahmen und nehmen sich unbekannterer Werke des Schwans von Pesaro an, sondern in diesem Fall auch das Reate Festival von Rieti, einer kleinen Stadt im nördlichen Lazio, nahe Umbrien, wo auch in diesem Herbst wieder ein Festival, allerdings für zeitgenössische Musik, stattfindet, während die vorliegende Aufnahme aus dem Jahre 2023 stammt. Das Verdienst der vorliegenden Doppel-CD gebührt dem Label cpo, das einen Vertrag mit dem die Sänger begleitenden Orchester THERESIA abgeschlossen hat.

Dirigent der Aufnahme ist der rossinierfahrene Alessandro De Marchi, der das mit leicht metallischem Klang aufwartende Orchester zügig vorantreibt, für ein sehr poetisch klingendes Finale sorgt und den der Partitur innewohnenden Esprit sehr schön zur Geltung bringt. Gut aufgehoben konnten sich hörbar die Sänger fühlen, die es in der auch für eine personen- und damit kostensparende Farsa ungewöhnlichen Zusammenstellung Sopran, Tenor, drei Bässe gibt.

Lieblich, weich und angenehm gerundet ist der Sopran von Miriam Albano, der sich schillernd zwischen Sopran- und Mezzoqualitäten bewegt, facettenreich die anspruchsvolle Partie der Isabella durchmisst und der dem Tenorpartner an Ausdrucksmöglichkeiten und Facettenreichtum weit überlegen ist. In der großen Arie „Al più dolce e caro oggetto“ überzeugt die Sängerin auch durch eine großzügige Phrasierung. Am besten in den markant dargebotenen Rezitativen macht sich der Tenor Antonio Garés, dessen Timbre ihn eher in Richtung Charaktertenor weist und der einen einmal gefundenen gerundeten Klang der Stimme nicht bis zum Ende einer Phrase durchhalten kann.

Angemessen unterschiedlich ist das Hörbild, das die drei Bässe vermitteln. Dem Bösewicht Ormondo wird von Giuseppe Toia dunkle Geschmeidigkeit verliehen, während der harmlosere Batone durch Luigi De Donato eher mit vokalen Buffoqualitäten ausgestattet wird. Mit sehr guter Diktion, mit Farbe und Buffo-Schalk in der Stimme, eher wie ein Bassbariton klingend, steuert Matteo Loi als Tarabotto  nachdrücklich eine dritte Variation einer tiefen Stimme bei.

Neunzig Minuten guter Unterhaltung werden durch die CDs garantiert, durch den einführenden gehaltvollen Text von Rossini-Spezialist Reto Müller bereichert durch mehr Wissen über Rossini und die Gattung Farsa (cpo 555 222-2). Ingrid Wanja              

Dostojewski-Schwerpunkt

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Dostojewski-Schwerpunkt beim Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2024: Der Spieler von Sergej Prokofjew nach dem gleichnamigen, quasi biografischen Roman (Unitel Bluray 811704) Dostojewskis, sodann Mieczyslaw Weinbergs Der Idiot nach seinem weitaus umfangreicheren, ebenfalls gleichnamigen Roman. Beide Aufführungen waren große Erfolge. Weinbergs mit der Zueignung an seinen Freund und Förderer „Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch“ versehene Oper der größere (Unitel Bluray 811504), weil unerwartet und künstlerisch bestechend.

Der 1919 Warschau geborene und 1996 in Moskau gestorbene Jude Weinberg gehört zu den großen (Wieder)Entdeckungen des Musiktheaters unseres Jahrhunderts. Von seinen zentralen, posthum uraufgeführten, doch Jahrzehnte zuvor entstandenen Opern Die Passagierin von 2010 und Der Idiot von 2013 erwies vor allem erste ihre Repertoiretauglichkeit, der Idiot gelangte nur wenige Male auf die Bühne. Mit seinem Idiot führt Weinberg auf frappierende Weise die große Traditionslinie der russischen Oper von Mussorgsky Dramen über Tschaikowskys Puschkin-Vertonungen und Prokofjews Krieg und Frieden und Der Spieler bis zu Schostakowitschs Werken zu einem Ende. Zweifellos ist Fürst Myschkin, der Idiot, ein Nachfahre des geheiligten Gottesnarren und hellsichtigen Schwachsinnigen, der die Wahrheit verkündet und in Mussorgskys Boris Godunow um das Vaterland weinen.  Myschkins Gegenspieler Rogoschin sagt zu ihm „Wahrhaftig, Fürst, du bist ja ganz und gar ein Jurodivyi“ – also ein Gottesnarr – „Und solche hat Gott der Herr lieb!“. Vielleicht ist damit zu erklären, weshalb sich Mieczyslaw Weinberg 1985 entschloss, die liebeswerte und rätselhafte Titelfigur von Dostojewskis umfangreichem Roman Der Idiot zum Helden seiner neuen, gleichfalls sehr umfangreichen Oper zu machen. Auf der riesigen Bühne der Felsenreitschule gestaltet Bogdan Volkov den charismatischen Fürsten, der in Russland ständig friert, mit keuscher Inbrunst, anmutig und liebeswert im Spiel, überzeugend im epileptischen Anfall wie in den langen philosophischen Ergüssen, die ihm Alexander Medvedev aufbürdet, der den 800-Seiten-Roman auf vier lange Akte eindampfte. Der an Mozart- und Belcanto-Partien geschulte Volkov singt mit feiner Artikulation und einem zarten lyrischen, doch silbrig zentrierten Ton, der im teilweise strapaziösen Dauereinsatz angesichts der kraftvollen Orchestrierung auch kernige Kraft zeigt und elastisch alle Stadien der Zerrissenheit aufgreift. Medvedev hat auch die weiteren Libretti Weinbergs geschrieben. Die Autoren bilden keine Gesellschaft der 1860er Jahre ab, sondern konzentrieren sich auf den unerschütterlich gutherzigen Fürsten, einen Epileptiker wie Dostojewski selbst, und seinen Gegenspieler Rogoschin. Die beiden lernen sich während einer ausgedehnten Zugfahrt kennen, als der Fürst nach längerem Sanatoriumsaufenthalt aus der Schweiz nach St. Petersburg zurückkehrt. Rogoschin erzählt von seiner Besessenheit für Natassja Filippowna. Beide buhlen fortan um Nastassja und wollen die Ehrlose durch Heirat aus den Fängen ihres ehemaligen Liebhabers Totsky befreien – Der Fürst aus Nächstenliebe und Menschlichkeit, Rogoschin aus Leidenschaft. Zwischenzeitlich glaubt der Fürst eine Leidenschaft für Aglaja, eine entfernte Verwandte, zu spüren. Am Ende ersticht Rogoschin Nastassja. Ausrine Stundyte setzt die Pracht ihres dramatischen Soprans ein, um die Widersprüchlichkeit der kapriziösen wie leidenschaftlichen Nastassja zu zeigen. Düster und roh, dann wieder versöhnlich gibt Vlasilav Sulimsky den Rogoschin mit bedrohlichem Bariton. Festspielwürdig und ausgezeichnet das gesamte Ensemble, darunter Margarita Nekrasova als lebenskluge Yepachina, Xenia Puskarz Thomas als Aglaja, der baritonal ungemein wandlungsfähige Iurii Samoilov als mephistophelischer Erzähler Lebedev, Pavol Breslik als Ganya. Es ist eine großartige Musik, in der Weinberg das polnische Erbe von Szymanowki bis Górecki leuchten lässt und russische Traditionen vom trocken Sprechgesang in Mussorgskys früher Heirat bis zu Schostakowitschs Ironie aufgreift. Das litauische Ausnahmetalent Mirga Gražinytė-Tyla entwirft diese höchst individuelle Theatermusik am Pult der Wiener Philharmoniker mit Eleganz und Bravour, weist nebst den spröde aufgeschichteten Textmassen auch den vokalen Inseln prägnante Wirkungen zu und entfacht in den verflochtenen Vokallinien Glut und Sinnlichkeit, verbindet eloquent beherzt Jazz-Elemente mit Klassizität.

Ebenso virtuos nutzt Krzysztof Warlikowski die schier unbespielbare breite Bühne der Felsenreitschule aus, die auf der DVD selten in der gnadenlosen Vierzig-Meter-Totale zu sehen ist, setzt gekonnt Video- und die wie auf einer großen altmodischen Schultafel gekritzelten Texteinblendungen ein. In dieser gefeierten und auch auf DVD sehenswerten Inszenierung verliert sich Warlikowski nicht in seine beliebten Assoziationen und Privatmytholgien, sondern bleibt dicht am Stück und setzt auf eine spannende und eindrucksvolle, geradezu virtuos lebendige Führung der Personen und scharfe psychologische Analyse. Mit wenigen prägnanten Strichen zeichnet er die kaltherzig und gierige St. Petersburger Gesellschaft und zeigt den Fürsten als einen Mann aus der Welt der Mathematik und Physik, der wie ein Doppelgänger von Holbeins Christus-Figur seiner brutalen Umgebung ausgeliefert ist. Die zahlreichen erdachten Nebenfiguren und Statisten unterstützen die Dichte der Aufführung, für die Malgorzata Szczęśniak die Felsenreitschule mit Paneelen verkleidet und Möglichkeiten für die Projektionen (Kamil Polak) geschaffen und die Bühne in fahrbare Raumsegmente aufgeteilt hat, darunter eine großzügige rote Sitzgruppe, die anfangs auch das Zugabteil darstellt .

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Ganz erstaunlich, wie es Sergej Prokofjews Oper Der Spieler plötzlich zu neuer und allgemeiner Wertschätzung bringt. Als ich den Spieler erstmals auf der Bühne sah, galt er als noch absolute Rarität, eher für ein Festival denn für den Normalbetrieb tauglich: Beim Maggio Musicale in Florenz gab man ihn 1986 als Il giocatore (immerhin mit Dessi und Souliotis). Ende der 1990er Jahre brachte Gergiev die Oper ins Festspielhaus nach Baden-Baden und bald wurde sie in Amsterdam, Basel, Mannheim und Frankfurt, sogar an der Mailänder Scala sowie an der Berliner und Wiener Staatsoper und im Frühjahr 2025 in Stuttgart gespielt. Als seien die Bühnen von einem Taumel erfasst wie der Hauslehrer Alexej, der im imaginären Roulettenburg sein Geld und Glück verspielt. Sogar bei den Salzburger Festspielen, wo im August 2024 der junge Timur Zangiev sein viel beachtetes Debüt mit Peter Sellars routiniert bildgewaltige Produktion in der Felsenreitschule gab und Asmik Grigorian das Werk dem Festspielpublikum schmackhaft zu machen versuchte. Das ist jetzt (Unitel Edition Bluray 811704) nachzuerleben.

Die Werkgeschichte ist, wie stets bei Prokofjew, kompliziert. Der Spieler ist Prokofjews erste Oper, die auf eine Bühne fand. Die während eines London-Aufenthaltes 1914 ins Auge gefasste Oper nach Dostojewskis autobiografisch verbrämten Roman Der Spieler war 1917 weitgehend fertig. Da die avisierte Aufführung am Mariinski Theater unrealistisch schien, entschloss sich Prokofjew zu einer Umarbeitung, die „im Wesentlichen eine völlige Neufassung wurde“ und 1929 in französischer Sprache als Le joueur in Brüssel zur Uraufführung gelangte. Der zuvor entstanden Einakter Maddalena erlebte seine erste Bühnenaufführung erst 1981 beim Festival Steirischer Herbst in Graz. Erst 1974 wurde Der Spieler am Bolschoi Theater aufgeführt, 1991schließlich in St. Petersburg, wo die Uraufführung ursprünglich hätte stattfinden sollen.

Tempo, Tempo, Tempo, ein atemloses Tempo herrscht in dieser Oper. Ein fiebriger Strudel des dialogischen Schlagabtauschs, der vom Orchester mit wütender Bravour unter Hochspannung gehalten wird und wozu Prokofjews Kommentar, er strebe nach Einfachheit und versuche es den Sängern nach Möglichkeit nicht schwer zu machen, wie Hohn klingt. Diesem hitzigen Tempo entspricht die bunte, dekadente Spielhallenwelt mit den darin wie Lampions oder außerirdische Flugkörper schwebenden Roulettetischen von George Tsypin und die heutigen bunten, abgerissenen und eleganten Outfits samt Handys, die Camille Assaf für diese Betrüger, Hochstapler, Heiratsschwindler und Fratzen geschaffenen hat: der General, der auf das Ableben der Babuschka spekuliert, hat sich das Flittchen Blanche geangelt, während seine Stieftochter Polina sich mit dem Marquis eingelassen hat, obwohl sie den Hauslehrer Alexej, den „Spieler“, liebt, den sie demütigt und quält.

