Winter in Frankreich

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Wer heutzutage mit einer neuen Einspielung der Winterreise wahrgenommen werden will, unterliegt gern der Versuchung, etwas Ausgefallenes bieten zu müssen. Der letzte Schrei war eine Version für Bariton (Tobias Berndt), Chor und zwei Akkordeons, erschienen bei Genuin (GEN 23847). Erarbeitet hatte sie Gregor Meyer, der Leiter des Leipziger Gewandhaus-Chores. Mit Frauenpower warfen sich gleich fünf Solistinnen, nämlich Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammenschlossen, für Et’Cetera (KTC 1592) auf den Zyklus. Ihr Pianist Maurice Lammerts van Bueren hatte die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen. hat. Er war sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl sich aufs Glatteis zu begeben, vermerkte er im Booklet. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Nicht jedes Experiment kann überzeugen. Die US-amerikanische Sängerin Joyce DiDonato ging in ihrer Erato-Einspielung der Frage nach, was denn eigentlich mit ihr ist? Mit dem Mädchen also, welches gleich im ersten Lied der Winterreise von Liebe, während die Mutter gar von Eh‘ und damit wohl auch für ehrbare gesellschaftliche Verhältnisse spricht. Seine Spur verliert sich im Voranschreiten des Liederzyklus. Dichter Wilhelm Müller lässt das Schicksal des Mädchens offen. In der Interpretation ließ sich dieser Ansatz allerdings nicht verdeutlichen.

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Der französische Tenor Cyrille Dubois verzichtet auf alle Experimente und Zutaten, versucht es ganz schlicht, sich nur mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Und das ist ihm in seiner Aufnahme, die beim französischen Label NoMadMusic herausgekommen ist, nach meinem Eindruck vorzüglich gelungen (NMM 117). Begleitet wird er am Flügel von seiner Landsfrau Anne Le Bozec, die seit 2005 als Professorin für Lied- und Vokalbegleitung am Konservatorium Paris lehrt. Der von ihr entscheidend mitbestimmte Vortrag ist flott, doch nicht gehetzt. Sie lässt sich selbstbewusst durch eigene Lösungen vernehmen, die aber nie in Widerspruch mit der Gesangslinie geraten. Vielmehr hat es den Eindruck, als wandere da am Flügel noch jemand mit. Zwischen Forte und Piano bewegt sich das Ausdrucksspektrum beider Künstler auf verschlungenen Wegen. In diesem Spannungsfeld wird das Geschehen ausgebreitreit. „Nur nicht so laut“, heißt es gleich im ersten Lied. Dieser Einwurf könnte auch ein Motto der Interpretation sein. Nie wirkte die Stimme von Dubois auf mich empfindsamer und feiner als in dieser Aufnahme. Einem Seismograph gleich, reagiert sie gleichermaßen auf äußere und innere Ereignisse. Zwischen den Liedern werden oft auffällig lange Pausen von bis zu acht Sekunden eingelegt, die sich auch als hörerfreundlich erweisen. Dadurch ist der gelegentlich schroffe Wechsel zwischen Schauplätzen und Gemütszuständen gut nachzuvollziehen, ohne dass der Zusammenhalt gefährdet wird. Was aber inhaltlich zusammengehört, rückt auch in der Abfolge, dann nur durch kürzere Pausen getrennt, eng zusammen. Schließlich soll das Publikum an den Lautsprechern oder unter den Kopfhörern auch folgen können. Ich bevorzuge Kopfhörer, weil sie einen die Darbietung noch viel näher bringen kann.

Nicht selten lässt Dubois einzelne Worte trillerhaft erzittern. Was ein Trick sein könnte, um der Dramatik dieses Liederzyklus Herr zu werden, schafft zugleich auch eine stilistische Nähe zum Operngesang, die mich selbst nicht stört, ihm aber auch als grenzwertiges Manko ausgelegt werden könnte. Lyrische Passagen, mit denen die Winterreise in reichem Maße gesegnet ist, gelingen am eindrucksvollsten. Wasserflut, das sechste Lied, das in seiner Darbietung nicht enden will, dürfte nicht nur von mir als eine der mit Abstand besten Leistungen wahrgenommen worden sein. Nicht nur dieses Lied versieht Dubois mit einem impressionistischen Touch, der dem Zyklus sehr gut steht. In solchen Momenten ist er als Sänger ganz Franzose, der ein fabelhaftes Deutsch beherrscht. Sein ganz leichter Akzent stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir Deutsche hören es schließlich ganz gern, wenn sich Franzosen unserer Sprache bedienen. In Schlagern, Filmen oder im Theater wurde ein exotischer Kult daraus. Dubois spielt aber nicht damit. Er kann und will nur seine Herkunft nicht verleugnen. Und das ist gut so. Das Cover der Neuerscheinung ist auffällig: Ganz in Weiß die beiden Akteure vor ebensolchem Hintergrund. Mehr als Schnee und Eis assoziiert diese Wahl eine steril-klinische Atmosphäre, wie man sie vom Regietheater kennt. In der Tat verbreitet die Aufnahme eine gewisse Distanz und Kühle. Gefühle werden nur in kleinen Dosen zugelassen. Dubois gibt sich in seiner Interpretation mehr als Erzähler denn als Betroffener.

