Archiv für den Monat: Juni 2024

Festivals 2024

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Zehn Jahre Donizetti Opera: Das Festival in Bergamo feiert mit Roberto Devereux, Zoraida di Granata und Don Pasquale. Bergamos Donizetti Festival feiert sein zehnjähriges Bestehen. Unter neuer Zeitrechnung und mit dem Titel Donizetti Opera. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man sich in Bergamo unter dem Titel Donizetti Renaissance der unbekannten Werke Donizettis annehmen, ab 1982 nannte sich ein ähnliches Unterfangen Donizetti e il suo tempo und ich kann mich gut an Raritäten wie Sancia di Castiglia und Gemma di Vergy erinnern.

Anders als alle Vorgänger versucht Donizetti Opera neben den philologisch skrupulösen Editionen von Donizettis Werken die gesellschaftliche Relevanz des Komponisten, seine Modernität und Aufgeschlossenheit zu betonen, sowie, laut des künstlerischen Leiters Francesco Micheli, „Donizettis revolutionäre Theatralik mit der Gegenwart verbinden, da wir glauben, dass kein Theater so zeitgemäß, vital und notwendig ist wie das von Donizetti“. Ob das gelungen ist oder gelingen kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall entfach das Festival ein Spektakel, das auf einer Piazza unweit des Opernhauses mit LU OpeRave beginnt, einer in Anlehnung an Lucia di Lammermoor benannten Veranstaltung, in der Donizettis Musik „meets electronics and new trends“. Dazu das obligate Vermittlungsprogramm aus Familien-, Kinder- und Jugendangebot, offenen Proben, Gesprächen und Serien. Die Karten-reservierungen übertrafen die des Vorjahres, Sponsoring und Spenden waren bedeutend. Donizetti ist in der Stadt in aller Munde. Das ist gut so.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Das Programm ist die Mischung, die sich über die letzten Jahre bewährt hat: Das Hauptinteresse liegt dabei auf dem #donizetti200-Projekt, den vor exakt 200 Jahren uraufgeführten Opern Donizettis, also der 1824 in einer zweiten, völlig umgekrempelten Fassung an Roms Teatro Argentina erstmals aufgeführten Zoraida di Granata, deren Uraufführung zwei Jahre zuvor im gleichen Theater erfolgt war. Die Eröffnung bildet der auf mirakulöse Weise wieder international ins Repertoire zurückgekehrte Roberto Devereux, das Glanzstück aus Donizettis Spätphase (Neapel 1837). Zuletzt dann Don Pasquale (Paris 1843), ein Meisterwerk der komischen Oper und Donizettis letztes Werk, das sich dauerhaft im Repertoire behaupten konnte.