Die Felsenreitschule ist zu groß. Und sie bleibt in ihren Dimensionen weitgehend ungenutzt. Sellars hat sich auf eine revuehaft großzügige Bebilderung verlassen, einen Teil der Bühne mit Rasenteppich bedeckt, stumme Nebenfiguren erdacht und die letzte Szene im Casino mit durch den Raum schwebenden Gestalten und öliger Schickeria aufgeputzt. Doch letztlich kapituliert er vor dem Stück und dem zur Karikatur verkommenen Personal. Als Video Director rückt er den Figuren im schummrigen Licht und immer neuen Blickwinkeln dicht auf die Pelle, so dass wir die aufgeheizte Atmosphäre und Schwüle bis zu den Schweißbächen des Protagonisten nachfühlen können. Sean Panikkar ist großartig als Andrej, der aus Sri Lanka stammende Amerikaner bewältigt diese ständig auf Hochtouren laufende Partie und die expressive Deklamation stimmlich geradezu leichtfüßig und mit lyrischer Geschmeidigkeit, er verleiht dem Polina in liebender Abhängigkeit ergebenen Glücksritter Tiefe und Leidenschaft, dazu eine Aufrichtigkeit, wodurch Andrej neben Polina zur einzigen Figur des Stückes wird, für die man ein wenig Mitgefühl aufbringt. Asmik Grigorian ist die geheimnisvolle wissende Polina. Mehr lässt sich aus der Figur nicht rausholen. Der bassgewaltige Peixin Chen ist ein eherner General, der seine Verzweiflung „Sie hat meine Erbschaft verspielt“ wie Peitschenhiebe knallen lässt, Juan Francisco Gatell ein spitztenoral schmeichelnder Marquis, der madagassische Bariton Michael Arivony fällt als Mr. Astley auf. Doch die geschliffenen Konversationsszenen bleiben vorerst nur artistisch. Leben haucht ihnen erst Violeta Urmana als Antonida Tarasevicheva ein. Die totkranke Großmutter, auf deren Ableben alle spekulieren, kommt offenbar direkt aus dem Duty-free-Shop, zwar im Rollstuhl, doch quicklebendig und mit einem Furor wie ein feuerspeiender Vulkan. Niveau erhält die Aufführung auch durch die Wiener Philharmoniker und Timur Zangiev, die Prokofjews knapp charakterisierende, durchkomponierte und in Kurzzeit hingeworfene Oper und ihre geschliffene Artistik virtuos umsetzen.  Rolf Fath

 

 

 

 

Groß in Form

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Die Wiederentdeckung des niederländischen Komponisten Jan van Gilse hierzulande kann cpo für sich in Anspruch nehmen. Wer neugierig darauf ist, wen es jenseits der großen Namen wie Beethoven, Mozart, Bruckner oder Brahms noch so alles gibt in der zweiten oder gar dritten Reihe, ist beim Musiklabel des Medienversandhändlers jpc genau richtig. Im Katalog tauchen Namen auf, die selbst gut informierte Konzertgänger noch nie gehört haben. Es sind nicht die berühmtesten Orchester und Solisten aus den internationalen Musikzentren am Werk. Stattdessen bilden Fundstücke und Ausgrabungen eine eigene Währung. Ich verdanke cpo – in der Langfassung classic production osnabrück – beispielsweis die Gesamtaufnahme aller Lieder und Balladen von Carl Loewe und die Bekanntschaft mit den Märchen-Melodramen von Carl Reinecke. Oft sind Werke im Angebot, die seit ihrer Uraufführung nie wieder erklungen sind. Vermittelt wird die heilsame Erfahrung, dass das musikalische Erbe nicht nur aus Preziosen besteht. In den meist aussagekräftigen Booklets werden jene Kapitel der Musikgeschichte aufgemacht, die in den gängigen Nachschlagewerken und selbst im Netz zu kurz kommen – wenn sie denn überhaupt existieren oder nicht total veraltet sind. Bei vokalen Kompositionen finden sich in der Regel die Texte, die nicht selten nur ganz schwer zu beschaffen wären. Insgesamt dürften es etwa fünf Alben sein, die cpo Jan van Gilse bisher gewidmet hat, darunter seine vier vollendeten Sinfonien, das Klavierkonzert, diverse Orchesterstücke sowie das Oratorium Eine Lebensmesse nach Richard Dehmel. Jetzt also eine neue CD mit Sulamith und Der Kreis des Lebens (555 648-2).

In beiden Fällen handelt es sich um Kantaten mit Solostimmen, Chor und Orchester. Die fünf Sängerinnen und Sänger kommen aus fünf verschiedenen Ländern – die Sopranistinnen Sumi Hwang aus Südkorea und Elena Tsallagove aus Russland, die Tenöre Denzil Delaere aus Belgien und Benjamin Bruns aus Deutschland sowie der Bariton Thomas Oliemans aus den Niederlanden. Es singt der große niederländische Rundfunkchor (Groot Omroepkoor). Das Philharmonische Rundfunkorchester (Radio Filharmonisch Orkest) wird bei Sulamith von dem aus Petersburg stammenden Stanislav Kochanovsky, Chefdirigenten der NDR Radiophilharmonie in Hannover, und der Kreis des Lebens vom US-Amerikaner James Gaffigan geleitet. Es hatte sich also ein internationales Ensemble zusammen gefunden, von dem angenommen werden kann, dass es auch dem Komponisten gefallen hätte. Der war länderübergreifend tätig.

Gilse, am 11. Mai 1881 in Rotterdam geboren, stammte aus bürgerlichen Verhältnissen. Schon als Kind versuchte er sich mit einem Trauermarsch für Klavier im Komponieren. Nach dem Abitur bestand er die Aufnahmeprüfung für das renommierte Kölner Konservatorium, das von Franz Wüllner geleitet wurde. Als Dirigent der Uraufführungen von Rheingold und Walküre, die 1869 bzw. 1870 in München gegen den Willen Richard Wagners von König Ludwig II. durchgesetzt wurden, ging er in die Geschichte ein. Wüllner wurde Gilses Lehrer in Orchesterleitung und Komposition. Die erste Sinfonie stammt aus dieser Zeit und begründete den eigenen Stil. Den Anschluss des Studiums bildete Sulamith. „Aufgrund eines Streits, an dem van Gilse übrigens nicht Schuld war, musste er das Kölner Konservatorium vorzeitig verlassen, weshalb die geplante Aufführung der Sulamith nicht stattfand“, vermerkt der Autor des Boooklet-Textes John Smit. Im November 1902 sei van Gilse nach Berlin gegangen, um sein Studium bei Engelbert Humperdinck fortzusetzen. Die erste Aufführung habe 1903 in seinem Heimatland, und zwar beim zweitägigen Musikfest in Arnheim unter der Leitung des Komponisten stattgefunden. Dafür wurden 120 Orchestermusiker und ein mehr als 500-köpfigen Chor aufgeboten.

Jan van Gilse auf einem Gemälde seines Landsmann Heinrich Martin Krabbé / Wikimedia

Der Text stammt von dem deutschen Prinzen Erich von Schönaich-Carolath (1852-1908), einem Gutsherrn, der sich als Schriftsteller betätigte. Als der Dichterprinz aus der Haseldorfer Marsch gelangte er zu Ansehen über seinen unmittelbaren Wirkungskreis hinaus. Smit nimmt an, dass Wüllner den Komponisten mit dem Stoff bekannt machte. Dieser habe die allmächtige, selbstaufopfernde Liebe einer Frau schildern wollen – und sie als die sagenumwobene biblische Sulamith in der Dichtung des Prinzen gefunden. Im Gegensatz zur Vorlage erscheint ihr Name aber nur als Titel und nicht im Handlungsverlauf selbst, wo sie Maronitenweib ist, das des Weges daher kommt und einem bedrängten Bettler beisteht. Smit: „Liebe und Barmherzigkeit sind daher auch das Hauptthema dieses Gedichts. Sie sind es, die das böse Spiel dessen zerstören, der alles verneint, und ihm immer wieder vor Augen führen, dass er sein Teufelswerk nie wird vollenden können. Auf einem Felsen nahe der heiligen Stadt Jerusalem sitzend, will er zur Osterzeit wieder einmal seinen Triumph über die Schöpfung Gottes genießen, und der vorbeiziehende Pilgerchor macht es ihm leicht: Der alte, dürstende Bettler, der den frommen Leuten in den Weg kommt, wird ignoriert und zu den Worten von der Auferstehung Christi seinem erbärmlichen Schicksal überlassen. Satan jubiliert … jedoch nicht lange: Eine junge maronitische Mutter nimmt sich des Verschmachtenden an und stillt seinen Durst. Der Beobachter starrt fassungslos ins Leere.“ 

Prinz Erich von Schönaich-Carolath verfasste den Text für „Sulamith“ / OBA

Seinen Kreis des Lebens wollte Jan van Gilse als eine Symphonie verstanden wissen. Er bediente sich bei Rainer Maria Rilke. In der Partitur ist das Werk indes als Zyklus für Sopran und Tenor, achtstimmigen gemischten Chor und Orchester bezeichnet. Die Gedichte wurden nicht willkürlich ausgewählt, sondern sollen die Grundidee erklären, auf der das Werk beruht. Smith zitiert den Komponisten mit den Worten: „Wie könnte man diesen Gedanken in seiner einfachsten Form wiedergeben? Als die Erkenntnis, dass das Leben ein Kreislauf ist, dass Anfang und Ende ineinanderfließen und sich nur in einem höheren Grad der Bewusstheit unterscheiden. Und darüber hinaus, dass Tod und Leben eins sind, dass der Tod nichts anderes ist als die unbeleuchtete Seite des Lebens, wie Rilke es ausdrückt.“ Große Gedanken verlangen in dieser Zeit nach großer Form. Gilse ist in der Wahl seiner Mittel nicht eben bescheiden, was ihn mit dem Zeitgenossen Gustav Mahler verbindet. Dem Publikum wird einiges abverlangt. Wer die deutschen Texte nicht kennt, dürfte Mühe haben, den inhaltlichen Botschaften zu folgen. Zumal heutzutage ganz andere Themen gesetzt sind, die Ausdrucksformen weniger wortreich auskommen und sich zunehmend an der Alltagssprache orientieren.

In beiden Werken sind die Solisten um Verständlichkeit bemüht. Als zusätzlich hilfreich erweist es sich, dass im Booklet die literarischen Vorlagen in der Originalsprache und in englischer Übersetzung abgedruckt sind. Die modernen Klangkörper – Chor auch Orchester – tragen zudem dazu bei, die Kantaten durch mehr Durchsichtigkeit und Klarheit dem heutigen Zuhörerschaft angemessen zu vermitteln. Dennoch dürften es beide Stücke schwer haben, im normalen Konzertbetrieb Fuß zu fassen. Sie werden allenfalls Festivals vorbehalten bleiben, was auch schon ein Gewinn wäre. Für die Ausgabe bei cpo wurden sie 2018 (Sulamith) bzw. 2023 (Der Kreis des Lebens) beim traditionellen Freitagskonzert – AVROTROS Friday Concert – im Utrechter Tivoli Vredenburg mitgeschnitten. Die Veranstaltungen gelten als festlicher Start ins Wochenende. Auf dem Programm stehen neben klassischen Meisterwerken auch unbekannte Stücke vornehmlich niederländischer Komponisten. Ständige Gastgeber sind die Radio-Philharmonie und der Rundfunkchor, die sich jeweils Solisten aus dem In- und Ausland einladen.