Im Beiheft der Winterreise in der Bearbeitung von Hans Zender mit dem deutschen Tenor Julian Prégardien (Alpha-Classics), wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf gleich mehrere Fragen grundsätzlicher Natur auf, die sich für alle Darbietungen des Werks stellen – auch durch Dubois: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Auch Dubois versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es von Vorteil sein, wenn der Sänger noch relativ jung ist. Denn die transportierten Gefühle und Assoziationen legen sich mit den Lebensjahren. Bei der Aufnahme war er gerade mal sechsunddreißig.

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Im Internet gibt es eine mit Cover-Fotos bebilderte Diskographie von Schuberts Winterreise. Wer geglaubt hatte, alle oder fast alle Aufnahmen zu kennen, wird hier eine Besseren belehrt. Es kommen etwa fünfhundert nachweisbare Dokumente auf diversen Tonträgern zusammen. Einzelne Lieder oder Querschnitte durch das Werk werden mit Quelle gesondert ausgewiesen. In der Frühzeit der Schallplatte und des Konzertbetriebes war es durchaus üblich, dass sich Sängerinnen und Sänger nach Gutdünken bei der Winterreise bedienten. Sogar Kirsten Flagstad – um ein Beispiel zu nennen – hat Die Krähe gesungen. Französische Interpreten sind in dieser Diskographie die Ausnahme. Ein Name aber steht für eine der besten Leistungen in der Aufnahmegeschichte dieses Liederzyklus: Gérard Souzay (1918-2004). Mit seinem ständigen Begleiter, dem amerikanischen Pianisten Dalton Baldwin (1931-2019), verewigte er sich gleich mehrfach – bei Philips 1962 auch in astreinem Stereo. Souzay hatte in Paris neben Musik auch Philosophie studiert, malte und verfasste kunstwissenschaftliche Schriften. Obwohl er auch auf Opernbühnen in Erscheinung trat, blieb der Liedgesang Mittelpunkt seines Wirkens. Er wurde in seiner Zeit gern mit dem sieben Jahre jüngeren Dietrich Fischer-Dieskau verglichen, der künstlerisch ähnlich vielseitig unterwegs war wie Souzay. Es sollte lange dauern, bis sich die Französin Nathalie Stutzmann mit ihrer 2008 bei Calliope (Harmonia Mundi) veröffentlichten Winterreise Gehör verschaffte. Und nun Cyrille Dubois. Es kann nur spekuliert werden, warum deutsches Liedgut – anders als im angelsächsischen Kulturkreis – in Frankreich auf Distanz gehalten wurde. Waren es lediglich sprachliche Hürden? Oder sollte hierbei gar die so genannte deutsch-französische Erbfeindschaft nachgewirkt haben, die erst 1963 mit dem Élysée-Vertrag zwischen beiden Nachbarländern offiziell beigelegt wurde?

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Nicht zuletzt durch die Übermacht des schon erwähnten Fischer-Dieskau auf dem Musikmarkt, der im Laufe seiner langen Karriere an die zehn Winterreisen eingespielt hat, ist der Eindruck entstanden, als seien Baritone und Bässe mit dem Zyklus häufiger dokumentiert als Tenöre. Da ist durchaus etwas dran. Für eine genaue Aussage müssten alle Aufnahmen durchgezählt werden, auch jene in Rundfunkarchiven, die nie veröffentlicht wurden. Ich kann mich nicht entscheiden, welcher Stimmlage ich den Vorzug gebe. Kennengelernt habe ich die Winterreise mit einem Tenor – nämlich mit Peter Anders in der von Michael Raucheisen begleiteten Einspielung des Reichsrundfunks Berlin von 1945, die oft auf Platte, später auch als CD aufgelegt wurde. Ich war sofort angesteckt von der fiebrigen und extrovertierten Darbietung, die keinen Zweifel daran ließ, dass hier einer den Zyklus so singt, als sei ihm die Geschichte des jungen Mannes, der im Dunkeln fremd auszog, und am Ende das Schicksal des einsamen Leiermanns „drüben hinter’m Dorfe“ bauf dem Eis teilt, selbst geschehen. Mit Hans Hotter eröffnete mir ein Heldenbariton eine andere Perspektive, indem er das dramatische Geschehen bis in alle Einzelheiten auslotete, ergründete und deutete – also nicht betont nacherlebend zu Gehör brachte. Dafür ließ er sich viel mehr Zeit als der fast gleichaltrige Kollege. Hotter beförderte Details zutage, über die Anders hinwegsauste. Deshalb ist seine Aufnahme von 1955 mit Gerald Moore am Flügel (EMI) für mich immer maßstäblich geblieben – auch wenn er ziemlich alt und behäbig wirkt. Anders nahm seine Winterreise mit siebenunddreißig Jahren auf, Hotter mit sechsundvierzig.

