Archiv für den Monat: Januar 2024

Winter in Frankreich

.

Wer heutzutage mit einer neuen Einspielung der Winterreise wahrgenommen werden will, unterliegt gern der Versuchung, etwas Ausgefallenes bieten zu müssen. Der letzte Schrei war eine Version für Bariton (Tobias Berndt), Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hatte sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores. Mit Frauenpower warfen sich gleich fünf Solistinnen, nämlich Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammenschlossen, für Et’Cetera (KTC 1592) auf den Zyklus. Ihr Pianist Maurice Lammerts van Bueren hatte die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen. hat. Er war sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl sich aufs Glatteis zu begeben, vermerkte er im Booklet. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Nicht jedes Experiment kann überzeugen. Die US-amerikanische Sängerin Joyce DiDonato ging in ihrer Erato-Einspielung der Frage nach, was denn eigentlich mit ihr ist? Mit dem Mädchen also, welches gleich im ersten Lied der Winterreise von Liebe, während die Mutter gar von Eh‘ und damit wohl auch für ehrbare gesellschaftliche Verhältnisse spricht. Seine Spur verliert sich im Voranschreiten des Liederzyklus. Dichter Wilhelm Müller lässt das Schicksal des Mädchens offen. In der Interpretation ließ sich dieser Ansatz allerdings nicht verdeutlichen.

.

Der französische Tenor Cyrille Dubois verzichtet auf alle Experimente und Zutaten, versucht es ganz schlicht, sich nur mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Und das ist ihm in seiner Aufnahme, die beim französischen Label NoMadMusic herausgekommen ist, nach meinem Eindruck vorzüglich gelungen (NMM 117). Begleitet wird er am Flügel von seiner Landsfrau Anne Le Bozec, die seit 2005 als Professorin für Lied- und Vokalbegleitung am Konservatorium Paris lehrt. Der von ihr entscheidend mitbestimmte Vortrag ist flott, doch nicht gehetzt. Sie lässt sich selbstbewusst durch eigene Lösungen vernehmen, die aber nie in Widerspruch mit der Gesangslinie geraten. Vielmehr hat es den Eindruck, als wandere da am Flügel noch jemand mit. Zwischen Forte und Piano bewegt sich das Ausdrucksspektrum beider Künstler auf verschlungenen Wegen. In diesem Spannungsfeld wird das Geschehen ausgebreitreit. „Nur nicht so laut“, heißt es gleich im ersten Lied. Dieser Einwurf könnte auch ein Motto der Interpretation sein. Nie wirkte die Stimme von Dubois auf mich empfindsamer und feiner als in dieser Aufnahme. Einem Seismograph gleich, reagiert sie gleichermaßen auf äußere und innere Ereignisse. Zwischen den Liedern werden oft auffällig lange Pausen von bis zu acht Sekunden eingelegt, die sich auch als hörerfreundlich erweisen. Dadurch ist der gelegentlich schroffe Wechsel zwischen Schauplätzen und Gemütszuständen gut nachzuvollziehen, ohne dass der Zusammenhalt gefährdet wird. Was aber inhaltlich zusammengehört, rückt auch in der Abfolge, dann nur durch kürzere Pausen getrennt, eng zusammen. Schließlich soll das Publikum an den Lautsprechern oder unter den Kopfhörern auch folgen können. Ich bevorzuge Kopfhörer, weil sie einen die Darbietung noch viel näher bringen kann.

Nicht selten lässt Dubois einzelne Worte trillerhaft erzittern. Was ein Trick sein könnte, um der Dramatik dieses Liederzyklus Herr zu werden, schafft zugleich auch eine stilistische Nähe zum Operngesang, die mich selbst nicht stört, ihm aber auch als grenzwertiges Manko ausgelegt werden könnte. Lyrische Passagen, mit denen die Winterreise in reichem Maße gesegnet ist, gelingen am eindrucksvollsten. Wasserflut, das sechste Lied, das in seiner Darbietung nicht enden will, dürfte nicht nur von mir als eine der mit Abstand besten Leistungen wahrgenommen worden sein. Nicht nur dieses Lied versieht Dubois mit einem impressionistischen Touch, der dem Zyklus sehr gut steht. In solchen Momenten ist er als Sänger ganz Franzose, der ein fabelhaftes Deutsch beherrscht. Sein ganz leichter Akzent stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir Deutsche hören es schließlich ganz gern, wenn sich Franzosen unserer Sprache bedienen. In Schlagern, Filmen oder im Theater wurde ein exotischer Kult daraus. Dubois spielt aber nicht damit. Er kann und will nur seine Herkunft nicht verleugnen. Und das ist gut so. Das Cover der Neuerscheinung ist auffällig: Ganz in Weiß die beiden Akteure vor ebensolchem Hintergrund. Mehr als Schnee und Eis assoziiert diese Wahl eine steril-klinische Atmosphäre, wie man sie vom Regietheater kennt. In der Tat verbreitet die Aufnahme eine gewisse Distanz und Kühle. Gefühle werden nur in kleinen Dosen zugelassen. Dubois gibt sich in seiner Interpretation mehr als Erzähler denn als Betroffener.

Im Beiheft der Winterreise in der Bearbeitung von Hans Zender mit dem deutschen Tenor Julian Prégardien (Alpha-Classics), wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf gleich mehrere Fragen grundsätzlicher Natur auf, die sich für alle Darbietungen des Werks stellen – auch durch Dubois: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Auch Dubois versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es von Vorteil sein, wenn der Sänger noch relativ jung ist. Denn die transportierten Gefühle und Assoziationen legen sich mit den Lebensjahren. Bei der Aufnahme war er gerade mal sechsunddreißig.

.

Im Internet gibt es eine mit Cover-Fotos bebilderte Diskographie von Schuberts Winterreise. Wer geglaubt hatte, alle oder fast alle Aufnahmen zu kennen, wird hier eine Besseren belehrt. Es kommen etwa fünfhundert nachweisbare Dokumente auf diversen Tonträgern zusammen. Einzelne Lieder oder Querschnitte durch das Werk werden mit Quelle gesondert ausgewiesen. In der Frühzeit der Schallplatte und des Konzertbetriebes war es durchaus üblich, dass sich Sängerinnen und Sänger nach Gutdünken bei der Winterreise bedienten. Sogar Kirsten Flagstad – um ein Beispiel zu nennen – hat Die Krähe gesungen. Französische Interpreten sind in dieser Diskographie die Ausnahme. Ein Name aber steht für eine der besten Leistungen in der Aufnahmegeschichte dieses Liederzyklus: Gérard Souzay (1918-2004). Mit seinem ständigen Begleiter, dem amerikanischen Pianisten Dalton Baldwin (1931-2019), verewigte er sich gleich mehrfach – bei Philips 1962 auch in astreinem Stereo. Souzay hatte in Paris neben Musik auch Philosophie studiert, malte und verfasste kunstwissenschaftliche Schriften. Obwohl er auch auf Opernbühnen in Erscheinung trat, blieb der Liedgesang Mittelpunkt seines Wirkens. Er wurde in seiner Zeit gern mit dem sieben Jahre jüngeren Dietrich Fischer-Dieskau verglichen, der künstlerisch ähnlich vielseitig unterwegs war wie Souzay. Es sollte lange dauern, bis sich die Französin Nathalie Stutzmann mit ihrer 2008 bei Calliope (Harmonia Mundi) veröffentlichten Winterreise Gehör verschaffte. Und nun Cyrille Dubois. Es kann nur spekuliert werden, warum deutsches Liedgut – anders als im angelsächsischen Kulturkreis – in Frankreich auf Distanz gehalten wurde. Waren es lediglich sprachliche Hürden? Oder sollte hierbei gar die so genannte deutsch-französische Erbfeindschaft nachgewirkt haben, die erst 1963 mit dem Élysée-Vertrag zwischen beiden Nachbarländern offiziell beigelegt wurde?

.

Nicht zuletzt durch die Übermacht des schon erwähnten Fischer-Dieskau auf dem Musikmarkt, der im Laufe seiner langen Karriere an die zehn Winterreisen eingespielt hat, ist der Eindruck entstanden, als seien Baritone und Bässe mit dem Zyklus häufiger dokumentiert als Tenöre. Da ist durchaus etwas dran. Für eine genaue Aussage müssten alle Aufnahmen durchgezählt werden, auch jene in Rundfunkarchiven, die nie veröffentlicht wurden. Ich kann mich nicht entscheiden, welcher Stimmlage ich den Vorzug gebe. Kennengelernt habe ich die Winterreise mit einem Tenor – nämlich mit Peter Anders in der von Michael Raucheisen begleiteten Einspielung des Reichsrundfunks Berlin von 1945, die oft auf Platte, später auch als CD aufgelegt wurde. Ich war sofort angesteckt von der fiebrigen und extrovertierten Darbietung, die keinen Zweifel daran ließ, dass hier einer den Zyklus so singt, als sei ihm die Geschichte des jungen Mannes, der im Dunkeln fremd auszog, und am Ende das Schicksal des einsamen Leiermanns „drüben hinter’m Dorfe“ bauf dem Eis teilt, selbst geschehen. Mit Hans Hotter eröffnete mir ein Heldenbariton eine andere Perspektive, indem er das dramatische Geschehen bis in alle Einzelheiten auslotete, ergründete und deutete – also nicht betont nacherlebend zu Gehör brachte. Dafür ließ er sich viel mehr Zeit als der fast gleichaltrige Kollege. Hotter beförderte Details zutage, über die Anders hinwegsauste. Deshalb ist seine Aufnahme von 1955 mit Gerald Moore am Flügel (EMI) für mich immer maßstäblich geblieben – auch wenn er ziemlich alt und behäbig wirkt. Anders nahm seine Winterreise mit siebenunddreißig Jahren auf, Hotter mit sechsundvierzig.

.

Zurück zu den Tenören. Mit dem frühen Tod von Fritz Wunderlich im Jahr 1966 war die Hoffnung dahin, auch von ihm dereinst eine Winterreise hören zu können. Mit seiner berühmten Müllerin – Studio und live – waren Versprechen gegeben. Ein Vakuum entstand nicht. Peter Schreier, der einige Lücken ausfüllte, die der fünf Jahre ältere Wunderlich hinterließ, tat sich schwer mit der Winterreise. Erst Mitte der 1980er Jahre näherte er sich dem Werk an. In dem russischen Pianisten Swjatoslaw Richter hatte er einen passenden Begleiter gefunden. Beide führten den Zyklus 1985 im Moskauer Puschkin-Museum auf. Das Konzert wurde im ZDF übertragen und hat sich in bescheidener Bildqualität bei YouTube erhalten. Hingegen ist ein gemeinsamer Auftritt in der Dresdener Semperoper bei der DDR-Firma Eterna und auch bei Philips herausgekommen. Knapp zehn Jahre später wurde eine Studioeinspielung von Schreier mit András Schiff bei Decca veröffentlicht. Wirkt er in den Mitschnitten noch ziemlich angestrengt, hat er gegen Ende seiner Karriere im Studio schließlich seine Form für dieses Schubert-Werk gefunden. Noch immer klingt Schreier sehr jung. Die Stimme alterte nicht. Mit seinen lyrischen Mitteln zelebrierte er eine stilistisch vorbildlich Winterreise nach den Maßstäben der Hohen Schule des Liedgesangs. Er lässt nur Schubert gelten und tritt bescheiden in den Hintergrund, indem er auf persönliche Akzente verzichtet. Ein Tenor, den man in der Diskographie vergeblich sucht, der aber eine spannende Studioproduktion hinterlassen hat, ist Werner Hollweg. Sie stammt von 1982 und ist beim WDR entstanden, wo sie mit einigen Mühen auch für streng private Verwendung zu beschaffen sein dürfte. Zum Einsatz kommt ein von Roman Ortner gespieltes Hammerklavier mit starkem Nachhall, das die Interpretation dynamisch auflädt. Selten empfand ich das begleitende Instrument so dominant und eigenwillig wie hier. Hollweg hält mit seinem klaren und verschwenderischen Vortrag gut dagegen, dass am Ende ein aufregendes Ergebnis zustande kommt, das seinesgleichen sucht.

.

Die Auswahl an verfügbaren Aufnahmen von Tenören ist also durchaus üppig – und auch superb. Aus der historischen Abteilung sind unbedingt Julis Patzak (Preiser), Anton Dermota (Telefunken und Preiser), Ernst Haefliger (Deutsche Grammophon und Claves), Peter Pears (Decca) und Rudolf Schock (Eurodisc) zu nennen. In die Jahre gekommen ist die immer noch frisch wirkende Deutung durch den DDR-Tenor Eberhard Büchner (Eterna). Mit dem Kanadier Jon Vickers (EMI und VAI), dem Schweden Set Svanholm (Andromeda) und René Kollo (Oehms) haben sich auch drei Heldentenöre dem Werk zugewandt ohne allerding herausragende Maßstäbe setzen zu können. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn legte 2013 Jonas Kaufmann seine stimmlich unverkennbare Version bei Sony, mit der er vor allem seinen vielen Fans gefallen haben dürfte. Schließlich wären da noch aus jünger Zeit Pavol Breslik (Orfeo), Markus Schäfer (Cavi Music), Jan Kobow (ATMA), Werner Güra (Harmonia Mundi) und Daniel Behle (Sony), der mit einem interessanten Album punkten konnte, das gleich zwei Fassungen enthielt, einmal das Original und zum anderen den ganzen Zyklus mit Trio-Begleitung. Es ist also viel Bewegung auf dem Markt. Nun ist auch Dubois dazu gekommen. Rüdiger Winter

.

.

Das große Bild oben zeigt einen Ausschnitt aus einer Winterlandschaft von Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag 2024 begangen wird. Das Gemälde von 1811 ist in Schwerin zu sehen. / Staatliches Museum Schwerin/ Wikipedia

Ambitioniert

.

Eine CD mit dem umfassenden und anspruchsvollen Titel Licht zu beglücken ist allemal ein Wagnis, besonders wenn einige der Tracks sich O finstre Nacht oder Nach dem Lichtverzicht nennen. Da nun einmal die Romantik die Zeit der Lieder ist und sie Abend und Nacht besonders feiert, ist der Titel Licht eher unpassend. Gleich 800 Years of German Lieder auf gut siebzig Minuten CD bewältigen zu wollen, mutet verwegen an, denn da muss man einfach einmal mir nichts dir nichts einige Jahrhunderte überspringen. Ein Booklet mit unzähligen Druckfehlern beizusteuern und zu behaupten, einige Liedtexte, so von Friedrich Rückert, der vor mehr als 150 Jahren das Zeitliche gesegnet hat, seien wegen des copyright nicht abdruckbar gewesen, ist schon eine gewisse Zumutung an den Leser, genau wie ein Ausflug  durch die Reiche aller Weltreligionen in einem so kurzen Text, welchen ein Booklet einfach nur haben kann.