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Der Tod tanzt mit. Ein keckes Gerippe, das aus den dunklen Ecken aufraucht und die gleichen Gewänder wie die Königin trägt. Den düsteren Schlusspunkt der im 16. Jahrhundert spielenden Tudor-Kapitel, die Donizetti vom frühen Castello di Kenilworth über Anna Bolena und Maria Stuarda erzählte, bildet Roberto Devereux nach einem Libretto von Salvatore Cammarano. Das Werk entstand in düsterer Zeit, in der Donizettis dritter Sohn die Frühgeburt nur eine Stunde überlebte und seine Frau Virginia kurz darauf starb. Am Ende der Tetralogie bricht Elisabeth I., die bei allen Werken im Hintergrund immer mitgedacht werden muss, nach der Hinrichtung ihres letzten Liebhabers zusammen. Im Vorjahr hatte das Theatre de la Monnaie die Renaissance-Thriller in Anspielung an Elisabeths uneheliche Geburt unter dem Titel Bastarda üppig aufgeputzt und findig auf zwei Abend komprimiert und konzentriert – Elisabeth war die uneheliche Tochter von Heinrich VIII., ihre Mutter war die von Heinrich VIII. zum Tode verurteilte Anne Boleyn, ihre Kusine Maria Stuart. So erfolgreich das Brüsseler Verfahren offenbar war, verbietet sich eine solche Fassung für Bergamo. In Bergamo hatte man zuletzt das erste Auftreten der Elisabeth in Donizettis Schaffen 2018 mit Il Castello di Kenilworth gefeiert, nun also der entsagungsvolle Schlusspunkt mit Roberto Devereux in der kritischen Edition von Julia Lockhart.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Wieder ist Jessica Pratt Elisabeth I. von England, wieder steht der musikalische Leiter des Festivals Riccardo Frizza am Pult, der erklärte Roberto Devereux sei seine Lieblingsoper von Donizetti. Fürs britische Flair ist Stephen Langridge zuständig, der in dieser Zusammenarbeit mit dem Theater in Rovigo mit seiner irischen Kollegin Katie Davenport einen Hauch der elisabethanischen Ära nach Bergamo brachte. Elisabethanisch sind vor allem die steifen Halskrausen des Chores, den wackeren Choristen dell‘Acccademia Teatro alla Scala, die entsprechend ihrer wenig handlungsrelevanten Stichwort-Aufgaben hinter Holzbalustraden zum dekorativen Rahmen verkommen. Für Langridge und Davenport ist Donizettis letzte Elisabeth-Tragödie ein einziges Memento mori, ein szenisches Sinnbild für irdische Vergänglichkeit, wie sie die auf einem Tisch aufgebauten Stillleben inklusive Stundenglas und Totenschädel und die verblühten Blumensträuße an der Rampe symbolisieren. Mehr noch das tanzende Gerippe, das unschwer als Doppelgänger der Königin zu erkennen ist. Immer noch scheint es fleischlichen Gelüsten nicht abgeneigt, umgarn einen jungen Mann, wirft ihn aufs große Bett der Königin und umfasst ihn. Das tanzende Skelett ruft Ekel, Abscheu und Grauen der Königin hervor, die ihr Ende gespiegelt sieht. Es ist ein intimes Stück, das zwischen Elisabeth und ihrem halb so alten Geliebten Leicester spielt, der sich in Sara, die Gattin seines Freundes, des Herzogs von Nottingham, und die engste Vertraute der Königin verliebt hat. Düster und beklemmend ist die Atmosphäre in Westminster und in den Gemächern der Herzogin. Hinter dem Rahmen aus Leuchtröhren, die manchmal blendend aufleuchten und die Handlung einfrieren, entwickelt Frizza das Stück mit dem Orchestra Donizetti Opera akribisch und langsam, verzichtet in der kritischen Edition auf das wirkungsvolle God save the Queen-Zitat, das Donizetti erst ein Jahr nach der Uraufführung in die Sinfonia einbaute, und vertraut auf einen flüsternden, raunenden Ton. Das wirkt rasch etwas spannungslos, vor allem, da man den Eindruck gewinnt, dass die Sänger die lange Anlaufzeit des ersten Aktes zum Einsingen nutzen. Ab dem zweiten Akt gewinnt die Aufführung nach der Pause deutlich an Dramatik. Das liegt auch an Jessica Pratt, deren Sopran für diese Partie vermutlich zu leicht, zu einfarbig und ausdrucksarm ist. Dennoch entwickelt die australische Sopranistin ab dem großen Terzett im zweiten Akt mit Roberto und Nottingham das leidenschaftliche Porträt einer verletzten Frau. Das ist spannend, auch wenn manch Phrasen etwas gewollt und vulgär oder flach und quasi gesprochen geraten, doch insgesamt ist Pratts Stimme von einheitlich sanfter Qualität. Das Finale, die bedeutende „Vivi, ingrato“-Szene und die Aria finale, geraten Pratt packend, erreichen die rechte Mischung aus Atemlosigkeit, Hysterie und Verzicht. Auch John Osborn klingt als Titelheld anfangs etwas verhalten, zeigt sich in seiner großen Szene in der Gefängniszelle aber als der überlegene Stilist und technisch formidable Sänger, der „Come uno spirto angelico“ atemstockend über unendliche Piano-Phrasen langsam zu großer Dramatik steigert. Die kalabrische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci beeindruckt als Sara durch einen hellen, sopranklaren und beweglichen Mezzosopran, Simone Piazzola bringt für den Herzog von Nottingham die Qualitäten eines routinierten Verdi-Baritons mit. Auffallend der litauische Bassbariton Ignas Melnikas, der Elisabeths Vertrauten Raleigh markant bassbaritonales Profil verlieh (15. November 2024).

