Archiv für den Monat: Oktober 2021

Gar nicht kitschig

 

Stark, aber durchaus sinnvoll gekürzt und ohne Zuschauer ging in Hochcoronazeiten Jules Massenets im orientalischen Milieu spielende Oper Thaȉs  im Theater an der Wien über die Bühne, in Szene gesetzt von Peter Konwitschny, der sich diesmal Verballhornungen wie einer gänsebratenden Eboli oder Infragestellungen wie bei den Meistersingern enthielt. Der hervorstechendste Einfall seiner Regie sind Engelsflügel für die Protagonisten, tiefschwarz für Atanaël und seine Klosterbrüder, quietschbunt für die Hetären um Thaȉs und blutrot wie die Sünde und überüppig für die Edelhure selbst. Es ist, als würde gleich Heidi Klum als Victoria’s Secrets Angel erscheinen. Umgeben sind diese Models  von heutigem Partyvolk, die Bühne von Johannes Leiacker ist karg, aber zweckmäßig, ein Sandhaufen für den ersten, ein Diwan für den zweiten und schwarzes Geröll für den dritten Akt, der anstelle der gleißenden Sonne („l’ardent soleil“) tiefdunkle Nacht auf die Bühne bringt. Hinzugefügt wurde dem Personal ein kleiner Amor mit Sascha-Lobo-Frisur und  in Lederhosen, als Requisit eine Pistole, mit der Atanaël den Liebesgott erschießt, der die Hände der beiden Protagonisten vereinigen möchte, da das Regiekonzept bekundet, eigentlich seien Thaȉs und Athanaël dazu bestimmt, das ideale Liebespaar zu bilden, wären da nicht die Wahnvorstellungen des Mönchs, die diesen unfähig zur Liebe machen, ihn aber zu einem recht ausdauernden Vergewaltigungsakt, bei dem er sich mit einer Hand die Augen bedeckt, stimulieren. Im Booklet wird behauptet, er, Athanaël, „findet Zugang zu ihr“, was auch immer damit gemeint sein mag. Starke, wechselnde Farben des den Hintergrund bildenden Vorhangs, der häufige Einsatz der Drehbühne und Einfälle wie ein Goldregen aus der Dusche sorgen für Abwechslung, vor allem aber sind es die beiden ungemein starken Protagonisten, die das Interesse des Zuschauers an ihrem Schicksal nicht nachlassen und ihn sogar darüber nachgrübeln lassen, warum Thaȉs am Ende nicht einfach stirbt, sondern durch ein Loch im Bühnenboden im Nichts versinkt .

Optisch wie akustisch ungemein attraktiv ist das Nicht-Liebespaar, Josef Wagner vermögen weder Kutte noch Engelsflügel zu entstellen, sein Bariton ist viril und geschmeidig zugleich und strömt idiomatisch korrekt. Einen Trost spendenden Bass lässt der Palémon von Günes Gürle vernehmen. Roberto Saccà hat mit dem Nicias eine Partie gefunden, die seinem sehr musikalisch eingesetzten gleisnerischen Tenor vollkommen entspricht.  Crobyle und Myrtale finden in Carolina Lippo und Sofia Vinnik adäquate visuelle wie vokale Entsprechung. Die Schampus wie Koks nicht abholde Thaȉs wird von Nicole Chevalier äußerst verführerisch gespielt wie gesungen, mit schön aufblühender Höhe, stets weich und geschmeidig bleibend und wunderschön im „Ȏ messager de Dieu“. Samuel Wegleitner als Amor hat hoffentlich keinen  Schaden an seiner Kinderseele angesichts des sündigen Treibens auf der Bühne genommen.

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leo Hussain beweist, dass das Verdammungsurteil „Kitsch“ nicht einmal für die vielstrapazierte Méditation zutreffen muss, im Orchestergraben findet die wahre Ehrenrettung für diese Massenet-Oper statt (Unitel 305004)Ingrid Wanja                       

Bernard Haitink

 

Der am 4. März 1929 in Amsterdam als Sohn eines Beamten geborene Bernard Haitink studierte zunächst Violine und Dirigieren bei Felix Hupka am Amsterdamer Konservatorium. Dirigierkurse unter Ferdinand Leitner in den Jahren 1954 und 1955 schlossen sich danach an. Sein professionelles Dirigentendebüt erfolgte am 19. Juli 1954 mit dem Orchester der Niederländischen Radio-Union (dem heutigen Radio Filharmonisch Orkest). Von da an ging es Schlag auf Schlag. 1955 wurde Haitink Zweiter Dirigent dieses Orchesters, schon 1957 übernahm er es als Leiter. Bereits am 7. November 1956 debütierte er beim Concertgebouw-Orchester als Einspringer für Carlo Maria Giulini. Der unerwartete Tod von Eduards van Beinum ließ ihn 1959 zum Ersten Dirigenten und 1961 schließlich zum Chefdirigenten des renommiertesten niederländischen Klangkörpers avancieren. Den Chefdirigentenposten teilte er sich bis 1963 mit dem fast dreißig Jahre älteren und in aller Welt bekannten Eugen Jochum. Die Schallplattenkarriere Haitinks nahm in diesen Jahren ihren Anfang, zunächst für das Philips-Label, später auch für Decca und EMI. Zahlreiche Tourneen führten das Concertgebouw-Orchester in seiner langen Ära durch die Welt. In den frühen 1980er Jahren konnte er unter Androhung seines Rücktritts empfindliche finanzielle Kürzungen verhindern und beschloss seine Amtszeit ordentlich anlässlich des 100. Jubiläums des Orchesters, das sich von da an Königliches Concertgebouw-Orchester nennen durfte, im Jahre 1988. Elf Jahre später berief ihn eben dieses zum Ehrendirigenten. Neben seiner Amsterdamer Tätigkeit wurde besonders England zu Haitinks Schwerpunkt, wo er zwischen 1967 und 1979 auch dem London Philharmonic Orchestra vorstand und ab 1978 für ein Jahrzehnt als musikalischer Direktor des Glyndebourne Festival fungierte. Seinen Ruf als Operndirigent unterstrich Haitink in seiner 15-jährigen Amtszeit als Musikdirektor des Royal Opera House, Covent Garden, in London. Eine weitere Tätigkeit als Chefdirigent führte ihn an die Elbe nach Dresden, wo er 2002 die Sächsische Staatskapelle übernahm, den bis 2006 geplanten Kontrakt infolge von Meinungsverschiedenheiten mit dem dortigen Intendanten Gerd Uecker allerdings schon 2004 auflöste. Seinen finalen Posten als Orchesterchef übernahm Haitink (erst etwas widerwillig) überraschend im Herbst 2006, als er nach sensationellen Konzerterfolgen mit dem Chicago Symphony Orchestra zum Chefdirigenten ernannt wurde; den traditionellen Titel des Musikdirektors lehnte er aus Altersgründen ab. Auf dieser Position blieb er bis 2010. Ferner war Haitink, ebenfalls in Amerika, zwischen 1995 und 2004 Erster Gastdirigent des Boston Symphony Orchestra, hernach auch dort Ehrendirigent. Als Gastdirigent war er besonders bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, beim London Symphony Orchestra sowie beim Orchestre National de France eine konstante und zuverlässige Stütze. Seine allerletzten Konzertauftritte absolvierte er, gesundheitlich bereits merklich angeschlagen, im Jahre 2019, wo er sich schließlich mit den Wiener Philharmonikern bei den Proms in London (3. September) und beim Lucerne Festival (6. September) vom Podium verabschiedete. Am 21. Oktober 2021 ist Bernard Haitink im Alter von 92 Jahren in seinem Haus in London verstorben (Foto Arte TV). Daniel Hauser

Janus-Köpfiges

 

Es ist sicher kein Zufall, dass Michael Spyres und Jonas Kaufmann zu meinen Lieblingstenören der letzten Jahre zählen. Beide haben eine interessante Karriere vom lyrischen zum schweren Tenor hinter sich, beide konnten/können  Koloraturen singen, aber beide haben die dunkle Tiefe für den Aeneas/Berlioz und Tristan.

Nun ist das mit dem Stimmfach so eine Sache. Das Wort „Fach“ findet sich sogar im englischen und französischen Jargon für Sänger, Theater stellen Sänger nach dem „Fach“ ein. Aber was wir heute darunter verstehen ist mindestens erst seit der Verdizeit so im Gebrauch. Die Vierereinteilung in Sopran, Tenor, Bariton und Bass findet sich vor allem in Verdis Opern, nicht bei Donizetti oder Bellini oder Rossini. Das Wort Bariton taucht davor kaum auf (wenngleich Meyers Lexicon von 1830 den Bariton bereits beschreibt). Was ist ein Bariton? Ein Zwischenfach zwischen Bass und Tenor (von beiden wie den anderen beiden Begriffen gibt es Spiel- oder Unterarten)? Dramatische Soprane waren (und sind es heute manchmal) gelegentlich ehemalige Mezzoprane, oft kurze Soprane, sogenannte „Falcons“ (nach Meyerbeers Cornélie Falcon). Es gibt kurze Tenöre, die Bariton-Martins (nach dem gleichnamigen Sänger). Es gibt helle Bässe, die leicht bestimmte lyrische Bartiton-Partien singen können. Es gibt Tenöre, die sich als falsche Baritone gebärden (s. der peinlich abgewrackte Domingo). Viele Counter sind eigentlich Baritone oder (seltener) Tenöre mit guter Falsettlage.

Michael Spyres/Foto Marco Borelli/Erato

Rossini hatte diese Probleme nicht, und seine Opern stellen eine Zeitenwende auch in dieser Hinsicht dar. Sein Otello wimmelt von Tenören, wie auch seine Armida – aus dem Barock kommend singen hier die hellen und dunklen Stimmen des sogenannten „Tenor-Fachs“ (im Barock wurden weitgehend nur die Väterpartien von Tenören dargestellt), und die dramatischeren könnten heute durchaus als helle Baritone durchgehen.

Nach Rossini findet sich dieser Stimmtyp m. W. nicht mehr (Verdis Tenöre sind eben Tenöre der Neuzeit, keine männlichen Falcons), es gibt auch so gut wie keine Tenorduette danach (ich habe nur noch die merkwürdigen Puritani aus Bari/Warner mit Katja Riciarelli in der sogenannten Malibran-Version gefunden, wo der Tenor Juan Luque Carmona/Riccardo mit Tenor Carlo Gaifa „Suoni la tromba“ schmettert).

Chris Merritt als Rossinis Otello/ IMDB

Rossini, der Tenorduette liebte und mit seinen beiden Standard-Tenören Nozzari und David das Modell der kontrastierenden tiefen und hohen Tenöre setzte, bleibt darin einzig. Die moderne ideale Entsprechung der beiden Genannten war für mich Chris Merritt und Rockwell Blake, beide unerreicht in Virtuosität und Komplementierung, beide ebenbürtig in ihrer Virtuosität, aber eben verschieden in der Stimmfarbe. Der heutige Verfall der Kenntnis von diesem historischen Tenortandem zeigt sich immer wieder in der falschen Besetzung der Partien beider, wenn jemand wie Florez den Giacomo in der Donna del Lago singt und ein noch leichterer wie Matteuzzi etc. den Rodrigo singt, der ja eine dunkle Nozzari-Partie war. Das gilt für andere Opern wie Ermione oder Zelmira noch deutlicher, wie Blake-Merrit vorexerziert haben. Die Farben stimmen heute nicht mehr und damit nicht mehr die Gewichtung. Der von Rossini gewollte Kontrast ist nicht mehr zu erleben. Dieses Gegeneinanderstellen von Tenorstimmen hört m.- W. mit Rossini auf, bzw. findet sich nur noch in abgespeckter Form, wenn der zweite Tenor zum Stichwortgeber reduziert wird – vergl. Normas Pollione und Freund Flavio. Die tiefen Tenorhelden wandeln sich zu echten Baritonen wie Guillaume Tell, Hamlet oder Masianello.

Rockwell Blake: „Mosé in Egitto“ in der berühmten De-Ahna-Produktion in Neapel und Pesaro/ROF/Blake

Wenn man heute darüber nachdenkt könnte ein Telramund durchaus auch einen Tristan singen und vice versa. Tristan liegt wie die Isolde weitgehend auf der Mitte, und die Tessitura hält sich in Grenzen, ist eher Kraftsache. Eben wiederum eine Frage der Stimmfarbe. Wir denken heute zu sehr in „Fach“-Kategorien. Jonas Kaufmann war ein für mich idealer Tristan, von Mozart und Verdi kommend. Sein Otello hingegen hat mich nicht überzeugt, da bleibe ich bei Mario del Monaco. Wiederum eine Frage des Strahls und der Farbe, die bei ihm bereits für Otello zu dunkel war.

„Baritenore“ nennt Michael Spyres im nachfolgenden Aufsatz zu seiner neuen CD bei Erato diese Gattung: dunkle Tenöre mit dramatischem Impetus und gutfundierten tiefen Noten.

Michael Spyres´ CD gibt Anlass zum Nachdenken (wenngleich ich diese Bunte Obstplatte zwischen Rossini, Wagner, Ravel (!) und Léhar etwas verwegen finde – warum Lohengrin in Frazösisch? –  und ich eher den Verdacht habe, Spyres schafft sich hier ein neues Repertoire, nun wo seine Höhe schwerer und nicht mehr so strahlend daherkommt, wie man beim Aeneas und bein Benvenuto Cellini hören konnte. Aber seine glorreiche stimmliche Beweglichkeit, seine sinntragende Diktion, seine satte Tiefe und seine hochvirile Ausstrahlung lassen ihn zum idealen Sänger des großen französischen Heldenrepertoires erscheinen. Daher bitte nach dem Fervaal (D´Indy) und Aeneas (Berlioz) auch einen Sigurd (Reyer) und das ganze wunderbare verlorene Repertoire, das mangels geeigneter Tenorstimmen bei unseren Nachbarn nicht mehr aufgeführt wird. Und warum nicht einen Alphonse in der Favorite und andere französische Bariton-Partien, die ja eh höher liegen als ihre italienischen Gegenparts. Der dunkle (Tenor-)Klang macht den Charakter der Rolle jugendlicher, wie Carmen als Sopran und nicht als mütterlicher Mezzo.

Jonas Kaufmann als Tristan an der Bayerischen Staatsoper/FOto Hösl

Man mag sich wie gesagt über die Auswahl auf der neuen Spyres-CD streiten, aber seine Überlegungen zu seiner eigenen Stimme und zu einem vergangenen (vergangenen) Stimm-Ideal sind bemerkenswert. Ein toller, kluger Sänger gibt uns einen spannenden Geschichtskurs, den er bereits mit der vorherigen Platte  im Tandem mit Lawrence Brownlee auf deren überraschender CD Amici & Rivali  bei Erato begonnen hatte, wo beide eben die Bandbreite der Rossinischen Tenöre (sogar den Unterschied der französischen und italienischen Stimmfarben) aufzeigen und zudem betörend singen.

Bernd Hoppe bespricht die neue CD von Michael Spyres und anschließend lassen wir den Tenor selbst zu Wort kommen, mit Dank an Erato/Warner.