Nach Gedichten von Rainer Maria Rilke wurde „Der Kreis des Lebens“ komponiert / Wikipedia

Die Kantate war in Berlin entstanden, wo Gilse von 1927 bis 1933 wohnte und als Gastdirigent wirkte. Erstmals erklang sie 1937 mit dem vom Komponisten geleiteten Concertgebouw Orkest in Amsterdam. Das Echo war geteilt. Kritiker bemängelten, dass Text und Musik ganz und gar nicht zusammenpassten. Die leisen Dichterworte stünden im Widerspruch zu dem bombastischen Orchester. Obwohl zu dieser Zeit noch nicht von den Nationalsozialisten besetzt, herrschte eine negative Haltung gegenüber Deutschland, die sich auch in den Reaktionen niederschlug. Im Booklet wird auf jene Beobachter verwiesen, die Gilse vorwarfen, „zu deutsch“ zu komponieren. Seine Lebensdaten finden sich auch in der Biographie, die das Huygens-Institut für die Geschichte der Niederlande, kurz Huygens ING, im Internet anbietet. Es ist der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften angegliedert. Als Hitler an die Macht kam, habe er Deutschland verlassen und sei 1933 nach Utrecht zurückgekehrt – nunmehr als Direktor des Konservatoriums und der Musikschule. „Angesichts zahlreicher Enttäuschungen in diesen Positionen, die ihn an der Verwirklichung seiner Ideen hinderten, trat er 1937 zurück, um sich ganz der Komposition zu widmen.“ Pläne für eine neue Oper gehen auf 1937 zurück, heißt es weiter. Sie sollte sein größtes Werk werden. Der Text basiere auf Charles de Costers Buch Die Legende und die heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuer von Ulenspiegel und Lamme Goedzak im flandrischen Lande und anderswo. Die Partitur sei am 29. November 1940 fertiggestellt worden, eine vollständige Aufführung jedoch aufgrund des Krieges nicht möglich gewesen. „Für Herbst 1941 waren bereits Aufführungen der Trauermusik aus dieser Oper im Amsterdamer Concertgebouw angekündigt; diese wurden jedoch abgesagt, da Jan van Gilse sich weigerte, der Kultuurkamer (Kulturkammer) beizutreten. Seine Musik wurde bis Kriegsende nicht mehr aufgeführt, und er selbst erlebte die Befreiung nicht.“ Da Jan van Gilse seine antinationalsozialistische Gesinnung mehrfach unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, drohte ihm die Inhaftierung. Kurz vor einem deutschen Angriff auf sein Amsterdamer Haus im Februar 1942 wurde er gewarnt und gezwungen, unterzutauchen. „Von da an begann für ihn und seine Frau ein schwieriges Leben, sie flohen von einem Versteck zum anderen. Am 1. Oktober 1943 fiel Maarten van Gilse, ihr jüngster Sohn, den Kugeln der Besatzungstruppen zum Opfer, und am 28. März 1944 starb sein ältester Sohn Janrik auf die gleiche Weise“, heißt es in der Huygens-Biographie. Jan van Gilse habe sich nie von diesen rasch aufeinander folgenden Schicksalsschlägen erholt. „In seinem letzten Versteck bei dem Komponisten Rudolf Escher in Oegstgeest erkrankte er schwer. Eine bösartige Krankheit raffte ihn innerhalb weniger Monate dahin, und er starb am 8. September 1944. Um andere vor der Gefahr zu schützen, wurde er unter einem anderen Namen begraben.“ Rüdiger Winter

Biblische Träume

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Voll und ganz dem spätbarocken Wiener Imperialstil verpflichtet und damit ein Fest für die Ohren ist Antonio Caldaras Oratorium Gioseffo che interpreta i sogni, zumindest wenn es in einer so hochkarätigen Besetzung wie der vom November 2024, als das Werk in Turin im Tempio Valdese mit Chor und Orchester Consort Maghini unter Alessandro De Marchi aufgeführt wurde. Kaiser Karl VI. hatte sich an den Werken des zunächst in Venedig, dann in Mantua und Rom tätigen Komponisten in Barcelona erfreut und holte ihn deswegen nach seiner Krönung zum Deutschen Kaiser als Vizekapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle hinter Johann Joseph Fux  nach Wien. Oratorien verschönerten mit dem Alibi geistlicher Erbauung die ansonsten trübe Fastenzeit, standen aber, und dafür ist Gioseffo ein gutes Beispiel, an musikalischem Prunk den Opern in nichts nach.

Die „Handlung“ von Gioseffo allerdings weiß nichts von dem Verführungsversuch der Gattin des Potifar an Joseph, dem Sohn von Isaak und Rachel, sondern sieht ihn wegen der falschen Anschuldigung durch die Verschmähte bereits im Kerker, zusammen mit einem Bäcker und einem Mundschenk, denen er den Gehalt ihrer Traumphantasien erläutert. Als er den Pharao dessen Träume als die Prophezeiung der sieben fetten und sieben mageren Jahre deutet, befreit ihn dieser nicht nur aus dem Kerker, sondern setzt ihn zudem als König über Ägypten ein. Interessant ist die Figur des Testo, der erläutert, was den Rezitativen und Arien nicht zu entnehmen ist. Außerdem hat Caldara die Figur des untreuen Dieners Sedecia der biblischen Erzählung hinzugefügt. Das viersprachige Booklet liefert eine sehr ausführliche und erkenntnisfördernde Beschreibung des Inhalts, nicht nur den Text, sondern auch die musikalischen Formen betreffend.

Interessant ist das Oratorium nicht zuletzt durch den Einsatz so selten zu hörender Instrumente  wie dem Psalterium, einer Art Zither, und dem Chalumeau, eines Holzblasinstruments.

Bereits die Sinfonia vermeidet jegliche Fastendürrheit, sondern lässt den Hörer über die Entfaltung weltlichen Glanzes staunen, über den Farbenreichtum, die Üppigkeit des Klangs, den das Orchester jubelnd oder trauernd erzeugt. Mit einem Alt ist die Titelfigur besetzt. Margherita Maria Sala hat für sie einen satten, stets engagiert klingenden Klang, kostet die Raffinessen der Partitur aus, klingt manchmal etwas affektiert, eher aber raffinert, so beim Ritardando und dem bewegten und bewegenden „Libertà cara“. Einen körperreichen Bariton hat Mauro Borgioni für den Testo, der mit einem breiten Farbspektrum aufwartet,  sich in gewagte Verzierungen schmiegt und in bemerkenswerte Tiefen hinabsteigt. Den unglücklichen Panatiere singt Lorrie Garcia mit entsprechend tränenreichem Timbre, den glücklicheren Coppiere Eleonora Bellocci mit mädchen- bis jungenhaftem Sopran, der in seiner Jubelarie mit dem zitierten „dolce suono“ tatsächlich aufwarten kann. Autoritätsheischend und in „Non, più di me nun può“ Schärfen nicht vermeidend überzeugt Arianna Vendittelli ganz besonders mit einer fulminanten Kadenz. Viel vokale Autorität strahlt der Faraone von Luigi De Donato aus, gewagte Variationen auskostend und einen irrwitzig schwierigen Arienschluss nicht nur bewältigend, sondern hörbar genießend. So engagiert wie die Solisten und das Orchester lässt sich auch der Coro Maghini unter Claudio Chiavazza vernehmen und setzt einen leuchtenden Schlusspunkt (GCD 923543). Ingrid Wanja

Samaras´Oper „Medgé“

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Unsere Liebe zu griechischen Opern ist ja Lesern von operalounge.de hinlänglich bekannt, unsere Hochachtung vor dem griechischen Dirigent, Musikwissenschaftler und Musik-Archäologen Byron Fidetzis ja auch – wir haben vielfach über ihn berichtet und haben inzwischen doch eine Menge an unkeannten griechischen Operntiteln vorgestellt. So auch jetzt.

Im Februar 2025 gab es, nach der Oper Lionella 2023 (die noch auf eine Präsentation bei uns wartet, aber bei youtube nachzuerleben ist), die Oper Medgé von Spyros Samaras, dessen Rhea zu den einigermaßen bekannteren gehört und dessen Mademoiselle de Belles Iles ebenso wie seine Tigra bei Naxos als CD vorliegt.

Zum ersten Mal nun Spyros Samaras´Oper Medgé in Athen im Maria Callas Saal in neuer Orchestrierung durch Byron Fidetzis, da die Originalpartitur verschollen ist und es nur einen Libretto-Druck und einen Klavierauszug gibt. Wir halten diese Wiederbelebung, Nachschöpfung der Oper eines der bedeutendsten griechischen Komponisten für wichtig und bringen daher nachstehend einen einführenden Artikel von Giorgos Leotzakos sowie ein paar Worte von Byron Fidetzis zu seiner Arbeit an der Oper, gefolgt von einem Bericht über das Konzert selbst von Kostas Xakenis sowie eine ausführliche Inhaltsangabe. G.H.

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Foto von Samara mit Widmung 1913/ Samara Archive/Lyra

Zum Werk und seiner Entstehung ein Artikel von dem renommierten griechischen Musikwissenschaftler Giorgos Leotzakos. Als älteste erhaltene Oper von Spyros Samaras – ihre Komposition wurde bereits im Mai 1883 in der Pariser Presse angekündigt – erhält die Medgé eine wegweisende Bedeutung, sowohl für die Verfolgung der Entwicklung des Komponisten anhand von etwa zehn Opern, unter Berücksichtigung der unvollendeten Tígra, als auch für die weitere Verfolgung einiger möglicher Einflüsse auf die Entwicklung der späteren italienischen Oper und der veristischen Bewegung. Ihre Geschichte ist daher von großem Interesse.

Das Werk basiert auf einem Text von Pierre Elzéar (geb. Paris, 25. November 1849 – gest.?)In Wirklichkeit war Medgé sein einziges Libretto: Er wird zusammen mit drei anderen Mitverfassern des Librettos des Turms zu Babel, einer dreiaktigen komischen Oper (Opera buffa, Paris) in Musiklexika, selbst in französischen, nicht erwähnt (da irrt der Autor, Elzéar war in Paris als Librettist und Dichter sehr bekannt, zu seinen Freunden gehörten Fauré oder auch Pauline Viardot/G.H.).

Pierre Elzéar (Charles Jospeh Bonnier, dit Pierre)/OMU

Was jedoch die indische Geografie des Sujets betraf, so wusste Elzéar nichts von den drei Übeln seines Schicksals: Die Oper spielt in Mysore (indisch: Māisōr),  an der südwestlichen Spitze des indischen Subkontinents, während der Ganges, an dessen Ufern sich der letzte Akt abspielt, etwa am südwestlichen Ende des indischen Subkontinents, etwa… 2.000 Kilometer nördlich im Himalaya entspringt und in den Indischen Ozean in der Nähe von Kalkutta (Ganges-Delta) mündet.

Auf jeden Fall ist die Versuchung groß, Medgé mit der Lakmé Délibes´ zu vergleichen. Wir betonen jedoch nachdrücklich, dass die bislang älteste Information über Medgé aus der Musikzeitung vom 6. Mai 1883 stammt: Sie wurde offensichtlich schon lange vor der Premiere der Oper von Delibes an der Opéra-Comique (Salle Favart) am 14. April 1883 begonnen. (…) Alle Quellen stimmen darin überein, dass Samaras 1882 zum ersten Mal nach Paris kam: Nach unserem derzeitigen Wissensstand ist es nicht abwegig anzunehmen, dass sein Studium am Conservatoire, entweder bei Dubois oder bei Delibes, im Herbst 1882 begann. Zwischen Herbst 1882 und dem 6. Mai 1883 liegt höchstens ein halbes Jahr.

Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Samaras beginnt also Medgé, wobei er sich auf das stützt, was er vor allem von Giuseppe Stancampiano in Athen gelernt hat (a pupil of Mercadante, himself an opera conductor and music master, living in the Greek capital/Grove), mit dem er bei der Oper Olao zusammengearbeitet hat! Wir werden nachstehend sehen, wann, wie und wo die Bearbeitung abgeschlossen wurde. 1874 hatte Massenet das fast halbfertige Libretto zu Medgé für eine bestimmte Sängerin (Emma Calvé) abgelehnt, das ihm Édouard Blau und Louis Gallet vorgeschlagen hatten. Gallet unterzeichnete das Libretto einer der ersten Opern von Massenet, der indischen Handlung von  Le Roi de Lahore (Opéra Garnier, 27. April 1877). Diese wird für Samaras wohl entscheidender gewesen sein, obwohl auch Lakmé als möglicher thematischer Einfluss für Samaras Oper angesehen wird. Jedenfalls irrt ein bedeutender Biograf Massenets, der Elzéar völlig ignoriert, wenn er behauptet, dass „mit aller Wahrscheinlichkeit” Samaras das Libretto vertonte, das Massenet 1874 abgelehnt hatte.