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Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

Es war ein weiter Weg bis zu diesem musikalisch ausbalancierten und dramaturgisch mustergültigen verdichteten Seelendrama, wie wir am nächsten Abend am Beispiel der modernen Wiederaufführung der Zoraida eindringlich erleben (16. November). Allerdings sind die Dimensionen einer – inklusive Pause – fast 3 ¾ endlose Stunden dauernden Seria auch dazu angetan, den Zuschauer in einen komatösen Zustand zu versetzten. Zoraida di Granata war einer der ersten unangefochtenen Erfolge Donizettis, der sich damit auf dem Gebiet der altmodischen Opera seria profilierte. Das Libretto von Donizettis Mitschüler und späterem Scala-Direktor Bartolomeo Merelli, der Verdi zur Nabucco-Vertonung drängte, basiert auf dem Roman Golzalve de Cordoue, ou Grenade reconquise des Dichters Jean-Pierre Claris de Florian (1755-94), der sich einen Namen durch seine Fabeln machte. Luigi Romanelli (1751-1839) hatte daraus das Libretto für Giuseppe Nicolinis (1762-1842) 1805 an der Mailänder Scala uraufgeführte Abenamet e Zoraide gemacht. Zoraida di Granata beinhaltet die typischen und ermüdenden Seria-Verstrickungen, bei denen sich irgendwann niemand mehr dafür interessiert, ob noch eine Kerkerhaft oder Hinrichtung droht, ob noch ein unerkannter Ritter oder böser Tyrann naht.

Die Handlung spielt im maurisch beherrschten Granada im späten 15. Jahrhundert. Als neuer König von Granada begehrt Almuzir, der den früheren Herrscher gestürzt und getötet hat, dessen Tochter Zoraida zur Frau. Zoraida liebt bereits Abenamet, Almuzirs Generals und Überhaupt des edlen maurischen Geschlechtes der Abencerragen. Almuzir wirft Abenamet zunächst ins Gefängnis, schickt ihn dann aber auf Drängen seiner Anhänger in die Schlacht gegen die Spanier mit dem ausdrücklichen Befehl, die mitgeführte Fahne wieder zurückzubringen. Abenamet siegt, kehrt aber ohne die Fahne des Königreichs nach Granada zurück, worauf ihn Almuzir des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt. Nun kommt Zoraida ins Spiel, die einwilligt Almuzir zu heiraten, wenn er Abenamet am Leben lässt. Nach seiner Freilassung trifft Abenamet nochmals Zoraida und erkennt, welchem Opfer er sein Leben verdankt. Das Treffen wird von Almuzirs Vertrauten Ali belauscht, worauf Zoraida des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt wird, es sei denn ein Ritter kämpfe im Duell für ihre Unschuld. Ein unbekannter Ritter erscheint und trägt die vermisste Fahne mit sich. Er verwundet Ali, der auf Befehl Almuzirs die Fahne ins spanische Lager schmuggelte, um Abenamet zu beschuldigen. Der Fremde ist kein anderer als Abenamet. Das Volk fordert Rache für die Missetat des Königs, doch Abenamet kennt kein süßeres Vergnügen als die Verzeihung und vergibt ihm großmütig, worauf der von dieser noblen Haltung überwältige Almuzir auf Zoraida verzichtet und sich die Freunde versöhnen. Wie stets werden alle Verwicklungen am Ende ganz rasch geklärt und Abenamet kann im finalen Rondo jubilieren, „Da un eccesso di tormento“.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