 

Bereits bei seiner letzten ERATO-CD mit Rossini-Arien und -Duetten (Amici e Rivali) hatte sich der amerikanische Tenor Michael Spyres im Bariton-Fach versucht, als er mit seinem Gesangspartner Lawrence Brownlee im Duetto Figaro/Almaviva aus dem Barbiere die Bariton-Partie übernahm und eine erstaunlich fundierte Stimme mit baritonalem Kern hören ließ. Nun stellt er auf seiner neuen, im August und Oktober 2020 aufgenommenen Platte bei derselben Firma mit dem Titel Baritenor dieses besondere Stimmfach vor und äußert sich im Booklet ausführlich über die Gattung (0190295156664). Von den 18 Nummern des Programms finden sich neun Tenor-Kompositionen, beginnend mit der großen Arie des Titelhelden aus Mozarts Idomeneo, „Fuor del mar“, die hier in der kompletten Fassung und noch dazu mit zusätzlichen Verzierungen zu hören ist – eine tour de force der Koloraturen, die Spyres mit stupender Bravour absolviert. Zudem vermag sein dunkles Timbre die Vaterfigur perfekt zu imaginieren. Der nächste Tenortitel ist eine Weltersteinspielung – die Szene des Edgard, „Ô Dieux! Écoutez ma prière“ aus Méhuls Ariodant. Für deren Dramatik ist Spyres Stimme ideal. Auch der folgende Ausschnitt, die Arie des Licinius „Qu’ai-je vu!“ aus Spontinis La Vestale, ist eine Rarität und weist den Sänger gleichfalls als kompetenten Interpreten aus. Mit dem Duett Otello/Jago (Sangbae Choï) aus Otello wendet sich der Sänger Rossini zu, einem seiner favorisierten Komponisten. Hier hört man von ihm einen enormen Stimmumfang mit phänomenalen Spitzennoten, heroischen Aplomb, aber auch kultiviertes Melos.

Der nachfolgende Titel ist ein Tenor-Hit: das Lied des Chapelou aus Adams Le Postillon de Lonjumeau, welches einen Stimmumfang bis zum hohen d erfordert – für Spyres kein Problem. Darüber hinaus stattet er die Nummer mit viel Charme und zusätzlichen Trillern aus. Ähnlich bravourös ist die sich anschließende Arie des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Donizettis La Fille du régiment, in der nicht weniger als neun hohe Cs zu absolvieren sind. Spyres’ Vortrag hat Esprit, Verve und Brillanz. Auch eine bekannte Nummer ist das Lied des Kleinzach aus Offenbachs Les Contes d’Hoffmann. Spyres hat die Partie am Liceu von Barcelona gesungen und man merkt seiner differenzierten und fesselnden Interpretation die Bühnenerfahrung an. Mit der Gralserzählung des Lohengrin in der original französischen Version („Aux bords lointains“) gibt es noch eine Besonderheit. Die Stimme klingt wunderbar ätherisch, aber auch gebührend heroisch und der Sänger prädestiniert sich mit seiner Interpretation für Auftritte in Bayreuth und anderen Wagner-Zentren. Auch der Schluss der CD ist mit Marietta Lied, „Glück, das mir verblieb“, aus Korngolds Die tote Stadt ungewöhnlich, denn eigentlich handelt es sich um ein Duett zwischen Marietta und Paul, das oft die Soprane für sich als Arie beanspruchen, da Paul nur kurze Einwürfe beisteuert. Hier hat sich der Tenor des Titels bemächtigt und sorgt damit für einen effektvollen Ausklang der Platte.

Die Bariton-Kategorie beginnt mit zwei Mozart-Titeln – der Arie des Conte Almaviva, „Hai già vinto la causa“ aus dem Figaro in einer vom Komponisten verfassten Alternativ-Version, und der Serenade des Don Giovanni aus der gleichnamigen Oper. Hier ist der Eindruck anfangs zwiespältig, denn die Stimme klingt in der Tiefe matt und vermag den resoluten Ausbruch des Conte nicht adäquat zu vermitteln. Die heiklen Spitzentöne in dieser Fassung gelingen dem Interpreten dagegen vorzüglich. Das Solo des Don Giovanni, „Deh, vieni alla finestra“, gerät etwas beiläufig, die erotische Komponente fehlt.

„Baritenor“ Michael Spyres als Rodrigo in Rossinis „Donna del Lago“ in London/ Foto ROCG/Barda

Auch eine Komposition von Rossini findet sich im Bariton-Register – Figaros „Largo al factotum“ aus dem Barbiere. Sie ertönt reich verziert und in lautmalerischer Vielfalt der imitierten Stimmen  und Geräusche. Zwei weitere italienische Beispiele bedeuten sogar einen Vorstoß in dramatische Gefilde – die Arie des Conte di Luna, „Il balen“, aus dem Trovatore und der Prologue des Tonio aus Leoncavallos Pagliacci. In ersterer klingt die Stimme gebührend viril, ausladend in der Höhe und fließend in der Kantilene. Im zweiten Titel trumpft sie imponierend auf, vermag aber auch mit schmerzlich umflorter Tongebung die Tragik der Szene zu vermitteln. Mit zwei französischen Bariton-Beiträgen beweist Spyres seine Vielseitigkeit, singt mit Elan und Raffinement das Trinklied des Hamlet aus Thomas’ gleichnamiger Oper („Ô vin, dissipe la tristesse“) und träumerisch-delikat die Szene des Ramiro, „Voilà ce que j’appelle“, aus Ravels L’Heure espagnole. Sogar einen Ausflug ins Genre der Operette offeriert Spyres mit dem nonchalant servierten Lied des Danilo, „O Vaterland“, aus Lehárs Die lustige Witwe. Der letzte Bariton-Titel ist ein Ausschnitt aus Orffs Carmina Burana, „Dies nox et omnia“, und bestätigt das enorme Repertoire-Spektrum des Sängers, der hier nochmals mit neuen Farben aufwartet.

Auch das begleitende Orchestre philharmonique de Strasbourg unter Leitung von Marko Letonja zeigt sich den unterschiedlichen stilistischen Anforderungen souverän gewachsen. Die CD ist in seltener Vollkommenheit gelungen und bietet eine Fülle von Überraschungen und Schönheiten. Bernd Hoppe

 

„Baritenor“ Jean-Blaise Martin, nach dem nachfolgend kurze Tenöre oder hohe Baritone „Baryton-Martin“ benannt wurden/ Amis et Passionés du Pêre Lachaise

Nun also Michael Spyres: Baritenor. Handelt es sich hier um ein reales Stimmfach oder nur um ein clever gewähltes so genanntes Kofferwort, d. h. ein aus zwei Begriffen verschmolzenes Kunstwort? Wie man im Folgenden sehen wird, halte ich den Baritenor für ein in Vergessenheit geratenes Stimmphänomen, das sich während der gesamten Operngeschichte gut sichtbar in den Werken versteckt hat. Auf dem Höhepunkt des Barock im 18. Jahrhundert konnten die Baritenöre aufgrund ihrer Virtuosität und technischen Fähigkeiten mit den berühmt-berüchtigten Kastraten konkurrieren und deren Ruhm sogar übertreffen. Im 19. Jahrhundert nahm der Baritenor dank seiner Virtuosität, Dramatik und Ambitus einen eigenen Rang ein. Die Rollen in Rossini-Opern forderten eine Beherrschung von mehr als drei Oktaven. Diese geschmeidige Stimme entwickelte sich und passte sich dem Publikumsgeschmack an, doch aufgrund der unersättlichen Besessenheit, die Orchesterbesetzungen immer mehr zu erweitern, spaltete sich dieses Zwischenfach schließlich in zwei separate Stimmkategorien. Der 1768 geborene Jean-Blaise Martin war der erste Sänger mit einer solchen „gegabelten“ Stimme und wurde zeitweise als dunkel timbrierter tiefer Tenor oder umgekehrt als heller, hoher Bariton beschrieben. Er war der Namensgeber dieses Stimmtyps des leichten, hohen Baritons, der als „Baryton- Martin“ klassifiziert wurde, denn er besaß die Tiefe eines Bassbaritons kombiniert mit einer Tenorhöhe. Baritenöre kreierten einige der beliebtesten und komplexesten Operncharaktere dank ihres eindrucksvollen Bühnenauftritts und ihrer chamäleonartigen Fähigkeit, den gängigen Stimmfächern zu trotzen.

„Baritenor“ Manuel Garcia Vater als Rossinis Otello/Wikipedia

Der große Lehrer, Komponist und Sänger Manuel Garcia Vater sang nicht nur den Grafen Almaviva bei der Premiere von Rossinis Barbiere di Siviglia, sondern auch Mozarts Almaviva in Figaros Hochzeit in ganz Europa und hatte die besondere Ehre, die ersten Almavivas, Otellos und Don Giovannis in der neuen Welt zu verkörpern. Aufgrund ihrer Schauspielkunst, ihres großen Stimmumfangs, ihrer ausgezeichneten Diktion und ihrer unübertroffenen Technik prägten die heimlichen Baritenöre das dramatische und vokale Komponieren in allen Gattungen vom Barock über die Klassik und Romantik über den Verismo und das 20. Jahrhundert bis heute.

Der ewig unkonventionelle Wolfgang Amadeus Mozart beeinflusste die Vokalkom­position mehr als jeder andere vor ihm, und sein Meisterwerk Idomeneo wurde für den legendären Anton Raaff geschrieben. Die Arie für den König, „Fuor del mar“, ist technisch ein Wunderwerk und gehört zu denjenigen, die Mozart mit einem Höchstmaß an Verzierungen ausgestattet hat. In Figaros Hochzeit experimentierte der Komponist im aufkommenden Baritonfach und beeinflusste seine künftige Ausrichtung. Als er 1789/91 die Oper für Wien überarbeitete, komponierte er eine Alternativfassung der Arie „Hai gia vinta la causa“, die einige der schwierigsten Spitzentöne enthält, die jemals geschrieben wurden: 14 Mal das viergestrichene „g“! Sowohl mit dem Grafen als auch mit Don Giovanni stellte Mozart die Stärken eines Sänger-Schauspielers vor, indem er von seinem Primo uomo die Fähigkeit forderte, sowohl komisch als auch verführerisch zu sein, statt sich nur auf einen ausgewogenen, lauen Charakter und die Schönheit seiner Stimme zu verlassen.

„Baritenor“ Andrea Nozzari als Poliflegante in Mayrs Oper „Il sogno di Partenope“/ Wikipedia

Wie der Graf im Figaro war auch die Rolle des Don Giovanni während des größten Teils des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Vehikel fürTenöre, und einige der bekanntesten Namen in der Geschichte der Tenöre standen regelmäßig als Don Giovanni auf der Bühne, darunter Giovanni Matteo „Mario“ de Candia, Andrea Nozzari, Adolphe Nourrit und überraschenderweise der erste romantische Superstar-Tenor Giovanni Battista Rubini, der die Rollen mit den höchsten Tönen aus der Taufe gehoben hat, die zuvor oder seither jemals für Tenor geschrieben wurden. Das berühmteste Beispiel für einen „Tenor“ als Don Giovanni war der legendäre Manuel Garcia Senior, der von Kritikern einstimmig gelobt wurde, als er Paris mit der Champagnerarie „Finch’han dal vino“, die jedes Mal wiederholt werden musste, im Sturm eroberte.

Mit der Französischen Revolution begann eine neue Ära der Oper, in der der Baritenor in den Hauptrollen zur Stimme der napoleonischen Epoche wurde. Der erste Romantiker, Etienne Mehul, wurde zum produktivsten und einflussreichsten Komponisten seinerzeit, und der große Erfolg von Ariodant hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der neu entstehenden Schule der romantischen Oper. Die Rolle des Edgard wurde für Jean-Pierre Solie geschrieben, dessen einzigartige Karriere als Tenor begann, doch seine größten Erfolge hatte er als Bariton. Solie sang sogar Bassrollen und hob die Partie des Jacob in der Uraufführung von Mehuls biblischer Oper Joseph aus der Taufe. Der Komponist fungierte als wichtiges Brückenglied für das aufkommende Helden-Stimmfach, und er ebnete mit Ariodant den Weg für fast alle folgenden dramatischen Werke. Von den zahlreichen Opern, die in der napoleonischen Ära komponiert und uraufgeführt wurden, war keines erfolgreicher als Gaspare Spontinis La Vestale. Wie Mehul hatte Spontini einen monumentalen Einfluss auf die Richtung, die die Oper nahm, und mit Licinius, Cherubinis Jason, Beethovens Florestan und Simone Mayrs Giasone wurde der Baritenor das vorherrschende Stimmfach für männliche Protagonisten.

„Baritenor“ Jean-Baptiste Chollet als Aubers Fra Diavolo/ Gallica/BNF

Im Gegensatz zu den Turbulenzen der Revolution betrat mit dem großen Maestro Gioachino Rossini der vielleicht einflussreichste Komponist für den Baritenor überhaupt die Bühne. Wie Mozart vor ihm arbeitete Rossini Hand in Hand mit Sängern, um die Grenzen der menschlichen Stimme zu erweitern und sogar zu überschreiten. Rossinis erster Welterfolg war II barbiere di Siviglia, und die Rolle des Figaro wurde für Baritone und Tenöre gleichermaßen zu einer Art Initiationsritus. Es gibt sogar Berichte darüber, dass die Partie des Figaro für ausgewählte Bässe um ein Drittel nach unten transponiert wurde. Von den vielen erstaunlichen Erfolgen, die Rossini in der komischen Oper erzielte, kamen jedoch nur wenige seinem Können bei dem dramatischen Erfolg mit Otello Rossinis nahe. Die Rolle seines Otello veränderte den Lauf der Operngeschichte und mit ihrer dramatischen Wirkung entstand eine der stimmlich anspruchsvollsten Rollen, die jemals für einen Sänger geschrieben wurde. Der legendäre Andrea Nozzari war der erste Otello, und vielleicht warerauch der passgenaueste Sänger gemäß Rossinis Vorstellung, insgesamt schrieb er neun Rollen für ihn. Nozzaris virtuose Charaktere besaßen eine beispiellose Ausdrucksbreite und Tiefe dramatischer Charakterisierung sowie einen Stimmumfang vom zweigestrichenen-G bis zum selten komponierten viergestrichenen d. In Nozzaris Baritenor hatte Rossini das perfekte Ausdrucksvehikel, und mit der Rolle des Otello definierte er einen neuen Kurs für den Tenor als Protagonist, der die aufstrebende Gattung der französischen Grand opera beeinflussen sollte.

„Baritenor“ Marie-Piere de Galli-Marie, erster Max in Webers „Freischütz“ an der Pariser Oper/Wikipedia

Im Gegensatz zu den ernsten Opernthemen der Revolutionszeit sollte die komische Oper eine Fülle von Rollen für den Baritenor entwickeln, da sie zwei wichtige Erfolgsträger, das bevorzugte Stimmfach für den männlichen Protagonisten und ihre Ursprüngen in der komischen Unterhaltung, miteinander verband. Adolphe Adam war einer der erfolgreichsten Komponisten dieses Genres und Le Postillon de Lonjumeau sein größter Erfolg, der weit über tausend Mal gespielt wurde. Die Rolle des Chapelou/Saint-Phar zeigt kluge Anspielungen auf die Ursprünge des Baritenors, und Adam hat die Zwangslage des Baritenors von seinen niedrigen Ursprüngen bis zum Höhepunkt seines Ruhms in eine perfekte Satire gepackt. Die Arie „Mes amis, ecoutez l’histoire“ ist besonders berühmt dafür, wie Adam den Triumph des Baritenors bis hin zu einem klingenden hohen d geschickt nachahmt! Jean-Baptiste Chollet (der erste Chapelou/Saint-Phar) begann als Bariton und avancierte als Saint-Phar mit seiner Paraderolle in Le Postillon de Lonjumeau zum Startenor.