Immerhin wurde am 23. Januar 1877 (St. Petersburg) auch ein berühmtes „indische” Ballett La Bajadere aufgeführt, inspiriert von Sakuntala des großen indischen Dichters Kalidasa, in der Choreografie von Marius Petipa und der Musik von Ludwig Minkus, während schon viel früher, 1861, Gounod zu einem Text von Jules Barbier ein Lied gleichen Sujets für Gesang und Klavier komponierte.

Ob Samaras auch die „orientalische” Oper von Saint-Saëns, Samson und Dalila (Weltpremiere in Weimar am 2. Dezember 1877, 1. Ausgabe 1877, aber französische Premiere in Rouen erst 1890!), kannte, ist unklar, auf jeden Fall, abgesehen von der Medgé, wird seine Faszination für das Exotische deutlich.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 1. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico Teatro del´Opera di Roma

Dies wird auch durch die Komposition der Vier orientalischen Szenen für Klavier zu vier Händen aus derselben Zeit bestätigt, von denen mindestens eine orchestriert wurde. Dies sind die unmittelbaren indologischen und exotischen Vorgänger von Samaras Medgé.

Die nächste wichtige Erwähnung von Medgé stammt von Ferdinando Fontana: Er spricht in zwei Briefen an Puccini vom August 1886 über seine (unvollständige) Übersetzung des Librettos. Somit können wir die Komposition von Medgé festmachen: Anfang 1883 – spätestens Juli 1886, in erster Fassung, mit einer Unterbrechung von vier bis fünf Monaten im Jahr 1885, in denen Samaras die Flora mirabilis am Comer See komponierte! Sollte, wider Erwarten, die verschollene Orchesterpartitur jemals wiederentdeckt (…) werden (dieser Artikel ist von 2011, also vor der im Februar 2025 erfolgten Reorchestrierung durch Byron Fidetzis 2025/G. H.), dann müsste nicht die französische Originalfassung von Elzéar, sondern die italienischen Übersetzung von Fontana übernommen werden, der allem Anschein nach diskret, aber äußerst kreativ daran gearbeitet hat. Im französischen Text, den Samaras offenbar ursprünglich vertont hat, haben sehr viele Abweichungen einen poetischen, wenn nicht sogar literarischen Charakter und damit eine Unbestimmtheit hinsichtlich der Unmittelbarkeit und Klarheit der Gefühle und Reaktionen der Figuren in bestimmten Situationen. In Fontanas Text erhalten dieselben Gefühlsbereiche einen wohlverstandenen Realismus, eine psychologische Wahrhaftigkeit, die die Existenz der Figuren noch mehr betonen. Darüber hinaus gibt es zwischen dem gedruckten Libretto und dem zweisprachigen (französisch-italienischen) Klavierauszug, die beide 1888 erschienen, wesentliche Unterschiede, zumindest was die letzte Szene betrifft.

Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 4. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico dell Teatro alla Scala

Zwischen der Veröffentlichung des Librettos und des Klavierauszugs liegt offensichtlich ein gewisser Zeitraum, der es Samara nach dem Triumph von Flora mirabilis erlaubte, das Werk zu überarbeiten, wahrscheinlich in engster Zusammenarbeit mit Fontana. Das Ergebnis, im Vergleich zum gedruckten Libretto, zeigt sich deutlich in den beiden letzten Szenen: Es handelt sich nicht einige Änderungen oder Streichungen von Wörtern aus dem Notentext des Klavierauszuges, sondern auch um einige treffende Abweichungen, die den Charakter der Vazanta besser zur Geltung bringen. So übergibt die Königin im Libretto nachdem sie ihren untreuen Liebhaber Selim getötet hat, ihre Krone dem Paar Medgé-Nair zurück und erklärt, dass sie als Priesterin im Tempel von Deva sterben werde. Im Klavierauszug ist diese Abkehr verschwunden. Das Werk endet mit der schrecklichen Überraschung Vazantas über den Mord,  in einem Parlando, das das dramatisch Wesentliche auf den Punkt bringt: „Ah…spento egli è” („Ah. er ist tot”). Der Zuhörer weiß bereits, dass Vazanta das Paar Medgé-Nair unter ihren Schutz gestellt hat. Das reicht: Es gibt dem Komponisten die Gelegenheit zu einem wunderbaren Finale, das den frühen  Verismo ahnen lässt. Natürlich konzentriert sich das Werk damit eher auf das Paar Vazanta und Selim, das letztlich so menschlich ist, während das „ideale“ Paar Medgé und Nair vor allem als Katalysator dient, um das ganze Spektrum ihrer charakterlichen Gegensätze zu offenbaren. Aber auch diese Eingriffe rechtfertigen umso mehr die berühmte Aufforderung Fontanas an Samara im Jahr 1913, die Flora mirabilis noch einmal gemeinsam zu überarbeiten!

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 2. Akt von Carlo Ferrario/ArchvioStorico del Teatro alla Scala

Medgé, eine Oper in vier Akten (fünf Bilder), wurde am 11. Dezember 1888 am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt. Insgesamt wurde sie sechsmal gespielt und muss den uns vorliegenden Kritiken zufolge einen gewissen Erfolg gehabt haben. Zweifellos war sie jedoch ein gesellschaftliches Ereignis: Bei der Premiere waren die kunstliebende Königin Margherita, Cousine und Ehefrau von Umberto I., der Premierminister Francesco Crispi und der griechische Botschafter anwesend. Es war ein exotisches, hollywoodreifes Spektakel mit einer üppigen, anspruchsvollen Inszenierung und sicherlich hohen Kosten (á la Aida/G.H.). Wohl auch ein Grund dafür, dass die Oper seitdem nie wieder aufgeführt wurde.

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Zu Samaras´“Medgé“: Bühnenbild zum 3. Akt von Carlo Ferrario/Archvio Storico Ricordi

Der vorherrschende Eindruck beim Betrachten der Noten (des Klavierauszugs, da die Orchesterpartitur verschollen ist/G.H.) von Medgé ist der enorme Reichtum der Themen seiner Erfindungen, eine tropisch-orgiastische Vegetation spannender Inspirationen eines charismatischen Komponisten von nur 22 Jahren. Wir erinnern uns wieder an den prophetischen Fontana: „Una vera stoffa d’operista“. Samaras Technik, bewundernswert vollendet, lässt hier schon sein angeborenes Talent erahnen. Sehr oft unterstreichen seine harmonischen Fortschritte den emotionalen psychologischen Wechsel der Konflikte. Die Tempi in ihren gut durchdachten Wechseln, seine Rhythmen, die gesamte organische Begleitung, zusammen mit der Harmonik, wirken wie ein wunderbarer Pulsmesser. (…)  Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Details des riesigen Ton-Gemäldes richten, entdecken wir eine Vielzahl von fein gearbeiteten Miniaturen, deren oft kaleidoskopische vielfältige Abfolge das Gesamtbild vervollständigen. Medgé wird vielleicht einmal als einer der Bezugspunkte für die Verfolgung der Entwicklung der späteren italienischen Oper dienen… Es ist ein Jammer, dass die Orchesterpartitur verloren ist. Alles in der erhaltenen  Klavierfassung von Medgé unterstreicht eindringlich ihre Funktionalität: Wechsel und Kontraste in der Dichte der harmonischen Schreibweise, die der Begleitstimmen mit flüchtigen Pinselstrichen, die mit durchdachten Kontrasten oder Schattierungen der orchestralen Klangfarben usw. identisch sind.

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Zu Samaras „Medgé“: Bühnenbild-Entwurf für Masenets „Roi de Lahore“ Akt 1, 1878 von Agosto Ferri/Archivio Storico Ricordi

Obwohl das Werk genau zu der Zeit geschrieben wurde, als Wagner starb, finden sich stricto sensu in Medgé keine Leitmotive oder „Erinnerungsmotive”. Deutlicher sind thematische Elemente am Anfang des zweiten Aktes (Duett Mezzo – Vazanta), die vage miteinander in Verbindung stehen. Das zweite Motiv findet im letzten Akt recht deutlich als Synkope, Tonika und Rhythmus (Vazanta Anrufung der blutrünstigen, negativen Göttin), während die „Ton-Plejaden” (einzelne aufblitzende tonale Elemente wie Sternschnuppen?/G. H.) in der letzten Szene der Hinrichtung von Selim wieder auftauchen.

Aber diese Plejaden sind ein Teil der„Fingerabdrücke” des Stils von Samara. Um es deutlich zu sagen: Der vorherrschende Eindruck ist der unerschöpfliche Fluss neuer musikalischer Ideen. Daher ist die große Mezzosopran-Arie Medgés als eine Abfolge autonomer musikalischer Einheiten strukturiert, die man im Englischen als „Nummern” bezeichnen würde, mehr oder weniger kurz, oft nicht nur an sich bezaubernd, sondern auch als Abwechslung zu dem, was vorangeht oder folgt. Hier wieder eine wesentliche Verwandtschaft mit Aida: Verdi, der neben den Gefühlen seiner Helden, die in der Regel mit den Dur- und Moll-Tonarten der westlichen Musik ausgedrückt werden, eben auch „Modi” einer ganzen vollständig verlorenen Musikkultur der alten Ägypter erfindet. Etwas Ähnliches versucht vielleicht der 22-jährige Samaras auch, allerdings wesentlich zögerlicher und offenbar fast ohne jegliche Kenntnis der indischen Musik: Mit seinen exotischen Anspielungen, abgesehen von gelegentlichen Rückgriffen auf Monophonie oder sogar Unisono und pentatonischen Konturen, die typisch für „exotische” Musikkulturen sind, versucht er vorsichtig, aber immer mit Treffsicherheit, über den Dur- und Moll-Ton in die Welten des Trioletts und einiger „exotischen“ Varianten vorzudringen. Solche exotischen Bezüge vertraute er oft einem Holzblasinstrument, einer Flöte oder einer Oboe an.

Als Ausgleich dafür weisen sein tonales Spektrum (insbesondere dieses) und sein harmonisches Vokabular über ihre psychographische Funktionalität hinaus eine bemerkenswerte Vielfalt (z. B. häufige harmonische Wechsel) und Ökonomie auf, da die harmonische Idee oft für den expressiven Höhepunkt des jeweiligen „Stücks” reserviert ist. (Wiederveröffentlichung aus dem Programmheft des Staatlichen Orchesters zur Würdigung Samaras beim Philologischen Verein Parnassos am 10. April 2011). Giorgos Leotzakos

 

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Zu Samaras´“Medgé“: Elena Hastreiter war die erste Vazanta 1888 am Teatro Costanzi/Archivio Storico del Opera di Roma

Und nun der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis zu seiner Neuausgabe der Oper Medgé von Spyros Samaras. Mit der Medgé von Samaras habe ich mich intensiv beschäftigt, nachdem seine Leonella während der Pandemie aufgeführt wurde. Das Werk hat mich besonders beeindruckt, als April 2011 im Rahmen des 7. Zyklus der Griechischen Musikfestspiele.  Ich zog es jedoch vor, mich zunächst mit Leonella zu beschäftigen, vielleicht weil mich die Geschichte und die Mythologie des Werks faszinierten. Die Uraufführung in der Mailänder Scala im Jahr 1891 und ihr eklatanter Misserfolg trotz der großen Namen, die sie interpretierten, wie der Dirigent Mugnone, und der Ruhm der Trennung unseres Komponisten von Leoncavallo waren äußerst reizvolle Anziehungspunkte, die über den musikalischen Wert hinausgingen.

Die Musik war mir übrigens bereits aus den EMG von 2011 bekannt. Über die Orchestrierung hatte ich ständig nachgedacht und auch einen groben Arbeitsplan erstellt. Als mir dann Olivier Decot den entsprechenden Vorschlag machte, stürzte ich mich mit voller Kraft in die Arbeit.