Es beginnt mit zwei Beiträgen aus dem mittelalterlichen Minnesang, einem Text Oswald von Wolkensteins, zu dem eine Musik nicht nachgewiesener Herkunft gesungen wird von einem üppigen, dunklen Mezzosopran mit einer eher raunenden Begleitung. Danach singt die ebenmäßige, in allen Registern sich durch eine schöne Farbe auszeichnende Stimme Walthers von der Vogelweide Unter der linden, leider nicht in Mittelhochdeutsch und leider von dem Irrtum ausgehend, Frauenlieder seien eine „Kuriosum“ gewesen. Das trifft nicht zu, eines der ersten Lieder, Ich zoch mir einen falken, ist ein solches. Auch die „spirituelle Dimension“ bleibt eine nicht nachgewiesene Behauptung, so wie die angebliche Haft Luthers in Eisenach, mit der wohl die Zuflucht gemeint ist, die dieser auf der Wartburg fand. Dass es sich bei Bach, der nun folgt, um den „größten Komponisten der Aufklärung“ handelt, ist altes DDR-Wissen, dem die allgemein nachvollziehbare These gegenüber steht, dass mit des Komponisten Tod auch die Epoche des Barock ihr Ende fand. Das ändert nichts daran, dass zwar für die beiden Stücke des Leipzigers die Diktion eine recht verwaschene ist, dass aber die Stimme von Anna Lucia Richter klar, rein und gut konturiert, wenn auch etwas geschmäcklerisch eingesetzt, der Musik gerecht wird. In Haydns Landlust leuchtet der Mezzosopran angemessen, bei Mozarts Abendempfindung zeigt sich die Klavierbegleitung von Ammiel Bushakevitz als besonders empfindsam, für Schuberts Der Zwerg erweist sich das tiefe Register  der Sängerin als zu flach, Im Abendrot strahlt eine schöne Ruhe aus. Vielfach vertont ist Eichendorffs Frühling, die Sängerin wählte die Komposition von Fanny Mendelssohn und hat für sie einen glanzvollen Jubelton. Der Bruder steuert Neue Liebe auf einen Text von Heinrich Heine bei, überromantisch die Parodie streifend und von der Sängerin am Schluss mit schönem Pathos bedacht. In dunkler Trauer endet Schumanns Die Fensterscheibe, die Stimmung von seinem Abendlied wird konsequent durchgehalten.  Auch Johannes Brahms ist vertreten und zwar mit Sommerabend, dessen dunkle Leichtigkeit gut getroffen wird. Abgesehen vom Refrain geht der Text von Mörikes Feuerreiter in der Vertonung von Hugo Wolf leider fast gänzlich verloren, aber spätestens bei diesem Lied geht dem Hörer auch auf, dass die Sängerin nicht der Versuchung erlag, allseits bekannte Lieder auszuwählen, dass sie auch weniger Populäres anbietet. Leider gibt e keinen Richard Strauss, dafür aber gleich vier Lieder von Alban Berg, derer drei Texte des Symbolisten Albert Mombert beinhalten und deren Atmosphäre von Richter und Bushakevitz zutreffend eingefangen wird. Auch die Verhaltenheit von Eislers Und endlich stirbt wird schön vermittelt, Weills Berlin im Licht klingt recht verrucht, und zum Schluss wird mit einem gregorianischen Gesang zum Anfang zurückgekehrt (CC72965). Ingrid Wanja

Ewa Podles

.

Ewa Podles  war ein Naturereignis. Stimmlich wie auch als Persönlichkeit. Raumgreifend, wunderbar, humorvoll, liebenswürdig. Stimmlich umwerfend. Ein Koloratur-Contralto mit der (3!) Oktaven, mühelosen Spitzentönen und erderschütternden tiefen Noten. Außer von Lucia Valentini-Terrani habe ich eine solche Orgie an Contra-Alt nie erlebt, bis heute nicht.

Ich hab´ sie oft gehört, bin ihr auch nachgereist, denn sie sang in den Neunzigern eben auch das Repertoire, das sich mir erstmals 1986 in Pesaro mit besagter Kollegin Valentini eröffnete: Rossini. Erstmals erlebte ich sie 1996 an der Berliner Staatsoper als Tancredi (mit und ohne lieto fine) und dann an der Deutschen Oper Berlin als absolut phänomenaler Arsace in der idiotischen Geranienproduktion der Intendantin Harms. Nicht einmal diese konnte von der fulminanten Wirkung Ewa Podles´ (und Simone Alaimos als glänzender Assur) ablenken. Was für ein  Organ. Ihr Auftritt mit wirkungsvollem Rezitativ und nachfolgender Arie rockte das Haus, da störte auch der Lidl-Einkaufswagen nicht. Aber kaum jemand wusste, dass sich Ewa Podles eine akute Rückenverletzung zugezogen hatte. Das war Professionalismus.

Ewa Podles als Tancredi an der Mailänder Scala/Foto Lelli & Masotti

Zuvor war Liége gewesen, dann Pesaro und später die Welt, dank Alberto Zedda, der sie erstmals in Warschau gehört und zu einer beneidenswerten Karriere an allen internationalen Belcanto-Zentren gebracht hatte. Ihre Auftritte waren Legenden, ob in Frankreich, Italien oder Amerika.

Nach und nach verließ sie Rossini und folgte dem eher angestammten Repertoire, das sie ja zu Hause am Wielki immer gesungen hatte, eben Verdi, Saint-Saens (ihre Dalila in Paris erntete berechtigte Lorbeeren), aber dann auch Wagner, Brahms, Mahler, sogar Haydn und vieles mehr. Dennoch denke ich, dass ihre bemerkenswerten Talente im Rossini-Fach zu finden waren und dort unerreicht bis heute sind.

.

Sie hat nicht viele offizielle Aufnahmen gemacht, aber ihr Orphée von Gluck in der Viardot-Fassung bei Forlane sprengt schon den Rahmen des Konventionellen (sie hat auch die italienische Version  eingespielt), ihre Rossini-Arien-CDs und ihr Tancredi bei Forlane, Naxos und anderen sind unschätzbare Memorabilien ihrer Kunst. Ein paar reife Rossini-Video-Dokumente aus Pesaro u. a. bei Dynamic kommen dazu. Aber Sammler haben natürlich alle ihre vikelen wunderbaren Live-Auftritte (auch die Semiramide aus Berlin und Liège, wohin Zedda sie oft holte).

Ich hab´ sie viele Male getroffen, namentlich in Pesaro und Liege und zuletzt noch in Posen als Arsace im Kostüm der Abigaille (das Theater hatte zum Gastspiel ihren alten Nabucco aktiviert, sehr putzig und sie natürlich überwältigend), aber nachstehend folgt das Interview unserer ersten Begegnung 1996 anlässlich ihres Tancredi in Berlin, wo ich sie mit ihrem liebenswürdigen Dirigenten-Ehemann Jerczy Machwinsky (der kurz vor ihr 2023 gestorben war) erlebte. Was für eine kluge und reizende Frau (geb. 26. April 1952 in Warschau, † 19. Januar 2024 ebendort). Was für Erinnerungen. Danke Ewa! Geerd Heinsen

.

.

Ewa Podles und ihr Ehemann Jerczy Marchwinsky/Foto privat

Contralto mit Hohen C: Unverstellt, engagiert, sensationell virtuos, mit reichem Pathos, zu Herzen gehend: alles Vokabeln, die sich beim Erleben der naturgewaltigen Stimme von Ewa Podles einstellen. Ihr Tancredi an der Ber­liner Staatsoper Unter den Linden im Marz (1996) war eine solche Tour de Force, verbunden mit einer das Herz rührenden Persönlichkeit auf der Bühne: Ich war gespannt, wie die Sängerin sich privat geben wurde – dies war einer der wirklich seltenen Fälle, bei denen ich mich als Musikjournalist förmlich nach einem Gespräch drängte, denn eine solche Leistung erlebt man nicht oft: Berlin stand wegen der Podles und wegen des Dirigenten Alber­to Zedda (dazu natürlich die übrigen Mitwirkenden in Rossinis Oper) absolut auf bestem Pesaro-Niveau, damals noch der Maßstab der Dinge in Sachen Rossini, auf dem Kopf.

Ewa Podles‘ Ruhm war ihr bereits vorausgeeilt. Ich selber hatte sie in Venedig als Arsace (mit der Devia) erlebt, Freunde hatten von ihrem Tancredi an der Scala berichtet, aus Frankreich kamen viele gute Nachrichten über sie, und von dort stammte nicht zuletzt die prachtvolle Naxos-CD des Tancredi (ebenfalls unter Zedda, mit Sumi Jo und Robert Swenssen), während von Forlane vorher der umwerfende französisch ge­sungene Orphee von Gluck und zwei Recitals mit Arien von Händel und rus­sischem Liedgut herausgekommen waren. Ihre CD mit Amor brujo (unter Pende- reckis Leitung) fiel mir erst später in die Hände. Alle diese Dokumente zeigten die­se aufregende Stimme mit der exzeptio­nellen Reichweite eines wahren Contra­-Alts, der mühelos das hohe C, aber auch eine geradezu „Baß“-Tiefe erreicht, der die makellos aneinander gebundenen drei Register durchmisst wie im Fluge, der vor allem eine fast altmodische Ausdrucksska­la des Bedeutsamen besitzt – eine aus der Maske und Nase kommende Ehrlichkeit der Äußerung, besonders in den Rezitativen, aber auch – wie im Falle Glucks – in der großen Arie. So müssen die großen Sängerinnen der Vergangenheit gesun­gen haben.

Ewa Podles als Orphée in Triest/Teatro Giuseppe Verdi

Gegenüber in ihrem kahlen Miet-Apartment in Berlin saß mir eine temperament­volle, attraktive Frau in den absolut be­sten Jahren, mit einem brandroten Haar­schopf, mit schönen braunen Augen, mit lebhaften Bewegungen der Hände, die sie nicht ruhig halten konnte. Sie und ihr eleganter Ehemann Jerczy Machwilsky sprechen Französisch mit jenem lie­benswerten gerollten -r-, das man von weitgereisten Polen und ihren Nachbarn kennt. Er wirkt mit seinen eleganten weißen Haaren auf mich als der Inbegriff eines Gentleman der alten Schule, ist ihr Coach und zudem selber ein bedeutender Mu­siker, Pianist, Begleiter (nicht nur seiner Frau, sondern auch anderer großer Sän­ger, so Maureen Forrester oder Rita Streich bei deren Abschiedskonzert bei Radio France 1979). Während er eher gelegentlich die eine oder andere korri­gierende oder ergänzende Bemerkung beisteuerte, schwärmten seine Frau und ich von Rossini, den sie mir bereitwillig in einzelnen Tönen oder Phrasen beim Kaffee vortrug.

Sie besaß diese phänomenale Natur­stimme schon immer, sagt sie, und die Begabung zu dunklen Stimmen liegt in der Familie. Ihre Mutter war eine außerordentliche Sängerin gewesen und verfügte ebenfalls über einen weitreichenden Contra-Alt, ihre Schwester ist ebenfalls ein runder Mezzosopran.

Contra-Alt: Die Sache bedurfte der Erklärung, denn normaler­weise kennt man echte Contra-Altistinnen kaum noch, und wenn, dann nur im Kon­zert- und Kirchenrepertoire. Falsch, sag­te Ewa Podles. Ein Contra-Alt war die wahre Stimme, für die z. B. Rossini schrieb, denn seine Frau Isabella Colbran war eine Contra-Altistin, kein Mezzoso­pran, der ohnehin erst zu Verdis Zeiten in Mode kam. Mezzosoprane sind, sagt sie, und ich nicke, meistens kurze Sopra­ne mit guter Tiefe, die in heutiger Zeit viel zu häufig aufgefordert werden, Belcanto-Partien zu singen, für die ihnen die Tiefe und vor allem die Reichweite und das Passaggio fehlen – hier kann nicht wie­dergegeben werden, über wen wir alles sprachen, die leider in diese Kategorie fallen, auch sehr hochdotierte. Contra­-Altistinnen hingegen haben in ihrem und im idealen Fall diese nahtlose Durchbil­dung der Stimme, die bis zum hohen C reicht, die im Lauf nicht die Farbe ändert, die im unteren Bereich durchaus bis in die tiefe Brust herunterreichen kann. Ich mache ihr Komplimente wegen ihres dis­kreten Gebrauchs des Brustregisters, das sie im Tancredi nur wie spielerisch an­getippt hat (wenn sie es nicht als geziel­ten Effekt einsetzte), und sie lächelt, denn sie weiß, dass das Publikum das tiefe, ausgesungene Register liebt. Es gibt eben Situationen und Partien, wo man ausgie­big in die Brust gehen muss, und es gibt andere, bei denen man sparsam damit sein soll. Die erstklassige Beherrschung der ganz hohen Lage hat natürlich auch etwas mit der gutsitzenden Tiefe der Stim­me zu tun, und es gibt Tage, an denen alles zusammenkommt, und es gibt an­dere (vor allem im Leben einer Frau), an denen man sich auf seine Technik verlas­sen muss.

Ewa Podles als Arsace am Teatre Wielki Posen/Foto Podles

Aber generell singt Ewa Podles mit großer, kräftiger und gesunder Na­turstimme und denkt nicht so viel in tech­nischen Bereichen. „Madame de Langereux“ ist das Zauberwort, hinter dem sich für sie eine wunderbare Lehrerin und ein gan­zes Programm verbergen.

Wie war denn das an der Hochschule zu Hause (früher Posen, heute War­schau)? Natürlich dachten die ersten Leh­rer, dass sie ein Sopran sei, wegen der leichten Höhe. Aber ihre Mutter und an­dere erkannten sehr schnell ihre eigentli­che Lage. Leicht war der Anfang nicht, denn zum einen war damals das Repertoire des Belcanto noch nicht erschlossen, das kam in den letzten zehn Jahren, und zum anderen wurde in Polen das konservati­ve Repertoire gepflegt, wenngleich Ehe­mann Machwilsky auf die eine oder an­dere Rossini-oder Belcanto-Aufführung im Lande hinweist.

Während Ewa Podles im Ausland weit­gehend für ihren Belcanto gefeiert wird, singt sie zu Hause am Teatr Wielki das ganze tiefe Fach, von der Marina über die Kontschakovna bis zur Dalila alles (Dalila war sie auch in der prestigerei­chen Inszenierung im alten Palais Gar­nier in Paris vor dem Umzug in die Bastil­le) – was den Zuhörer doch staunen macht, denn die Vorstellung, dass diese große, ungemein bewegliche Contra-Alt-Stimme Dalila oder Carmen singt, überrascht zwar nicht, spricht aber für ihre Kunst. Wie hat sie diese stilistische Sicher­heit erworben, mit der sie eine Adalgisa, Rosina oder den Tancredi gibt, wie die überzeugende Kenntnis der Rezitative, die sie mit Pathos und Bedeutung füllt? Sie lacht und zeigt auf ihren Kopf: „So wie die Kadenzen und Verzierungen der Partien habe ich auch den Belcanto im Kopf, wahrscheinlich aus Instinkt. Wenmich ein Dirigent nach meinen Kadenzen fragt, ob ich sie ihm auf dem Papier zei­gen könnte, sage ich nur, dass ich sie alle im Kopf habe. Das ist wohl angeboren.“ Und in der Tat variiert sie ihre Apoggiaturen und Kadenzen von Mal zu Mal, steht souverän in der Musik und im geforderten Ausdruck – was natürlich einen ähnlich kompetenten, kenntnisreichen Dirigenten erfordert, wie Zedda es ist.

Ewa Podles und Deborah Voigt in „La Gioconda“ an der Canadian Opera Toronto/Foto Sprizzo PM

Während wir uns bei einem Kaffee durch die Packung „Mon Cherie“ auf dem Couchtisch arbeiten, erlebe ich immer wieder, wie direkt, wie „unverdorben“ im Sinne einer Marketing-Promotion oder gestylten Karriere diese ungemein sympathische Sängerin ist – sie ist in der Tat so direkt, so unkompliziert wie auf der Bühne, wo sie zupackt und ganz sie selbst ist, kein Glamourgirl, keine Starallüren, sondern eine reelle, mit beiden Beinen auf dem Boden stehende Künstlerin mit einer prachtvollen Stimme. Und wann hat man das zum letzten Mal erlebt?

.

.