Wie bei Rossini vor ihm sollte auch Gaetano Donizetti sowohl in der ernsthaften als auch in der komischen Oper in Paris große Erfolge erzielen, und seine Oper La Fille du regiment half ihm, neue Höhen des Ruhmes zu erreichen. Während das bemerkenswerte „Ah! mes amis“ mit seinen schwindelerregenden neun hohen Cs wohlbekannt ist, wurde der schillernde Sänger der Uraufführung, Mecene Marie de l’lsle, so gut wie vergessen. Er begann seine Karriere als Tenor, aber nur vier Jahre nach seinem Debüt als erster Tonio sang Marie, so sein Künstlername, ausschließlich Rollen als 1. Bariton. 20 Jahre lang interpretierte er alle Hauptrollen und sang die Uraufführung von Gounods Sapho und Reine de Saba sowie den Robert in Verdis Les Vepres siciliennes.

Richard Wagner etablierte die Neuausrichtung des Baritenor-Stimmfachs und begann im Lohengrin einen Weg zu beschreiten, der dieses Stimmfach zum Heldentenor führen sollte. Nur wenige machen sich bewusst, dass die Blaupause von Wagners bahnbrechendem Komponierens für die Singstimme das Ergebnis des perfektionierten Baritenors war, der an der französischen Grand opera und der eher zentralisierten Revolutionsära geschult worden war.

„Baritenor“ Jean-Baptiste Fauré als Nevers in Meyerbeers  „Huguenots“/ Foto Bialiystok/Ipernity

Die stetig wachsende Orchesterbesetzung der französischen Grand opera und der Wagner-Ära brachte neue Stimmkategorien hervor, und eine dieser neu gebildeten Kategorien war der Verdi-Bariton. In Anlehnung an Rossinis Baritenori schuf Verdi einige der begehrtesten Rollen im gesamten Opernrepertoire, indem ersieh von den revolutionären Tenorpartien zur Wende des 19. Jahrhunderts inspirieren ließ. Verdis Zeitgenosse Ambroise Thomas stellte fest, dass er nach Jahren der Verzögerung und des Wartens auf der Suche nach seiner idealen Ophelia auch keinen geeigneten Tenor für seinen Hamlet finden konnte, so dass er gezwungen war, seine Hauptrolle zu transponieren und dafür als Poliflegante in Mayr ‚s Il sogno di Partenop, einen der Pariser Star-Baritone, auszuwählen. Dieser Schritt erwies sich als großer Erfolg, und bis heute hat noch niemand seine ursprünglich geplante Tenor- Version des Hamlet gehört. Parallel zur französischen Grand opera entstand Mitte des 19. Jahrhunderts die Operette, und von den vielen Operettenkomponisten war keiner produktiver oder berühmter als Jacques Offenbach mit seinen mehr als 120 Bühnenwerken. Les Contes d’Hoffmann war Offenbachs einziges ernstes Werk und im Gegensatz zu Thomas‘ Hamlet konzipierte Offenbach die Rolle des Hoffmann zunächst als Bariton, beendete sie aber später als Tenor. Die ersten beiden Akte existieren in zwei verschiedenen Versionen für Tenor und Bariton. Ob beabsichtigt oder nicht, Offenbachs Hoffmann destilliert die Geschichte des Baritenors, indem ein gemeinsamer Faden in den Stoff des Dramas und der Vokalkomposition der Titelrolle eingewebt ist.

„Baritenor“ Victor Maurel/ Wikipedia

Der Verismo markierte einen Wendepunkt in der Operngeschichte und erhöhte mit seinem aufregenden neuen deklamatorischen Gesangsstil die dramatischen und stimmlichen Anforderungen. Ruggero Leoncavallos Pagliacci ist zu einer der beliebtesten Opern aller Zeiten geworden, und die Rolle des Tonio wurde dem großen französischen Bariton Victor Maurel anvertraut. Neben Tonio schuf Maurel auch zwei der berühmt-­berüchtigtsten Rollen in Verdi-Opern, Jago und Falstaff. Maurels Stimme soll nicht so beeindruckend gewesen sein wie die seiner Bariton-Kollegen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sein Erbe in jeder Hinsicht die Symbiose des singenden Schauspielers widerspiegelt. Neben den wenigen Verismo-Rollen fand der Wiener Operettenstil häufige Einsatzmöglichkeiten für den Baritenor, als dieser mit komischer Unterhaltung Punkte sammelte und einige der nachdrücklichsten Charaktere der Gattung porträtierte. Franz Lehars Lustige Witwe ist eine der wenigen Operetten, die weltweit bekannt wurden, und aufgrund der üppigen Orchestrierung der Wiener Operette wurden die führenden männlichen Hauptrollen entweder von Tenören oder Baritonen gesungen, die den schwierigen Gesangsanforderungen gerecht wurden.

„Baritenor“ Jean Périer als Pelléas/ Wikipedia

Die französische Grand opera wurde nach und nach Geschichte, und mit ihrem Niedergang wurden die Stimmen immer spezialisierter, und das Stimmfach „Baryton-Martin“ erwies sich um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts als der letzte Hoffnungsträger des Baritenors. Der berühmteste Baryton-Martin dieser Zeit war Jean Perier, der insgesamt 16 Rollen uraufführte. Neben Ramiro in Maurice Ravels L’Heure espagnole war Periers Pelleas in Claude Debussys Pelleas et Melisande seine berühmteste Premiere. Parallel zu seiner Opernkarriere spielte er in über 30 Filmen mit. Der Film und die Entstehung des amerikanischen Musicals im frühen 20. Jahrhundert wurden zur neuen Basis für den Baritenor. Einige Baritenor-Rollen sollten in der russischen, deutschen und englischen Oper sowie in der Gattung des Opernoratoriums komponiert werden, aber sie sollten sich als Randbereiche erweisen, und der Baritenor geriet quasi in Vergessenheit. Eine Ausnahme bildeten Carl Orffs Carmina Burana. Orff erwies sich als einer der letzten Komponisten, die den Baritenor nochmals in vollem Umfang einsetzten, indem er eine teuflisch schwere Tessitura vorschrieb, die eine vollständige Beherrschung von Stimme und dramatischem Ausdruck fordert. In seinem letzten Bariton-Gesang in Carmina Burana, „Dies nox et omnia“, enthüllt Orff die wahre Natur und Schönheit der Baritenor-Stimmlage, wenn er für den Sänger ein ätherisches obbligato wie aus einer vergangenen Ära des Vokalkunst schreibt.

(Baritenor)-Wettbewerb: Michael Spyres und Lawrence Brownlee bei Erato

Als die Ära der Opern-Baritenors zu Ende ging, schuf Erich Korngold, eine Art Wunderkind, eine der letzten Rollen dieser Art in seinem brillant komponierten Meisterwerk Die tote Stadt. Richard Schubert sang den Paul in der Premiere – er begann seine Karriere als Bariton, bildete sich aber als Tenor weiter und sang alles von der französischen Grand opera bis Belcanto, Richard Strauss und Wagner. Parallel zu seinem Erfolg in den Rollen von Wagner und Strauss behielt er über seine gesamte Karriere hinweg die Rolle des Eisenstein in Johann Strauss‘ Fledermaus bei, und in der letzten Phase seiner Karriere wechselte Schubert zwischen dem Siegfried und Eisenstein hin und her. Wie bei den Geistern, die Paul in der Toten Stadt heimsuchen, wird das Erbe und der Einfluss des Baritenors immer tief in der Geschichte der Oper eingebettet sein.

Zum Abschluss lade ich die Hörer ein, über die letzte Strophe der ätherischen Arie aus Carmina Burana nachzudenken, die die allgegenwärtige und doch verborgene Kunst des Baritenors mit den Worten „a ramender… statim vivus fierem per un baser“ wiedergibt – was übersetzt bedeutet: „Ich würde lebendig sogleich … durch einen Kuss.“  Michael Spyres/Übersetzung: Anne Schneider

 

Den Artikel von Michael Spyres entnahmen wir mit Dank dem Beiheft zur neuen CD „Baritonor“ bei Erato.

Liebeslieder für Lena

 

Songs for Lena von  bei Naxos (8.579093). Albert? Die Antwort ist gleich im ersten Satz des Textes im Booklet zu lesen. Er war ein Enkel von Felix Mendelssohn Bartholdy, ein Großneffe von Fanny Hensel und ein Urenkel von Moses Mendelssohn. Mehr prominente Verwandtschaft ist kaum vorstellbar. Die CD wirbt völlig zu Recht mit dem Hinweis auf World Premiere Recordings. Albrecht Mendelssohn Bartholdy wurde 1874 in Karlsruhe geboren, studierte Rechtswissenschaften in Leipzig, Heidelberg und München. Sein Fachgebiet war Völkerrecht. 1900 habilitierte er sich. Er lehrte an mehreren Universitäten, wurde auch politisch aktiv und nahm 1919 an der Pariser Friedenkonferenz teil, die mit dem Versailler Vertrag endete, der Deutschland und seinen Verbündeten als Verursachern des Weltkrieges hohe Reparationslasten auferlegte. Albrecht Mendelssohn Bartholdy setzte sich für die Revision des Vertrages ein.

Als Jude wurde er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kalt gestellt. 1934 emigrierte er nach England, wo er in Oxford am Balliol College lehrte und 1936 an Krebs starb. Obwohl er von Anfang an eine starke Neigung zur Musik spürte, Begabung mitbrachte Geigen- und Klavierunterricht nahm und durch familiäre Beziehungen mit Brahms, Reger, Joachim und Clara Schumann zusammentraf, wurde daraus nicht die zentrale Tätigkeit seines Lebens. Dieser Traum blieb unerfüllt. Das akademische Wirkens als Professor in Würzburg (1905-1919) und danach in Hamburg (1920-1934), sei auch durch seine enge Beziehung zu Magdalene „Lena“ Schoch geprägt worden, vermerkt die Pianisten der Neuerscheinung, Eva Mengelkoch, die auch den sehr informativen Booklet-Text verfasst hat. Sie stammt aus Rheinland-Pfalz, zog 1991 zog sie in die Vereinigten Staaten, um an der Indiana University zu studieren. Seit 1999 ist Mengelkoch Professorin für Klavier und Kammermusik an der Towson University in Baltimore; neben ihrer Lehrtätigkeit wirkt sie als künstlerische Leiterin der Cylburn-Chamber-Music-Series und ist Mitglied des Cylburn-Trios mit dem Geiger Ken Goldstein und der Cellist Ilya Finkelshteyn.

Lena Schoch war „eine hochintelligente, mehrsprachige und attraktive Studentin“, die nach dem Studienabschluss zur unverzichtbaren Kollegin und Vertrauen Mendelssohns wurde. „Albrecht, der sich während seiner langjährigen Freundschaft mit Ethel Smyth als Förderer der Frauenbewegung bewiesen hatte, ermöglichte nun Lea Schoch eine juristische und akademische Karriere, die seinerzeit nur dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten war“, so die Autorin. Sie habe ihren Förderer gewiss auch musikalische inspiriert. Weiter ist zu erfahren, dass Lena trotz der Schwierigkeiten, die auch ihr die neuen Machthaber in Deutschland bereiteten, zur Beerdigung von Albrecht nach Oxford reiste. Sie kündigte schließlich ihre Stelle in Hamburg und wanderte in die USA aus – im Gepäck Mappen mit Liebensliedern, die Albrecht ihr gewidmet hatte und die sie bis zu ihrem Tod unter Verschluss hielt. Diesen Nachlass hat Naxos nun gehoben.

Lena Schoch/Foto Towson University, auf der website auch ein Artikel von Meg Bradshaw zur Wiederentdeckung der Lieder mit weiteren Fotos: „Bringing Lena back to Life“.

Die Lieder sind ein Zyklus aus zwölf Titeln. Allein vier gehen auf Friedrich Rückert zurück, der schon deshalb unvergessen blieb, weil sich so viele Komponisten bei ihm bedienten. Zwei Lieder folgen Texten des deutschen Dichters und Malers Max Dauthendey (1867-1918), dessen Bücher und Bilder, sich wieder zunehmender Aufmerksamkeit erfreuen. Dass auch Goethe unter den vertonten Dichtern ist, versteht sich von selbst. Neben den Lena-Liedern gibt es weitere sechzehn Kompositionen. Darunter ist eine Sammlung von acht Liedern aus Des Knaben Wunderhorn. Musikalisch wandelt Mendelssohn auf traditionellen spätromantischen Pfaden. Seine Erfindungen sind einprägsam, mitunter gar einschmeichelnd. Er mutet seinem Publikum nichts zu. Kein Lied, das nicht von einer klaren melodischen Linie getragen würde. Die Sopranistin Julianne Baird und der Bariton Ryan de Ryke, dem der Löwenanteil des Programms zufällt, sind für ihre ungewöhnliche Aufgabe genau richtig. Immerhin haben sich eine sehr verspätete Uraufführung im Studio zu bewerkstelligen. Nur das Deutsch beider Amerikaner könnte noch etwas besser sein (Abbildung oben: Postkarte 1920 von Hänel). Rüdiger Winter

Insel im Chaos

.

Der Titel der Edition wirft eine berechtigte Frage auf. Singt Christian Gerhaher tatsächlich alle Lieder von Robert Schumann? Sollte er es getan haben? Nein, hat er nicht. Der Zyklus Frauenliebe und Leben wurde der Sopranistin Julia Kleiter überlassen. Und das ist eine gute Wahl. Sie trägt ihn mit dem Stolz der unerschütterlich liebenden Ehegattin des 19. Jahrhunderts vor, nimmt deren Gefühle ernst. Dadurch wirken die Lieder nicht verschroben und altmodisch. „Süßer Freund, du blickest mich verwundert an.“ Der Einbruch des Leides mit dem sechsten Lied gelingt deshalb so überzeugend, weil ihn die Sopranistin mit derselben Ehrlichkeit gestaltet wie den überschwänglichen Beginn des Werkes. Da nimmt man sogar in Kauf, dass nicht jede Silbe zu verstehen ist. Was geschieht, teilt sich trotzdem mit. Wer die Texte von Adelbert von Chamisso verinnerlicht hat, im Geiste also mitsingen kann, wird letztlich nichts vermissen. Julia Kleiter hat gut zu tun in der neuen Edition, die mit einem Umfang von elf CDs bei Sony erschien (19439780112). Alle Titel werden von Gerold Huber am Klavier begleitet.