In der zweiten Fassung versuchte Rossinis Aschenputtel-Librettist Jacopo Ferretti eine Verbesserung des Textes, denn auf Wunsch des Impresarios Giovanni Paterni revidierte Donizetti zwei Jahre später die Oper und erweiterte vor allem die Partie des Abenamet, die von der bedeutenden Rossini-Altistin Rosmunda Pisaroni übernommen wurde. In dieser musikalisch weitgehend neu gefassten Fassung vom 7. Januar 1824 wurde Zoraida di Granata jetzt im Teatro Sociale in Bergamo erstmals wiederaufgeführt. Im Gegensatz dazu hatte das Wexford Festival, mit dem die Koproduktion von Bruno Ravellas Inszenierung zustande kam, die erste Fassung aufgeführt; aus Wexford stammt auch der Almuzir des südkoreanischen Tenors Konu Kim, der 2019 in Bergamo den Leone di Casaldi in L’ange de Nisida. Für beide Fassungen wird die kritische Ausgabe von Edoardo Cavalli benutzt. Stärker noch als in Donizettis frühen komischen Opern drücken die Schablonen der Zeit, ersticken geradezu jeden individuellen Zugriff. Der Ton ist, wenn auch nicht wirklich unverkennbar, schon typisch Donizetti, statt des klassizistischen Ebenmaß eines Rossini, dessen Vorbild einen übermächtigen Schatten wirft, vernimmt man in der orchestralen Verdichtung und Verfeinerung den Klang der Romantik, beispielsweise in Zoraidas süßlich sentimentaler Romanze im zweiten Akt „Rose, che un di spiegaste“, während die Cavatine im ersten Akt kaum über formelhafte Figuren hinausreicht. Dagegen ist der finale Rondo-Jubel des Ritters Abenamet wie eine Fortsetzung von Angelinas „Nacqui all’affanno“. Vermutlich hätten sich Cecilia Molinari und ihr kleiner leichter Mezzosopran in den Cenerentola-Regionen auch wohler gefühlt als in der Rüstung des Ritters, die eine ganz andere vokale Statur und letztlich auch darstellerische Präsenz verlangt. Zusana Markova sang mit sauberem Sopran und stabiler Höhe eine lyrisch verinnerlichte Zoraida, Kanu Kim war mit grell gellendem, fast charaktertenoralem Tenor, dem er Höhen abzwang, mit denen er Maries Tonio Konkurrenz machen könnte, ein finster wütender Almuzir. Der sehr junge Valerio Morelli überraschte in der Bravourarie des Ali zu Beginn des 2. Aktes mit einem gravitätischen Koloraturbass von Format, auf die Arie für die Nebenfigur Ines (Lilla Takács) hätte man gut verzichten können. Alberto Zenardi versuchte mit dem auf Originalinstrumenten spielenden Orchestra Gli Originale einen wachen Klang zu erzeugen, wurde aber von den langen Seccorezitativen ausgebremst. Es sängen die Herren des Coro dell’Accademia Teatro alla Scala. Regisseur Bruno Ravella hat das kriegerische Stück um die muslimischen Mauren in das muslimisch geprägte Sarajewo zur Zeit des Bosnienkrieges verlegt. Genauer in die Vijećnica, in der 1992 während der Belagerung zwei Millionen Bände und Dokumente der Geschichte Bosniens verbrannten. Die Bilder des in diesen Ruinen Cello spielenden Musikers gingen um die Welt. Den im neogotischen, pseudo-maurischen Stil errichteten Bibliotheksraum hat Gary McCann für die zwei Akte der Zoraida di Granata nachempfunden und Daniele Naldi manchmal so interessant beleuchtet, dass die über mehrere Etagen reichenden Säulenreihen und Kreuzgewölbe im Schattenspiel wie von Piranesi entworfen wirkten. Ravella hat das langweilige Geschehen entsprechend langweilig und schmucklos und ohne Bezug zum dekorativen Raum arrangiert. Am Ende – die Vijećnica wurde 2014 wieder rekonstruiert – senkt sich das Glasdach mit den wiederhergestellten bunten Ornamenten über den versöhnten Kriegern herab. Der Applaus für das Melodramma eroico war freundlich.