(Mit großem, Dank an Wolfgang Denker für seine umfangreiche Kopier- und Archivarbeit. Foto oben Ewa Podles /privat)

Quer durch Europa und anders wohin

.

Aus  voneinander weit entfernten Teilen Europas, ja der Welt stammen die Musikstücke, die das Ehepaar Magdalena Kožená/Simon Rattle auf seiner neuesten  CD vorstellt, allen gemeinsam ist, dass sie auf Melodien von Volksliedern beruhen, die CD sich also zu Recht Folk Songs nennen darf.

Es beginnt mit dem Ungarn Bela Bartok, der für seine fünf Hungarian Folk Songs die Volksliedmelodie jeweils durch die Orchestrierung in einen neuen Kontext versetzt. Im einleitenden A törnlöchen, gleich In Prison, lässt der warme, helle Mezzosopran müheloser Emission eine sanfte Klage ohne Aufbegehren vernehmen, die ungarische Sprache wird nicht allzu akzentuierend dargeboten. Eher eine kindliche als eine weibliche Stimme scheint für Old Lament eingesetzt zu werden, und schön korrespondierend mit den Instrumenten erklingt Yellow Pony. Weit gespannte, schmerzlich klingende Bögen von schmerzlicher Intensität hat die Sängerin für Complaint bereit, und für Virag’s lamps und den schillernden Refrain des Stücks liefert das Orchester eine besonders interessante Begleitung.

Für Cathy Berberian komponierte Luciano Berio 1964 Folk Songs, für die es auch eine Version für nur sieben Orchestermitglieder gibt.  Das Entstehungsjahr der Songs ist auch das ihrer Scheidung, die jedoch eine weitere künstlerische Zusammenarbeit nicht verhinderte. Black ist he Colour ist eine zarte weibliche Liebeserklärung, während I wonder as I wonder eine interessante Rollenverteilung zwischen Stimme und Orchester bereit hält. Silbrig aufblühen in schöner Reinheit kann der Mezzosopran in Loosin yelav, während die Leichtigkeit der Emission im an die Nachtigall gerichteten Lied zu bewundern ist. Aber die Sängerin und das Orchester können auch anders, wenn sie für einen derben Dialekt auch den entsprechenden Ton finden. Zurück zur Leichtigkeit und Beschwingtheit geht es mit La donna ideale, wie eine wilde Tarantella klingt Ballo, in dem besonders schöne, fein gerundete Töne zu vernehmen sind. In zärtlicher Verspieltheit scheinen Stimme und Orchester einander zu umkreisen, und spätestens jetzt beginnt der Hörer den Einsatz ganz unterschiedlicher Instrumente und damit unterschiedlicher Hörerlebnisse zu konstatieren. Ein ganz besonderes ist das der Wildheit im abschließenden Aserbaidschanischen Lied.

Es geht weiter mit fünf Chansons von Maurice Ravel, teilweise von diesem selbst, teilweise vom Schüler Manuel Rosenthal instrumentiert. Es geht um Griechisches in französischer Sprache, in der die Stimme wie eine schlanke Flamme lodert, so im La-bas, vers l’eglise, oder wo in Quel galant eine Vielzahl unterschiedlicher Empfindungen offenbart wird, während im vorletzten Beitrag ein feierlicher Klang schön durchgehalten wird im ununterbrochenen Fluss der Musik. Über einem dumpfen Schlagzeug erhebt sich hell die Stimme in Tout gai! und beendet die Gruppe der Ravel-Lieder.

Exotisch schillernd wird es mit Xavier Montsalvatge, einem Katalanen mit Beziehungen zu Kuba und den Antillen, der mit Canciones negros der schwarzen Bevölkerung eine Stimme verleiht.  letzte Song Canto negro liefert einen furiosen Abschluss seiner Tracks , von denen selbst das Wiegenlied von der Unterdrückung durch den „white devil“ oder „mandinga blanco“ spricht. Stimme und Orchester setzen sich gleichermaßen emphatisch für die Klage der schwarzen Mutter ein (Pentatone PTC 5187 07). Ingrid Wanja             

Liebeskrank

.

Lovesick heißt die neue Platte des Countertenors Randall Scotting bei signum CLASSICS (SIGCD736), die im November 2020 in Los Angeles entstand. Der renommierte Lautenist Stephen Stubbs begleitet den Sänger in einem Programm, das neben barocken Kompositionen von Purcell, Blow, Dowland u. a. auch schottische, irische und englische Balladen offeriert. Es umspannt einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten, beginnend mit John Dowlands „Fortune my foe“ von 1596. Es ist eines der Stücke für Laute solo, zu denen noch Purcells Suite aus King Arthur für Barockgitarre von 1691 und „Packlington´s Pound“ eines anonymen Schöpfers für Bass-Laute von 1600 kommen. Der Solist Stephen Stubbs kann hier mit feinen Tönen und großem musikalischem Empfinden für sich einnehmen.

Die vokale Auswahl beginnt mit jenem Titel, welcher der Platte den Namen gab: „I´m sick of love“ von William Lawes (1645). Von diesem Komponisten folgen später noch „Perfect and endless circles are“ und „I rise and grieve“. Die Stimme des Countertenors ist ungewöhnlich klangvoll und resonant, vermag die empfindsamen Songs mit adäquatem Ausdruck wiederzugeben. Die meisten Stücke stammen von Henry Purcell. Es sind auch die populärsten und am häufig interpretierten: „When Orpheus sang“, „She loves and she confesses too“, „O, lead me to some peaceful gloom“ und natürlich „O solitude“. Stimmungen der Melancholie, der Traurigkeit, des Schmerzes und der Trauer werden vom Sänger berührend eingefangen. Zwei Titel stehen für John Blows reiches vokales Schaffen: „Tell me no more you love“ und „The self-banished“.

Dass die Liebeskrankheit nicht an geographische Regionen gebunden ist, beweise französische und italienische  Beispiele. Von Étienne Moulinié erklingt „Enfin la beauté“, von Pierre Guédron „Cessés mortels de soupirer“. Im ersten Stück hört man delikate Töne und feine Triller, im zweiten Momente von flehentlicher Intensität. Italienische Arien gibt es von Marc’Antonio Cesti („Intorno all’idol mio“ aus L’Orontea) und Daniele da Castrovillari („Luci belle“ aus La Cleopatra). Die Schönheit der Stimme des Counters kommt in diesen getragenen Kompositionen besonders zur Geltung.

Von den Balladen seien genannt „There’s none to soothe my soul to rest“, ein traditional Gaelic song, „At the mid hour of night“, ein traditional Irish song, die traditional Scottish ballads „Mary’s dream“ und „Black is the colour“ sowie die traditional English ballad „The three ravens“. Randall Scotting interpretiert auch diese mit starkem Engagement und stilistischer Versiertheit. Bernd Hoppe

Orianna Santunione

.

Mit der italienischen Sopranistin Orianna Santunione ist am 16. Dezember 2023 eine der letzten der legendären Nachkriegssänger/innen gestorben. Wie viele ihrer Kollegen hat sie kaum offizielle Aufnahmen gemacht, aber Sammler haben ihre leuchtende, im besten Sinne solide und kraftvolle Spinto-Stimme im Ohr, wie sie auf vielen der Mitschnitte des ehemaligen „grauen Marktes“ zu hören war.

Orianna Santunione als Tosca/Wikipedia

Wie die Kolleginnen Pobbe, Ligabue, Rovere, Cavalli, Orell oder Gencer war sie eine Meisterin im Verismo-Fach, aber auch bei Verdi und Puccini zu Hause, darin nicht nur in Italien selbst sondern auch vielgesuchter Gast an den großen Häusern des Auslands. Und ihre Ausflüge zu Mercadante und in die Belcanto-Region zeigen ihre universelle Eignung für das italienische Oper-Idiom, wenngleich vielleicht die externe Gestaltung weniger ihr Ding war als vielmehr eine eher allgemeine Konzentration auf die Musik selbst, was natürlich ohnehin ein Merkmal des italienischen Gesangs der Zeit war.

Nachstehend ein Nachruf aus der Zeitschrift Il Resto del Carlino ihrer Heimatstadt Modena und anschließend ein Auszug aus dem immer noch unverzichtbaren Kutsch-Riemens (mit einer eingeschränkten Auflistung ihrer Aufnahmen).

Wieder ist die Opernwelt und wir Liebhaber guten Gesangs um eine bemerkenswerte Persönlichkeit ärmer geworden. Geerd Heinsen (mit Dank an H. S.)

.

.

Orianna Santunione als Amelia („Simon Boccanegra“)/Wikipedia

Die Sopranistin Orianna Santunione aus Sassuolo ist gestern im Mailänder Seniorenheim „Giuseppe Verdi“ verstorben. Die am 1. September 1934 in jener Stadt, genauer gesagt in Ponte Fossa, geborene Santunione war eine Sopranistin von Weltrang, die das Publikum in den großen Theatern der Welt verzauberte: Nachdem sie bereits in jungen Jahren nach Mailand gezogen war, um ihre Ausbildung zu vervollständigen und ihre Karriere zu beginnen, debütierte sie 1959 in Giordano Brunos „Fedora“ und sang in den vielen Jahren ihrer glänzenden Karriere in den renommiertesten Theatern der Welt wie der Mailänder Scala, dem Covent Garden in London und der Pariser Oper, wobei sie stets Hauptrollen wie in „Simon Boccanegra“, „Don Carlo“, „La forza del destino“, „Un ballo in maschera“, alle von Verdi, interpretierte; „Tosca“ von Puccini, „La Gioconda“ von Ponchielli, „La fanciulla del west“ von Puccini, „Il Pigmalione“ von Donizetti. Als Erbe der Operntradition von Sassuolo (Bruno Cioni, Pietro Medici, Ferrando Ferrari, Bruno Lazzaretti und jetzt Matteo Macchioni) hatte sie die Tosca am Carani-Theater gesungen. (Übersetzung DeepL)

.

.

Santunione, Orianna, Sopran, * 1.9.1934 Sassolo bei Modena; Ausbildung durch die Pädagogen Carmen Melis und Renato Pastorino in Mailand. Ihr Bühnendebüt erfolgte bei der Operngesellschaft ASLICO als Titelheldin in »Fedora« von Giordano. In den folgenden Jahren hatte die Künstlerin bedeutende Erfolge an den großen italienischen Bühnen: an der Mailänder Scala wie an der Oper von Rom, in Genua, Triest, Bologna, Neapel, Parma, Palermo, Turin, Venedig und bei den Festspielen in der Arena von Verona (1967, 1972, 1974, 1977). 1975 gewann sie den Giulietta-Preis bei einem Concours in Verona. Im Ausland war sie zu Gast an der Grand Opéra Paris, in Nizza und Rouen, an den Staatsopern von München und Hamburg, in Amsterdam und Budapest, am Teatro Liceo Barcelona, in Dallas, Philadelphia und Cincinnati.

An der Covent Garden Oper London trat sie 1965 als Amelia in Verdis »Simon Boccanegra« auf. Im italienischen Fernsehen wirkte sie in Aufführungen der Opern »Othello« von Verdi und »Lohengrin« von Wagner mit. Zu den Glanzrollen der Künstlerin gehörten die Medea in Cherubinis Oper gleichen Namens, die Maddalena in »Andrea Chénier« von Giordano, die Nedda im »Bajazzo«, die Santuzza in »Cavalleria rusticana«, die Tosca, die Butterfly, die Aida, die Amelia in Verdis »Ballo in maschera«, die Leonore im »Troubadour« und in »La forza del destino« von Verdi, die Elisabetta im »Don Carlos«, die Mathilde in »Wilhelm Tell« von Rossini und die Titelheldin in »Francesca da Rimini« von Zandonai.

.

Schallplatten: MRF (Titelheldin in »Madame Sans- Gêne« von Giordano), MRF-Nuova Era (»Ali Baba« von Cherubini), Melodram (»Pigmalione« von Donizetti), Voce (»Elena da Feltre« von Mercadante).

[Lexikon: Santunione, Orianna. Kutsch/Riemens: Sängerlexikon, S. 21321 (vgl. Sängerlex. Bd. 4, S. 3051) (c) Verlag K.G. Saur]

Seltenes

.

Écho et Narcisse ist Christoph Willibald Glucks letzte Oper, allerdings war sie nicht der große Wurf wie die vorangegangene Iphigénie en Tauride (1779). Sie wurde im selben Jahr an der Pariser Opéra uraufgeführt und erlebte ein Fiasko. Der Librettist Baron Louis-Thédore de Tschudi bezog sich auf Ovids Metamorphosen und schildert in dieser Pastorale die Liebesgeschichte der Nymphe Echo mit dem Jäger Narziss.

Die Neueinspielung auf zwei CDs bei CV (CVS095), welche im Oktober 2022 in Versailles entstand, löst die bisherige Referenzaufnahme mit René Jacobs aus dem Jahre 1987 von den Schwetzinger Festspielen ab. Hervé Niquet bringt mit seinem Ensemble Le Concert Spirituel die Finessen der Musik, ihre Eleganz und Leichtigkeit betörend zum Klingen und hat ein Ensemble französischer Sänger zur Seite, das die Partien mit idiomatischem Stilempfinden und vorbildlicher Diktion interpretiert. Bei der Pariser Uraufführung wirkten zwei berühmte haute-contres mit: Étienne Lainez als Narcisse und Joseph Legros als sein Freund Cynire. Bei CV sind es der renommierte Cyrille Dubois in der männlichen Titelpartie und der madagassische Tenor Sahy Ratia als Cynire. Ersterer führt sich mit dem wiegenden „Divinité des eaux“ ein und vermag sogleich mit seiner sensiblen Stimme zu berühren. Im 2. Akt ergreift sein flehentlicher Ausdruck in den Airs „O combats“,  „Dissipe ce mortet effroi“ und „Beaux lieux“. Der Tenor singt gleichfalls mit großer Empfindsamkeit und ist Dubois ein kompetenter Partner in deren gemeinsamen Gesängen.

Écho ist Adriana Gonzáles mit leuchtendem Sopran und innigem Ausdruck. Von ihren Airs im 1. Akt ist „Peut-être d’un injuste effroi“ besonders wirkungsvoll. Im Prologue gefällt Myriam Leblanc mit lieblichem Sopran als Amour. Mit dem hinreißend musizierten Allegro endet das Werk (11. 01.24.). Bernd Hoppe

Mehr als „Notre Dame“

.

Der österreichische Komponist Franz Schmidt, geboren 1874 in Preßburg und gestorben 1939 in Perchtoldsdorf bei Wien, ist bis heute vor allem aufgrund seines Oratoriums Das Buch mit den sieben Siegeln und der Oper Notre Dame in Erinnerung geblieben. Sein Œuvre ist vergleichsweise überschaubar, doch durchgängig von hoher Qualität. Während sich seine erste Oper Notre Dame einer gewissen Beliebtheit erfreut (s. nachstehend), scheint die zweite namens Fredigundis vergessen.

Schmidts Sympathien für den Austrofaschismus und sein Eintreten für den „Anschluss“ haben seine Reputation nach 1945 nicht eben befördert (dafür mag auch sein unvollendetes letztes Werk, die Kantate Deutsche Auferstehung von 1938/39, stehen). Gleichwohl gibt es mittlerweile eine recht beachtliche Diskographie seiner Orchesterwerke, die sich primär aus den zwischen 1896 und 1933 entstandenen vier Sinfonien zusammensetzen.