Von den drei Melodram-Instrumentierungen von Samaras, die ich gemacht habe, stellte jede seiner Opern besondere Probleme dar. Tigra, an der ich als erste gearbeitet habe, existierte in einem einzigartigen Manuskript Partitur, also einem ersten Entwurf für Stimmen und gegebenenfalls „erweitertes“ Piano. Wichtig war, dass Samaras seine musikalischen Ideen zu Papier brachte, ohne sich durch die Notwendigkeit, den Part für den zukünftigen für den zukünftigen Übungspädagogen, der das Werk den Sängern beibringen würde, spielbar zu machen. Der direkte Kontakt zu seinem Manuskript war daher für mich äußerst hilfreich bei der Frage, wie es orchestriert werden könnte.

Bei Lionella lag die Schwierigkeit einerseits in der Existenz eines bedeutenden orchestralen Auszugs wie der Ungarische Rhapsodie, die für die gesamte orchestrale Komposition recht verbindlich ist, und andererseits die für die Erlernbarkeit auf dem Klavier „komprimierte“ gedruckte Wiedergabe des orchestralen Klangs.

Maurice de Vries war der erste Sélim in Samaras´“Medgé“ 1888/Courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Im Fall von Medgé kam zu dieser letzten Schwierigkeit noch eine weitere hinzu, die sowohl praktischer als auch emotionaler Natur war. Das einzig bekannte Partitur des Werkes war war die des bedeutenden Dirigenten der Griechischen Nationaloper, Totis Karalivanos (1901-1987). Der Maestro liebte die Medgé besonders und hatte mehrere Auszüge daraus selbst orchestriert Er war sogar so freundlich, mir seine Partituren und die Stimmen zu schenken, die alle von ihm handschriftlich verfasst waren. Ich stand vor zwei Problemen. Erstens „beschränkten“ oder „begrenzten“ seine Orchestrierungsnotizen in gewisser Weise die Phantasie eines jeden nachfolgenden Arrangeurs. Zweitens war es nicht möglich, die konkreten Auszüge zu verwenden, da sie der allgemeinen Homogenität verpflichtet waren und urheberrechtlich geschützt waren.

Die Schwierigkeit wurde noch größer durch das Bewusstsein für den persönlichen Wert der Arbeit des Maestros. Ich kam zu dem Entschluss, eine vollständige eigene Orchestrierung des Werks vorzunehmen, wobei ich mich an den Arbeiten von D. Sostekin an Boris Godunow und M. Mussorgskys an Boris Godunow und die Chovanschtschina von M. Mussorgski orientierte, trotz der brillanten Orchestrierungen der oben genannten Werke durch den genialen Orchestrator (und selber Komponisten) N. Rimski-Korsakow oder Strawinsky.

Dieses Jahr jährt sich zum 40. Mal die meiner Meinung nach historische Aufführung und CD-Aufnahme von Rhea, die ich im September 1984 in Korfu mit hervorragenden griechischen Solisten und dem Orchester und Chor des Radios Sofia dirigiert hatte. Ich glaube, dass dieses Ereignis sowohl für die Wiederentdeckung von Samaras durch die griechische Musikszene als auch für die anschließende grundlegende Forschung über sein kompositorisches Werk grundlegend war.

Heute, am Ende meines Zyklus von Orchestrierungen und im Rückblick auf meinen persönlichen Weg durch das Werk des großen Komponisten aus Korfu, kann ich sagen, dass ich einen kleinen Beitrag zur wesentlichen Kenntnis seines Werks geleistet habe. Ich glaube, dass die jüngeren Musiker und Forscher mit ihrer Arbeit dazu beitragen werden, dass das Wissen über das Schaffenswerk von Samaras und das Werk anderer bedeutender Komponisten unserer Zeit eine breitere Gesellschaftsschicht erreicht und zum Eigentum unseres griechischen Volkes wird. Byron Fidetzis

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Stagione 1888 al Teatro Costanzi Roma, Librettista: Fontana, Direttore: Mugnone Leopoldo, Scenografia: Fidora Natale, Cantano: Calvé, Emma (Medgé); Hastreiter, Elena (20, 31 dicembre Paolicchi-Mugnone, Maria) (Vazanta); Massart, Nestor (Nair); De Vries, [Devries Maurice?] (Selim); Cherubini, Enrico (Kadur); Navarri, Alberto (Amgiad); Terzi, Raffaele (Il gran bramiro). 11, 13, 15, 16, 20, 30 dicembre. Prima esecuzione assoluta: 11 dicembre 1888 Costanzi, Roma

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Samaras „Medgé“ im Konzert in Athen/Foto Maria Callas Saal

Kostas Xakenis zum Konzert im Februar 2025: Eine unbekannte, absolut wichtige und musikalisch in die Zukunft reichende  Oper des Komponisten  aus Korfu, sein Meisterwerk Medgé, wurde im Rahmen einer Hommage an den großen griechischen Komponisten des Verismo in Zusammenarbeit mit dem Athener Philharmonia Orchestra auf der Bühne des Olympia-Theaters in einer neuen Orchestrierung aufgeführt.

Samaras, der Komponist, der die Olympiahymne vertont hat, war zweifellos der bedeutendste und erste Komponist der Ionischen Schule, der internationale Anerkennung erlangte. Seine Karriere blühte in Paris, Mailand und anderen Städten Italiens, bevor er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Griechenland zurückkehrte. Leider sind die meisten Opern von Samaras nur in gekürzter Form, in Transkriptionen für Gesang und Klavier, erhalten, wobei die Originalorchestrierungen des Komponisten offenbar für immer verloren sind.

Byron Fidetzis orchestrierte und dirigierte Die „Medgé“ von Spyros Sarama/Foto Athens State Orchestra

Der erfahrene Dirigent Byron Fidetzis arbeitet seit vielen Jahren systematisch an der Wiederbelebung von Samaras‘ Werk und hat aus diesem Grund mehrere seiner Opern neu orchestriert, damit das zeitgenössische Publikum sie genießen und würdigen kann.

Nach der Wiederaufführung der Oper Lionella im Mai 2023 (wie Medgé auf youtube zu erleben) setzte der künstlerische Leiter der Philharmonie seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des griechischen klassischen Repertoires fort und orchestrierte Medgé neu.

Mit diesem Satz hat der italienische Dichter und Librettist von Puccini und Samara (1861-1917), Ferdinando Fontana (1850-1919), vor etwa 140 Jahren das „Phänomen” Samara vorausgesagt! „Hören Sie es sich mit Ihrer Fantasie und im Original an: Spiro Samara: una vera stoffa d’operista! Ist die Musikalität der Worte nicht erstaunlich?“

Und ein Beweis für diese bedeutungsvollen Worte für die Zukunft, die ein „renommierter“ Schriftsteller unserem jungen 22-jährigen BKomponisten aus Korfu in Italien entgegenbrachte – obwohl wir zuvor nur seine späteren Opern Despo, Lionella, Rea, die mit der „Olympischen Hymne” beginnt, und Tigra, sowie seine Operetten La Cretopoula und Die Prinzessin von Sassoon, sowie die Aufnahmen von Xanthoula” und La Martyr kannten – war zweifellos der Höhepunkt der Aufführung im Olympia – dem Städtischen Musiktheater „Maria Callas“, das jugendliche Werk des Komponisten in vier Akten, Medgé.

Nach der Wiederaufnahme der Oper Lionella im Mai 2023 hat der Dirigent Byron Fidetzis, der seinen unschätzbaren Beitrag zur Verbreitung des wissenschaftlichen griechischen Repertoires fortsetzt, Medgé neu orchestriert, da die originale Orchestrierung von Samaras wie im Falle von Lionella als verloren gilt.

Die Oper, die nach dem französischen Originallibretto von Pierre Elzéar aufgeführt wird, ist eine beeindruckende Leistung des erst 22-jährigen Samaras. Ihr unendlicher melodischer Reichtum wurde von einer hervorragenden Besetzung von griechischen und französischen Opern-Sängern dargeboten.

Es war ein „Ozean“ origineller musikalischer Themen, die so vertraut sind und doch noch nie zuvor gehört wurden, sodass man sich dabei ertappt, abstrakt vor sich hin zu summen oder leicht im Takt der Ballettmusik des Werks mitzuwippen, als wäre es etwas ganz Eigenes. Aber ist das nicht das Wesen wahrer Kunst?

Was Byron Fidetzis betrifft, der das Werk nach dem Verlust der Originalpartitur neu orchestriert und damit eine weitere Meisterleistung in unserem Musikleben vollbracht hat, was soll man da noch sagen! Wir glauben, dass selbst wenn die Italiener 1888 in Rom ein völlig anderes Werk gehört hätten, Samaras, wäre er anwesend gewesen, von Fidetzis‘ „Handwerkskunst” begeistert gewesen wäre.

Zu Samaras´“Medgé“: Leopoldo Mignone dirigierte die Oper 1888 am Teatro Costanzi Rom/Wikipedia

In der Musik des Komponisten konnte man die französische Finesse und den Einfluss seiner französischen Kollegen und Lehrer Delibes (Lakmé), Bizet (Les Pêcheurs de Perles), Charpentier (Louise) und Chabrier (L’Étoile), aber auch in der „trionfale” „alla” Aida mit den links und rechts „abgeschnittenen” (!) Trompeten. Vorbildliche Ensembles von Sängern im italienischen Belcanto-Stil von Donizetti (siehe Sextett) und seine Ballette im französischen Stil (siehe Verdis Vêpres siciliennes), sowohl in der Oper als auch in französischen Operetten „à la“ (die an den berühmten Klein-Zack au Les contes d´Hoffmann, aber auch an die österreichisch-ungarische Operette seiner Zeit erinnern), aber immer mit einem persönlichen Stil, der nicht von seinen Zeitgenossen kopiert oder „gestohlen” wurde, sondern sich nur von den musikalischen Entwicklungen um ihn herum beeinflussen ließ, als Student und Kollege, der in ganz Europa intensiv studierte und dessen gesamtes musikalisches Œuvre das Gefühl vermittelt, dass etwas Neues die Geschichte unserer Kunst erschüttern wird, und die Wahrheit offenbart wird, um den kommenden musikalischen Trend des Verismo einzuführen und „zu gebären”, der von seinen Kollegen Puccini, Leoncavallo und Mascagni zu Recht als „Vater” dieser Bewegung bezeichnet wurde. Ein Beweis dafür ist das Intermezzo zwischen dem 3. und 4. Akt.

Das Athener Philharmonia  Orchestra, der Athener Stadtchor unter der Leitung des Dirigenten Stavros Beris und die Solisten in Bestform, obwohl für eine ausgewogene Balance mindestens ein weiterer Chor erforderlich gewesen wäre. Die Rollen wurden gespielt von: Lucie Peyramaure (Medgé/Mezzo), Konstantinos Klironomos (Nair), Dimitris Platanas (Selim), Héloïse Mas (Vazanta), Tassos Apostolou (Kantur) und Florent Leroux-Roche (Amtziad), die vom Pianisten Apostolos Palaios tadellos vorbereitet worden waren (17. 02. 254).

Das Publikum, das den Theaterraum füllte, rief „Bravo” und applaudierte lange, was für die griechische Oper in unserer Zeit ungewöhnlich ist, und ließ die Künstler nicht von der Bühne. Es war ein echter Triumph für Samaras, Fidetzis und alle anderen. In Korfu und Italien wären sie sicherlich mit Rosenblättern überschüttet worden, wie es Tradition ist. Und es stellt sich erneut die Frage, warum die Nationaloper all diese erstklassigen griechischen Opern von Samaras, Carrer, Lavraga usw. nicht in ihr Repertoire aufnimmt und unsere 200-jährige Tradition in der Versenkung verschwinden lässt. Kostas Xakenis

 

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Zu Samaras´“Medgé“: das Teatro Constanzi 1880, später Teatro dell´Opera di Roma/Wikipedia

.Inhalt: Medgé ist ein wahres musikalisches Juwel von Spyros Samaras, dem meisterhaften griechischen Komponisten des Verismus. Die Handlung entfaltet sich in vier Akten und fünf Szenen. Die Oper wurde am 11. Dezember 1888 in Rom (Teatro Costanzi) uraufgeführt und sechsmal aufgeführt, mit der französischen Sopranistin Emma Calvé, einem internationalen Star der Belle Époque, in der Titelrolle.

Die reichhaltige Textur der Musik, die glamouröse Kulisse und die Kraft der melodischen Erfindungen, durchdrungen von den Farben des Exotismus, fanden bei Publikum und Kritik gleichermaßen großen Anklang und markierten einen bemerkenswerten Erfolg Elzéar, in einer neuen Orchestrierung von Byron Fidetzis.