Diese enge künstlerische Partnerschaft mit Gerhaher, die seit mehr als dreißig Jahren währt, zahlt sich in perfektem Zusammenspiel aus. Nie ist auch nur ein Hauch von Unsicherheit zu vernehmen. Es ist, als ob der eine bereits ausführt, was der andere erst zu denken beginnt – und umgekehrt. Auf den Boden solcher Sicherheit gedeiht Kunst üppig und reich. Die Edition ist beider Werk. Kooperationspartner ist der Bayerische Rundfunk (BR Klassik). Gefördert wurde das ambitionierte Produkt vom Liedzentrum Heidelberg, das über sich selbst in seiner Internetpräsentation sagt, „eine Vielzahl von Projekten“ zu vereinen. In der jährlichen Lied-Akademie arbeiteten junge Sängerinnen und Sänger „in öffentlichen Masterclasses mit dem künstlerischen Leiter Thomas Hampson an ihrer Liedgestaltung und erleben einen Freiraum, in dem über die Gattung und deren Zukunft offen, genreübergreifend und gemeinsam nachgedacht und debattiert wird“. Mit Gerhahers und Hubers Edition sei das Zentrum „Partner, Ermöglicher und Förderer eines beispielhaften Vorhabens zur zeitgemäßen Vermittlung eines der bedeutenden Werkkanons“. Um den Liedgesang muss sich also niemand sorgen. Säger nicht – und auch nicht das Publikum. Welche Rolle dabei in Zukunft die Tonträgerindustrie spielt, wird sich zeigen. Gerhaher selbst ist skeptisch. „Wahrscheinlich wird es nicht mehr viele vergleichbare Gesamteinspielungen auf CDs geben können, und die dunklen Wolken des Niedergangs physischer Tonträger waren drohend auch schon am Horizont dieses Herzensprojekts nicht nur ahn- sondern auch gut sichtbar“, schreibt er im Booklet.

Die Edition ist keine Momentaufnahme. Eingespielt wurde das Gros der Lieder zwischen 2017 und 2020. Die Ballade Belsatzar (Op. 57), die es in sich hat, geht als einziger Titel auf das Jahr 2004 zurück. Der Produktionskalender nennt Aufnahmesitzungen an vier Tagen. Das ist extrem viel Zeit für gut vier Minuten. Man fühlt sich an alte Zeiten erinnert, in denen die Sänger im Studio von Produzenten für ein einziges Lied so lange getriezt wurden, bis es besser nicht mehr ging. Die Ballade nach der Vorlage von Heine, sei „in Schumanns Liedschaffen vielleicht das Extrem-Beispiel für eine dramatisch aufgeladene Drastik“, bemerkt der Sänger im Booklet. Ist dies der Grund, warum er sich für die mehr als fünfzehn Jahre alte Einspielung entschied? Damals war er Mitte dreißig. Wie dem auch sei. Sie ist ein Highlight der Edition. Es bietet sich noch eine andere Erklärung für das ungewöhnlich weit zurückliegende Aufnahmedatum und die zahlreichen Sitzungstermine an. Im Oktober 2004 legten Gerhaher und Huber bei der RCA eine Schumann-CD vor, auf der sich auch die Ballade befindet. Sollten beide Einspielungen identisch sein? Das Booklet gibt keine Antwort. Nur die Vermutung, dass an den vier Produktionstagen von einst, die gesamte CD entstand, auf der Gerhaher auch die bizarre Löwenbraut-Ballade sang, die er in der Edition seinem Tenorkollegen Martin Mitterrutzner überließ, der sie mit viel Empathie und absolut wortverständlich vorträgt.

Der gestandene Klassikliebhaber, der oft auch ein Sammler ist, weiß Boxen wie diese zu schätzen. Er ist haptisch geprägt, weniger virtuell. Für ihn kommt es einer heiligen Handlung gleich, Tonträger aus der Hülle zu nehmen wie einen Brillantring aus der Schatulle. Bevor noch der erste Ton aus dem Lautsprecher kommt, bedarf es feierlicher Vorbereitung, die zum Bestandteil der Beschäftigung mit Musik wird. Schumann aber kann sich auch anders mitteilen. Keinem seiner Lieder wird etwas genommen, wenn es über Kopfhörer von Festplatte, Datenkarte oder Stick kommt. Und keine Interpretation erfährt durch die Verbreitung auf einer CD oder einer Schallplatte eine irgendwie geartete Veredelung. Doch das Auge hört gewöhnlich mit. Die Gestaltung der Neuerscheinung – das muss gesagt und gewürdigt werden – ist besonders apart ausgefallen. Sony hat sich alle erdenkliche Mühe gegeben. Kulturverfall sieht anders aus. Die Oberfläche der Schachtel ist so empfindlich, dass sie mit Samthandschuhen angefasst werden müsste, um keine lästigen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Porträts des Komponisten außen wie innen kommen aus der Werkstatt des iranischen Künstlers Hadi Karimi, der sich mit seinen lebensechten 3D-Konterfeis berühmter Persönlichkeiten, die auf historischen Abbildungen beruhen, einen Namen gemacht hat. Das geht so weit, dass auf Schumanns fülligen Wangen der Schatten des Bartwuchses aufscheint, den auch eine noch so perfekte Rasur hinterlässt. Nur die Haartracht und der Hemdkragen versetzen ihn in seine Zeit zurück. Neunzehntes Jahrhundert wird im Computer heraufbeschworen als sei es Gegenwart – ein rasanter Kontrast zum ehr konservativen Konzept der Sammlung. Die schmalen Rücken der Hüllen sind gut lesbar mit den entsprechenden Opuszahlen versehen, die zu den jeweiligen Werken führen. Auf einen Blick ist zu erfahren, was sich drinnen befindet. Ohne Fehl und Tadel ist das dicke Booklet, an dem auch nicht gespart wurde. Mehrfarbig sind die Tracklisten unterlegt.

Der Bariton Christian Gerhaher (links) und sein Pianist Gerold Huber arbeiten seit mehr als dreißig Jahren eng zusammen. Huber begleitet sämtliche Einspielungen der Edition. Foto Booklet der Sony Ausgabe

Die Lieder sind in zwei Abteilungen geordnet, ein Begriff, den man von Gesamtausgaben der Dichter kennt, die schon zu Goethes Zeiten immer beliebter wurden und prächtig gebunden die Bibliotheken bürgerlicher Haushalte füllten. Damit wird einer Besonderheit im Liedschaffen von Schumann Rechnung getragen. Es zerfällt in zwei Schaffensperioden. Im spektakulären ersten „Liederjahr“ 1840 habe er aus dem Nichts heraus über 140 Meisterwerke in 23 Opera niedergeschrieben, so Gerhaher. Im zweiten um 1850 herum habe er noch einmal angehoben weitere 23 Opera zu komponieren, die jedoch ein wenig anders gefärbt seien. „Sind die Lieder des Jahres 1840 trotz aller Innovation klanglich, harmonisch und textausdeutend vielleicht noch ein wenig stärker jener Tradition der Liedkomposition verbunden, die Schumann vorfand, so sind die 1849-1852 entstandenen Lieder von einer größeren inhaltlichen Radikalität und Düsterkeit geprägt“, befindet der Sänger.

Zu allen Zyklen, Gruppen und einzelnen Stücken gibt es prägnante deutsche und englische Erläuterungen – wie auch die anderen einführenden Texte in beiden Sprachen geboten werden. Dass auch die literarischen Vorlagen abgedruckt sind, gilt beim hohen Niveau der Neuerscheinung als selbstverständlich. Sie wurden mit der gut nachvollziehbaren Begründung Gerhahers in der von Schumann vertonten Form belassen, weil Übersetzungen „oft zu sehr eigenständige Interpretationen“ seien. Schließlich könne man „heutzutage im Internet mit Leichtigkeit die Gedichte als Hilfestellung übersetzt finden“. Indexe nach Titeln, Liedanfängen und Textdichtern erleichtern den Umgang. Rasch ist gefunden, wonach man auch sucht. Alle beteiligte Sänger und der Pianist Gerold Huber sowie sein Kollege James Cheung, der das Piano II in den Spanischen Liebesliedern (Op. 138) bedient, werden mit Bild aber ohne Biographie vorgestellt. Auch diese Informationen sind leicht im Netz zugänglich – stets auf dem jeweils aktuellen Stand, den keine gedruckte Form bieten kann, die bereits im Moment ihres Erscheinens nicht mehr aktuell ist. Die Lied-Edition aber will und soll für einen langen Zeitraum Bestand haben.

Gerhaher hat die ideale Stimme für Schumann. Er ist ein Meister der Zwischentöne und Schattierungen. Bei ihm können junge Sänger lernen, was Legato ist. Durch geschickte dynamische Staffelungen kann er einzelne Lieder spannungsvoll aufladen. Das geschieht aber stets dezent und mit aller Vorsicht. Er überinterpretiert nicht, er übertreibt nicht, er aspiriert nicht. Schlusstöne lässt er verhauchen wie einen Nachhall, wenn ihm das zwingend erscheint. So natürlich wie mit Schumann habe ich ihn nie singen hören. Exemplarisch für seinen Stil wären neben den berühmten Zyklen Dichterliebe und Liederkreis Op. 39 die aus zwei Büchern bestehenden Gesänge Op. 107 nach verschiedenen Dichtern zu nennen. Dass Gerhaher die riesige Aufgabe, die ihm auch als Bariton natürliche Grenzen setzt, nicht allein würde stemmen können, hatte sich bereits geklärt. Er brauchte Mitstreiter. Der Name Julia Kleiter fiel bereits. Sie kommt vierundzwanzig Mal zum Einsatz. Noch mehr als sie hat ihre Soprankollegin Sibylla Rubens zu tun (43), gefolgt von der Mezzo-Sopranistin Wiebke Lehmkuhl (25), Christina Landshamer (17), Camilla Tilling (12) und Anett Fritsch (3) – alle drei Sopran. Die Mezzosopranistin Stefanie Irányi (1) wird für die Drei Gedichte von Emanuel Geibel für mehrstimmigen Gesang gebraucht, in die zudem Sibylla Rubens und Wiebke Lehmkuhl einstimmen. Sie bilden ein perfektes Team, gehen diszipliniert und rücksichtsvoll miteinander um. Niemand reißt aus und hebt sich mit eigenen Akzenten heraus. So werden diese kunstvollen Miniaturen, in die auch noch Martin Mitterrutzner einstimmt, zur Entdeckung der besonderen Art, die nur im perfekt aufeinander abgestimmten Zusammenspiel ihre Wirkung entfalten können. Der Tenor hat insgesamt 24 Auftritte, zwei der Bariton Andreas Burkhart. Wo sonst als bei einer ambitionierten Studioproduktion treffen namhafte Solisten wie diese in so großer Zahl aufeinander? Alle sind gut im Geschäft und singen an großen Häusern tragende Partien. Umso mehr Anerkennung verdient es, dass sie sich gemeinsam mit Gerhaher und Huber diesem Projekt verschrieben haben. Deshalb wäre es auch geboten gewesen, ihre Namen auf dem Cover zu nennen. Gleichberechtigung sieht anders aus. Die Stimmen passen auch in ihrer ausgeprägten Natürlichkeit zusammen. Es ist niemand darunter, der für so genannte Charakterrollen geboren worden wäre. Und, was ganz besonders wichtig ist: Alle sind muttersprachlich. Niemand ist dem Zwang ausgesetzt, sich ein Lied phonetisch aneignen zu müssen. Sie wissen bis in jede Einzelheit, was sie singen, worum es geht. Es ist kein Akzent zu vernehmen. Idiomatisch sind die Aufnahmen wie aus einem Guss.

Die deutsch-russische Dichterin Elisabeth Kulmann starb 1825 in St. Petersburg mit nur siebzehn Jahren. Ihr Schicksal  bewegte Robert Schumann stark. Er komponierte zwei kleine Zyklen nach ihren Versen. 

Schumann war anspruchsvoll bei der Auswahl seiner Dichter. Goethe, Heine, Rückert, Eichendorff, Geibel, Kerner, Lenau, Mörike, Schiller, Fallersleben. In den allermeisten Fällen sind die Texte von hohem literarischen Rang. Mit den Mädchenliedern (Op. 103) und Sieben Liedern (Op. 104) führt er zu Elisabeth Kulmann, deren Schicksal den Komponisten tief bewegte. Ihr Konterfei soll über seinem Schreibtisch gehangen haben. Die deutsch-russische Dichterin starb 1825 in St. Petersburg mit nur siebzehn Jahren. Sie beherrschte zehn Sprachen. Goethe soll ihr prophezeit haben, in der künftigen Literatur einen ehrenvollen Rang einzunehmen, was ihr früher Tod verhinderte. Schumann wurde erst 1851 auf ihre Gedichte aufmerksam und erkannte darin auch eine Wesensverwandtschaft mit sich selbst. Der jugendlichen Dichterin war nämlich sehr bewusst, dass sie früh sterben müsse. Schumann hatte noch fünf Jahre zu leben, als er beide Werkgruppen innerhalb von nur drei Tagen vollendete. Mit eigener Feder steuerte er für die Sieben Lieder, die von Sibylla Rubens sehr einfühlsam gesungen werden, Zwischentexte bei, die im Booklet auch abgedruckt sind. Als Duette sind die vier Mädchenlieder ausgearbeitet. Sie wurden mit Julia Kleiter und Wiebke Lehmkuhl eingespielt. In der Edition werden die verbreiteten Vorbehalte gegen die Textdichterin nicht vertieft. (Mit Porträts des Komponisten Robert Schumann ist die Box außen wie innen gestaltet. Sie kommen aus der Werkstatt des iranischen Künstlers Hadi Karimi, der sich mit seinen lebensechten 3D-Konterfeis berühmter Persönlichkeiten, die auf historischen Abbildungen beruhen, einen Namen gemacht hat. Das geht so weit, dass auf Schumanns fülligen Wangen der Schatten des Bartwuchses aufscheint, den auch eine noch so perfekte Rasur hinterlässt.)

In seinem „Robert Schumann – Wort und Musik – Das Vokalwerk“ hatte Dietrich Fischer-Dieskau – selbst ein bedeutender Interpret des Komponisten – noch geschrieben: „Wir Heutigen verstehen kaum mehr, in welchem Ansehen die Reimerei der mit siebzehn Jahren verstorbenen Lyrikerin stand und warum sie so hohe Auflagen erreichte. Es lässt sich höchstens aus dem Bedürfnis nach sentimentaler Rührung, das damals en vogue war, erklären.“ Schumann habe diese poetischen Ergüsse als „erhabene Meisterstücke und eine wahre Insel im Chaos der Gegenwart“ wahrgenommen. Das Buch ist vor genau vierzig Jahren erschienen. Die Heutigen, von denen Fischer-Dieskau schreibt, sind in die Jahre gekommen oder gestorben. Rüdiger Winter

Bemerkenswert

 

An Einspielungen von Monteverdis Orfeo herrscht kein Mangel auf dem Musikmarkt – die Neuaufnahme bei ALPHA-CLASSICS, entstanden im Januar 2020 in Antwerpen, ist dennoch mehr als willkommen, zeichnet sie sich doch durch eine staunenswerte Frische und expressive Kraft aus. Die Cappella Mediterranea musiziert unter Leitung ihres Gründers Leonardo García Alarcón subtil und delikat, wo nötig, auch mit dramatischen Affekten. Die musikalische Interpretation ist perfekt abgestimmt mit der Textausdeutung, bietet ein harmonisches Gleichgewicht zwischen kraftvollen und melancholischen Akzenten.