Das Label Accentus legt nun in Kooperation mit BBC Radio 3 eine weitere Gesamteinspielung derselben vor (ACC80544). Verantwortlich zeichnet das BBC National Orchestra of Wales unter dem Dirigenten Jonathan Berman. Die Weltersteinspielung des Sinfonienzyklus besorgte zwischen 1989 und 1996 Neeme Järvi mit dem Detroit bzw. dem Chicago Symphony Orchestra (Chandos). Es folgten Fabio Luisi mit dem MDR Sinfonieorchester (Querstand), Wassili Sinaiski mit dem Sinfonieorchester Malmö (Naxos) und zuletzt Paavo Järvi mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt (DG). Im direkten Vergleich nimmt sich Berman überwiegend mehr Zeit, was kein Schaden sein muss. Besonders die zweite und die vierte Sinfonie, die zurecht als Höhepunkte der Schmidt’schen Sinfonik gelten, wurden freilich etwas häufiger aufgenommen, so die Zweite bereits 1958 unter Dimitri Mitropoulos und 1983 unter Erich Leinsdorf – beide Male live mit den Wiener Philharmonikern. Die Vierte erlebte schon 1971 ihre erste Studioproduktion mit demselben Spitzenorchester unter Zubin Mehta (Decca). Insgesamt ist die diskographische Situation als weit davon entfernt, als desaströs gelten zu müssen.

Die Neueinspielung aus der walisischen BBC Hoddinott Hall in Cardiff (entstanden zwischen Jänner 2020 und Oktober 2022) zeichnet sich durch ein klares, alle Instrumentengruppen natürlich abbildendes Klangbild aus. Als über die Maßen ausführlich darf auch das mehr als hundertseitige Booklet gelten, das dreisprachig daherkommt (Englisch, Deutsch, Französisch) und neben grundsätzlichen Ausführungen zu den eingespielten Werken, den Biographien der Beteiligten und Anmerkungen zur künstlerischen Gestaltung auch ein von Martin Hoffmeister geführtes informatives Interview mit dem musikalischen Leiter Jonathan Berman enthält. Selbst in ihren lautesten Momenten verfalle Schmidts Musik niemals der Gefahr des Bombasts und behalte ihre humane Ader, so der Dirigent, der auch die einseitige Charakterisierung des Komponisten als „Organist-Komponisten“ zu relativieren sucht und von einer hörbaren „Wiener Eleganz“ spricht, welche Schmidts Musik auszeichne. Berman zufolge dachte Schmidt auch dann sinfonisch, wenn er keine Sinfonien schrieb. Dies ist gewiss nicht zuletzt der Grund, wieso man auch das Zwischenspiel und die Karnevalsmusik aus der besagten Oper Notre Dame mitberücksichtige. Diese hörenswerte Instrumentalmusik entstand, wie der kundige Begleittext vermittelt, schon vor der Fertigstellung, womöglich sogar vor der Konzeption der Oper, stellt insofern also keine Art orchestrale Suite von Auszügen derselben dar.

Franz Schmidt-Denkmal: Wien-Ober Sankt Veit, Ghelengasse.
Die Büste schuf Hilde Uray 1954, (siehe das Bild mit ihrer Signatur); der Bronzeguss stammt aus der Kunstgießerei Alfred Zöttl, Wien.
Die Enthüllung fand am 16. Juni 2005 statt./ Wikipedia/ Foto Thomas Ledl

Bereits in der zwischen 1896 und 1899 komponierten Sinfonie Nr. 1 zeigt sich eine bemerkenswerte Originalität. Anders als viele seiner anderen Jugendwerke, entkam sie der späteren eigenhändigen Vernichtung durch ihren Schöpfer, was nicht wundernimmt, erhielt Schmidt dafür doch den begehrten ersten Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo 1902 dann auch die Uraufführung unter seiner Leitung stattfand. Das großangelegte viersätzige Werk von einer Dreiviertelstunde, welches der Erzherzogin Isabella gewidmet ist, tat Schmidt Jahre danach als „Schulstück“ ab, doch sind seine Qualitäten unbestreitbar vorhanden. Mit der noch ausladenderen dreisätzigen Sinfonie Nr. 2 (1911-13) legte er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits ein Opus magnum vor, das in seinen orchestralen Dimensionen an Mahlers Opulenz erinnert. Anfangs tatsächlich als Klaviersonate konzipiert, folgt auf den eher konventionellen Kopfsatz ein Allegretto mit nicht weniger als zehn Variationen, gewissermaßen ein Zwitter aus langsamem Satz und Scherzo. Im Finale gibt es neuerlich tönende Reminiszenzen an den ersten Satz. Beschlossen wird die zweite Sinfonie durch einen gewaltigen Choral, der in seinen Dimensionen entfernt an die Apotheose am Ende von Bruckners Fünfter erinnert, ohne diese auch nur ansatzweise kopieren zu wollen. Wesentlich später, nämlich erst 1927/28 komponierte Franz Schmidt seine Sinfonie Nr. 3. Sie konnte immerhin den zweiten Preis des Schubert-Wettbewerbs 1928 (100. Todestag) einheimsen (hinter Kurt Atterberg). Den Kriterien der Preisausschreibung folgend, ist sie „im Geiste Schuberts“ geschrieben, insofern also orchestertechnisch bewusst deutlich kleiner, geradezu pastoral angelegt und wiederum der klassischen Viersätzigkeit folgend. Aufgrund ihrer archaischen Konstruktion wirkt sie ein wenig anachronistisch, doch handelte es sich augenscheinlich um die vom Komponisten selbst favorisierte unter seinen Vierlingen. Mit der Sinfonie Nr. 4, 1932/33 kurz nach dem Tode seiner Tochter entstanden, kam Schmidts sinfonisches Schaffen an seinen Schlusspunkt. Fraglos hat er autobiographische Aspekte verarbeitet, wovon der darin enthaltene gewaltige Trauermarsch zeugt. Wiederum viersätzig entworfen, stellt das einstündige Werk den instrumentalen Gipfel seines Werkverzeichnisses dar. Ein Trompetensolo leitet den Kopfsatz ein und mit einem eben solchen klingt die Finalcoda aus. „Sterben in Schönheit, während das ganze Leben noch einmal vorbeizieht“, beschrieb der Komponist es selbst. Ihrem Widmungsträger Oswald Kabasta gegenüber – der 1934 auch die Erstaufführung verantwortete –, betonte Schmidt, dass es sich um sein wahrhaftigstes und innigstes Werk überhaupt handle.

Eine in allen Belangen überzeugende Neuerscheinung, die dem Sinfoniker Franz Schmidt hoffentlich noch mehr das Gehör verschafft, welches ihm gebührt, und zudem dazu anregen mag, eine seiner Sinfonien künftig öfter aufs Konzertprogramm zu setzen. Das anstehende Schmidt-Jubiläumsjahr 2024 (150. Geburtstag) böte dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Daniel Hauser

.

.

PS.: Es wäre eine arge Unterlassung, wiesen wir nicht etwas ausführlicher auf das Bekannteste in Sachen Franz Schmidt hin, nämlich seine hinreißende Oper Notre Dâme (in zwei Aufzügen, Text nach Victor Hugo von Franz Schmidt und Leopold Wilk; komponiert: 1902–1904, Uraufführung: Wien 1914, also auch noch Kriegsware!), die – heute kaum noch aufgeführt – seine eigentliche Berühmtheit ausmacht. Leider verstellt die ziemlich abscheuliche, einzige Studioeinspielung bei CAPRICCIO den Zugang, denn weder Gwyneth Jones oder James King noch der Rest machen Lust aufs Hören. Und die antike Einspielung vom Bayerischen Rundfunk 1949 unter Hans Altmann mit dem brüllenden Hans Hopf und der kullernden Hilde Scheppan hat ihre Dienste mehr als getan. Nein, man muss sich den Sammlern zuwenden, um den wirklich mitreißenden Mitschnitt aus der Wiener Volksoper 1975 unter Wolfgang Schneiderhahn mit der vor Sinnlichkeit fast berstenden Julia Migenes neben dem charismatischen, abgründigen Ernst Gutstein nebst Walter Berry und Joseph Opferwieser als Geliebter Phoebus zu ergattern. In gutem Stereo kam er kurzfristig auf grauen Labels heraus, aber Discogs hats mal wieder (gegen einen Preis!). Für mich die ideale Aufnahme – packend wie ein Hollywood-Reißer und extrem gut gesungen. Von 2001 gibt´s noch eine Radio-Aufnahme aus Montpellier mit einer lethargischen, aber stimmlich leuchtenden Brigitte Hahn neben einer soliden internationalen Besetzung. Aber die Migenes plus cast in Wien ist es.

Und in Sachen Fredigundis reisst eine alte Wiener Rundfunkaufnahme von 1979 unter dem verdienstvollen Ernst Märzendorfer mit der unterpowerten Dunja Vejzovic trotz des von vielen geliebten Werner Hollweg nicht viel heraus (auch diese nur noch bei Discogs und Sammlern). G. H.

Matteo Salvi

.

Matteo Salvi? Wer ist Matteo Salvi? Viel findet man nicht über den Donizetti-Ponchielli-Schüler, der eigentlich nur als Vervollständiger von Donizettis Duc d´Albe in Form von Il Duca d´Alba in die Musikgeschichte eingegangen ist. Ähnlich wie Alfano Puccinis Turandot mit eigener Musik komplettierte. Man erinnert sich: Die Verlegerin Paulina Lucca bat ein Gremium in Bergamo, ihr bei der Komplettierung der posthum hinterlassenen und unvollständigen Oper zu helfen, nachdem Ricordi auf die Rechte verzichtet hatte und die Erben Donizettis mit einer Vervollständigung am finanziellen Erfolg des Namens teilhaben wollten.  Salvi gilt als Autor der Tenor-Arie Angelo casto e bel dieser Oper, wurde jedoch bei der Rekonstruktion von Donizettis Musik von anderen Komponisten unterstützt, darunter Amilcare Ponchielli . Alex Weatherson hat zur Oper bei uns einen langen Artikel dazu geschrieben: Das blutige Beil des Duca d´Alba. Der 1882 in Rom in Italienisch uraufgeführt wurde.

Donizetti/Salvi: Il duca d´ Alba/ Libretto/archive/org

Danach 1951 in Rom/Rai, in Spoleto (1959 und 1992), Florenz (1981), Brüssel, New York (1982), Montpellier (2207) und erneut Brüssel (2012) sowie Oviedo (2015). Opera Rara schließlich nahm die beiden ersten erhaltenen Akte im Original auf. Das Théatre de la Monnaie schließlich versuchte die Oper mit einem ziemlich gemein klingenden Schluss von Battistelli/Parker zu komplettieren, ebenfalls in Französisch.  Viele Sänger wie Caruso, Anselmi und andere der fernen Vergangenheit haben Salvis Arie „Angelo casto e bel“ aufgenommen, Carreras, Florez, Björling, Domingo, Canonici, Pavarotti und andere in der Moderne ebenfalls.

Aber wer war Matteo Salvi, der erstaunlich viele Opern schrieb, in Wien sogar eine eigene Strasse hat und ebendort eine bemerkenswerte Karriere machte? Wikipedia fertigt ihn mit einem kurzen Artikel ab, aber im Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreich, Band: 28 (1874) findet sich ein erhellender Eintrag, den wir im Folgenden, nach dem kurzen Wikipedia-Artikel wiedergeben – um Matteo Salvi aus dem Dunkel zu holen. G. H.

.

.

Matteo Salvi/Libretto zur Oper „Lara“/Archive.org

Wikipedia: Luigi Matteo Salvi (* 24. Oktober 1816 in Sedrina, Italien; † 16. Oktober 1887 in Rieti) war ein italienischer Komponist und Dirigent. Bereits im Alter von acht Jahren wurde er in das renommierte Liceo musicale in Bergamo aufgenommen, das unter der Leitung von Johann Simon Mayr stand. Dort wurde er im Gesang und Komposition ausgebildet. Mit 18 Jahren übernahm er am Institut die Stelle eines Klavierlehrers und war ab 1839 Kapellmeister an beiden Theatern in Bergamo.

1842 holte ihn Gaetano Donizetti nach Wien, bei dem er, wie auch bei Simon Sechter Unterricht nahm. 1842 bzw. 1847 wurden seine Opern La Primadonna und Caterina Howard am Kärntnertortheater mit großem Erfolg aufgeführt. Die Werke Lara und I Burgravi wurden 1843 bzw. 1845 an der Mailänder Scala zur Uraufführung gebracht. Salvi sollte die Leitung der italienischen Oper in Wien übernehmen. Das Revolutionsjahr 1848 durchkreuzte alle Pläne, denn in den folgenden Jahren gab es keine italienische Opernsaison in Wien und Salvi musste, trotz aller Erfolge sein Leben als Gesangslehrer fristen. 1854 leitete er die Aufführung von Gioachino Rossinis Stabat Mater mit 1500 Mitwirkenden. Er übernahm weiter die Leitung der Akademie der Tonkunst, die er zeitweise Zusammen mit dem Gesangslehrer Giovanni Gentiluomo leitete. 1860 zum wurde er zum provisorischen Leiter der Wiener Hofoper ernannt, deren Direktion er 1864 bis 1867 übernahm. In dieser Zeit bestand in dem Haus auch eine von ihm gegründete Opernschule. 1875 bis 1878 übernahm er die Leitung des Konservatoriums in Bergamo. Während er in Wien mit dem Vorurteil zu

Das Theater an der Wien, Stich von Jacob Alt 1811/Wikipedia

kämpfen hatte, er bevorzuge die italienische Musik, war er nun in Bergamo dem Vorwurf der Nähe zum österreichischen Kaiserhaus ausgesetzt. Ab 1879 finden wir ihn in Rieti wo er Gaetano Donizettis Oper Le duc d’Albe komplettierte, die 1882 in Rom uraufgeführt wurde. (Wikipedia)

.

.

Sowie: das Biographische Lexikon des Kaiserthums Österreich von 1874: Salvi, Matteo (Compositeur und vormals Director des Wiener Hof-Operntheaters, geb. in der Nähe von Bergamo im Jahre 1820). Seine Eltern, Eigenthümer eines kleinen ländlichen Besitzes, waren im Stande, dem Sohne eine seinen Neigungen und Talenten entsprechende Erziehung zu geben. So kam Matteo im Alter von acht Jahren an das berühmte Liceo musicale in Bergamo, welches damals unter der Leitung des großen Maestro Simon Mayr [Bd. XVIII, S. 169, Nr. 108] stand.

In diesem Institute, aus welchem Künstler, wie Bordogni, David, Donizetti, Donzelli, Marini, Nozari, Rubini, hervorgegangen, bildete sich S. im Gesange und in der Composition und mit so günstigem Erfolge, daß er im Alter von 18 Jahren die Stelle des Clavierlehrers Dolci, als dieser das Institut verließ, übernehmen konnte, auch wurde er ungeachtet seiner Jugend mit der Stelle eines Dirigenten der Oper betraut. Vier Jahre versah nun S. das Amt des Opern-Capellmeisters, und zwar nacheinander an beiden Theatern in Bergamo.

Unter seiner Leitung kamen die besten älteren und neueren Werke auf die Scene. Dessen ungeachtet fand der junge Künstler immer noch Zeit, sich mit Composition zu beschäftigen, und einige Kirchen- und Kammerstücke, etliche symphonische Compositionen, ja bereits eine große Messe stammen aus dieser Periode seines Lebens. In seinem Drange nach höherer Ausbildung begab sich S. nach Wien, um dort seine musikalischen Studien fortzusetzen. Im September 1842 kam S. in Wien an und wurde ein Schüler des berühmten Simon Sechter. Schon nach zwei Jahren trat er mit seinem ersten dramatisch-musikalischen Versuche vor; es wurde nämlich seine einactige Oper: „La Primadonna“ im Kärnthnerthor-Theater zur Aufführung gebracht und mit Tadolini und Rovere in den Hauptpartien mehrere Male mit Beifall gegeben.