AKT I: Jäger verfolgen die Spuren eines wilden Tieres im Wald. Nair tötet mutig das Tier und feiert seinen Erfolg. Seine Schritte führen ihn zu einem verfluchten Felsen. Dort warnt ihn Kadur, sein weiser Diener, dass, wenn jemand es wage, dreimal Wasser aus dem Fluss zu trinken, ein Dämon in Gestalt einer Frau erscheine. Nair ist nicht überzeugt und trinkt, wodurch er die unbekannte „Göttin der Felsen“ heraufbeschwört. Tatsächlich steht eine schöne Frau vor ihm; sie ist kein Dämon, sondern die unglückliche Tochter des Königs von Mysore, Medgé. Nach der Niederlage ihres Vaters gegen den mächtigen Vazanta suchte sie Zuflucht in der Wildnis. Von ihrer Schönheit verzaubert, verspricht Nair, ihr zu helfen, über Nacht die Grenze zu überqueren. Bevor sie aufbrechen können, überrascht Sélim, der Anführer der Armee, sie und befiehlt seinen Soldaten, die Prinzessin zum Palast zu begleiten. Medgé muss gehorchen, während Sélim ihren Bitten nachgibt und Nair freilässt.

Zu Samaras´“Medgé“: Flachrelief mit Darstellungen von Denkern und Schriftstellern aus Asien, deren Ideen durch den Buchdruck verbreitet wurden, unter der Statue von Gutenberg. Plastik von von David d’Angers (1788–1856). Der Dichter August Pavie (1847 – 1925) steht rechts, beugt sich über die Kinder und zeigt auf die Bücher. Lakmé basiert auf seinem Werk „Les Babouches du Brahmane” und anderen Geschichten/Wikipedia

AKT II: Medgé ist in die vertrauten Gemächern des Palastes zurückgekehrt, aber sie kann Nair nicht aus ihrem Kopf bekommen. Vazanta erscheint, majestätisch und benevolent. Im folgenden Duett gesteht die Königin der Prinzessin, die siegreich von der Grenze zurückgekehrt ist, ihre Liebe zu Sélim. Sie offenbart auch ihre verborgene Angst, dass Medgés erstaunliche Schönheit ihren Auserwählten verführen könnte. Medgé bietet an, den Palast zu verlassen, und Vazanta stimmt erleichtert zu. Unterdessen feiert das Volk die triumphale Rückkehr der Soldaten. In der Menge suchen Nair und Kadur Medgé, trotz der Gefahr. Während Vazanta zusammen mit den Priestern Brahma für den Sieg dankt, entdecken sie sie, aber Nairs unerwünschte Anwesenheit wird von Amgiad bemerkt. Nair wird verhaftet und zu Sélim gebracht, der über sein Schicksal entscheiden wird. Kadur flieht und übernimmt die Aufgabe, Medgé zu benachrichtigen. Im Palast wird Sélim zum König gekrönt. Als er von Medgés Entscheidung zu gehen erfährt, versucht er verzweifelt sie aufzuhalten, jedoch ohne Erfolg. Nair wird vor die Königin gebracht, die ihn dank der Fürsprache der Prinzessin freilässt. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als die Personen sich in ihren Ängsten und Sehnsüchten gefangen sehen. AKT III: Eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht und unter dem bedrohlichen Schatten von Sélim planen die beiden Liebenden ihre Flucht: Sie vereinbaren, dass Nair Medgé vorausgehen wird und sie sich bei Tagesanbruch am Flussufer treffen werden. Als Nair sich entfernt, erscheint Sélim und versucht, sich Medgé aufzuzwingen, die sich jedoch standhaft weigert, seinen Forderungen nachzugeben.  Versteckt hinter einer Säule beobachtet Vazanta die Szene und greift im richtigen Moment ein, um die Prinzessin unter ihren Schutz zu stellen. AKT IV: Am Ufer des Ganges singen der Hohepriester und das Volk Lobeshymnen auf Deva, die Göttin der Nacht. Unter ihnen betet auch Vazanta in ihrer Funktion als Hohepriesterin. Szenenwechsel: Vor dem Tempel Kadur segnet die Vereinigung von Nair und Medgé. Der ekstatische Moment wird von Sélim unterbrochen, der sich bedrohlich Medgé zuwendet. Bevor er sie ergreifen kann, erscheint Vazanta: Sélims Verrat an der Königin wird noch schwerwiegender, als er die Göttin Deva beleidigt. Sélim gesteht seine Liebe zu Medgé und macht damit seine Verurteilung unvermeidlich. Die Oper endet damit, dass Vazanta ein Messer in Sélims Kehle stößt, der auf dem heiligen Altar geopfert wird. Im Morgengrauen stehen Nair und Medgé vereint auf den Stufen des Tempels. Maira Milolidaki

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Die vorliegenden Texte entnahmen wir mit Dank dem Programmheft zur konzertanten Aufführung im Maria Callas Saal in Athen im Februar 2024. Übersetzung DeepL. Die eine oder andere Unklarheit im Text von Giorgios Leotzakos führt darauf zurück, dass es nur einen griechen Originaltext gab – in griechischer Schrift -, der keine weitere Referenz zuließ. Daher die kursiv gesetzten Einschübe. Foto oben: Emma Calvé/ J. Willis Sayre Collection of Theatrical Photographs/University of Washington/Wikipedia. Redaktion und Kürzungen G. H.

Drei Komponistinnen Frankreichs

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Geballte Frauenpower springt dem Betrachter des Covers wie dem Hörer der CD mit dem Titel Sisters in Augen und Ohr, nicht nur mit den Gesichtern von Dirigentin und Sängerinnen, sondern auch mit der Musik von Komponistinnen, die auf ihr vertreten sind, und so huldigt sie in extremer Weise dem Zeitgeist. Allerdings verwundert dabei umso mehr, dass von der französischen Komponistin Louise Bertin nur die Sinfonia ihrer Oper Fausto (nach Goethe), nicht aber die Arie des für Mezzosopran komponierten Titelhelden vertreten ist, und dass obwohl eine der beiden Solistinnen der CD diese Partie vor gar nicht langer Zeit gesungen hat. Sisters sind im übrigen nicht die Mezzosopranistinnen Karine Deshayes und Delphine Haidan, und auch die Dirigentin Débora Waldman kann sich verwandtschaftlicher Bande nicht rühmen, wohl aber sind Maria Malibran und Pauline Viardot Schwestern gewesen, letztere auch als Komponistin bekannt, während als dritte Komponistin Clémence Grandval mit Auszügen aus ihrem Mazeppa vertreten ist, leider nur mit Orchesterstücken, so dass schwesterliche Zusammenarbeit sich auch hier nicht auf die beiden Sängerinnen erstreckt.

Die männlichen Komponisten dominieren auch auf dieser CD, vor allem wenn die Sängerinnen gefragt sind, von denen nur der dunkleren Stimme von Delphine Haidan das Glück zuteil wird, mit Viardots Arie aus Le dernier sorcier ein von einer Geschlechtsgenossin komponiertes Werk darbieten zu dürfen.

In drei anspruchsvollen Rossini-Duetten aus La Donna del Lago, Elisabetta, regina d’Inghilterra und Semiramide ist die mit einer helleren Stimme begabte Deshayes jeweils Elena, Elisabetta und Semiramide, die mit der dunkleren aufwartende Haidan Malcolm, Matilde, Arsace, was man nicht dem Booklet entnehmen kann, das sehr sparsam mit Informationen ist, sondern was man sich irgendwie aus dem sonstigen Repertoire der beiden erschließt. In der Rolle der Elena funkelt die Stimme von Deshayes verführerisch, weiß sie sich als Elisabetta mit der ihrer Partnerin reizvoll zu umschlingen und ist sie als Semiramide klar dominierend, was vokale Energie und Strahlkraft angeht.

Aus Glucks Orphée et Eurydice singt Haidan geschmeidig, weich und doch mit vokalem Biss die berühmte Arie, während die heller getönte Deshayes in Amour, viens rendre behände durch die Koloraturen eilt, mehr auf die technische Bewältigung als tiefsinnige Gestaltung konzentriert ist und mit einer schönen Kadenz, aber auch stellenweise mit Schrillheit aufwartet.

Spätestens beim Anhören von Elviras Qui la voce sua soave fragt man sich, warum sich Karine Deshayes als Mezzosopran bezeichnet, denn hier offenbart die Sängerin vor allem Sopranqualitäten, eine weitere Frage dürfte die nach dem Warum des Überwiegens von Orchesterstücken der Komponistinnen sein, insbesondere, wie bereits erwähnt, den Fausto von Bertin betreffend , aber auch Mazeppa von Clémence de Grandval betreffend. Das Orchestre national Avignon-Provence unter Debora Waldman ist zwar ein solider, einfühlsamer Klangkörper, aber als Alibi für ihre Dominanz nicht geeignet, so wenig wie die Oper generell es sein kann, die zumindest gleichwertige Beteiligung  und Bedeutung von Frauen in ihrer Geschichte zu demonstrieren (NNM 118). Ingrid Wanja.                    

Bayreuther Festspiele 2024

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Kaum ist der letzte Ton verklungen, liegt auch schon die Blu-ray von Tristan und Isolde auf dem Tisch (2 Blu-ray DG 00440 073 6685). Es handelt sich freilich nicht um den Mitschnitt aus dem aktuellen Festspieljahr, sondern um eine Aufnahme, die 2024 entstand, als diese Produktion ihre Premiere erlebte, und die pünktlich Anfang Juli auf den Markt kam. Als Dokument ist sie wichtig, weil sie den Tristan von Semyon Bychkov festhält, der 2018 bei Uwe Eric Laufenbergs Parsifal auf dem Grünen Hügel debütiert hatte und Tristan und Isolde suggestiv gestaltet und stellenweise wie neu leuchten lässt, voll sinnlicher, verführerischer Farben und dabei immenser Spannkraft und Dynamik. Diese glühende Interpretation hatte mich schon in diesem Sommer im Festspielhaus auf Anhieb elektrisiert, wobei sich im Haus die Nuancen und instrumentalen Feinheiten vielleicht noch eine Spur reicher und fesselnder gestalteten. Die Aufnahme hält auch das Rollendebüt von Andreas Schager fest. Dieser Tristan ist ein Kraftpaket, das sich bereits nach dem ersten zaghaften „Isolde“-Stammeln lieber in heldischer Emphase zeigt, was den Hörer eher ermüdet als den unermüdlich muskulös und kernig singenden Helden. Camilla Nylund war mit der Isolde, die sie 2022 in Zürich (und dann in Dresden) erstmals komplett gesungen hatte, endgültig in die Riege der Hochdramatischen vorgestoßen. Sie singt jugendfrisch, mit aufblühenden Bögen, runder Höhe, vielleicht etwas schwächerer Tiefe, insgesamt vermutlich die derzeit beste Vertreterin der Partie. Im Premierenjahr ist die erfahrene Brangäne der Christa Mayer der müden Ekaterina Gubanova vorzuziehen, Birger Radde war als Melot ein Gewinn, der markant rufende Kurwenal von Olafur Sigurdarson wurde 2025 von Jordan Shanahan abgelöst, ansonsten ist die Besetzung von Matthew Newlins jubelnd frischen Seemann, dem eleganten Daniel Jenz als Hirt bis Günther Groissböcks ausdrucksvollen Marke unverändert.