In der Titelrolle ist der Tenor Valerio Contaldo in einem glänzenden Auftritt zu hören. Sein Timbre ist wohllautend und ausdrucksstark, die Gestaltung der Figur erfüllt von dramatischem Gefühl, mit großer Aufmerksamkeit für den Text und eloquenten Verzierungen. Seine Szene im 2. Akt angesichts Euridices Tod, „Tu se’ morta“, ist ergreifend in ihrer tragischen Eindringlichkeit, von enormer Spannung erfüllt die mit Coronte im 3. Akt. Euridice ist Mariana Flores, die im Prologo schon die Rolle der La Musica gibt, mit süßem, delikatem Sopran und stilistischer Kompetenz. Zwei weitere Sopranistinnen, Ana Quintans und Julie Roset, wirken eindringlich als La Speranza/Proserpina und Ninfa mit. Auch Giuseppina Bridelli bietet als Messaggiera mit strengem Mezzosopran eine exzellente Studie. Ein machtvoller Caronte ist der Bassist Salvo Vitale mit autoritärer Stimme, der Bariton Alejandro Meerapfel ein überzeugender Plutone. Zwei stilsichere Countertenöre mit angenehmen Stimmen sind in der Besetzung zu finden: Alessandro Giangrande als Pastore III und Apollo sowie Carlo Vistoli als Pastore II. Mit bizarr verfremdeter Stimmgebung gibt der Bassist Philippe Favette den Spirito. Alle Solisten realisieren vollendet Monteverdis Stil des ricercar cantando und auch der Choeur de Chambre de Namur (Leitung: Thibaut Lenaerts) hat hohen Anteil am Gelingen dieser bemerkenswerten Einspielung (ALPHA 720, 2 CD/ 20. 10. 2021). Bernd Hoppe

Udo Zimmermann

 

Die Deutsche Oper Berlin trauert um ihren ehemaligen Intendanten, den Komponisten und Dramaturgen Udo Zimmermann, der am 21. Oktober 2021 nach langer Krankheit in seinem Haus in Dresden mit 78 Jahren verstorben ist.

Der am 6. Oktober 1943 dort geborene Zimmermann erfuhr seine musikalische Sozialisation im Dresdner Kreuzchor, dem er von 1954 bis 1962 angehörte. Er studierte Komposition, Dirigieren und Gesang an der Dresdner Musikhochschule und war Meisterschüler Günter Kochans an der Akademie der Künste in Berlin. Ab den späten 60er Jahren machte er sich mit seinen Kompositionen, die Kammermusik ebenso umfassten wie Chor- und Orchesterwerke, einen Namen als eine der wichtigsten Stimmen innerhalb der Neuen Musik der DDR.

Das zentrale Feld seiner kompositorischen wie dramaturgischen und kuratorischen Arbeit war jedoch das Musiktheater. Zwei Jahre lang war er Assistent von Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin, bevor er 1970 als Dramaturg für zeitgenössisches Musiktheater an die Semperoper in Dresden berufen wurde und hier bis 1985 wirkte. In Dresden gründete er zudem das „Studio Neue Musik“, aus dem das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik und letztlich 2004 das Europäische Zentrum der Künste Hellerau hervorging, das Zimmermann als Gründungsintendant bis 2008 leitete. Zudem war Zimmermann von 1997 bis 2011 künstlerischer Leiter der Konzertreihe musica viva des Bayerischen Rundfunks und verantwortete in dieser Zeit fast 200 Uraufführungen.

Als zentraler Bestandteil des kompositorischen Werkes entstanden, beginnend mit der groß besetzten Erstfassung der WEISSEN ROSE (1967 in Dresden uraufgeführt), insgesamt sechs Bühnenwerke, darunter LEVINS MÜHLE (1972), DER SCHUHU UND DIE FLIEGENDE PRINZESSIN (1976) und DIE WUNDERSAME SCHUSTERSFRAU (1982). Als jüngstes Werk innerhalb des Opernschaffens ragt jedoch die grundlegend neu konzipierte zweite Fassung der WEISSEN ROSE als Kammeroper für zwei Solisten und fünfzehn Musiker heraus. Bald nach der Uraufführung 1986 an der Hamburgischen Staatsoper etablierte sich das eindringliche, auf Briefen der Geschwister Scholl basierende Werk zu einer der meistgespielten zeitgenössischen Opern, die bis heute über 200 Neuproduktionen erfahren hat.

Nach der Wende übernahm Udo Zimmermann das Amt des Intendanten der Oper Leipzig und führte das Haus bis 2001 überaus erfolgreich. Mit mehreren Uraufführungen, unter anderem von Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel und Jörg Herchet, sowie einem zeitgenössischen und gleichzeitig publikumsnahen Spielplan machte er das Haus zu einem Ort gegenwärtigen Musiktheaters, wofür es unter anderem 1993 als „Opernhaus des Jahres“ ausgezeichnet wurde.

Für die Spielzeit 2001/02 wurde Udo Zimmermann als Intendant der Deutschen Oper Berlin berufen, und zwar als Nachfolger für Götz Friedrich, dessen Vertrag 2001 auslaufen sollte. Für diesen Neuanfang nach einer prägenden Ära, die durch Friedrichs überraschenden Tod im Dezember 2000 überschattet wurde, setzte Zimmermann auf einen Spielplan, der große Sängernamen und starke Regiehandschriften mit einem Bekenntnis zum Zeitgenössischen verband. Er eröffnete seine Intendanz mit Peter Konwitschnys Inszenierung von Luigi Nonos INTOLLERANZA 1960, Achim Freyer inszenierte Verdis MESSA DA REQUIEM – die Produktion ist bis heute im Repertoire der Deutschen Oper Berlin – und SALOME, Daniel Libeskind brachte Olivier Messiaens monumentalen SAINT FRANÇOIS D’ASSISE auf die Bühne und Hans Neuenfels Mozarts IDOMENEO. Zimmermanns Intendanz dauert nur zwei Jahre, setzte jedoch wichtige Impulse: Er führte die Tradition des Hauses als eines Ortes der produktiven, mitunter kontroversen Auseinandersetzung mit der Tradition und dem Repertoire ebenso fort, wie er sie zu einem Ort des Zeitgenössischen machte – und formulierte hiermit ein Ethos, das bis heute nachwirkt und zugleich immer wieder erneut herausfordert.
Die Deutsche Oper Berlin wird Udo Zimmermann ein ehrendes Andenken bewahren. Quelle Pressestelle Deutsche Oper Berlin (Foto: Udo Zimmermann; Copyright: Archiv Deutsche Oper Berlin)

Richters Erbe

 

Die Anhänger des früh verstorbenen Karl Richter (1926-1981), der sich besonders als Bach-Interpret (sowohl als Dirigent als auch als Organist) einen Namen gemacht hat, dürften es seit Jahrzehnten bedauert haben, dass Richter keine Gesamteinspielung des Oratoriums Die Schöpfung von Joseph Haydn vorgelegt hat. Einzig die beiden Arien „Nun beut die Flur“ sowie „Auf starkem Fittiche“ hat der Dirigent im Zuge eines Oratorien-Recitals mit Maria Stader und dem Münchener Bach-Orchester 1961 für die Deutsche Grammophon Gesellschaft auf Platte eingespielt. Es ist durchaus möglich, dass gleichwohl eine komplette Studioeinspielung geplant war, bedenkt man Richters stetige Repertoireerweiterung in Richtung Klassik und gar Romantik in seinen späteren Jahren. Er hat beispielsweise anlässlich des Ablebens seines Dirigentenkollegen Rudolf Kempe 1976 in München ein Gedenkkonzert mit Mozarts großer g-Moll-Sinfonie sowie Schumanns vierter Sinfonie geleitet. Und noch 1980 dirigierte er Mendelssohns Elias in Hamburg.

Der Richter-Kenner wusste auch, dass es durchaus zu kompletten Aufführungen der Haydn’schen Schöpfung unter seinem Dirigat gekommen ist, so bereits 1970 in Paris für den Französischen Rundfunk ORTF. Der gar nicht schlecht klingende, in Sammlerkreisen kursierende Mitschnitt aus dem Salle Pleyel (bereits in Stereo) machte unweigerlich Lust auf eine autorisierte Veröffentlichung dieses Werkes in Richters Interpretation. Diesem langersehnten Wunsche wurde jetzt tatsächlich Rechnung getragen, wenn auch in etwas anderer Form.

Hänssler Classic nämlich bringt nun unerwartet eine vollständige Aufnahme der Schöpfung auf den Markt (Hänssler HC20076). Es handelt sich um einen Mitschnitt aus dem Nationaltheater München im Zuge des 6. Akademiekonzerts des Bayerischen Staatsorchesters am 8. Mai 1972. Dieses historisch ungemein bedeutsame Tondokument konnte der Sohn Karl Richters, Prof. Tobias Richter, langjähriger Generalintendant der Deutschen Oper am Rhein, aus seinem Privatbesitz beisteuern, was freilich die Frage aufwirft, ob diese Aufnahme überhaupt noch im Archiv des Bayerischen Rundfunks vorrätig ist. Gleichsam als vorauseilende Abbitte ersucht der für die aufwändige Restaurierung zuständige Holger Siedler im beiliegenden Booklet um Nachsicht angesichts des „technisch sehr schlechte[n] Mitschnitt[s]“, der „wenig zu einem ungetrübten Musikgenuss“ beitrüge. Freilich sind die Erwartungshaltungen der Hörerschaft verschieden, doch darf bereits an dieser Stelle eine ehrlich gemeinte Entwarnung gegeben werden, handelt es sich doch um einen für die Zeitumstände sehr guten Stereomitschnitt, der sich wahrlich nicht verstecken muss. Gewiss, die Direktheit des eingefangenen Klangbildes und die sehr präsent abgebildeten Pauken und Blechbläser hätte ein Toningenieur im Aufnahmestudio womöglich abgemildert; und doch, genau diese unverfälschte Unmittelbarkeit macht dieses Tondokument gerade interessant. Die Besetzung zu loben hieße Eulen nach Athen zu tragen.

Wie in der Pariser Aufführung zwei Jahre zuvor ist auch hier der sehr für sich einnehmende Bassist Karl Christian Kohn als Raphael und Adam vertreten, der von der Tonträgerindustrie ein wenig unter ferner abgehandelt wurde. Die mächtig-ehrfurchtgebietende und sonor strömende Stimme ist eine echte Bereicherung für die Diskographie dieses häufig eingespielten Werkes. Anders als in Paris, sind es in München der Tenor Werner Hollweg (anstelle von Horst Laubenthal) und die Sopranistin Elisabeth Speiser (statt Lotte Schädle), welche das Solistenterzett vervollständigen. Hollweg, der den Uriel intoniert, darf mit Fug und Recht als einer der ganz großen Interpreten dieser Partie bezeichnet werden. Hier empfahl er sich bereits für die Studioproduktion unter Antal Doráti einige Jahre später (Decca). Eine Rundfunkaufnahme der Jahreszeiten von Haydn unter Rafael Kubelík aus demselben Jahre 1972, in der Hollweg ebenfalls den Tenorpart übernahm, wurde im Übrigen bei Orfeo veröffentlicht (Orfeo C 477 982 I). Die strahlende, glanzvolle Höhe hat er mit der Speiser (Gabriel und Eva) gemein, die auf dem Plattenmarkt völlig zu Unrecht wenig präsent ist. Überhaupt agieren die Solisten hier sehr homogen und ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Keiner will über den anderen hinaus; opernhafte Allüren gibt es nicht, was auch dem Werkcharakter entspricht. Wie bereits zu erahnen, kommen in dieser Aufführung nicht die von Richter ins Leben gerufenen (und übrigens immer noch existenten) Ensembles Münchener Bach-Chor und Münchener Bach-Orchester zum Zuge, sondern sind es der Chor der Bayerischen Staatsoper (Choreinstudierung: Wolfgang Baumgart) und das bereits genannte Bayerische Staatsorchester, mit welchem der Dirigent häufiger erfolgreich zusammenarbeitete, auch wenn seine Diskographie nicht unbedingt darauf schließen lässt. Sowohl Chorsänger als auch Klangkörper unterstützen kongenial Richters Interpretationsansatz, der etwas pathetisch als großer alter Stil bezeichnet werden könnte, voll dem allerhöchsten Anlass der göttlichen Schöpfungsgeschichte angemessen. So erzielt Karl Richter bereits zu Beginn einen wahren Gänsehautmoment, wenn Chor und Orchester derart gewaltig beim „Und es ward Licht“ einsetzen, dass selbst langjährige Kenner dieses Oratoriums aus dem Sessel gerissen werden. Die großangelegten Chöre sind es auch, bei denen Richter besonders eindrucksvoll zu Werke geht, sich einer ausgeklügelten Agogik bedient und die Steigerungen dermaßen gekonnt zu Gehör bringt, dass man nicht anders kann, als voller Überwältigung angesichts der im wahrsten Sinne schöpferischen Kraft aller Mitwirkenden innezuhalten. Doch auch in den lyrischeren Momenten der Rezitative und Arien tut sich ein Eindruck von vollumfänglicher Befriedigung auf. Die zweckdienliche Textbeigabe rundet diese überaus erfreuliche Neuerscheinung ab, die in keiner Oratoriensammlung fehlen sollte. Daniel Hauser

Aus Georgien

 

Niemand mag bezweifeln, dass das kleine Land Georgien ganz besonders schöne und ganz besonders kraftvolle Stimmen hervorgebracht hat, und das Booklet zur CD von George Gagnidze, Besitzer einer ihrer jüngsten, weiß auch einige aufzuzählen wie Paata Burchuladze, Anita Rachvelishvili oder Nino Machaidze und „vergisst“ dabei völlig den Säger, der dem Opernfreund als erster, nicht zuletzt weil auch ein Bariton, in den Sinn kommt: Lado Ataneli. In den letzten Jahren hat Gagnize auf den europäischen und amerikanischen Bühnen die Partien gesungen, in denen zuvor sein Landsmann, dessen Karriere plötzlich endete, große Erfolge hatte, und er weiß mit ähnlichen Qualitäten aufzuwarten wie zuvor sein „Vorgänger“. Das Cover der CD mit Werken von Mozart, Wagner, Verdi, Giordano und Leoncavallo zeigt einen distinguierten Herrn in Anzug, Weste, Krawatte. Der finstere Blick allerdings deutet eher auf die Brunnenvergifter unter den Baritonen hin, von denen dann auch einige wie Tonio, Luna und Macbeth, mehr jedoch im Verlauf der Handlung geläuterte wie Nabucco, Gerard, Germont oder Renato zu hören sind.