Dieser günstige Erfolg brachte ihm einen erfreulichen Auftrag aus Mailand und S. schrieb nun für die Scala die große Oper: „Lara“, welche unter der Mitwirkung der Alboni, Tedesco’s, Debassini’s so gefiel, daß er auch für die nächste Stagione 1845 mit dem Auftrage der Composition einer neuen Oper betraut wurde. Diese hieß: „I Burgravi“. Nun wendete sich S. wieder nach Deutschland und nahm, als Director Cerf im Königstädter Theater zu Berlin eine italienische Operngesellschaft zusammenstellte, den Posten als Capellmeister und Compositeur an derselben an, ohne jedoch ihn anzutreten, da das Unternehmen in’s Stocken gerieth. S. beschäftigte sich damals mit der Composition seiner großen Oper: „Katherina Howard“’. Nachdem also das Unternehmen Cerf’s gescheitert, begab sich Salvi nach Wien, wo er im Jahre 1847 die vorgenannte Oper unter Balochino’s Leitung zur Aufführung brachte und der Erfolg ein so glücklicher war. daß man ihm für die nächstfolgende italienische Saison die Stelle eines Capellmeisters bei der italienischen Oper zugedacht hatte. Aber es kam Alles anders, als man erwartet hatte. Das Jahr 1848 hatte alle Pläne umgeworfen.

Matteo Salvi: „La prima donna“ für Klavier/ Wikipedia

Die italienische Saison in Wien hatte für Jahre ein Ende genommen und Salvi mußte allen Erfolgen des öffentlichen Lebens Valet sagen und sich sein tägliches Brot nunmehr als Gesangslehrer verdienen. In dieser Periode war er bei einer großen Production thätig, nämlich bei der Aufführung des Rossini’schen Stabat Mater durch Mitglieder der höchsten Aristokratie in Wien in Verbindung mit dem Orchester des Hof-Operntheaters. Auch hatte man ihn ausersehen, die im völligen Verfalle begriffene Akademie der Tonkunst davon zu erretten und übertrug ihm die Leitung des Institutes, das unter seiner energischen Führung einen neuen, wenngleich auch nur vorübergehenden Aufschwung nahm. Als dann im Jahre 1854 das bekannte Monstre-Concert abgehalten wurde, an welchem sich mehr denn 1500 Musiker betheiligt hatten, da war es S., der den Tactstock schwang über diese gewaltige Masse, und die Befähigung, große Musikkörper zu dirigiren, vollends an den Tag legte. Bis zum Jahre 1860 dauerte dieses nur durch zeitweiliges Hervortreten unterbrochene Stillleben S.’s, als das Verlangen, eine italienische Oper wieder zu hören, sich in immer weiteren Kreisen kundgab. Von maßgebender Seite erhielt S. den Auftrag zur Zusammenstellung einer Gesellschaft, welche, anfänglich für die kaiserliche Bühne bestimmt, doch ihre Vorstellungen im Theater an der Wien eröffnete. In diese Zeit fällt auch die Verhandlung wegen des Fortbestandes der k. k. Oper, ob dieselbe wie bisher als selbstständig fortzuführen, oder aber, wie dieß schon früher vorgekommen, zu verpachten sei. Man hatte sich für die Selbstständigkeit des Kunstinstitutes entschieden und im Jahre 1860 Matteo Salvi zum provisorischen artistischen Director desselben berufen. S., dessen Anstellung in der Zwischenzeit aus einer provisorischen in eine definitive verwandelt worden, führte das Directorium bis Ende August 1867. Ueber seine Bühnenleitung wurden entgegengesetzte Urtheile laut, und nicht selten war S. in öffentlichen Blättern Gegenstand boshafter und bitterer Angriffe. Auch da mag die Wahrheit in der Mitte liegen.

Matteo Salvi: Botta di Sedrina, Anfang des 19. Jahrhunderts, rechts das Gedburtshaus/Wikipedia

Innerhalb seiner siebenjährigen Bühnenleitung hat S. eine stattliche Reihe von Opern und Ballets zum ersten Male, eine nicht minder große Zahl neu einstudirt zur Aufführung gebracht, und zwar 24 neue Opern und 17 Reprisen, außerdem 4 neue italienische Opern und 4 Reprisen. Aus den Titeln der neuen dürfte die Richtung, welche Director Salvi cultivirte, sich kundgeben; 1860: „Die Kinder der Haide“; 1861: „Das Glöckchen des Eremiten“; „Die Verschworenen“; „Hanns Heiling“; „Die Heimkehr aus der Fremde“; „Faust“; die Ballete: „Rosine“, „Gräfin Egmont“, „Eine ländliche Scene“; 1862: „Wanda“; die Ballete: „Eine Sylphide in Peking“, „Monte Christo“; 1863: „Lolla Rookh“; „Rhein-Nixen“; das Ballet: „Jutta“; 1864: „Concino Concini“; „Dinoraoh“; das Ballet: „Waldfräulein“; 1865; „Waffenschmied“; „Sängers Fluch“; die Ballete: „Flick und Flock“; „Gazella“; 1866: „Ilka“; das Ballet: „Fiornello“ und die italienischen Opern 1864: „Un ballo in Maschera“; „Saffo“; 1865: „Tutti in Maschera“; 1867: „Crispino e la Comare“. Sonst fällt noch in Salvi’s Directionsperiode die Gründung der Opernschule, wozu er die Anregung gegeben, die aber bald wieder aus finanziellen und anderen Gründen aufgelassen wurde.

Auch war er bei der Einrichtung des neuen Opernhauses in eifrigster Weise thätig, die Skizzen der neuen Decorationen mußten ihm vorgelegt werden und bei seinem Abgange hinterließ er ein Inventarium von 60 für das Opernhaus neu hergestellten Decorationen. Freilich wissen Eingeweihte mancherlei Pikantes über die Kunstansichten des Directors zu berichten, wovon Einiges die „Presse“ 1867, Nr. 272, in der Rubrik: „Künstlerische Ansichten über neue Decorationen“ ausplauderte. Als S. in den Ruhestand versetzt wurde, ward ihm ein Antheil, wenngleich nur ein sehr bescheidener, an der weiteren Directionsführung des Operntheaters zugewiesen und ihm die Pension unter der Bedingung zuerkannt, daß er die Engagement für die italienische Saison des Operntheaters treffe und nöthigenfalls auch die Direction der Stagione in Wien führe.

Salvigasse in Wien: Die Donizetti-Gesellschaft Wien, auf deren Bemühungen hin es Salvigasse gibt,  im Bild ( 2. von links mit dem Salvibild in der Hand, von links mit dem Salvibild in der Hand ist Obmann Alfred Gänsthaler, der Herr mit dem Buch ist Odo Aberham BA, re. daneben steht Beate Hatschka und dann – im grünen Sakko – Karl Schlader.).

Was Salvi’s im Drucke erschienene musikalische Werke betrifft, so sind anzuführen: „Caterina Howard. Melodramma tragico“ (Milano, Lucca); „Lara tragedia lirica“ (ibid., Ricordi); „La Primadonna“ (Wien, Mechetti); „Recitativo ad Aria: „Ambo nuttrimmo un seno“ per T.“; „Recitativo e Duetto: „Ah! Spietata, il core avete“, per S. e Pf.“; „Recitativo e Duetto“; „T’amo come il rio la sponda, per S. e T.“ (alle drei bei Ricordi in Mailand); „Sinfonia“, aus der Oper Lara (ebd.); „Il desiderio (die Sehnsucht), Barcarola“; „L’incostante (die Treulose), Ballata“; „L’appuntamento (das Stelldichein), Tirolese“; „La sventura (das Mißgeschick), Romanza“; „Preghiera (die Bitte), Romanza“; „L’invito (die Einladung), Serenata“. Diese 6 Nummern auch unter dem Gesammttitel: „Premieres pensées musicales. 5 Ariettes et 1 Duo italiens“ (Wien, Mechetti); „Ah già s’apre al mio pensiero. Aria per Contralto“, Einlagsstück in L. Ricci’s Oper: „Chi dura vince“. Die handschriftlichen Original-Partituren der beiden Opern: „I Burgravi“ und „La Primadonna“ befinden sich in der merkwürdigen und ungemein reichen Sammlung musikalischer Autographen der Familie Ricordi in Mailand (in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Band: 28 (1874), ab Seite: 155. GND; Eintrag 118883194).

.

.

Matteo Salvi/ Libretto zu „Catherine Howard“/archive.org

Matteo Salvi hatte auch einen Bruder, ebenfalls im Musikgeschäft: Luigi (Alois) Matteo: * 8.7.1825 Botta di Sedrina, † nach 1887 (Ort?). Gesanglehrer. Wann er nach Wien kam, ist unklar. Möglich ist, dass er jener Lehrer S. war, der 1850–54 am Mädchen-Lehr- und Erziehungsinstitut Ducati (Wien I, Michaelerplatz, dann Graben bzw. Stallburgplatz) tätig war (dabei könnte es sich jedoch auch um seinen Bruder M. S. handeln). 1854/55 ist ein L. Salvi als Gesanglehrer an der Fröhlich’schen Lehr- und Erziehungsanstalt für Töchter (Wien I, Franziskanerplatz) belegt. 1857 fungierte L. S. als Taufpate seiner Nichte Klementine, 1858 unterrichtete er am Allgemeinen akademischen Gesangs-Institut. Seine Bewerbung als Lehrer der Hof-Opernschule wurde 1866 von seinem Bruder jedoch nicht unterstützt und blieb erfolglos. Ab 1869 führte er eine eigene k. k. konzessionierte Gesang- und Opernschule in Wien I. 1881 gab es ein Konzert seiner Schule im Bösendorfer-Saal, bei dem die Schülerinnen Ida v. Gaal und Melanie v. Altenburg sowie die Schüler Julius v. Blaas und L. Castelli sangen; als Klavierbegleiter fungierte Emil Weber. Zu seinen Schülern zählten weiters auch Philippine Edelsberg, A. Kraemer (vielleicht auch Schüler seines Bruders) und A. v. Bandrowski sowie die Sängerinnen Sessi-Alexander, Krauß und Benza. Noch 1886 erschienen in Wiener Zeitungen Werbeannoncen der Schule, 1887 wird L. S. letztmals im Wiener Adressbuch (Opernring 13, Wien I) genannt. 1877 soll er eine Gesangschule in Mailand eröffnet haben (Namensverwechslung?). Mit seiner Frau (1870) Ernestina Schmidt hatte er zwei voreheliche Söhne (Alois, * 1868 und Joseph, * 1870), die beide ab 1880 am Konservatorium der GdM Violine studierten (Diplom 1884 bzw. 1885). (Wikipedia)

Nicht nur Radetzky-Marsch

.

Seit über acht Jahrzehnten wird das neue Jahr traditionell mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Längst hat es sich zum internationalen Großereignis entwickelt, im Fernsehen und Rundfunk (und mittlerweile natürlich auch im Streaming) live übertragen in aller Herren Länder. Am 1. Jänner 2024 stand nach fünfjähriger Pause zum zweiten Male der gebürtige Berliner Christian Thielemann auf dem Dirigentenpult im Goldenen Musikvereinssaal in Wien. Wie üblich, liegt wenige Tage hernach die Compact Disc vor (Sony 19658858932). Filmisch verewigt, schließen sich Ende des Monats DVD und Blu-ray an, neuerdings komplettiert um die pseudo-nostalgische Langspielplatte.

Was stand heuer auf dem Programm? Von den insgesamt 15 Nummern des offiziellen Programms sind nicht weniger als neun davon Premieren beim Neujahrskonzert, zwar nicht ganz so viele wie voriges Jahr (14), aber doch ein Fortbeschreiten des eingeschlagenen Weges, wo neuerdings bewusst nicht mehr bloß die „Sträusse“ berücksichtigt werden. Den Auftakt macht der bereits geläufige Karl Komzák mit dem Erzherzog-Albrecht-Marsch, einem eher streitbaren Mitglied des österreichischen Erzhauses gewidmet. Johann Strauss Sohn folgt freilich gleich darauf doppelt mit dem Walzer Wiener Bonbons und der eingängigen Figaro-Polka. Tatsächlich tut sich der Eindruck auf, als ließe der sich anschließende und herrliche k. u. k. Romantik ausstrahlende Walzer Für die ganze Welt von Joseph Hellmesberger junior, eine der Erstaufführungen in diesem Zusammenhang, gar den zuvor gehörten des Walzerkönigs alt aussehen. Die furiose Schnellpolka Ohne Bremse von Eduard „Edi“ Strauss bildet einen passenden Kontrast hierzu und beschließt den ersten Teil des Konzerts. Altbekanntes folgt nach der Pause mit der Ouvertüre zur spät entstandenen Johann-Strauss-Operette Waldmeister auf den Fuß. Selbst von diesem berühmtesten Mitglied der Strauss-Dynastie gibt es nach wie vor Neues zu entdecken, wie der landläufig gewiss unbekannte Ischler Walzer aus seinem Nachlass (und ohne Opus-Zahl) beweist, eine Hommage an sein geliebtes Ischl (das erst 1906, sieben Jahre nach Strauss‘ Tod, den Beinamen Bad erhielt). Eine Reihe vierer unterschiedlicher Polkas setzt den Konzertverlauf fort, davon drei Premieren: Über die Nachtigall-Polka (abermals Johann Strauss Sohn), die Polka mazur Die Hochquelle (Eduards zweiter Konzertbeitrag) und die geläufige Neue Pizzicato-Polka (neuerlich Johann junior) gelangt schließlich der jüngere Hellmesberger mit der Estudiantina-Polka aus seinem Ballett Die Perle von Iberien noch einmal zu Gehör. Mit dem prachtvollen Konzertwalzer Wiener Bürger von Carl Michael Ziehrer wird schließlich der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie gewürdigt. Wie eigentlich alle Ziehrer-Walzer, will auch dieser, sein wohl berühmtester, den leicht militärischen Einschlag gar nicht verleugnen (der Komponist war schließlich langjähriger Kapellmeister des legendären Hoch-und-Deutschmeister-Infanterie-Regiments Nr. 4). Das soeben eingeleitete Anton-Bruckner-Jahr 2024 (200. Geburtstag) geht nicht einmal am Neujahrskonzert vorüber. Ein frühes, völlig „unbrucknerisches“ Klavierwerk, die gut fünfminütige Quadrille WAB 121, wurde eigens zu diesem Anlass von Wolfgang Dörner für Orchester gesetzt. Das Ergebnis kann sich hören lassen und komplettiert auf eine gewisse Weise Thielemanns Bruckner-Zyklus, den er mit den Wiener Philharmonikern kürzlich vollendet hat (ebenfalls bei Sony erschienen). Heuer ebenfalls abermals vertreten ist der Däne Hans Christian Lumbye, der „Strauss des Nordens“. Sein spritziger Galopp Glædeligt Nytaar! (Frohes neues Jahr!) fügt sich nahtlos in die Programmgestaltung ein. Jetzt erst, beim letzten Stück des offiziellen Konzertprogramms, tritt Josef Strauss hinzu, dessen Delirien-Walzer fraglos einen der einprägsamsten Vertreter dieser beliebten Gattung darstellt. Die Thielemann’sche Darbietung desselben ist gar ein Höhepunkt des heurigen Neujahrskonzerts. Josef Strauss ist es auch, der gleich danach die erste Zugabe, die einzige wirkliche Überraschung des Konzerts, beisteuert. Seine feurig dargebotene Jockey-Polka versöhnt diejenigen, die den womöglich genialsten der Strauss-Brüder heuer etwas vernachlässigt sahen. Nach einem wohltuend nüchternen Neujahrsgruß des Dirigenten geht man zu den weiteren Zugaben über. Den weltbekannten Donauwalzer alias An der schönen blauen Donau meint man schon lange nicht mehr so locker und doch voller Pläsier gehört zu haben. Freimütig heraus gesagt: Diese Interpretation darf sich ganz vorne einreihen, trotz solch illustrer und zurecht gerühmter Vorgänger wie Willi Boskovsky, Herbert von Karajan und Georges Prêtre. Ganz zum Schluss dann erwartbar Johann Strauss Vater mit seinem Radetzky-Marsch. Das (diesmal leider besonders unkoordinierte) Klatschen wird man dem Publikum in diesem Leben nicht mehr austreiben können, aber was wäre ein Neujahrskonzert auch ohne nicht zumindest einen kleinen Wermutstropfen.