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Zurück zu den Tenören. Mit dem frühen Tod von Fritz Wunderlich im Jahr 1966 war die Hoffnung dahin, auch von ihm dereinst eine Winterreise hören zu können. Mit seiner berühmten Müllerin – Studio und live – waren Versprechen gegeben. Ein Vakuum entstand nicht. Peter Schreier, der einige Lücken ausfüllte, die der fünf Jahre ältere Wunderlich hinterließ, tat sich schwer mit der Winterreise. Erst Mitte der 1980er Jahre näherte er sich dem Werk an. In dem russischen Pianisten Swjatoslaw Richter hatte er einen passenden Begleiter gefunden. Beide führten den Zyklus 1985 im Moskauer Puschkin-Museum auf. Das Konzert wurde im ZDF übertragen und hat sich in bescheidener Bildqualität bei YouTube erhalten. Hingegen ist ein gemeinsamer Auftritt in der Dresdener Semperoper bei der DDR-Firma Eterna und auch bei Philips herausgekommen. Knapp zehn Jahre später wurde eine Studioeinspielung von Schreier mit András Schiff bei Decca veröffentlicht. Wirkt er in den Mitschnitten noch ziemlich angestrengt, hat er gegen Ende seiner Karriere im Studio schließlich seine Form für dieses Schubert-Werk gefunden. Noch immer klingt Schreier sehr jung. Die Stimme alterte nicht. Mit seinen lyrischen Mitteln zelebrierte er eine stilistisch vorbildlich Winterreise nach den Maßstäben der Hohen Schule des Liedgesangs. Er lässt nur Schubert gelten und tritt bescheiden in den Hintergrund, indem er auf persönliche Akzente verzichtet. Ein Tenor, den man in der Diskographie vergeblich sucht, der aber eine spannende Studioproduktion hinterlassen hat, ist Werner Hollweg. Sie stammt von 1982 und ist beim WDR entstanden, wo sie mit einigen Mühen auch für streng private Verwendung zu beschaffen sein dürfte. Zum Einsatz kommt ein von Roman Ortner gespieltes Hammerklavier mit starkem Nachhall, das die Interpretation dynamisch auflädt. Selten empfand ich das begleitende Instrument so dominant und eigenwillig wie hier. Hollweg hält mit seinem klaren und verschwenderischen Vortrag gut dagegen, dass am Ende ein aufregendes Ergebnis zustande kommt, das seinesgleichen sucht.

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Die Auswahl an verfügbaren Aufnahmen von Tenören ist also durchaus üppig – und auch superb. Aus der historischen Abteilung sind unbedingt Julis Patzak (Preiser), Anton Dermota (Telefunken und Preiser), Ernst Haefliger (Deutsche Grammophon und Claves), Peter Pears (Decca) und Rudolf Schock (Eurodisc) zu nennen. In die Jahre gekommen ist die immer noch frisch wirkende Deutung durch den DDR-Tenor Eberhard Büchner (Eterna). Mit dem Kanadier Jon Vickers (EMI und VAI), dem Schweden Set Svanholm (Andromeda) und René Kollo (Oehms) haben sich auch drei Heldentenöre dem Werk zugewandt ohne allerding herausragende Maßstäbe setzen zu können. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn legte 2013 Jonas Kaufmann seine stimmlich unverkennbare Version bei Sony, mit der er vor allem seinen vielen Fans gefallen haben dürfte. Schließlich wären da noch aus jünger Zeit Pavol Breslik (Orfeo), Markus Schäfer (Cavi Music), Jan Kobow (ATMA), Werner Güra (Harmonia Mundi) und Daniel Behle (Sony), der mit einem interessanten Album punkten konnte, das gleich zwei Fassungen enthielt, einmal das Original und zum anderen den ganzen Zyklus mit Trio-Begleitung. Es ist also viel Bewegung auf dem Markt. Nun ist auch Dubois dazu gekommen. Rüdiger Winter

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Das große Bild oben zeigt einen Ausschnitt aus einer Winterlandschaft von Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag 2024 begangen wird. Das Gemälde von 1811 ist in Schwerin zu sehen. / Staatliches Museum Schwerin/ Wikipedia