Der Inszenierung ist nicht viel abzugewinnen. Die Arbeit von Thorleifur Örn Arnarsson in den Bildern von Vytautas Narbutas und in den Kostümen von Sybille Wallum gibt sich auf dem Bildschirm belangloser und gefälliger als in der Festspielhaustotalen. Zunächst dominieren die dekorativ gehängten Schiffstaue die Szene sowie vor allem Isoldes sonderbares weißes Engelsgewand, eine Art überdimensionierter Reifrock, auf dem sie Erinnerungen und Gedanken festhält und in den sich auch Tristan gerne vergraben würde, was der Blick von oben sehr geschickt zeigt (Video Director: Michael Beyer). Vieles, wie der im zweiten Akt mit Antiquitäten, Kram und Nippes vollgestopfte Schiffsrumpf, wirkt allerdings in den kleinen Bildausschnitten befremdlich und unfertig und lässt, anders zwar als die rätselhaft wirkende Live-Aufführung, den Betrachter ratlos zurück. Rolf Fath

 

 

Im grossen Schatten anderer

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Eigentlich sollten einige Jahre zwischen den Aufführungen von Mozarts Idomeneo in der Lindenoper und den Konzerten mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München liegen, beide von Simon Rattle geleitet und in den meisten Partien identisch besetzt. Corona machte einen Strich durch die Aufführungspläne und führte dazu, dass die Premiere in Berlin erst im Frühjahr 2023 stattfinden konnte, die drei konzertanten Aufführungen in München mit dem neuen Chefdirigenten gerade einmal neun Monate später, nämlich m Dezember des gleichen Jahres. Abweichend in den Hauptpartien waren die Elettra und die Ilia besetzt, in Berlin sangen Sonya Yoncheva und Anna Prohaska, in München und damit auch auf den nun vorliegenden CDs sind Elsa Dreisig und Sabine Devieilhe zu hören, während die Besetzungen mit Andrew Staples als Idomeneo und natürlich Magdalena Kožená sich nicht voneinander unterscheiden. Für den Hörer, für den Luciano Pavarotti als Idomeneo und Edda Moser als Elettra das Maß aller Rollenportraits sind, gibt es natürlich einiges einzuwenden, was Timbrequalität des Tenors oder dramatische Wucht des Soprans angehen, wobei die Münchner Besetzung gegenüber der Berliner Licht- wie Schattenseiten aufweist.

Dem Idomeneo Andrew Staples mangelt es an Schönheit und Klarheit des Timbres, in Passagen, in denen der Hörer Heldisches erwarten könnte, bekommt er oft nur recht Weinerliches zu hören, auch die Rezitative leiden  streckenweise darunter, man vermisst eine präsentere vokale Autorität, wie sie durchaus stellenweise, so zum Beispiel im „Eccomi…“ zu vernehmen ist. Da ist ihm sein Tenorkollege Linard Vrielink als Arbace oft überlegen, der durchgehend sehr beteiligt wirkt, in der Arie des dritten Akts geradezu tollkühn, allerdings nicht in allen Registern mit der gleichen Qualität aufwartend. Der dritte Tenor ist Allan Clayton als Oberpriester mit der für das Amt notwendigen vokalen Eindringlichkeit. Als Stimme des Orakels lässt sich der Bass von Tareo Nazmi vernehmen.

In Berlin wie in München ist Magdalena Kožená ein in jeder Hinsicht idealer Idamante, nicht zuletzt als  Partnerin für die Ilia der Sabine Devieilhe, zu deren Sopran ihr runderer, dunklerer aber durch gleichwertige Timbreschönheit, Geschmeidigkeit und Farbigkeit hervorstechender Mezzosopran ideal passt, die die Rezitative zu Höhepunkten der Aufnahme werden lässt und die einfach ein Wunder an Ebenmaß ist.  Ein Riesengewinn im Vergleich zu den Berliner Aufführungen ist die Ilia von Sabine Devieilhe mit einem Sopran von pura dolcezza, mit einem tragisch klingenden Touch im Timbre, nur selten etwas zu viel gefällige Naivität ausstrahlend, aber hinreißend mit den „zeffiretti lusinghieri“, die bei ihr zu wahren zeffirettini werden, mit wunderschönen Schwelltönen und vielem zart Dahingetupftem.  Ein empfindsames Beben durchzieht die gesamte Leistung.  Elsa Dreisig ist eine wunderbare Sängerin, aber für die Elettra auch als Gegenspielerin einer ganz zarten Ilia und mit Tugenden wie Textverständlichkeit, Rundung der Töne, schöner Phrasierung einfach zu wenig „furore“ vermittelnd,  wohl eine schöne Trauer, aber kaum die Wut der Kränkung bei allem Bemühen um Rasantes, Hysterisches vermittelnd.

Vorzüglich ist der Chor des bayerischen Rundfunks, erschauern machend mit „Qual nuovo terror“, das Orchester folgt seinem Dirigenten und zaubert einen farbig-duftigen, durch Klarheit und Straffheit sich auszeichnenden Klang und sorgt für nie nachlassende Spannung (BR Klassik). Ingrid Wanja

 

Hochvirtuos

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Eng mit dem Namen des neapolitanischen Kastraten Giovanni Carestini verbunden sind die beiden bei Solo Musica  erschienenen CDs der aus Südafrika stammenden Mezzosopranistin Megan Kahts mit deutschen Wurzeln, deren erste sie im Bündnis mit dem Carestini Orchester und mit Musik von Händel und Haydn und den Damen Ariadne und Armida  zeigt, während die neueste zwar auch Händel, daneben aber  Johann Adolph Hasse berücksichtigt und neben Arien, die der Kastrat einst zum Erfolg führte, auch solche berücksichtigt, die für die Gattin Hasses, die Sängerin Fausta Bordoni komponiert wurden. Dabei schmeichelt die CD nicht nur den Ohren, sondern kann durch die Sorgfalt, mit der Cover und Booklet gestaltet wurden, sich auch für weitere Sinne und nicht zuletzt den Verstand anregendes Erlebnis beweisen.

Megan Kahts war in Südafrika bereits ein singender Teenager-Star gewesen, ehe sie sich zur weiteren Ausbildung nach Wien begab und unter anderem bei  Claudia Visca und mit Robert Holl studierte, immer noch als Sopran, ehe ihre Mezzoqualitäten entdeckt wurden. 2018 debütierte sie im neuen Fach als Costanza in Haydns L’isola disabitata. Neben alter Musik ist ihr zweites musikalisches Standbein die neueste Musik, wie die Teilnahme an der Uraufführung von Fabian Panisellos Oper Die Judith von Shimoda bezeugt. Erstaunlich ist ihr Werdegang schon allein dadurch, dass eine seit dem achten Lebensjahr musikalischer Ausbildung unterworfene Stimme eigentlich diese Erfolge gar nicht erreicht haben dürfte.

Die nun vorliegende CD verrät das abgelegte Sopranfach noch immer in der leuchtenden Höhe, die bruchlos an die farbige, nicht geschlechtsgebunden erscheinende Mittellage  angebunden ist, während in der Extremtiefe doch manch nur angetippter und trotzdem recht mühsam formulierter Ton auf die einstige Stimmlage hinweist, so in Händels „Tempesta e calma“ der Arie des Alessandro.  Das sind aber recht belanglose Einwände, denn insgesamt erfüllt die mit einem angemessenen Vibrato ausgestattete Stimme alle Voraussetzungen für die Bewältigung der anspruchsvollen Partien, lässt die Erleichterung des Ariodante in „Dopo notte“ ebenso erspüren wie die Weiblichkeit einer Alcina in „Mi lusinga il dolce affetto“. Eine schöne Leichtigkeit zeichnet die Darbietung von Ariodantes Arie „Dopo notte“ aus, eine ebensolche Melancholie  und bruchlose Schwerelosigkeit „Scherza infida“, auch die kluge Phrasierung kann gefallen. Ist ein Stück derart virtuos wie die Arie des Tolemeo, dann verzeiht man den ein oder anderen verhuschten Ton gern. Ein wesentlicher Pluspunkt für die CD ist das Orchester Wiener Akademie unter Jeremy Joseph, das spritzig, straff und präzise agiert. Insgesamt und einschließlich des Booklets ist das eine höchst erfreuliche Bereicherung des CD-Markts (Solo Musica SM 493). Ingrid Wanja   

Fürstliche Noten

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Die Historie verzeichnet einige gekrönte Häupter, die sich erfolgreich im Komponieren versuchten, so Ludwig XIII., Kaiser Leopold I. oder König Friedrich II. von Preußen. Das Label Chateau de Versailles, unermüdlich in der Aufarbeitung des Erbes der französischen Barockoper, widmet sich in seiner neuen Ausgabe einem Werk von Philippe d´Orléans, der Suite d´ Armide ou Jérusalem délivrée. Die Tragédie en musique in einem Prolog und fünf Akten, basierend auf Tassos Gerusalemme liberata, wurde wahrscheinlich 1704 im Schloss von Fontainebleau uraufgeführt und war als Fortsetzung von Lullys Armide und Campras Tancrède konzipiert. Die Handlung kreist um die in den Ritter Renaud verliebte Zauberin Armide, die ihn um jeden Preis in ihre Arme zu locken versucht. Prinzessin Herminie, die von Armide gefangen gehalten wird, ist Renauds Begleiter Tancrède zugetan, der jedoch zunächst seiner Clorinde treu bleibt und sich erst am Ende zu Herminie bekennt. Auch Renaud und Armide sind schließlich versöhnt und für immer vereint.

Ende Juni 2023 fand im Château de Versailles die Aufnahme des Werkes mit der Cappella Mediterranea unter Leonardo García-Alarcón statt, die CVS auf zwei CDs mit umfangreichem Booklet veröffentlicht hat (CVS125). Der argentinische Cembalist und Dirigent fächert die an Effekten und Harmonien reiche Musik faszinierend auf und leitet ein renommiertes Solistenensemble, das von Véronique Gens in der Titelrolle angeführt wird. Ihr Sopran ist nachgedunkelt, der Ton energisch und herrscherlich, der Ausdruck verschlagen und bedrohlich. Aber sie findet auch zu tragisch umflorten Momenten, die für ihren Konflikt stehen („Amour, funeste amour“ im 2. Akt). Auch Herminie ist mit Marie Lys prominent besetzt, ebenso der Renaud mit dem französischen Tenor Cyrille Dubois. Die französische Sopranistin weiß sogleich in Herminies erstem Monolog, „Malheureuse Herminie“, mit feiner Lyrik zu betören. Auch im 4. Akt wartet sie bei „Que Vattrin tarde à revenir“ mit bewegenden Tönen auf.

Klangvolle Stimmen lassen der Tenor Nicholas Scott als Adraste und der Bariton David Witczak als Tissapherne, zwei Verehrer Alcinas, hören. Tancrède ist der lyrische Bariton Victor Sicard aus Frankreich, der im 3. Akt in einer dramatischen Szene seiner Clorinde gedenkt, deren Stimme (Gwendoline Blondeel) visionär ertönt. Mit Armide hat er eine Schlussszene von großer Leidenschaft („Heureux, et trop heureux“).  Der Choeur de Chambre de Namur (Einstudierung: Thibaut Lenaerts) lässt als Armides Gefolge puren Wohllaut hören, so am Ende des 1. Aktes bei „Pour mieux servir la belle Armide“, weiß aber auch dramatisch aufzutrumpfen wie zu Beginn des 5. Aktes bei „Combattons, triomphons“, wo Christen und Sarazener konfrontiert sind.

Dreißig Jahre vor Rameau ist das Werk das bedeutende Zeugnis eines Komponisten von großer Kreativität und Phantasie (09. 09. 25). Bernd Hoppe

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Philippe von Frankreich, Duc d´Orleans/  Gemälde von Matthieu/Wikipedia

Philippe von Frankreich, Herzog von Orléans (* 21. September 1640 in Saint-Germain-en-Laye; † 9. Juni 1701 in Saint-Cloud), war Prinz von Frankreich und Navarra, Herzog von Anjou (1640–1668), Herzog von Orléans, Chartres und Valois sowie Pair von Frankreich (1660), Herzog von Nemours und Pair von Frankreich (1672), Herzog von Montpensier und Pair von Frankreich (1695), Dauphin der Auvergne und Fürst von Dombes (1693–1701), Herzog von Beaupréau und Châtellerault, Fürst von Joinville und La Roche-sur-Yon, Marquis von Mézières, Graf von Eu und Saint-Fargeau sowie Baron von Beaujolais. Bei Hofe wurde er allgemein Monsieur genannt, was der offizielle Titel des Bruders von König Ludwig XIV. war; seine Gemahlinnen wurden als Madame bezeichnet. Seine zweite Ehefrau war Liselotte von der Pfalz.

Saint-Saens Oper „Lancêtre“

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Better today than yesterday? The Palazzetto Bru Zane’s series of recordings of the complete operas of Saint-Saëns, begun in 2012, now continues with the release of one of his most mysterious works. For L’Ancêtre, unlike Phryné or La Princesse jaune, is a score that the history of French music has stubbornly ignored and whose title says little about its subject matter. One never ceases to be surprised by opera houses’ general lack of interest in Saint-Saëns’s output for the theatre, even though his Danse macabre, his concertos for piano and cello and the Bacchanal from Samson et Dalila are constantly heard. Let us examine whether the quality of L’Ancêtre justifies its subsequent neglect.