In der Summe ein beglückendes Neujahrskonzert, durchaus eines der erinnerungswürdigsten der letzten Zeit. Der Berliner Christian Thielemann hat in diesem urwienerischen Repertoire weiter an Statur gewonnen und, nicht zuletzt dank der erkennbar auf Gegenseitigkeit beruhenden innigen Verbindung mit dem Orchester, womöglich seine letzten Kritiker überzeugen können. Chapeau also und Prosit Neujahr! Daniel Hauser

.

Alle Jahre wieder wird das neue Jahr mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eingeleitet. Standen die letzten beiden Konzerte noch unter dem Eindruck der Pandemie, so war dies diesmal, am 1. Jänner 2023, erfreulicherweise kaum mehr nennenswert der Fall. Zum bereits dritten Male (nach 2011 und 2013) wurde der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst mit der musikalischen Leitung geehrt, wobei sein letzter Auftritt zu diesem Anlass vor haargenau einem Jahrzehnt stattfand. Traditionell liegt die CD bereits wenige Tage später vor, so auch heuer (Sony 19658717382).

Von den insgesamt 18 Stücken der Doppel-CD stellen nicht weniger als 14 Neujahrskonzert-Premieren da, wie ein roter Aufkleber auf der CD-Hülle verheißt. Das ist neuer Rekord und durchaus begrüßenswert. Sieht man sich die Namen der berücksichtigten Komponisten an, so ist Johann Strauss Sohn, fraglos der Spitzenreiter der Wiener Neujahrskonzerte insgesamt, diesmal gerade zweimal auf dem offiziellen Programm vertreten (Zigeunerbaron-Quadrille und die eingängige Schnellpolka Frisch heran!). Freilich, als Zugabe kommt noch der Banditen-Galopp sowie der unvermeidliche Donauwalzer hinzu. Die Tendenz ist gleichwohl eindeutig. Unstrittiger Gewinner ist diesmal sein Bruder Josef Strauss, mit sage und schreibe sieben Werken vertreten. Bereits der Auftakt mit dem großartigen, kaum geläufigen Walzer Heldengedichte spricht Bände über dessen Qualitäten. Von den drei weiteren Walzern aus Josefs Feder ist einzig Aquarellen zurecht berühmt, doch auch Perlen der Liebe und Zeisserln wissen für sich einzunehmen. Hinzu treten zwei Polkas françaises – eine Gattung, in der er besonders brilliert –, nämlich die Angelica-Polka sowie Heiterer Muth – letztere mit Chorbegleitung, heuer erstmals nicht nur durch die Wiener Sängerknaben, sondern auch die Wiener Chormädchen. Mit For ever, einer schnellen Polka, und dem Allegro fantastique wird der „josefinische“ Beitrag beschlossen. Der dritte, lange Zeit übersehene Strauss-Bruder Eduard erfährt auch langsam die Anerkennung, die ihm gebührt. Seine spritzige Schnellpolka Wer tanzt mit? eröffnet das Konzert. Zur selben Gattung gehört auch Auf und davon. Gerne würde man auch einmal einen Walzer Eduards auf dem Konzertprogramm sehen.

Eine andere schöne Entwicklung ist, dass Carl Michael Ziehrer, als Nachfolger der „Sträusse“ der letzte k. u. k. Hofball-Musikdirektor der Donaumonarchie und in Wien deren namhafteste Kontrahent, sich mittlerweile beim Jahrzehnte lang hinsichtlich der Programmgestaltung sehr konservativen Neujahrskonzert etabliert hat. Abermals wird ein großer Walzer aus seiner Feder beigesteuert: In lauschiger Nacht steht gegenüber seinen bekannteren Genrebeiträgen wie Wiener Bürger und Hereinspaziert! kaum nach und gibt wie diese gewisse Rückschlüsse auf Ziehrers langjährige Tätigkeit als Militärkapellmeister. Eine Freude auch, den Namen Joseph Hellmesbergers des Jüngeren abermals auf dem Programm in Form von Glocken-Polka und Galopp zu finden. Schließlich darf seit geraumer Zeit auch Franz von Suppè nicht mehr bei der Programmauswahl fehlen. Wie schon des Öfteren, ist es auch im heurigen Jahr eine Ouvertüre, nämlich diejenige zu seiner komischen Operette Isabella, welche die typischen Stärken dieses Komponisten unter Beweis stellt.

Bleiben die Zugaben als letztes Reservoir von Johann Strauss Vater und Sohn. An der schönen blauen Donau vom Junior hat ganz ohne Frage die längste Aufführungsgeschichte und ermöglicht insofern die breiteste Vergleichbarkeit. Tatsächlich reiht sich Welser-Möst trotz übermächtiger Konkurrenz (Karajan, Prêtre, Muti) durchaus in den vorderen Reihen ein. Überhaupt: Das Neujahrskonzert 2023 ist ohne Frage sein bisher bestes. Ein feuriger Abschluss der bisweilen zur Karikatur zu verkommen drohende Radetzky-Marsch des Seniors. Heuer durchaus mitnichten. Insgesamt eines der besseren unter den vielen Neujahrskonzerten. Daniel Hauser

.

Seit nunmehr 80 Jahren beginnt das musikalische neue Jahr mit dem bekanntesten aller Neujahrskonzerte, demjenigen der Wiener Philharmoniker aus dem Goldenen Saal des Musikvereins in Wien (von Sony sind in Folge zwei Viel-CD-Boxen dazu erschienen, dazu nachstehend mehr). 1941 fand dieses Konzert zum ersten Male regulär in der bis heute üblichen Form statt, wenngleich seine Geschichte genaugenommen noch ein wenig weiter zurückgeht, fiel der eigentliche Startschuss doch bereits am 31. Dezember 1939 als Silvesterkonzert. Angesichts dieser Jahreszahlen stellt sich unweigerlich die Frage, in welchem Zusammenhang es überhaupt zu diesen musikalischen Veranstaltungen zur Begehung des Jahreswechsels kam. Ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit der ausgefeilten Propagandamaschinerie der nationalsozialistischen Machthaber lässt sich nach der heutigen Quellenlage nicht abstreiten. Der „Anschluss“ lag nicht lange zurück. Hitler und Goebbels verstanden es, den Nimbus der Musikstadt Wien für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die ersten wirklichen Neujahrskonzerte von 1941 bis 1945 fanden dann auch als Benefizkonzerte zugunsten der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt.

31. Dezember 1939 – Erstes Neujahrskonzert (eigentlich Silvesterkonzert) der Wiener Philharmoniker. Seit Jahrzehnten präsentieren die Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel ein Programm aus dem Repertoire der Strauß-Dynastie und deren Zeitgenossen. Die Nachfrage für die Hauptdarbietung am Neujahrsvormittag und zwei Begleitkonzerte ist enorm: Karten werden ausschließlich über die Website der Wiener Philharmoniker verlost. Sie kosten für das Neujahrskonzert teilweise über 1.000 Euro. Die Veranstaltungen erreichen durch die weltweite Fernsehübertragung zudem Zuschauer in mittlerweile über 90 Ländern. Seinen Ursprung hat das Spektakel im Nationalsozialismus: Am 31. Dezember 1939, vier Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, geben die Wiener Philharmoniker unter der Leitung des Dirigenten Clemens Krauss ein Johann-Strauß-Konzert. Es wird im Radio übertragen. Die Walzerklänge passen bestens in die Strategie der Nazi-Propaganda. Die leichten Melodien sollen die Sorge um Angehörige an der Front zerstreuen. Die Einnahmen des Silvesterkonzerts stellen die Wiener Philharmoniker zur Gänze dem von Adolf Hitler kurz zuvor eröffneten ersten „Winterhilfswerk“ zur Verfügung. Im Jahr darauf wird das Konzert vom Silvester- auf den Neujahrsvormittag verlegt: Am 1. Januar 1941 spielen die Wiener Philharmoniker – wieder unter der Leitung von Krauss – „zum ersten Mal für die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude'“, wie es in der Konzertankündigung des „Neuigkeits-Welt-Blatts“ vom 22. Dezember 1940 heißt (… weiterlesen hier). (Quelle WDR)

Interessanterweise gab es beim Neujahrskonzert nach Kriegsende nur temporär einen dezenten Bruch: Leitete die Konzerte in Kriegstagen der ehemalige Wiener Staatsoperndirektor Clemens Krauss, wurde für die Neujahrskonzerte 1946 und 1947 der jüdischstämmige Dirigent Josef Krips dazu berufen. Es ist freilich bezeichnend, dass Krauss trotz seiner Verwicklungen in der NS-Zeit ab 1948 wieder die musikalische Leitung der Konzerte übernahm und diese bis 1954, seinem Todesjahr, ununterbrochen behielt. Für die Musik der Strauss-Dynastie hat Krauss ganz ohne Frage einen immensen Beitrag geleistet und ihr auch zum endgültigen Durchbruch bei den Wiener Philharmonikern verholfen. In der Krauss-Epoche kam es auch zur erstmals am 31. Dezember 1952 erfolgten Voraufführung als Silvesterkonzert.

Nach Krauss‘ unerwartetem Ableben erfolgte eine Art Behelfslösung, indem ab 1955 Willi Boskovsky, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, einsprang. Diese womöglich zunächst als Provisorium angelegte Lösung führte zu einem Vierteljahrhundert Wiener Neujahrskonzert unter Boskovsky, welcher diesem folglich seinen Stempel fest aufdrückte. Seit dem 30. Dezember 1962 gab es eine zweite Voraufführung, welche bis 1997 als geschlossene Veranstaltung für Angehörige des Bundesheeres firmierte. In diese Ära fällt auch das allmählich immer stärker erwachende internationale Interesse an diesem Konzert, das seit 1959 vom ORF nicht mehr bloß im Rundfunk, sondern auch im Fernsehen ausgestrahlt wurde, ab 1969 schließlich auch in Farbe. Unter Boskovsky kam es auch zu den ersten kommerziellen Einspielungen des Neujahrskonzertes, wobei eine Decca-Platte anlässlich des 25. Jubiläums seines Dirigats 1979 den Anfang machte (das Konzert von 1975 erschien erst nachträglich, zumindest in Japan, ebenfalls).

Die nächsten Jahre ab 1980 dominierte mit dem US-Amerikaner Lorin Maazel wieder ein Dirigent von Weltformat. Dieses Verhältnis erreichte in der Berufung Maazels zum Direktor der Wiener Staatsoper im Jahre 1982 seinen Höhepunkt, doch endete seine Direktion nach nur zwei Jahren aufgrund unüberbrückbarer Konflikte mit der Bürokratie. Interessanterweise blieb sein Engagement beim Wiener Neujahrskonzert davon zunächst unberührt, welchem er noch bis 1986 ohne Unterbrechung vorstand. Die Deutsche Grammophon Gesellschaft brachte indes nur eine Kompilation der Jahre 1980 bis 1983 auf den Markt. Maazel sollte später noch viermal das Neujahrskonzert leiten (1994, 1996, 1999 und 2005).

Der nächste Paukenschlag, der zum absoluten Weltereignis führen sollte, war ohne Frage die Verpflichtung des beinahe 80-jährigen Herbert von Karajan für das Neujahrskonzert 1987. Dieses gilt zurecht bis auf den heutigen Tag als eines der legendärsten und unvergesslichsten aller Neujahrskonzerte. Es war dann auch das erste seit 1979, das einzeln auf Schallplatte und CD erschien (freilich um den herrlichen Kaiser-Walzer gekürzt, der erst in einer späteren Neuauflage ebenfalls inkludiert wurde).

Von 1987 an bürgerte sich eine alljährlich wechselnde musikalische Leitung der Konzerte ein, wobei die meisten Dirigenten mehrmals die Ehre hatten, zu diesem Anlass auf dem Podium zu stehen. Mit Claudio Abbado (1988 und 1991), Carlos Kleiber (1989 und 1992), Zubin Mehta (1990, 1995, 1998, 2007 und 2015), Riccardo Muti (1993, 1997, 2000, 2004, 2018 und 2021), Nikolaus Harnoncourt (2001 und 2003), Seiji Ozawa (2002), Mariss Jansons (2006, 2012 und 2016), Daniel Barenboim (2009 und 2014), Georges Prêtre (2008 und 2010), Franz Welser-Möst (2011 und 2013), Christian Thielemann (2019) und Andris Nelsons (2020) waren es weitere Dirigenten von Weltrang, die von den Wiener Philharmonikern eingeladen wurden. Für 2022 ist wiederum Barenboim, dann 79, designiert.

 

Bereits anlässlich des 75. Jubiläums erschien bei Sony Classical eine Gesamtausgabe sämtlicher bei den Neujahrskonzerten gespielten Werke auf 23 CDs, die nun in einer um drei Discs erweiterten Neuausgabe noch einmal zusätzlich um das gesamte Repertoire der letzten fünf Jahre bereichert wurde (Sony 19439764562). Berücksichtigt sind also Aufnahmen von 1941 bis 2019. Die ganze Bandbreite der Wiener Neujahrskonzerte erzeigt sich anhand des glücklicherweise inkludierten Index der Werke, denn neben der Strauss-Dynastie sind die Komponisten Beethoven, Berlioz, Brahms, Czibulka, Delibes, Haydn, Hellmesberger Vater und Sohn, Lanner, Lehár, Liszt, Lumbye, Mozart, Nicolai, Offenbach, Reznicek, Rossini, Schubert, Stolz, Richard Strauss, Suppé, Tschaikowski, Verdi, Wagner, Waldteufel, Weber und Ziehrer – freilich in unterschiedlicher Quantität – mit dabei. Der Anspruch, der hier erhoben wird, ist gewissermaßen der einer Anthologie der Wiener Musik von den Anfängen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende der Donaumonarchie, angereichert um kleine Ausflüge, die teils mit Komponistenjubiläen in Verbindung standen (so 2013 das große Verdi- und Wagner-Jahr). So tut sich ein Rückblick auf die zwischen 1966 und 1971 für Eurodisc entstandene Reihe Wiener Musik unter Robert Stolz auf, die mittlerweile in einer 12-CD-Box bei RCA neu aufgelegt wurde. Obwohl dort neben den Wiener Symphonikern hauptsächlich die Berliner Symphoniker zum Zuge kamen, erklangen die Werke von Lanner bis Ziehrer doch ungemein idiomatisch und stellen somit eine ernsthafte Alternative dar.