Wie auf die unverwüstlich erscheinenden Stimmbänder komponiert scheint der Prolog zu I Pagliacci zu sein, denn der Bariton klingt zwar nicht nobel, aber machtvoll, und der Sänger kostet voll die Möglichkeiten veristischen Singens aus, seine Stimme klingt gesund, und der Hörer befürchtet nie eine Überbeanspruchung der Stimmbänder. Man hört mit Freude die Lust am Ausspielen der Potenz der Stimme, so in der beachtlichen Fermate auf „incominciate“. Der Gerard von Gagnidze ist von schöner Nachdenklichkeit, singt agogikreich, die Töne werden schön ausgeformt und gerundet, die sichere, farbige Höhe besticht. „Muss das sein“, denkt man zu Beginn von „La Provenza il mar“, schon zu oft gehört, und ist dann doch begeistert von der Konsequenz, mit der das Piano durchgehalten wird, ein ganz neuer padre vor dem geistigen Auge ersteht, dem das Aufbrausende wie das Klägliche in den gefühlvollen Pianissimi genommen ist zugunsten einer gefühlvollen Altersmilde, so dass das Aufbrausen des figlio kein gutes Licht auf den Alfredo wirft.

Weiter geht es mit einem im Rezitativ reichlich verquollen und dumpf klingendem Macbeth, der dann aber in der Arie (Rispetto!) mit schönem Legato, geschmackvoller Fermate, die die musikalische Linie nicht sprengt,  und geschmeidiger Stimmführung, die schöne Crescendi und Decrescendi ermöglicht, besticht. Das Gebet des Nabucco wird bruchlos in weitgespannten Bögen durch die Register geführt, im Rezitativ des Luna bleibt der Bariton auch im Forte scharf konturiert, die generöse Phrasierung ist auch hier auch großes Plus. Etwas vokales Zähnefletschen sei dem Renato verziehen, weil der Hörer stark berührt im „è finito“ eine verwundete Seele zittern hört. Der letzte Verdi-Held ist Rodrigo mit leider nur dem letzten Teil seines Ablebens, auch hier kann man bewundern, wie geschickt auf einen Höhe- und Schlusspunkt hingearbeitet wird.

Für den Wolfram ist die Stimme zu dunkel und schwer, das Deutsch zu bemüht klingend, und Don Giovannis Champagner-Arie ist ein Parforceritt, aber eher auf einem etwas schwergängigen Kaltblüter. Einfühlsam begleitet Stefan Solyom mit der Staatskapelle Weimar (Orfeo C210221). Ingrid Wanja

Ungewohnt

 

Drei Spielzeiten lang war Jussi Björling der MET ferngeblieben, ehe er 1959 wieder an das Haus zurückkehrte, in, wie man der ToscaAufnahme vom November des Jahres bei Bongiovanni entnehmen kann, vorzüglicher Verfassung. An seiner Seite als Scarpia war Cornell MacNeil, nicht Ungewöhnliches für die MET, aufhorchen lässt da eher die Tosca von Mary Curtis-Verna, die die Partie dann sang, wenn Tebaldi oder Milanov indisponiert waren oder aus anderen Gründen nicht zur Verfügung standen. In der auf zwei CDs mit Ausschnitten auch aus Cavalleria Rusticana mit Björling und Simionato vereinten Tosca vertrat sie die Milanov und wird wie natürlich auch der Tenor mit Auftrittsapplaus empfangen, was für die Fairness des New Yorker Publikums spricht. Der Sopran klingt jung und hell, wird aber auf recht altmodische Weise   geführt. Die Emission ist eine angenehm leichte, die Diktion verwaschen, die Piani sind gut gestützt und nur in den dramatischsten Momenten kommt die Stimme an ihre Grenzen, klingt eher indigniert als wütend und verzweifelt, durchweg ist diese Tosca eher sanft Liebende als wild auffahrende Diva. Auch „Vissi d’arte“ wird in diesem Sinne dargeboten, und aus „Quanto“ und „Il prezzo“ wird wenig gemacht. Sehr schön hörbar ist die innere Anspannung , die sie beim Warten auf das Verschwinden des Erschießungskommandos erfüllt.

Der schwedische Tenor singt ein emphatisches „Recondita armonia“ mit einer  beachtlichen Fermate, allerdings auf „Tos“ und nicht auf „ca“, später dann beim Vittoria wird diese Ehre dem „ri“ zuteil. Die Diktion ist vorzüglich, das Timbre nobel, strahlend, aber nicht dunkel glühend, wie man es an italienischen Stimmen liebt. Ergreifendes klingt aus dem Folterkeller, allerdings stammt der Schrei, wie an der MET üblich, nicht vom Sänger. Weniger Wert als auf ein endloses Vittoria scheint Björling auf die folgende Sequenz zu legen, was aller Ehren wert und sehr eindrucksvoll ist. Das „Lucevan le stelle“ ist das denkbar kontrastreichste zwischen feinstem Pianissimo und kraftvollstem Forte. Dem enthusiastischem „liberi“ der Tosca steht ein zweifelnd elegisches des Tenors gegenüber.

MacNeils Scarpia hat einen so machtvollen Auftritt wie ein eigentlich zu edles Timbre für die Figur, eine ungemein farbige mezza voce, singt nuancenreich mit klar konturierter, Sinnlichkeit wie Grausamkeit gleich eindrucksvoll demonstrierender Stimme. Norman Scott ist ein recht dumpf klingender Angelotti, Lawrence Davidson ein zu tatsächlich frommer Mesner.

Was Dimitri Mitropoulos mit dem Orchester der MET an Bedrückendem während der Folterung oder des Ausstellens des Salvocondotto zaubert oder an Stimmungsvollem vor dem 3. Akt, das ist wirklich einmalig, das berührt mindestens ebenso stark, wie es die Sänger vermögen.

In der Cavalleria dann fliegen die vokalen Fetzen, und auch das Publikum gerät außer sich vor Begeisterung, von skandinavischer Kühle keine Spur und von damenhafter Zurückhaltung schon gar nicht (Bongiovanni HOC 089/90)Ingrid Wanja   

Nun auch aus Bordeaux

 

Im November 2020 beabsichtigte die Oper in Bordeaux, ihre im Januar 2018 anlässlich Claude Debussys 100. Todestag von Marc Minkowski dirigierte Produktion von Pelléas et Mélisande durch Philippe Béziat wiederaufzunehmen. Der neuerliche Lockdown führte zwar zur Absage der Bühnenaufführung, rettete aber durch das Einspringen von Alpha Classics zumindest den musikalischen Teil der Produktion (Alpha 2 CDs 752). Während die Besetzung der drei Hauptfiguren gegenüber 2018 unverändert blieb, übernahm jetzt der 30jährige, ehemalige Minkowski-Assistent Pierre Dumoussaud, der bereits 2014-16 beim Orchestre National Bordeaux Aquitaine tätig war, die musikalische Leitung. Mit der Schweizerin Chiara Skerath und den Franzosen Stanislas de Barbeyrac und Alexandre Duhamel geleitet Dumoussaud eine relativ junge Equipe durch Schloss und Wälder des sagenhaften Allemonde. Weiterer Vorteil der französischen Besetzung ist deren mustergültige Diktion, die alle Nuancen von Maeterlincks Text erfasst und in einem dichten erzählerischen Fluss hält, subtil, doch nicht blutleer. „Nie ein Wort lauter als das andere“, wie es Boulez beschrieb. Gleichwohl hat der Ton der belgisch-schweizer Sopranistin genügend Körper und Intensität, um der rätselhaften Mélisande neben ihrer Fragilität Ausdruck und Kraft zu geben und dennoch das Geheimnisvolle zu bewahren. Mit strahlendem Timbre, das sich besonders schön in „Mes longs cheveux“ zeigt, gelingt der Sopranistin eine sehr überzeugende Interpretation. Ihren Pelléas kennt Skerath bereits von Laurence Equilbeys Freischütz- Projekt, wo er den Max und sie das Ännchen sang. De Barbeyracs Pelléas ist ein durch und durch aufrichtiger und ernsthafter junger Mann. Er singt, wie stets, ausgesprochen kultiviert, elegant, mit unaufdringlichem Raffinement; selbst im gehauchten Piano – wie in der Szene in der Grotte – hat sein Tenor Stehvermögen und Farbigkeit. Der Golaud gerät für meinen Geschmack etwas zu sehr zum Bösewicht aus dem Märchenbuch, da der im Lauf der fünf Akte zunehmend ernüchternde Alexandre Duhamel mit seinem robusten, bereits ausgeleierten Bariton Affekte und Eifersucht unterstreicht. Von den Nebenrollen überzeugt Jérome Varnier als Arkel, weniger Janina Baechle als garstige Geneviève und Maëlig Querré als Yniold. Theatralisch zupackend ist die ausgewogene Wiedergabe durch Dumoussaud und das Orchestre National Bordeaux Aquitaine, die die Partitur in ihrer ganzen Vielfalt und Farbigkeit analytisch präzise durchleuchten. Guter Klang, schönes französisch-englisch-deutsches Beiheft (15. 10. 2021).  Rolf Fath

Alles von Wilhelm

 

Der Nimbus des Überdirigenten umstrahlt wohl niemanden im selben Maße wie den bereits zu Lebzeiten legendären Wilhelm Furtwängler (1886-1954). Mit der 55 CDs umfassenden repräsentativen Box The Complete Wilhelm Furtwängler on Record huldigt Warner Classics nun diesem musikalischen Titanen (Warner 9029523240) und vereint erstmals sämtliche Studioeinspielungen Furtwänglers, welche dieser zwischen 1926 und 1954 für HMV, Telefunken, Polydor und Decca einspielte. Der Fokus liegt somit vornehmlich auf den offiziellen Studioproduktionen und auf wenigen vom Dirigenten abgesegneten ausgewählten Live-Aufnahmen, was auch erklärt, wieso etwa kein kompletter Beethoven-Zyklus inkludiert wurde, der sich nur durch nicht von Furtwängler explizit autorisierte Mitschnitte vervollständigen ließe. Die Studioaufnahmen sind chronologisch geordnet, beginnend mit der Freischütz-Ouvertüre von Oktober 1926 aus Berlin und endend mit der Studio-Walküre von September/Oktober 1954 aus Wien. Nicht wenige Werke sind doppelt enthalten (u. a. Mozarts Kleine Nachtmusik, Straussens Till Eulenspiegel, Beethovens Violinkonzert [jeweils mit Menuhin] und die Sinfonien Nr. 3, 4 und 6 sowie diverse Ouvertüren und Vorspiele von Wagner, Mendelssohn und Gluck). Beethovens fünfte Sinfonie findet sich sogar dreifach (1926/27, 1937 sowie 1954).

Furtwänglers bewusst subjektiver, mitunter nebulöser und mit Pathos behafteter Dirigierstil weist ihn eindeutig als im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert sozialisierten Künstler aus. Obschon er die für einen Mann seiner Generation nicht untypische Haltung vertrat, dass die Musik im Moment der Aufführung entstünde und sie im Prinzip insofern nicht exakt eins zu eins wiederholbar sei, stand er dem Aufnahmestudio nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Seine Aufnahmekarriere begann beinahe gleichzeitig mit der revolutionär zu nennenden Etablierung der elektrischen Aufnahme um 1925, welche einen Quantensprung gegenüber dem bis dato üblichen rein akustischen Aufnahmeverfahren darstellte. So sind bereits seine frühesten Aufnahmen aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahren akustisch durchaus genießbar. Die großangelegte Warner-Kollektion deckt chronologisch den musikalischen Zeitraum von Bach (die berühmte Air aus der Orchestersuite Nr. 3) bis zur damaligen Gegenwart in Form von Furtwänglers eigener zweiten Sinfonie ab, die zweifelsohne als sein sinfonisches Meisterwerk gilt. Repertoiremäßig erzeigt sich jedenfalls, dass dieser Dirigent breiter aufgestellt war als es die landläufige Meinung wissen will. Neben den üblichen Verdächtigen aus dem deutschsprachigen Raum sind auch Cherubini (Ouvertüre zu Anacréon), Rossini (Ouvertüren zu Il barbiere di Siviglia und La gazza ladra), Berlioz (Marche hongroise aus La Damnation de Faust, sogar zweifach), César Franck (Sinfonie d-Moll), Tschaikowski (Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 Pathétique sowie drei Sätze aus der Streicherserenade C-Dur) und Bartók (zweites Violinkonzert mit Menuhin) vertreten, daneben aber auch die etwas ins Hintertreffen geratenen deutschen Komponisten Gluck (Ouvertüren zu Alceste und Iphigénie en Aulide) und Nicolai (Ouvertüre zu Die lustigen Weiber von Windsor). Die sogenannte „leichte Klassik“ lehnte Furtwängler – ähnlich Hans Knappertsbusch und Otto Klemperer – nicht grundsätzlich ab, wie einige Einspielungen von Josef und Johann Strauss Sohn beweisen (Pizzicato-Polka [mit und ohne Glockenspiel], Kaiser-Walzer, Ouvertüre zu Die Fledermaus). Haydn ist zumindest mit den damals wohl populärsten Sinfonien Nr. 88 und 94 Mit dem Paukenschlag berücksichtigt, Dvořák mit dem Slawischen Tanz op. 46 Nr. 3 und Smetana mit der Moldau.

Dieser Mitschnitt von 1937 entstand im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich der Krönung des britischen Königs Georg VI. in London.

Das Gros der Box machen freilich Mozart (Sinfonie Nr. 40, zwei Serenaden, diverse Ouvertüren und Arien), Beethoven (alle Sinfonien außer Nr. 2 und 8, Violinkonzert, diverse Ouvertüren sowie die Gesamtaufnahme des Fidelio), Schubert (Unvollendete sowie Große Sinfonie C-Dur, Rosamunde-Orchestermusik), Weber (Ouvertüren, Aufforderung zum Tanz), Mendelssohn (Ouvertüren Die Hebriden und Ein Sommernachtstraum, Violinkonzert mit Menuhin), Schumann (vierte Sinfonie, Manfred-Ouvertüre), Brahms (erste und zweite Sinfonie, Violinkonzert mit Menuhin, Haydn-Variationen, diverse Ungarische Tänze), Richard Strauss (Till Eulenspiegel, Don Juan, Tod und Verklärung) und insbesondere Wagner (diverse Opernauszüge sowie die legendären Gesamtaufnahmen von Tristan und Isolde und Die Walküre) aus. Wie verzerrend der Fokus allein auf die echten Studioproduktionen allerdings sein kann, beweist der Fall Anton Bruckner. Einzig der langsame Satz aus der siebenten Sinfonie von 1942 ist unter Studiobedingungen entstanden und hier inkludiert. Ebenfalls nur mit jeweils einem Werk vertreten sind Liszt (Les Préludes) und Mahler (Lieder eines fahrenden Gesellen mit Kirsten Flagstad und Dietrich Fischer-Dieskau). Ein Kuriosum stellt der zweite Satz aus Furtwänglers Sinfonischem Konzert für Klavier und Orchester mit Edwin Fischer aus dem Jahre 1939 dar. Testaufnahmen des Kaiser-Walzers, von Siegfrieds Trauermarsch sowie des dritten Entr’acte von Rosamunde auf der ersten Bonus-CD runden dies ab. Auf der zweiten Bonus-CD, welche zugleich die Kollektion beschließt, finden sich schließlich von Jon Tolansky produzierte und zwischen 1993 und 2003 entstandene Interviews mit Edward Downes, Remo Lauricella, Hugh Bean, Hugh Maguiere, Gervase de Peyer, Harold Nash, Yehudi Menuhin, Berthold Goldschmidt, Bernard Dennis-Browne, John Meek, Elisabeth Furtwängler, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Gellhorn sowie Christopher Raeburn. Sie alle versuchen dem Mythos Wilhelm Furtwängler auf den Grund zu gehen.