Rather than proposing an answer to the question by means of musicological analysis, perhaps it would be preferable to give the music critics of our day a chance to speak, those journalists who hastened to express their views following the concert performance given in Monaco in October 2024, from which this recording derives. And let us see if today’s discourse matches the – thoroughly enthusiastic – reaction of those who were present at the world premiere (including Gabriel Fauré himself).

François Laurent (Diapason) went so far as to describe the opera as ‘a marvel’ in which ‘nothing drags, the action flows. […] Old Saint- Saëns seeks to astonish his audience at every turn’. Laurent Bury (Classica) called it a ‘brief but powerful piece’, with ‘well-characterised protagonists’ and a libretto that is ‘wholly effective in its tragic character’. For Damien Dutilleul (Olyrix), L’Ancêtre is ‘musically very rich. It is the work of an audacious, mature composer. Several numbers, especially ensembles and choruses, are particularly striking’. Jany Campello (Resmusica) appreciated the ‘concision’ and ‘luxuriance’ of a score that ‘unwinds a dramatic thread of rare tension, particularly from Act Two onwards. […] The variety of effects and orchestral colours, the absence of longueurs, and the vitality of his music prevent boredom, and offer moments of great beauty […] right up to a vocal quartet of overwhelming lyricism’. According to Clément Mariage (Forum Opéra), the music is particularly ‘inspired’, contriving ‘highly successful dramatic episodes. […] What’s more, the orchestration of the work is highly meticulous’, especially the final ‘passionate lyrical outpouring, staggering in its sensuality and pain’. Finally, Laurent Bury (again, but this time writing for Concertclassic) praises ‘a concision and freedom rare in Saint-Saëns, who does not feel obliged to adopt the austere drapery of antiquity and allows himself more flexible forms’; the critic confessed himself ‘struck by certain motifs whose dramatic efficacy almost seems to prefigure the film music of Bernard Herrmann’.

What can we conclude from this chorus of praise, whose unanimity even surpasses the reviews of the premiere (which one might well put down to a polite esteem for the elderly Saint-Saëns)? Firstly, that the tireless work of institutions that go out prospecting for buried treasure can bear fruit and is not in vain. But also that such dormant works must be championed with enthusiasm and talent by artists conscious of their responsibility in this mission of resurrection. For all the aforementioned commentators praised the quality of a team of performers fully committed to the work’s revival. Which is why we would like to pay heartfelt tribute to the instrumentalists, conductor and singers who strove to give L’Ancêtre a new lease of life. For if the score is the prerequisite for displaying the artist’s talent, it is the latter’s sensitivity and exacting standards that transcend that score and raise it to new heights. And, finally, we wish to put in a word for the enthusiasm of our collaboration with the Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo and its conductor Kazuki Yamada, a joint effort initiated and sustained thanks to Didier de Cottignies, to whom we express our warm gratitude for having made this adventure possible. Thanks to him, from now on it will be a pleasure to listen to our ancestors. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)

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Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch); Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada

2 CDs; Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada/Bru Zane

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Eine Besprechung folgt zeitnah/ g.h.

Ambitioniert in die Sackgasse

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Die einheimische Presse feierte die Neuproduktion von Les contes d´Hoffmann bei den Salzburger Festspielen 2024 als großes künstlerisches Ereignis, und auch das Premierenpublikum zeigte sich angetan von der Regiearbeit von Mariame Clément und dem Dirigat von Marc Minkowski. Nun gibt es die Produktion als Bluray und DVD und fordert dem Betrachter bzw. Hörer ein Höchstmaß an Geduld ab. Das von Offenbach nicht vollendete und vielen Verschlimmbesserungen und Vervollständigungen unterworfene Werk wurde  zuletzt 2003 bei den Salzburger Festspielen gegeben, davor waren über zwanzig Jahre vergangen, bis man es hier hatte erleben dürfen, und die Erwartungen waren entsprechend hoch gespannt, besonders weil man wie inzwischen allüberall „die weibliche Perspektive“ erwartete. Gewählt worden war die Rezitativfassung von Michael Kaye und Jean-Christoph Keck.

Nun ist die Handlung des Werks zwar keine verworrene, aber eine doch recht komplizierte mit einer Rahmenhandlung, innerhalb derer sich drei Episoden, des Dichters Suche nach der wahren Liebe darstellend, abspielen, während im Epilog deutlich wird, dass Hoffmann sich selbst um die wahre Liebe, die Stellas, durch seine Trunksucht gebracht, sie an den ewigen Gegenspieler verloren hat.

Die drei Episoden führen Hoffmann in das Berlin seiner Zeit, in dem ihn Doktor Miracle mit der Puppe Olympia verzaubert,  nach Venedig zur Kurtisane Giulietta, wo er auf den Romantiker Schlemil trifft, und in das Haus der Sängerin Antonia, die von einer tödlichen Krankheit bedroht ist. Mehr Abwechslung, mehr interessante Milieus  können nicht sein, doch die Regie macht alles zunichte, indem sie aus dem Dichter Hofmann einen Regisseur macht, der allerdings oft mit einer Kamera, vor allem aber mit einem Einkaufswagen voller Filmrollen, aber auch Schnapsflaschen über die Einheitsbühne von Julia Hansen schlurft, das nützliche Gerät sogar zur Schlafstätte umzufunktionieren weiß, der Bösewicht sein Filmproduzent ist.  Da der Tenor aber nicht nur der Regisseur Hoffmann, sondern auch dieser selbst in seinen Episodenfilmen, die er umgeben von einer Überfülle umher wieselnden Personals dreht, ist,  singt der Regisseur, während der stumme Hoffmann in den Episoden zwar hübsch anzusehen, aber halt stumm ist. Trostlos ist die Optik, denn vor einer grauen Betonwand gibt es nur kleine Szenen-Ausschnitte, so aus dem Musikzimmer der Antonia, ganz und gar trostlos ist die Kulisse für den Venedig-Akt, der durch kümmerliche Leuchtstäbe dargestellt wird. Nicht nur für  die übervölkerte potthässliche Bühne, sondern auch für die ebensolchen Kostüme  ist Julia Hansen verantwortlich, die offensichtlich ein Faible für untragbare BHs hat, die auch mal explodieren können, oft gerade  von einer Walküre abgelegt zu sein scheinen und wie fast alle Kostüme höchst unkleidsam bis der Lächerlichkeit anheimgebend gegenüber dem Sopran sind. Ausgemerzt ist alles, was dem Stück seine lokale und zeitliche Gebundenheit und Farbigkeit verlieh, angefangen vom Weinkeller Lutters, Lächerliches hinzugefügt wie das Komponieren der Barcarole auf einer öden Parkbank bis hin zum geschmacklosen Auftischen von  Spaghetti mit Tomatensoße plus Parmesan und Schlagrahm.  Das Schicksal des unglücklichen Poeten geht unter in einem Wust von Darstelllern, Nebenhandlungen, witzig sein sollenden Einfällen. Der Verzicht auf viele dieser Einfälle wäre der vom Grundgedanken her gar nicht so abwegigen Regieidee dienlich gewesen.

Marc Minkowski steht Jacques Offenbach, so sollte man meinen, durchaus nahe, hat für diesen Hofmann aber nicht die notwendige leichte Hand, lastet mit den Wienern eher schwer auf der Partitur als sie aufblühen, ihre Eleganz entfalten, ihre Straffheit Triumphe feiern zu lassen. In den Achtzigern war Placido Domingo, gleichzeitig und danach Neil Shikoff nicht nur in Salzburg der Hoffmann vom Dienst. Benjamin Bernheim ist natürlich schon einmal als Muttersprachler prädestiniert für die Partie, geht aber im Inszenierungswust häufig visuell unter und wirkt insgesamt wie von recht leichter vokaler Statur, nur wenn er nicht gleichzeitig szenisch heftig beansprucht wird, wird man gewahr, was vokal in ihm steckt. Wunderbar in jeder Hinsicht und sich in jeder noch so umtriebigen Szene visuell wie vokal behauptend ist Kate Lindsley als Muse. Kathryn Lewek singt alle vier Frauenrollen, ist in keiner ein Ausfall und doch nicht die Idealbesetzung, da nicht einmal im heimischen Koloratursopranfach Außerordentliches leistend. Recht eintönig, wenn auch machtvoll gebietend gibt Christian Van Horn die Bösewichter, auf deren aufsehenerregende Optik man viel Aufmerksamkeit verschwendet hatte. Marc Mauillon kann dem Couplet des Frantz nicht viel Hörenswertes entlocken, eindrucksvoll ist die Stimme der Mutter mit der von Géraldine Chauvet.

Die Aufnahme ist ein trauriges Beispiel dafür, dass auch noch so viel szenische Masse nicht für musikalische Klasse garantieren kann, im Gegenteil (Unitel 811904). Ingrid Wanja

Gemischtwarenladen

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Lumina (die Leuchtende, Lichter) heißt das neue Recital von Samuel Mariño bei DECCA, das im Oktober 2024 in Berlin und im Dezember desselben Jahres in London aufgenommen wurde (487 1226). Über diese Neuaufnahme werden sich Liebhaber der bemerkenswerten Stimme des Sopranisten aus Venezuela freuen, doch müssen sie eine Programmauswahl hinnehmen, die einem Gemischtwarenladen gleichkommt. Sie reicht vom Barock über die Romantik bis zum Piaf-Chanson. Der Einstieg mit Almirenas Arie „Lascia ch´io pianga“ aus Händels Rinaldo ist erwartungsgemäß, wenn das Tempo auch extrem verlangsamt wirkt. Die Stimme klingt keusch, was auf fast jede Nummer zutrifft und damit eine gewisse Einförmigkeit evoziert. Schon der nächste Titel, Schuberts „Ave Maria“, scheint fragwürdig, zumal das Arrangement von Chris Hazell für die von Ben Palmer geleitete Covent Garden Sinfonia geschmäcklerisch wirkt in seinem wolkigen Sound. Gänzlich unerwartet erklingt Marguerite Monnots „Hymne à l´amour“, unsterblich durch die Interpretation von Edith Piaf. Muss dieser Ausflug in die Unterhaltungsmusik sein? Wenigstens bleibt die Begleitung von Jonathan Ware am Klavier im schlichten Bereich. Auch Rusalkas Lied an den Mond aus Dvoráks Oper ist eine befremdliche Wahl trotz der des einfühlsamen Vortrags und melancholischen Stimmung, welche der Interpret erzeugt, ebenso Liszts „Oh! quand je dors“, das der Sänger mit der Begleitung von Ware übermäßig aufrauschen lässt. Mit Caccinis träumerisch vorgetragenem „Amarilli, mia bella“ geht es zurück in den Frühbarock, mit „Ombra mai fu“ aus Serse erklingt eine der berühmtesten Arien Händels, leider in einem schwammigen Arrangement. Aber Mariños Stimme ist schwebend, und und ausgeglichen.

Die letzten Titel der Programmauswahl sind dann wieder Außenseiter – Hahns „À Chloris“, Canteloubes „Bailèro“ aus den Chants d´Auvergne in voluminösem Klang, Strauss´ Lied „Morgen!“, von Ware am Flügel zauberisch intoniert, aber von Mariño mit zu kindlichem Klang angestimmt, das irische Traditional „The Last Rose of Summer“ in traumversunkener Wiedergabe und Rachmaninoffs „Vocalise“, in der er die Stimme mühelos strömen lässt. Eine dramaturgische Konzeption mag man in dieser Auswahl nicht erkennen, sie scheint eher dem „Best of“ verpflichtet.

So verständlich das Bemühen des Sängers um eine Repertoire-Erweiterung ins lyrische Fach anmutet – Mariño sollte sich auf das Repertoire konzentrieren, in welchem er durch seine Auftritte bei internationalen Produktionen und Festivals Aufsehen erregt hat – den Barock. Mit den Werken von Porpora, Vinci, Giacomelli, Vivaldi, Graun u.a. gibt es ein reiches Bestätigungsfeld für den Sänger mit seiner Stimme. Bernd Hoppe