 

Hier wurde streng chronologisch vergangenen. Anders in der Sony-Neuerscheinung, welche die einzelnen CDs unter thematische Oberbegriffe wie An der schönen blauen Donau, Auf der Jagd oder Liebesgrüße stellt. Das ist eine mögliche Vorgangsweise, doch nötigt sie einem fast zwangsläufig den Blick in den erwähnten Index ab, sucht man ein ganz bestimmtes Werk. Wer ein solches unter diesem und jenem Neujahrskonzert-Dirigenten sucht, wird also mit relativ großer Wahrscheinlichkeit mit einem anderen vorlieb nehmen müssen. Und so herausgerissen aus dem abendlichen Kontext bliebt auch die Atmosphäre auf der Strecke – es ist eben nur noch eine (etwas lässliche und beliebige)  Anthologie, kein Miterleben. Hier bleibt dann letztlich bloß der Erwerb der (teilweise nur mehr gebraucht zu findenden) jeweiligen CD des entsprechenden konkreten Neujahrskonzerts.

.

Bereits zum zweiten Mal fand das weltbekannte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1. Jänner 2022 während der Corona-Pandemie statt, diesmal zumindest nicht völlig ohne Publikum – wie es Riccardo Muti im Vorjahr widerfahren war –, aber doch mit einer reduzierten Zahl an Zuschauern, sämtlich im Parkett versammelt. Gleichsam schon traditionell zeichnet Sony für die CD-Ausgabe verantwortlich (194399625026). Am Dirigentenpult der Wiener Philharmoniker durfte Daniel Barenboim nach 2009 und 2014 sein drittes Neujahrskonzert leiten.

Barenboim, der im achtzigsten Lebensjahr steht, debütierte schon 1965 bei den Philharmonikern, allerdings in seiner Eigenschaft als Pianist. Als Dirigenten luden ihn die Wiener 1989 erstmals ein. Man darf also mit Fug und Recht von einer sehr langjährigen und engen Partnerschaft sprechen, die den gebürtigen Argentinier mit diesem Klangkörper verbindet. Routine ist dieses Konzertereignis, mit dem stets das musikalische Jahr eröffnet wird, auch für einen Profi wie Barenboim mitnichten. Die gebotene Seriosität war stellenweise gar etwas zu deutlich spürbar. Freilich hat sich Barenboim eingehend mit den Eigenheiten der Wiener Musik auseinandergesetzt und ist besser als manch anderer im Stande, den adäquaten Walzertakt zu schlagen.

Überhaupt standen zwei Werke dieser Gattung im Mittelpunkt, nämlich die vom Dirigenten sehr geschätzten Sphärenklänge, die gemeinhin als Höhepunkt im Schaffen von Josef Strauss gelten und die diesmal den offiziellen Teil des Neujahrskonzerts beendeten, und zum anderen Nachtschwärmer, ein Paradestück des noch immer zu Unrecht im Schatten der „Sträusse“ stehenden Carl Michael Ziehrer, des letzten k. u. k. Hofballmusikdirektors, dessen Todestag sich heuer übrigens zum hundertsten Mal jährt. Bei diesem Walzer durften die Philharmoniker sogar selbst mitsingen und mitsummen. Hier kam dann doch etwas von der Heiterkeit herüber, welche frühere Neujahrskonzerte auszeichnete.

Der Ziehrer-Walzer war eine von nicht weniger als sechs Premieren, wobei allein drei davon auf den genannten Josef Strauss entfielen (der Phönix-Marsch, die Polka mazur Die Sirene und die Nymphen-Polka). Eduard Strauss war zwar auch diesmal der am wenigsten bedachte Strauss-Bruder, doch immerhin erklang seine Schnellpolka Kleine Chronik zum ersten Mal im Rahmen eines Neujahrskonzerts. Das andere Stück des „schönen Edi“ war die Polka française Gruß an Prag. Seit langem hat man den Eindruck, dass man seinen Walzern die Neujahrskonzert-Tauglichkeit nicht so wirklich zutraut. Ein Aufsteiger der letzten Jahre war Joseph Hellmesberger junior, der das letzte Premierenstück Heinzelmännchen beisteuerte – neben dem Galopp Kleiner Anzeiger.

Obwohl Johann Strauss Sohn mit acht von achtzehn Werken noch immer dominiert (darunter der Walzer Tausend und eine Nacht, die Fledermaus-Ouvertüre und der Persische Marsch), ist doch eine gewisse Entwicklung dahin spürbar, seine absolute Dominanz zu brechen, was zu begrüßen ist, hat doch gerade das in alle Welt übertragene Neujahrskonzert aus Wien das Potential, weniger präsente Stücke populärer zu machen. Mit dem Phönix-Schwingen-Walzer gleich zu Beginn nach dem genannten Phönix-Marsch wollte man gewiss ein Zeichen setzen: Wie Phönix aus der Asche. Als Zugabe erklang dann nochmal eine Schnellpolka des jüngeren Johann Strauss (Auf der Jagd), bevor Barenboim in seiner Neujahrsansprache (auf Englisch) seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass das gesellschaftliche Auseinanderbrechen gestoppt werden könne und eine Rückbesinnung auf die Einheit einsetze, wie es die Musiker im Orchester vorlebten.

Den Donauwalzer nahm Barenboim anschließend im eher breiten Zeitmaß – wie er das gesamte Konzert symphonisch auslegte –, bevor der abschließende Radetzky-Marsch (heuer das einzige Werk von Johann Strauss Vater) leider wie üblich vom Publikum zerklatscht wurde. Fast wünschte man sich zumindest an dieser Stelle die Ruhe im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins zurück, wie sie 2021 pandemiebedingt einmalig zustande gekommen war. Wie unlängst Usus, erscheint auch dieses Jahr zusätzlich eine DVD- und Blu-ray-Ausgabe des Konzerts. Für 2023 ist bereits der Österreicher Franz Welser-Möst, dann gleichfalls zum dritten Mal, zum Dirigenten des Neujahrskonzerts bestimmt worden. Daniel Hauser

.

Das  Neujahrskonzert 2021 (auf CD als Sony 19439840162) stand im Vorfeld unter einem denkbar schlechten Stern, war seine Durchführung aufgrund der Pandemie doch alles andere als sicher und seine letztendliche Ermöglichung durchaus auch von kritischen Tönen begleitet. Nichtsdestoweniger sorgte das im Annus horribilis 2020 bewährte Krisenkonzept der Wiener Philharmoniker, die sogar eine Japan-Tournee bestreiten konnten, dafür, dass es am Ende unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden konnte. Mit Riccardo Muti, im achtzigsten Lebensjahr stehend und gleichsam der Nestor unter den italienischen Dirigenten unserer Zeit, hatte man bereits vor Kenntnis des Jahresverlaufes glücklicherweise einen dem Orchester besonders eng verbundenen Maestro für 2021 vorgesehen, der bereit war, sich den nicht unerheblichen Strapazen und harte Restriktionen, an deren Einhaltung das ordnungsgemäße Procedere geknüpft war, zu unterwerfen.

Die Programmauswahl für 2021 war ohne Frage eine der vielversprechendsten seit langem, fanden doch erstmals drei Komponisten gebührende Beachtung, die zu Unrecht im Schatten der Strauss-Dynastie stehen. Die im selben Jahre 1842 geborenen Carl Millöcker und Carl Zeller gingen besonders als Operettenkomponisten in die Geschichte ein. So nimmt es nicht wunder, dass die dafür ausgewählten Stücke, der Galopp In Saus und Braus von Millöcker und der Walzer Grubenlichter von Zeller, auf Motiven aus zwei Operetten, Der Probekuss sowie Der Obersteiger, beruhen. Für den unbedarften Hörer dürfte vor allen Dingen der Walzer Bad’ner Mad’ln (bezogen auf Baden bei Wien) des österreichisch-tschechischen Komponisten Karl Komzák Sohn ein unerwarteter Höhepunkt des Konzerts gewesen sein. Freilich war dessen Aufnahme ins Neujahrskonzert seit Jahrzehnten überfällig und erstaunte sein bisheriges Fehlen den Kenner.

Kein Geringerer als der vor allem als Wagner-Dirigent unsterblich gewordene Hans Knappertsbusch hatte die Bad’ner Mad’ln zu seinem absoluten Lieblingswalzer erkoren und häufig seine Konzertprogramme damit gewürzt. Man muss bis ins Jahr 1970 zurückgehen, um diesen Konzertwalzer auf einem Programm der Wiener Philharmoniker zu finden (übrigens anlässlich eines Konzerts in Bern unter Boskovsky). Allzu viele Aufnahmen des Werkes gibt es seit Knappertsbusch nicht; Muti hat im Zuge dieses Neujahrskonzerts nun die überzeugendste Interpretation seither vorgelegt. Überhaupt betont dieser Dirigent, gebürtiger Neapolitaner, zurecht die Verbindung zwischen Wien und Italien. Die Walzerseligkeit liegt Muti folglich im Blute und er wurde mit jedem seiner Auftritte beim Wiener Neujahrskonzert idiomatischer.

Daher waren es wirklich gerade die betont sinfonisch angelegten großen Walzer, die die 2021er Veranstaltung zum musikalischen Highlight werden ließen. Neben einem weiteren Werkdebüt – Schallwellen von Johann Strauss Sohn – kam die Crème de la crème der Strauss-Walzer zum Zuge: Frühlingsstimmen (heuer ohne Gesang), der Kaiser-Walzer und natürlich An der schönen blauen Donau. Fürwahr: Breitere Zeitmaße dürfte man bei diesen Hits noch nicht vernommen haben. Den imperialen Kaiser-Walzer bringt Muti auf sage und schreibe 13 Minuten, ohne dass der Spannungsbogen abbräche. So überzeugend hat man dieses späte Glanzlicht im Œuvre des Walzerkönigs seit Karajan nicht gehört. Meisterlich der Einsatz der Rubati, die sich durch eine wahrlich wienerische Note auszeichnen. Muti wäre nicht Muti, käme nicht auch Franz von Suppè, einer seiner heimlichen Favoriten, vor. Mit dem einleitenden Fatinitza-Marsch aus der gleichnamigen Operette begann das Konzert mit dem nötigen Schwung, ohne ins Überschwängliche zu verfallen. Die großartige Ouvertüre zur Operette Dichter und Bauer leitete sodann den zweiten Teil des Konzerts ein. Mit der der ersten Königin des vereinten Italien gewidmeten Margherita-Polka von Josef Strauss setzte der Maestro ein weiteres Zeichen der austro-italienischen Verbundenheit. Dieser Strauss-Sprössling war sodann auch mit der schnellen Polka Ohne Sorgen vertreten. Auch wenn besonders in der zweiten Konzerthälfte die Dominanz des berühmteren Bruders Johann unübersehbar war, kam ihr gleichnamiger Vater neben dem traditionell als Zugabe gespielten Radetzky-Marsch (diesmal zum Glück ohne „Zerklatschen“, daher auch in seiner ganzen Detailfreudigkeit nachvollziehbar) noch mit dem flotten Venetianer-Galopp zu seinem Recht. Ohne Übertreibung darf sich dieses Neujahrskonzert von 2021 unter die herausragendsten einreihen und wurde insofern doch noch zu einem musikalischen Hoffnungsschimmer für das neue Jahr. Daniel Hauser  

Hochseekapitän

.

Allein schon optisch lässt Bryn Terfel auf dem Cover  in angemessener Kleidung und mit Blick aufs wogende Meer sowie auf den Fotos im begleitenden Booklet keinen Zweifel daran aufkommen, dass er seewasserfest und wettergegerbt durchaus der Richtige für eine CD mit Sea songs ist. Aus Wales mit seinen Hunderten Kilometern Küste stammt der Bassbariton und stammen viele der siebzehn Tracks und  neben ihm auch andere berühmte Sänger wie die unvergessene Gwyneth Jones. Und wohl nicht nur, weil aus dem jahrzehntelangen Prinzen of Wales 2023 CharlesIII. wurde, durfte er als einziger Sänger nicht nur bei den Krönungsfeierlichkeiten, sondern auch beim einen Tag danach stattfindenden Krönungsfest seine Stimme ertönen lassen.

Bereits dreißig Jahre lang hat die DG mit vielen sehr unterschiedlichen Aufnahmen die Karriere des Walisers begleitet, der immer noch, trotz und nach Boris Godunov oder Wotan, einen Dulcamara singen kann. Mit den Sea Songs erfüllt sie ihm einen lange gehegten persönlichen Wunsch, an dessen Erfüllung Terfel auch die Kollegen Simon Keenlyside und Sting teilnehmen lässt, außerdem die Sängerin Eve Goodman, Fisherman’s Friends und Calan mit angemessenen Instrumenten wie Akkordeon, Gitarre oder Fiedel. Die nicht nur aus Wales, sondern auch aus der Bretagne, von den Shetland Inseln oder aus der Karibik stammenden Songs wurden durchweg von Patrick Rimes neu arrangiert.

Das aufschlussreiche Booklet gibt einen Einblick in die Entstehung und den Charakter der Seemannslieder, die  zu einem großen Teil als Unterstützung und Koordinierung von Bewegungsabläufen wie das Einholen der Segel oder das Hissen von Fahnen gesungen wurden. Dass dabei oft „der Rum in Strömen floss“, dürfte allerdings nicht ganz der harten und herben Wahrheit seemännischen Lebens entsprochen haben. Leider sind die Texte nicht im Booklet abgedruckt, wohl aber eine Beschreibung des Inhalts, denn Englischkenntnisse sind nicht durchgehend nützlich für das Verstehen längst untergegangener Sprachen oder Dialekte.

Die große Kunst Bryn Terfels besteht unter anderem darin, dass seine Darbietungen auf dieser CD zugleich höchst kultiviert als auch ausgesprochen ursprünglich klingen, mal etwas nach der einen oder der anderen Seite ausschlagend, aber immer durch und durch authentisch klingend. Vielfalt wird nicht nur dadurch, sondern auch durch den Wechsel bei den Mitwirkenden neben Terfel selbst erreicht.

Es beginnt mit dem traditionellen Flat Huw Puw, dass der Sänger mit hörbarem Elan und Enthusiasmus angeht, während im folgenden Drunken Sailor ihm Simon Keenlyside sekundiert und beide einander an guter Laune zu überbieten versuchen. Eine eindrucksvolle mezza voce kann der Waliser für Codi Angor, den Abschied des Seemanns von der Geliebten schildernd, einsetzen, die sekundierenden Hintergrundsänger und die Instrumente von Calan machen das Ganze besonders stimmungsvoll. Beschwipst, obwohl wahrscheinlich beim Fahnenhissen eingesetzt, klingt Whisky, Johnny!, The Fisherman’s Friends sind bei Sloop John B im Einsatz und steuern noch einmal neue Klangfarben bei. Wie eine Naturstimme klingt der Sopran von Eve Goodman in einem Song von den einst zu Norwegen gehörenden Shetland Inseln in der Sprache Norn, Terfel adelt das Ganze durch die Ausstellung besonders schöner Stimmfarben, die ganz zärtlich werden in dem Schlaflied für eine Geliebte, das aus Wales stammt. Charaktervoll mischt sich die Stimme von Sting in das Geschehen um einen bitterbösen Kapitän, geschmeidig sanft klingt das Gebet The Unst Boat Song, um Walfang geht es flott und beschwingt in The Wellerman, und flexibel zeigt sich die Stimme von Terfel im schnelleren Harbwr Cork. Immer wieder fasziniert die sorgfältige Textbehandlung, so besonders in Bold Riley, so kraftvoll wie kultiviert erklingt Mae’e Gwynt Deg a capella, und einen schönen beschaulichen Ausklang bietet die CD mit Leave her, Johnny.

Die CD bietet eine willkommene Gelegenheit, anspruchsvolle Unterhaltung auf hohem künstlerischem Niveau mit dem Erleben einer fremden, faszinierenden Welt zu verbinden (DG 486 4884). Ingrid Wanja    

Tamara Milaschkina

.