Jugendbildnis Wilhelm Furtwänglers/Archiv Clarens/Booklet zur Warner Edition

Neben den wirklich im Studio produzierten Einspielungen fanden, wie eingangs bereits erwähnt, auch einige wenige Live-Aufnahmen Eingang in die Kollektion. Die ältesten dieser Mitschnitte datieren auf das Jahr 1937 und entstanden im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich der Krönung des britischen Königs Georg VI. in London. Es handelt sich um Beethovens neunte Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern und dem Philharmonic Choir London aus der Queen’s Hall (Solisten: Erna Berger, Gertrude Pitzinger, Walther Ludwig, Rudolf Watzke) sowie um Auszüge aus Wagners Ring des Nibelungen aus dem Royal Opera House, Covent Garden, wovon sich der dritten Walküren-Aufzug (mit Kirsten Flagstad und Rudolf Bockelmann) sowie ein guter Teil der Götterdämmerung (mit Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior) erhalten haben. Beethovens Neunte ist live sogar ein zweites Mal enthalten, nämlich in der berühmten Nachkriegsaufnahme im Zuge der Eröffnung von „Neu-Bayreuth“ im Jahre 1951 (Solisten: Elisabeth Schwarzkopf, Elisabeth Höngen, Hans Hopf, Otto Edelmann). Die Bach’sche Matthäus-Passion aus Salzburg von 1954 fand ebenfalls Eingang in die Box (Solisten: Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen, Anton Dermota, Dietrich Fischer-Dieskau, Otto Edelmann). Erstveröffentlicht wird zudem ein 1950 entstandener Live-Mitschnitt von Schuberts Unvollendeter mit den Wiener Philharmonikern aus Kopenhagen, der indes wohl kaum von Furtwängler zur späteren Veröffentlichung bestimmt war.

Die Studioaufnahmen in der Warner-Edition sind chronologisch geordnet, beginnend mit der „Freischütz“-Ouvertüre vom Oktober 1926 in Berlin und endend mit der Studio-„Walküre“ vom September/Oktober 1954 in Wien.

Erfreulicherweise wurden praktisch sämtliche Aufnahmen anlässlich dieser Veröffentlichung einem neuen Remastering in 24 Bit/192 kHz-Qualität unterzogen (die einzige Ausnahme betrifft CD 35, die allerdings auch gerade erst 2016 neu gemastertet wurde). Soweit noch möglich, wurde auf die Originalbänder zurückgegriffen. Wundertaten sollte man sich aufgrund der historischen Aufnahmequalität indes auch diesmal nicht erwarten, selbst wenn man sich oft nicht des Eindrucks erwehren kann, diese Tondokumente tatsächlich noch nie besser gehört zu haben. Die natürlichen Beschränkungen der durch die Bank bloß in Mono vorliegenden Einspielungen sollten nicht geleugnet werden. Leider war es Furtwängler nicht mehr vergönnt, von den klanglichen Vorteilen der Stereophonie zu profitieren, die sich praktisch zeitgleich mit seinem Ableben Ende 1954 allmählich durchsetzte (das letzte Konzert seines großen Antipoden Arturo Toscanini wurde im April 1954 schon in Stereo mitgeschnitten). Vielleicht aber unterstreicht gerade dieser Umstand auch, dass mit Furtwänglers Tod wahrlich eine Ära ihr Ende nahm. Die gut 150-seitige Textbeilage ist absolut mustergültig, liegt dreisprachig vor (Deutsch, Englisch, Französisch) und beinhaltet zahllose höchst interessante Photographien. Sie unterstreicht somit die Wertigkeit der Box, die nicht nur für den Furtwängler-Enthusiasten eine wirkliche  Bereicherung darstellt und schon jetzt als eine der gelungensten Neuerscheinungen des Jahres 2021 gelten darf. Daniel Hauser

 

 

Ikone der Musik

 

Die Tonhalle Zürich ist eine der Ikonen der Häuser für Musik. Von den renommierten Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer aus Wien wurde sie 1895 erbaut. Das renommierte Architektenduo, das zeitweilig bis zu 20 Architekten beschäftigte und zahlreiche Büros unterhielt, schuf bedeutende Theaterbauten (48) in ganz Europa. Neben dem Interimstheater in Brünn, dem Stadttheater Odessa, dem Neuen Deutschen Theater in Prag, dem Kroatisches Nationaltheater Varazdin, dem Volkstheater Budapest dem Stadttheater/Opernhaus Zürich, dem Kroatischen Nationaltheater in Zagreb, der Komischen Oper Berlin und dem Hoftheater in Wiesbaden, um nur einige der Prachtbauten zu nennen, auch das Wiener und andere Konzerthäuser.

Die Tonhalle in ihrer ursprünglichen Gestalt, spektakulär am Zürichsee gelegen, war ein multifunktionales Musik-Gebäude mit Wandelgängen, Gärten und Restaurants, sowie Pavillon. 1937 bis 1939 wurde die ursprünglich äußere Gestalt durch einen Teilabbruch und den Neubau eines Kongresshauses stark verändert. Die jungen Zürcher Architekten Haefeli, Moser und Steiger bauten die Tonhalle zum Kongresshaus für die Schweizerische Landesausstellung um.

Nach Abschluss der aufwendigen Restaurierungsarbeiten haben die Musikwissenschaftler Inga Mai Groote und Laurenz Lütteken von der Universität Zürich sowie Ilona Schmiel von der Tonhalle-Gesellschaft Zürich eine prachtvolle zweisprachige (deutsch/englisch) Dokumentation mit instruktiven Texten verschiedener Autoren und brillianten Fotografien von heute sowie historischen Abbildungen herausgegeben.

Ilona Schmiel betont mit Blick auf die Wiedereröffnung der Tonhalle den „Bürgerstolz“ der Zürcher. Ulrike Thiele zeichnet die „musikalische (Vor-) Geschichte der Zürcher Tonhalle nach und breitet ein Panorama der Konzertsäle in Zürich vor 1895 aus, als da wären der Chorherrensaal, der Musiksaal am Kornhaus, das Casino am Hirschgraben, das Aktientheater (an dem Richard Wagner eine bedeutende Rolle im Musikleben Zürichs spielte, das neue Kornhaus am See und die Alte Tonhalle. Es ist auch ein Panorama der dortigen Chef- und Gastdirigenten. Über die Architektur der Tonhalle, eines Ortes „des ästhetischen Genusses“, „bürgerlicher Selbstverständigung“ und deren „gebauter Szenographie“ informiert Dietrich Erben. Er macht deutlich, dass der Ursprungsbau der Zürcher Tonhalle nach dem unverkennbaren Vorbild des für die Weltausstellung 1878 erbauten Palais du Trocadéro in Paris erbaut wurde, „ein Zeugnis jener durchaus nostalgisch verklärten Belle Époque“. Genaueres zur Umgestaltung der Tonhalle in den 30er Jahren erfährt man von Elisabeth Boesch. Aber auch Details der Restaurierung.

Karlheinz Müller und Michael Wahl berichten von den Schwierigkeiten, Methoden und Erfolgen einer gelungenen renovierten Akustik des Gebäudes.

Wie die Herausgeber betonen: „Selbst, wenn durch den Teilabbruch 1937 und den Neubau des Kongresshauses 1939 die äußere Konzeption zerstört wurde, blieben der große und kleine Konzertsaal als Kern des Baus erhalten, nun eingebunden in ein für gemischte Nutzungen des 20. Jahrhunderts bestimmtes Gebäude. Die aufwendige Sanierung, die sich beim Saal am Zustand des Jahres 1895 orientierte, beim Kongresshaus am Zustand von 1939, lässt daher nicht nur einen herausragenden Gebäudekomplex der Vergangenheit in neuem Glanz erstrahlen. Vielmehr bekommt die gegenwärtige Musik in Zürich damit einen herausragenden Ort zurück, einen Ort, der topographisch, architektonisch und akustisch Weltgeltung beanspruchen kann.“

Die von der UBS Kulturstiftung und dem Freundeskreis Tonhalle-Orchester Zürich geförderte Publikation für ein internationales Publikum belegt den Ausnahmerang des Gebäudekomplexes, nach wie vor der Hauptspielstäte der 1812 gegründeten Allgemeinen Musik Gesellschaft (und des 1868 gegründeten Tonhalle-Orchesters) Zürich. Es konnte am 15. September 2021 seine Heimstätte wieder in Besitz nehmen. Auch der Verein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien formierten sich 1812. Zwei beispielhafte Institutionen der „Verbürgerlichung“ des Musiklebens, wie man liest: „Damit allerdings wurde auch der Ort für die Musik zu einer eigenen, neuen Spezies: Der Bautyp des Konzertsaals entstand. Entweder konnten bestehende Säle umgebaut werden (wie der Kölner Gürzenich ab den 1820er-Jahren, das bereits ab 1781 als Konzertsaal genutzte Leipziger Gewandhaus 1834 bzw. 1842 oder das Zürcher Kornhaus 1867), oder es entstanden spektakuläre Neubauten wie die Berliner Singakademie (1827), das Münchner Odeon (1828) oder die auf Instrumentalvirtuosenkultur abzielende Säle wie die Salle Pleyel in Paris (1889). Nach den gescheiterten Revolutionen der Jahre 1848/49 wuchs das Interesse an repräsentativen Konzertsälen nochmals. Im industriellen Zeitalter wurden die Bauten nicht nur größer (die Royal Albert Hall von 1871 weist knapp 6000 Sitzplätze auf, der große Saal des Trocadéro in Paris von 1878 bot 5000 Zuhörern Platz), sondern in der Durchführung immer anspruchsvoller und immer professioneller. Zudem strahlte der Bautypus auf die ganze Welt aus (wie in der ab 1891genutzten Carnegie Hall in New York mit 2800 Plätzen).“

Eindrucksvolles, ja imposantes Bildmaterial über Architektur der Tonhalle und ihrer Vorgängerbauten, des Bauschmucks, des Gartens, der Leuchter und Lampen sowie der Gastronomie und Topographie lassen keine Fragen offen. Auch die Tonhalle als Touristenattraktion kommt in der Darstellung nicht zu kurz. Ausführlich wird der Restaurierungsprozess fotografisch dokumentiert. Eine Zeittafel sowie Anmerkungen runden die gelungene Publikation ab.

Fazit des Buches: „Die aufsehenerregende Tonhalle ist daher nicht einfach ein Monument, das nun restauriert worden ist. Sie lebt von den Inhalten, der klingenden Musik. Das wussten die Begründer des Baus ebenso wie diejenigen, die ihn in den 120 Jahren danach lebendig gehalten haben. Ein Konzertsaal existiert wegen der Musik – und für die Menschen, die sie darin erleben, immer wieder anders und immer wieder neu. Die Architekten des 19. Jahrhunderts träumten von ausgesparten Räumen, in denen man den Alltag hinter sich lassen konnte. lm 21. Jahrhundert braucht die Musik weiterhin Räume, in denen sie unter besten Bedingungen aufgeführt und gehört werden kann; Dies leistet die Tonhalle Zürich. Ihre Restaurierung ist daher keine Investition in die Vergangenheit, sondern eine in die Gegenwart und in die Zukunft.“ Das Buch dokumentiert es und veranschaulicht es aufs Schönste (Tonhalle Zürich 1895-2021. Hrsg. von Inga Mai Grote, Laurenz Lütteken, Ilona Schimmel Bärenreiter, 190 S., 29,95. ISBN 978376182608). Dieter David Scholz

Malerisches

 

In Italien werden seine Opern gelegentlich noch gespielt, im übrigen Europa ist wenigstens seine Römische Trilogie noch immer fester Bestandteil des Konzertrepertoires. Was für ein vielseitiger und eigenartiger Liedschöpfer Ottorino Respighi (1879-1936) war, haben jetzt der Tenor Ian Bostridge und die Pianistin Saskia Giorgini in einer mustergültigen Interpretation beim Label Pentatone unter Beweis gestellt.

Mit den teilweise zur selben Zeit entstandenen Romanzen eines Francesco Paolo Tosti und den Gelegenheitsarbeiten von Puccini, Leoncavallo und Mascagni haben seine als „liriche“ bezeichneten Lieder nicht viel gemein. Sie stellen hohe literarische Ansprüche und ihre Besonderheit liegt nach Auffassung der Pianistin Giorgini in der völligen Verschmelzung von Dichtung und Musik. Dabei ist die Auswahl der Texte ein Spiegel der literarischen Strömungen des Fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts. Gabriele d’Annunzio, der Dichterheros seiner Generation, steht da obenan, aber auch hier weniger bekannte Autoren wie die Lyrikerin Ada Negri, der dem Jugendstil nahe stehende Antonio Rubino, der sich später vor allem als Illustrator einen Namen machte, oder der französische Symbolist Jean Moréas kommen zum Zuge.

Die meisten Gedichte kreisen um das Thema Mensch und Natur, die oft eine mythologische Überhöhung erfährt, in Deità silvane (Waldgottheiten, 1917) etwa befinden wir uns unter Faunen und Nymphen. Titel wie Nebbie und Pioggia oder Notte und La sera beschreiben in erster Linie Seelenzustände.

Respighi war, das zeigt sich in dieser Liedersammlung noch mehr als in seinen Opern und Orchesterstücken, ein literarisch und musikalisch umfassend gebildeter Komponist, ein Eklektiker im besten Sinne des Wortes, der seine Vorbilder nicht leugnet, dabei aber zu einem eigenständigen Stil findet. Vor allem die frühen Arbeiten, darunter das Klavierstück Notturno,  zeigen Einflüsse von Debussy und den französischen Impressionisten, andererseits hat auch Wagners Tristan Spuren hinterlassen. Ob er eher den Traditionalisten als den Avantgardisten zuzurechnen ist, lässt sich schwer entscheiden. Die italienische Musikwissenschaft zählt ihn neben Casella, Malipiero und Pizzetti zur „generazione dell’ottanta“ (der Generation der 80er Jahre), die in strikter Abkehr von Puccini und den Veristen einen Neo-Klassizismus kultivierte, dabei aber harmonischen Experimenten nicht abgeneigt war. Anders als etwa Alfredo Casella, der mit der 12-Ton-Technik spielte, hat Respighi die Tonalität aber nicht aufgegeben, seine Spielart der Modernität ist in der Nähe von Prokofjew anzusiedeln.

Sein besonderes Interesse galt von Anfang an dem Volkslied, das deshalb auch den starken Abschluß des Albums bildet. Die Beschäftigung damit umspannt ein Vierteljahrhundert, von der mittelitalienischen Stornellatrice (1906) bis zum Gesang aus den Abruzzen La furtanella (1930). Doch der polyglotte, weitgereiste Komponist wurde auch im Ausland fündig. 4 Scottish Songs (1924) zeigen seine Kunst der Aneignung. Das populäre Lied My heart’s in the Highlands gewinnt in der kunstvollen, aber nicht gekünstelten klavieristischen Ummantelung einen zusätzlichen Reiz.