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Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Don Pasquale“/Szene

Nichts schiefgehen kann bei der letzten Produktion. Don Pasquale ist eine sichere Nummer (17. November). Amélie Niermeyer hat die Tragödie des alternden Mannes 2022 in Dijon, mit dessen Opéra das Dramma buffo koproduziert wurde, geschickt ins Heute geholt und ist den Figuren mit viel Gespür für menschliche Faiblesse auf den Leib gerückt. Die drei Akte spielen vor, neben und hinter Don Pasquales Flachbungalow von Maria-Alice Bahria, wo Pasquale auf der Terrasse vor der großzügig bestückten Bar und zwischen der weitläufigen Sitzlandschaft sportlicher und meditativer Selbstertüchtigung nachgeht und die drei Bediensteten Grünpflanzen abstauben und Getränke servieren. Der unwillige Neffe Ernesto wird aus diesem Paradies vertrieben und kampiert mit seinen Rollkoffern neben den Mülleimern auf der Rückseite des Hauses, wo im Dunkel auch eine Gestalt hockt, die das Trompetensolo zu seiner Arie spielen wird. Auf der anderen Seite hat es sich Norina in der Hoffnung, Ernesto werde seinen Onkel dazu bringen, die Einwilligung zu einer Heirat mit ihr zu geben, in ihrem kleinen roten Auto komfortabel und abrufbereit eingerichtet. In dieser Aufführung ist Norina die Drahtzieherin. Mit ihr und ihren kreischend bunten Freunden stürmen nach der Eheschließung mit Don Pasquale halluzinogene Farben in die saubere Villa der Lego- „Friends“-Welt –. „L‘amore è libero“, „L’amore non ha età“ sowie „L’amore non ha confini“ steht auf ihren Plakaten, womit Donizetti zur Freunde des künstlerischen Leiters einmal mehr seine gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellt. Und mitten drin ein pinker Elefant; man frage nicht, wieso und warum. Nichts wird Norina am Ende aufhalten, sich wieder hinters Steuer zu setzen, auf den gesicherten sozialen Aufstieg zu pfeifen und eine noch bessere Zukunft zu suchen. Niermeyer hat den Freiheitssinn der in grelle und enge Klamotten gewurstelten jungen Frau mit dem großen Herzen schön ausformuliert. Die junge Giulia Mazzola, die bereits in der Arena von Verona die Gilda gesungen hat, ist die rechte Interpretin für das vom benachteiligten Gör zur Ballprinzessin aufgestiegene Aschenputtel mit einem knackigen, reschen Sopran, ausgesprochen quecksilbriger Beweglichkeit, elegant aufblühenden Phrasen und gesanglichem Know-how und Timing, das die Komödie voran- und die Männer vor sich hertreibt. Dieser Sinn für Tempo und Szene fehlt noch dem Mexikaner Iván López-Reynoso, der sich als akkurater Sachwalter schwertat, das Orchestra Donizetti Opera und den Chor der Accademia della Scala zusammenzuhalten. Roberto de Candia ist ein gemütlicher, in sich ruhender Pasquale, der die große Attitüde wie den prägnanten Plappergesang souverän aus dem Ärmel schüttelt. Der Malatesta des Dario Sogos ist ein guter Typ, ein junger Arzt wie aus der Vorabendserie, der vor allem darstellerisch punktet und sich gesanglich noch einiges von dem Alten abschauen kann. Neu übrigens ist in der kritischen Ausgabe von Roger Parker und Gabriele Dotto, deren offizielle Veröffentlichung für 2026 geplant ist, eine erstmals seit 1843 gehörte Passage des Duetts Pasquale/ Malatesta. Den Ernesto singt Javier Camarena noch immer mit sämigem Ton, dessen Goldglanz in der Höhe etwas an Strahl eingebüßt und in der Tiefe an Glanz verloren hat, aber in der Serenata und dem anschließenden Notturno-Duett „Tornami a dir“ hinreichend sinnlichen Pianozauber verströmt. Rolf Fath

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Teatro Regio di Parma: Festival Verdi 2024 mit dem französischen Macbeth sowie La Battaglia di Legnano sowie Un ballo in maschera in Busseto. Hier in Parma können Freunde von CDs und DVDs noch schwelgen. Das Angebot im Foyer des Teatro Regio ist überwältigend. Konzentriert selbstverständlich auf Verdi. Zum Auftakt des diesjährigen Festival Verdi stechen aus heimischer Produktion Macbeth mit Renato Bruson und Ghena Dimitrova ins Auge sowie mit Ludovic Tézier und Silvia Della Benetta. Letzterer als (so annonciert)  World Premiere oft the original 1865 Version for Paris.