Im grünen Samtkostüm war Tamara Milaschkina in den Siebzigern eine imposante Tosca, als sie mit dem Moskauer Bolschoi einen Gastauftritt in den West-Berliner Messehallen machte – Reisepappe und Ensemble (Ehemann Atlantow und Bariton Masurok) inklusive. Ich erinnere mich genau, wie beeindruckt ich von ihrer machtvollen Stimme war, auch amüsiert von ihren raumgreifenden Gesten und konventionellem Pathos (inklusive reichlichen Schluchzern). Auch ihr Gastspiel als Tatjana an der Deutschen Oper bleibt mir in Erinnerung. Russisch eben. Und das war eine bedeutende Komponente ihrer Karriere: Sie war doch das Aushängeschild der sowjetischen Kulturpolitik, die russische Künstlerin ihrer Zeit, anders als die sicher interessantere Kollegin Vischnevskaja, die spätestens nach ihrer Emigration in den Westen kein Gegenpol mehr und vorher eher nur in Russland ein Geheimtip war, trotz glanzvoller Gast-Auftritte in Paris und London (und ihrer zu späten Studioaufnahmen).

Die Milaschkina war, wie ihre Kollegin Bieshu, eine Sängerin des Russischen, Allgemeinen, Strömenden, Soliden, weniger aufregend als die erwähnte Vischnevskaja. Sie beherrschte den russisch-sowjetischen Sopranmarkt und war ein viel gefragter Export nach Europa und Amerika, sicher staatsnah und hochgeehrt, aber das war zu diesen (?) Zeiten ganz selbstverständlich und fast unumgänglich. Tamara Milaschkina starb im Januar 2024 im Alter von 90 in Wien, wo sie bemerkenswerter Weise seit langem wohnte. Weitere Details im Folgenden von Daniel Hauser. G. H.

.

.

Am 13. September 1934 in Astrachan, seinerzeit RSFSR innerhalb der Sowjetunion, geboren, brillierte die russische Sopranistin Tamara Milaschkina zunächst bei Amateurauftritten, bevor sie ihr Gesangsstudium am Moskauer Konservatorium bei Jelena Katuslakaja 1959 abschloss. Bereits im Alter von 23 Jahren wurde sie Praktikantin am Bolschoi-Theater in Moskau und debütierte dort am 4. Mai 1958. Schon kurz darauf sang sie als Tatjana in Tschaikowskis Eugen Onegin an der Seite von Sergej Lemeschew. 1961/62 verbrachte sie an der Scala in Mailand und sang ungeplant die Rolle der Lida in Verdis La battaglia di Legnano. Am Bolschoi-Theater trat sie bis 1990 auf und sang dort 25 Opernrollen, darunter Lisa (Pique Dame von Tschaikowski), Donna Anna (Der steinerne Gast von Dargomyshski), Wolchowa (Sadko von Rimski-Korsakow), Fewronija (Die Legende der unsichtbaren Stadt Kitesh von Rimski-Korsakow) und Iolanta (gleichnamige Oper von Tschaikowski). Außerhalb ihres russischen Kernrepertoires verkörperte sie Tosca, Aida, Leonora (Il trovatore), Elisabetta di Valois (Don Carlo), später auch Desdemona (Otello) und Amelia (Un ballo in maschera). Auslandstourneen führten sie in die Tschechoslowakei und in die DDR, nach Polen, Italien, Österreich, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Japan und Kanada sowie in die Vereinigten Staaten. An der Wiener Staatsoper war sie etwa zwischen 1966 und 1978 mehrfach als Gast beschäftigt. Im deutschsprachigen Raum konnte man sie zudem in Salzburg, Berlin, München, Stuttgart, Wiesbaden, Leipzig und Dresden erleben. Daneben hatte sie eine erfolgreiche Karriere als Konzertsängerin. Der Sängerin ist der sowjetische Dokumentarfilm Die Zauberin aus der Stadt Kitesh (1966) gewidmet. Bereits 1973 wurde sie zur Volkskünstlerin der UdSSR ernannt und erhielt 1978 den Glinka-Staatspreis der RSFSR. Nach ihrem Rückzug von der Bühne lebte sie mit ihrem Ehemann, dem Tenor Wladimir Atlantow, in Wien. Dort ist Tamara Milaschkina nun am 10. Jänner 2024 im 90. Lebensjahr verstorben. Daniel Hauser

Mit Orchesterbegleitung

.

Nicht nur gute alte Bekannte, was Librettisten wie Antonio Ghislanzoni oder Luigi Illica betrifft, findet man auf der Puccini-CD mit dessen  I Canti, wieder, sondern auch Melodien, die man aus La Bohéme, Edgar, Le Villi oder Manon Lescaut kennt und die der Komponist für seine Frühwerke erfand und später noch einmal verwendete und einem weit höheren Bekanntheitsgrad entgegen geführt hat. Der amerikanische Tenor Charles Castronovo hat sich als Puccini verkleidet und blickt neben einem Foto des Komponisten sitzend und diesem täuschend ähnlich sehend vom Cover der CD und aus dem Booklet, und da er augenblicklich Artist of Resindence des Münchner Rundfunkorchesters ist, hat er sich nicht mit einer KLavierbegleitung begnügt, sondern sich von Johannes X. Schachtner eine Orchesterbegleitung komponieren lassen, die dieser, ebenfalls im Booklet, unter anderem damit legitimiert, dass sie nicht mit deutschem Liedgut zu vergleichen seien, sondern in der Tradition des Belcanto stünden.

Und noch etwas will uns das Booklet verraten: Charles Castronovo sei dem Publikum wegen seiner Erfolge in Mozartpartien oder einem Traviata-Alfredo, also als lyrischer Tenor, bekannt, was zutreffen mag, nicht aber noch  auf die auf der CD vernehmbare Stimme zutrifft, die sehr dunkel grundiert ist und hörbar in ein schwereres Fach, das des Spinto-Tenors, hinweist.

Das trifft bereits auf den ersten Track, die Canzone A te, zu, die viel eher eine Opernarie als ein Lied zu sein scheint und in der der Stimme Jugendlichkeit und zugleich eine reiche Substanz an Farben zuzusprechen ist. Im Salve erscheint sie besonders facettenreich und ausgesprochen nobel auch in der Höhe, so auch in Ad una morta, wo ein schönes Diminuendo in der Extremhöhe staunen lässt. Später für Des Grieux’ Donna non vidi mai verwendet wurde Mentia l’avviso, das aus einer Examensarbeit des Musikstudenten Puccini stammt. Der Wechsel der Stimmungen nachvollziehbar gemacht wird  in der Storiella d’amore, in der die Höhe als gut angebunden empfunden wird. Von der Sonne die Rede ist in Sole e amore, obwohl später daraus in La Bohémeè una notte di luna“ wurde.

Ein schöner vokaler Übermut lässt sich in Avanti, Urania! vernehmen und eine strahlende Höhe dazu. So behände wie das Orchester unter Ivan Repušić zeigt sich die Stimme in E l’uccellino. Weit holt die Opernpranke zum Schlag in Canto d’anime aus, eher deklamierend verhält sich der Sänger in Dios y Patria und ganz schlicht wird das Lob auf la casa mia gesungen. Für den sogno d’or wird eher Bronzematerial eingesetzt, das sich im Schluss auch ausgesprochen ätherisch geben kann. Einen starken Kontrast dazu bildet der martialische Inno a Roma, wo auch das Orchester mächtig auftrumpfen darf. Das abschließende Morire? spricht von einer reifen Interpretationskunst und geht dem Hörer nahe.

Drei Orchesterstücke bilden den Abschluss des beachtlichen Hörvergnügens mit Preludio sinfonico, Capriccio sinfonico und den populären Crisantemi, den Totenblumen der Italiener, einer Trauermusik, hier in der Bearbeitung für Streichorchester durch Lucas Drew. Hier beweist das Münchner Rundfunkorchester, dass es auch ohne das Mitwirken seines derzeitigen Artist in Residence der Aufmerksamkeit des Hörers wert ist (BRmedia 900349). Ingrid Wanja

Erstaunlich oft eingespielt

.

Jean-Marie Leclairs Tragédie-lyrique Scylla et Glaucus, seine einzige Oper, ist auf dem Markt in mehreren Einspielungen vertreten. 1986 nahm John Eliot Gardiner das Stück mit seinen English Baroque Soloists für Erato auf, 2016 kam bei Alpha eine neue Version unter Leitung von Sébastien D’Hérin heraus. Die letzte Produktion entstand im April 2021 in Warschau unter Stefan Plewniak als Bestandteil der Collection Château de Versailles Spectacles. Nun legt GLOSSA eine im März 2022 in Budapest entstandene Aufnahme mit dem Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi vor (GCD 924015, 2 CDs).

Auf diesen Seiten wurde die Version unter Plewniak bereits besprochen und in dieser Rezension auch die Handlung des Werkes sowie dessen musikalischer Umriss erläutert.

Vashegyi bringt die Höhepunkte der tragédie vom pastoralen Charme des 1. über die scène infernale mit dem Ausbruch des Ätna im 4. Akt bis zum tragischen Finale mit Scyllas Verwandlung in einen Felsen zu starker Wirkung. Auch ihre graziösen Tänze lässt er mit dem wunderbar musizierenden Orchester delikat ertönen.

Die drei Hauptrollen des Werkes sind idiomatisch besetzt. Mit leicht säuerlichem Sopran, aber musikalischem Gespür ist Judith van Wanroij eine gestandene Scylla. In Cyrille Dubois hat sie einen exquisiten Partner als Glaucus. Sein Tenor in der Nähe zum haute-contre schmeichelt bis in die Extremhöhe. Wunderbar harmonieren die Sänger der Titelrollen in beider Duo „Que le tendre Amour“ im 3. Akt. Als Circé wirkt mit Véronique Gens eine renommierte Spezialistin des französischen Barock mit und wieder überzeugt sie mit einer Ausnahmeleistung. Ihr Sopran klingt weich und gerundet, was ihre Soli zu kostbaren Momenten macht. Aber die Stimme verfügt auch über Koloratur-Attacke – zu hören beispielsweise in ihrem rasenden Air „Courons, courons à la vengeance“ am Ende des 2. Aktes. Nicht weniger als fünf Airs hat sie im 4. Akt, die vom flehentlichen „Reviens, ingrat mais cher amant“ über das furiose „Ah! que la vengeance“ und majestätische „Noires divinités“ bis zum erhabenen „Déesse redoutable“ reichen und die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Sängerin aufzeigen. Überwältigend endet das Werk mit der Symphonie pour les aboiements des monstres qui environnent Scylla.

Die Einspielung darf unter die besten des Jahres eingereiht werden und sei jedem Liebhaber des Genres empfohlen (31. 12. 23.). Bernd Hoppe

Französischer Dauerbrenner

.

Die Glöckchen-Arie und das Blüten-Duett blieben stets präsent in der Erinnerung des Publikums und im Programm manchen Wunschkonzerts, aber das Duett zwischen Lakmé und Gérald aus dem ersten und die Tenorarie aus dem dritten Akt mussten bei der Uraufführung 1883 in der Opéra Comique in Paris wiederholt werden, was wohl vor allem an dem Startenor Jean-Alexandre Talazac lag. Anders als in Deutschland, wo man mit orientalischen, d.h. durch Kolonialherrschaft (angeblich „befleckten“) Themen zunehmend ein Problem hatte, war das in Paris keines, erst recht nicht, wenn nicht Franzosen, sondern Engländer die Kolonialherren waren. Und so konnte Lakmé 1960 bereits die 1500. Aufführung in Paris feiern, hatte 2022 die 7. Neuinszenierung in der 1610. Vorstellung in der Opéra Comique ihre Premiere. Bis dahin hatten viele Primadonnen ihre Visitenkarten in Lakmé abgegeben, angefangen von der Sängerin der Uraufführung Marie Van Zandt über Adelina Patti, Lily Pons, Janine Micheau, Mado Robin, Joan Sutherland, Christine Eda-Pierre und schließlich Natalie Dessay und Sabine Devieilhe, die nicht nur 2022 die Premiere in der Laurent-Pelly-Produktion singt, sondern bereits 2014 Lakmé war.

Das Libretto von Edmond Gondinet und Philippe Gille geht auf zwei Quellen zurück, einen Roman von Pierre Loti, der von der unglücklichen Liebe zwischen einem Mädchen aus Tahiti und einem Europäer handelt, und einem von Théodore Pavie, der ein ähnliches Thema in Indien behandelt, und wenn dazu noch in der Oper marokkanische Instrumente eingesetzt wurden, die der Komponist Léo Delibes aus Konstantinopel mitgebracht hatte, kann man ermessen, wie sorglos mit allem, was aber auf Teufel komm heraus exotisch sein musste, umgegangen wurde.

Nicht Modernisierung, sondern strenge Stilisierung ist das hervorstechendste Kennzeichen der Regie von Laurent Pelly, der zugleich für die Kostüme verantwortlich ist. Nicht exotische Buntheit, sondern ein strenges Weiß bis Hellbeige stehen für die Inder, was so weit geht, dass Lakmé recht unkleidsam weißhaarig bis hin zu Augenbrauen und Wimpern ist (In Alt-Berlin hätte man von Braunbier mit Spucke gesprochen.), dazu ist sie in härenes Unkleidsames gewandet. Die Briten bevorzugen die Farbe Hellgrau, im 3. Akt herrschen Schattierungen eines schönen Bleu vor, und alle bewegen sich in Kulissen (Camille Dugas), die wie aus Reispapierblättern gebaut zu sein scheinen, die sich mit-oder gegeneinander bewegen. Lakmé lebt in einem Käfig aus  Bambuslatten und wird in einem Bollerwagen aus eben diesem Material umhergefahren. Intimität anstelle von Massenaufmärschen, Strenge anstelle bunter Bewegtheit sind das Gebot der Produktion, und man kann dieser zunehmend Geschmack abgewinnen, vor allem, weil die Sängerin der Titelpartie nicht nur vorzüglich singt, sondern auch von den Intentionen der Regie überzeugt zu sein scheint und sie dementsprechend überzeugend umsetzt. Der silbrig klingende, leicht und lichte, in der Höhe leuchtend aufblühende („É l’amour“)  Sopran ist von grenzenloser Geschmeidigkeit und kann das Herz des Hörers berühren. Im ersten Akt steht ihr mit Ambroisine Bré eine adäquate Partnerin für das auch in moderner Werbung präsente Duett zur Seite und lässt es ätherisch erklingen, ganz anders als  Sutherland und Horne, aber auch schön und irgendwie französischer und intimer. Frédéric Antoun ist ein optisch attraktiver Gérald, dessen dunkel grundierter Tenor  aber nur im Einheitsforte eingesetzt wird, der in der Höhe steif klingt, weit weniger in der französischen Tradition zu stehen scheint als etwa der Hadji von François Rougier. Mit schlankem Bariton singt Philippe Estèphe den Frédéric, nur im Forte so richtig frei klingt der Nilakantha von Stéphane Degout, der einen imponierenden auch darstellerischen Einsatz zeigt, süß flötend gibt Elisabeth Boudreault die Ellen, die wie ihre Gesellschaft leicht karikierend angelegt ist. Mittlerweile in einem neuen Fach angelangt ist Mireille Delunsch mit der Mistress Bentson. Besonders im Vorspiel zum dritten Akt kann man goutieren, wie duftig und elegant die Partitur klingen kann, Verdienst von Raphael Pichon und Orchestra and Choir Pygmalion (Bluray Naxos NBD0177V). Ingrid Wanja