Respighi zeigt sich in allen Liedern als Erzähler und Maler in einem und Saskia Giorgini bringt diese Qualitäten in ihrem im Wortsinne zauberhaften Vortrag optimal zur Geltung. Man atmet beim Zuhören die Gerüche der mythischen Welten förmlich ein. Und Ian Bostridge, dessen Schubert-Interpretationen ich immer mit etwas distanzierter Bewunderung gegenüberstand, offenbart hier eine vokale Farbpalette, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Da ist nicht nur die helle, etwas ephebenhafte Klangfarbe, die in arkadische Gefilde entführt, sondern auch eine kernig-virile baritonale Grundierung zu bewundern, und – wie bei diesem Sänger gewohnt – eine markante Durchdringung der Texte. Und immer wirkt er idiomatisch, vor allem in den grandios gestalteten schottischen Volksliedern, aber auch in den italienischen Pendants in regionalen Dialekten (Sardinien, Abruzzen). Klavier und Stimme verschmelzen, ganz im Sinne des Komponisten, überall zu einer Einheit. Deshalb meine vorbehaltlose Empfehlung (Pentatone PTC 5186 872). Ekkehard Pluta

Erstmals vollständig, aber …

 

Hat es wirklich bis zum Jahr 2021 gedauert, um eine vollständige Gräfin Mariza-Gesamtaufnahme herauszubringen? Natürlich gibt es schon lange verschiedene, durchaus berühmte Gesamtaufnahmen: erinnert sei an die mit Sena Jurinac, Karl Terkal und dem Hamburger Rundfunkorchester unter Wilhelm Stephan 1952, an die mit Anneliese Rothenberger und Nicolai Gedda unter Willy Mattes mit dem Symphonie-Orchester Graunke von 1972 oder als bislang letztem Eintrag in die Diskographie die von Uwe Theimer 1999 dirigierte Doppel-CD, mit dem Wiener Opernball Orchester sowie Izabel Labuda und Ryszard Karczykowskí als Mariza und Tassilo. Erwähnt werden müssen auch die unendlichen vielen Highlight-Aufnahmen, wo man die Haupthits dieses Welterfolgs von 1924 umfangreich hören kann: sei es mit Fritz Wunderlich, Peter Minich oder Nikolai Schukoff, sei’s mit Sari Barabas, Friedl Loor oder Margit Schramm. Nicht zu vergessen: Eine Gesamtaufnahme auf Englisch von der Ohio Light Opera gibt’s auch, 2004 in Wooster live eingespielt mit Julie Wright als Titelheldin und Brian Woods als smartem Tassilo. Diese Einspielung enthält sogar den Schlager, den Emmerich Kálmán für die Verfilmung 1932 nachkomponierte.

Aber auf all den genannten Aufnahmen fehlt an irgendeiner Stelle etwas, mal der Kinderchor im 1. Akt, mal der Tassilo-Song aus dem 3. Akt („Wer hat euch erdacht, ihr holden Frau’n“), mal die unterlegte Begleitmusik als Einleitung zu den großen Hits usw. usf. Nun hat also Dirigent Ernst Theis mit dem Münchner Rundfunkorchester die erste Aufnahme vorgelegt, die alle (wirklich alle!) Musiknummern inklusive Tanzevolutionen enthält, wie sie im Octava-Klavierauszug enthalten sind. Chapeau!

Die von cpo (8992793) veröffentlichte Aufnahme basiert auf einem Konzert im Münchner Prinzregententheater vom April 2018, mitgeschnitten vom Bayerischen Rundfunk. Ob von Anfang an eine CD-Ausgabe geplant war, weiß ich nicht. Aber: Wenn man schon auf den mit so vielen prominenten Vorgängeraufnahmen übersättigten Markt drängt, wäre es meines Erachtens sinnvoll gewesen, über einen „Unique Selling Point“ der neuen Einspielung nachzudenken. Oder ist „Vollständigkeit“ ausreichend als Kaufanreiz?

Was sofort auffällt ist, dass zwar die komplette Fassung eingespielt wird, aber den vielen Anmerkungen im Octava-Klavierauszug keine Beachtung geschenkt wurde. Da wird beispielsweise sehr genau angegeben, wie der Kinderchor gleich zu Beginn des Werkes zu gestalten sei („1. und 2. Kind“, dann „3. und 4. Kind“, oder „das kleinste Kind allein“). Bei Theis singt durchweg der gesamte Kinderchor, wodurch jede Differenzierung verloren geht. Und das setzt sich fort.

Wenn man mit Mehrzad Montazeri einen Tenor zur Verfügung hat, der zwar eifrig die Schluchzer von Fritz Wunderlich kopiert (was effektvoll ist, wenn auch an der Grenze zur Parodie), wenn dieser Tenor aber eben kein Wunderlich sein kann, sondern „nur“ ein angenehm kompetenter Sänger ohne besonderen Gestaltungswillen, dann hätte man ihm als Dirigent schon unter die Arme greifen und ihn eine Fassung von „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“ singen lassen können, bei der das „da capo“ der Hauptmelodie gepfiffen wird, wie im Klavierauszug vorgeschlagen. Das wäre dann „Anders als die Anderen“ gewesen. Und eine interessante Nuance. Auch das nur ein Beispiel von vielen.

Ernst Theis ist an solchen Nuancen nicht interessiert. Er dirigiert eine geradeheraus interpretierte Gräfin Mariza ohne besondere Vorkommnisse. Das bedeutet auch, dass er die Jazz-Instrumentation der Tanzschlager – etwa beim Shimmy „Komm mit nach Varasdin“ – nur im Hintergrund erahnen lässt. Dass Kálmán sich hier deutlich am Broadway und an Jerome Kern orientiert, muss man wissen. Hören tut man’s nicht. Wie überhaupt der eigenwillige Klangreiz dieses Werks nur in Bezug auf die ungarischen Elemente betont wird (Táragotó: Péter Horváth; Cimbalom: Olga Mishula). Dabei hieß es in einem zeitgenössischen Cartoon zu Kálmán: „Zwei Seelen wohnen auch in meiner Brust, die eine csardast und die andere bluest!“ Dazu sah man den Komponisten wild auf einem Xylophone spielen, das er auch in der Gräfin Mariza eifrig einsetzt. Im Mund hat er ein Saxophon.

Nach den vielen Einspielungen mit Opernstars fällt Theis und dem BR nichts weiter ein, als ebenfalls eine Opernbesetzung aufzubieten, allerdings ohne Stars. Statt sich darauf zu berufen, dass 1924 am Theater an der Wien kein einziger Opernsänger dabei war: vielmehr gestaltete damals Hubert Marischka den Tassilo „auf Burgtheaterniveau“, wie’s in einer Kritik hieß (die auch von Stefan Frey im Booklet zitiert wird). Wer den Film von 1932 kennt, mit Marischka als Tassilo, der weiß, dass er „Auch ich war einst ein feiner Csardaskavalier“ („Komm Zigány“) wie eine große soziale Anklage rezitiert – nicht aussingt –, und dann in einen rauschhaft getanzten Csardas übergeht, bei dem Kálmán es wirklich krachen lässt. (Auf CD kriegt das Robert Stolz als Dirigent am wirkungsvollsten hin.) Ich bin sicher, das hätte Montazeri vorm Mikrophon à la Marischka hingekriegt, wenn ihn jemand dazu animiert hätte. So wirkt er leider nur wie der Abklatsch von hundertfach besser gehörten Alternativen.

Als Mariza steht Betsy Horne bereit. Die bemerkenswerte Textgestaltung, die Rothenberger in ihr Auftrittslied steckt („Klingt ein heißer Csardastraum sinnbetörend durch den Raum“) wird man bei ihr nicht finden, den durch alle Lagen perfekt geführten Sopran der Rothenberger auch nicht. Von den Sehnsuchtstönen einer Jurinac ist Horne ebenfalls weit entfernt. Und die Quicklebendigkeit von Sari Barabas, die die vielleicht überzeugendste Aufnahme von „Höre ich Zigeunergeigen“ vorgelegt hat (1962 mit den Berliner Symphonikern unter Frank Fox) fehlt gänzlich. Barabas ist die Einzige auf Tonträger, die in den schnellen Parlando-Passagen („Willst du toll der Freude leben, soll das Herz vor Lust erbeben“) wirklich mit einem Jauchzen durch das endlosen Achtelketten gleitet, trotz fulminantem Accelerando. Jedes Wort ist bei ihr eine Aussage. Barabas hat in den 1950ern noch mit Kálmán selbst zusammengearbeitet und war später lange mit seinem Sohn Charles befreundet, sie wusste sehr genau, wie diese Musik „geht“.

Übrigens: Truesound Transfers hat kürzlich ein Album mit Aufnahmen der Uraufführungssängerin Betty Fischer herausgegeben. Auch das – nochmals – eine ganz andere Stimme, an der man sich hätte orientieren können, um auf CD neue interpretatorische Mariza-Wege zu beschreiten. Von Kálmán selbst dirigiert gibt’s immerhin das Duett „Sag‘ ja, mein Lieb, sag‘ ja“ mit Gitta Álpár und Felix Knight (auf Englisch, 1940 in New York aufgenommen). Was Kálmán bei dieser kurzen Nummer an Schmelz und Schmachten herausholt, von Álpár mit einer Sinnlichkeit gesungen, die niemand sonst erreicht, das wäre ebenfalls ein lohnendes Vorbild gewesen. Denn niemand dirigiert einen Slow Walz und (!) einen rauschhaften Walzer so wie Kálmán. Auch nicht Konkurrent Robert Stolz, der in New York Kálmáns Nachbar war und selbstredend in den 1920er-Jahren die Aufführungen mit Fischer und Marischka erleben durfte. Immerhin kommt Stolz solch einen Ideal recht nahe, und er hat auf seiner Aufnahme neben Schramm auch Rudolf Schock zur Verfügung, der einen effektvollen Tassilo singt. Nicht auf „Burgtheaterviveau“, aber definitiv mit Niveau.

Aber wozu sich die Genies der Vergangenheit anhören und von ihnen lernen? Das gilt letztlich ebenso für die Buffo-Rollen, die 1924 Elsie Altmann und Max Hansen kreierten (und Hans Moser). Hier hört man Lydia Teuscher und Jeffrey Treganza als Lisa und Zsupán. Ein Comedy-Glanzlicht sind sie sicher nicht, und vom Witz eines Max Hansen ist das neue „Behüt dich Gott, komm gut nach Haus“ mit seinem augenzwinkernden Quickstep-Rhythmus weit entfernt.

Als Fürst Dragomir wird vom Bayerischen Rundfunk Peter Schöne aufgeboten, der für diesen Charakter-Part völlig falsch ist, weil keine Charakterstimme. Und Pia Viola Buchert als wahrsagende Zigeunerin Manja ist letztlich keine Konkurrenz für Edda Moser auf der alten EMI-Aufnahme unter Mattes (wo ihre Szene übrigens vollständig enthalten ist und Moser sogar die halsbrecherischen Triller singt, die Kálmán vorschreibt und um die sich Buchert drückt).

Was bleibt also? Ist es zu harsch, die cpo-Aufnahme mit all den älteren Einspielungen zu vergleichen? Ist es zu viel verlangt, vom Bayerischen Rundfunk oder vom selbsterklärten Operettenexperten Ernst Theis mehr zu erwarten als nur eine routiniert Gräfin Mariza?

Wo so viel von „Original“ und „historisch informierter Aufführungspraxis“ die Rede ist: Wieso will niemand dieses Kálmán-Opus aus dem Geist der Zwanziger neu entdecken? Wieso immer wieder die aufgewärmte Puszta-Romantik, die nach dem Zweiten Weltkrieg so an Kálmán geliebt wurde und die auf Tonträger bis zum Überfluss dokumentiert ist? (Am schrecklichsten auf der Aufnahme mit René Kollo und Erzsebét Hazy unter Wolfgang Ebert, der Soundtrack zum entsprechenden TV-Operettenfilm.)

Wer bei Gräfin Mariza etwas „Neues“ entdecken will, kann umfangreiche Ausschnitte aus den 1940er-Jahren auf der CD Kálmán on Broadway hören, vom Operetta Archive in Los Angeles liebevoll herausgegeben (und über dieses bestellbar). Die originale Broadwayfassung, die einst erfolgreich in den USA lief, ist bislang nicht eingespielt, Ohio Light Opera hat ihre neue englische Version auf Basis des Wiener-Originals erstellt. Was Glanz der Stimmen angeht, kann diese ebenfalls vom Operetta Archive veröffentlichte Aufnahme mit der hier diskutierten Konkurrenz auch nicht mithalten.

Ich selbst muss gestehen, dass ich trotz aller Kritik an der Affektiertheit von Anneliese Rothenberger die Souveränität und Stilsicherheit der EMI-Aufnahme doch sehr zu schätzen gelernt habe. Und dass ich Sena Jurinac im Zweifelsfall lieber höre … zudem mit der blutjungen Rothenberger als Lisa neben Rupert Glawitsch als Zsupán. Der klingt auch nicht wie Max Hansen, aber damals hat so etwas niemanden interessiert. Auch Willi Brokmeier klingt bei EMI 1972 nicht wie Hansen, aber er zieht eine zeittypische Buffo-Show ab. Ist das, was Treganza, Teuscher, Horne und Montazeri bei cpo abliefern auch „zeittypisch“ für die 2020er-Jahre?

Elsie Altmann war die erste Lisa in Kálmáns „Gräfin Mariza“/Wikipedia

All das ändert nichts daran, dass hier eine vollständige Gesamtaufnahme vorliegt, die erste ihrer Art. Muss man dankbar sein, dass sich endlich jemand diese Mühe gemacht hat. Ob diese CD genauso schnell wieder vergessen sein wird, wie die Aufnahme unter Dirigent Uwe Theimer, muss sich zeigen. Das Cover sieht nahezu identisch aus, in beiden Fällen wird das kolorierte Bild vom Octava-Klavierauszug verwendet, auf dem eine kesse Gräfin in Fantasiekostümierung zu sehen ist, die weder bei Theimer noch bei Theis so kess klingt, wie sie auf dem Bild wirkt.

Zum Schluss sei noch eine kleine Nachbemerkung erlaubt: Wenn man meint, in den Dialogen auf das Wort „Zigeuner“ eingehen zu müssen und dieses im Sinn von „Virtue Signaling“ zu problematisieren, dann sollte das intelligenter geschehen als hier von Paul Esperanza („Dialogregie“) vorgeführt. Der Rassismusvorwurf, der hinter der Verwendung des Z-Worts steht, ist wichtig und ernst. Aber dazu wurde vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schon gesagt, dass es lächerlich sei, sich hierüber im Operettenkontext zu streiten, wenn es wichtigere Aspekte der Diskriminierung von Sinti und Roma gibt, die angegangen werden müssten. Und wenn man schon auf Rassismus eingeht (wie beim Bayerischen Rundfunk), dann kann man nicht anschließend die Darsteller mit lächerlich-stereotypem ungarischen Akzent sprechen lassen. Entweder ist man „wach“ für solche Ausgrenzungen und schreibt die Dialoge um (was kaum geht, bei diesem Stück) – oder man steht zum Original und macht etwas daraus. Kevin Clarke