Im Pandemie-Jahr 2020 konnten die Aufführungen nur konzertant im Parco Ducale stattfinden, zum Auftakt des diesjährigen Festivals wird der französische Macbeth in szenischer Version nicht einfach nur nachgeholt, sondern erstmals szenisch präsentiert; der italienische Macbeth in der Fassung von 1847 stand zuletzt 2018 auf dem Programm. Wie 2020 dirigiert wieder Roberto Abbado, es spielen und singen die Filarmonia Arturo Toscanini und der Chor des Teatro Regio di Parma. Die Besetzung ist jedoch eine andere. Schön, dass der künstlerische Leiter Alessio Vlad, der im Vorjahr Anna-Maria Meo nachfolgte, die dem Festival zu hohem Aufmerksamkeit verholfen hatte, die französische Rarität nachholt, die sich gut an den französischen Le Trouvère in der Inszenierung von Robert Wilson anfügt. Der fand 2018 im spektakulären Ambiente des Teatro Farnese im Komplex des Palazzo Ducale statt. Auf eine derart einzigartige Lokalität kann Vlad nicht hoffen. Erneut weicht er für konzertante Aufführungen des Attila in das 2022 erstmals vom Festival genutzte Teatro Magnani nach Fidenza aus und selbstverständlich bespielt er mit Un ballo in maschera das Teatro Verdi in Verdis Wohnort Busseto.

Die größte Aufmerksamkeit richtet sich bei so viel braver Hausarbeit auf La Battaglia di Legnano, die in Parma zuletzt 2012 gegeben wurde, doch weltweit eine absolute Rarität geblieben ist. Während die Rarität mit geschicktem Kalkül wieder Valentina Carrasco anvertraut wurde, die vor zwei Jahren mit dem auf den Genueser Schlachthof verlegten Ur-Boccanegra von 1857 aufs Heftigste die Gemüter der Besucher erregt hatte, ging man mit Pierre Audi für Macbeth auf Nummer sicher. Wie die Senioren Pier Luigi Pizzi und Yannis Kokkos, die zuletzt die Eröffnungen betreuten oder die kaum jüngeren Hugo de Ana und Cesare Lievi zuvor, repräsentiert Audi einen zweckdienlichen, altmodischen Theaterstil.

Zum 24-mal findet das Festival Verdi statt, doch erst seit 2007 in der bei Touristen immer noch sehr beliebten Zeit von Mitte September bis Mitte Oktober, in die Verdis Geburtstag am 10. Oktober so praktisch fällt. Dann wird das Teatro Regio zum Zentrum der Stadt. Wobei das Festival seit Jahren weit in die Stadt und die Region reicht und mit einer karnevalsumzugsmäßigen Verdi Street Parade die Sammlung von hunderten Verdi Off-Veranstaltungen und Konzerten eröffnet. Nach den jungen Leuten und den obligaten Tanznummern ist es dann endlich so weit.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Macbeth bedeutete ein Wendepunkt in Verdis Schaffen. Hast und Atemlosigkeit, die das Werk durchdringen, strapazierten auch Verdis Gesundheit. Aufgrund eines extremen Erschöpfungs-Zustandes wurde ihm 1846 eine sechsmonatige Erholungspause verordnet, und im Macbeth-Jahr hatte er noch London mit den Masnadieri und Paris mit den zu Jérusalem umgearbeiteten Lombardi zu versorgen, doch dann ging er achtsamer vor. Es ist bekannt, wie intensiv sich Verdi ein Leben lang mit Shakespeare beschäftigte, den er für den Größten hielt, wie unzufrieden er im Hinblick auf Macbeth mit den Versen von Francesco Maria Piave war, wie intensiv er die Auswahl der Sänger betrieb, wie eingehend er an Details der Inszenierung feilte und mit den beiden Protagonisten arbeitete. Immer noch ein wenig unzufrieden mit dem bei der Uraufführung Erreichten, war das Angebot, das ihm Léon Carvalho im März 1864 aus Paris unterbreitete, nicht unwillkommen. Zu den Veränderungen und Modifikationen, welche die französische Bühne ebenso wie die neue Zeit erforderten, gehörten im Wesentlichen im zweiten Akt der Ersatz der altmodisch effektvollen Cabaletta „Trionfai“ der Lady durch ihren Monolog „La luce langue“ sowie am Ende des dritten Aktes der Ersatz der Macbeth-Cabaletta „Vada in fiamma“ durch das Macbeth-Lady-Duett „Ora di morte“. Dazu gehörten auch die Szene der Erscheinungen und das obligate Ballett im dritten Akt, der Anfang des vierten Aktes sowie auf Carvalhos Wunsch ein Schlusschor anstelle der Sterbearie „Mal per me che m’appressai“ des Macbeth, dessen Tod hinter die Bühne verbannt wird. Sicherlich eine Aufwertung der Lady, deren Schlafwandelszene zu den aufregendsten Momenten der ursprünglichen Fassung gehört und deshalb auch unangetastet blieb. Insgesamt ein Werk, das „wenn nicht zur Hälfte, so doch zu einem guten Drittel neu ist“, wie Verdi Tito Ricordi mitteilte. Die neuen Textpassagen verfasste Piave, wobei auch Strepponi und Verdi tätig wurden. Für Paris wurde alles von Charles Nuitter und Alexandre Beaumont ins Französische übertragen. 1874 gelangte diese Fassung an der Scala erstmals in italienischer Sprache zur Aufführung. Sie hat sich seither durchgesetzt.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene mit Ernesto Petti und Lidia Fridman/Foto Roberto Ricci

Bei den Verdi Festspielen in Parma wurde dieVersione francese, Paris 1865“ jetzt erstmals szenisch gespielt – konzertant, wie erwähnt, zuvor bereits 2020. Pierre Audis Inszenierung ist eine Verlegenheit, wie ich finde, wie es „Theater auf dem Theater“ immer ist, ein eleganter Trick. Natürlich erinnert das Phantastische, Übersinnliche, Geister- und Zauberhafte, das Verdi an Macbeth faszinierte, an Zutaten des französischen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie sie Meyerbeer einsetzte, und die tanzenden Sylphen an die Pariser Opéra, doch Audi bleibt mit seiner Inszenierung in Parma, stellt das  Logenrund des Teatro Regio auf die Bühne, dessen Seitenwände wie im Barocktheater im Handumdrehen Verwandlungen erlauben, so dass die Lady bereits auf die Bühne kommen kann, kaum dass die Hexen ihr Werk verrichtet haben und sich der Theaterraum schnell in eine rote Einheitsszene verwandelt, was die Rastlosigkeit der Handlung betont. Das ist alles richtig, aber auch ein bisschen arm. Alle Akteure sind in schwarzen strengen Kostümen der Zeit gekleidet, die Herren tragen Zylinder (Kostüme: Robby Duiveman). Dann kommt der Bruch mit dem dritten Akt, ab dem, wie wir gesehen haben, Verdi den Großteil seiner Ergänzungen und Änderungen anbrachte. Audi springt ins moderne Musiktheater. Er sprengt das historische Ambiente, bricht es mit irgendwie „modern“ anmutenden Linien. und Gitterwerk auf  (Bühne: Michele Taborelli) und wirft Lady und Macbeth in moderne Gewänder über. Er macht aber dabei so, wie wenn der Macbeth erst ab der Hälfte der große Wurf wäre, der er eigentlich von Anfang an ist, wie Roberto Abbado in seiner peniblen und genauen Leseart darzulegen versucht. Er entwickelt die Story ganz vorsichtig, so als erzähle er sie Unkundigen zum ersten Mal. Tatsächlich klingt vieles sehr neu und frisch, auch stimmungsvoll, wobei Roberto nie die atemstockend nachtschwarze Intensität wie einst Onkel Claudio erreicht. Die Filarmonia Arturo Toscanini scheint nicht ganz mit der gewohnten Klangbreite zu spielen, während der Chor des Teatro Regio nicht nur wegen der betörenden Pianogesängen der Flüchtlinge gefeiert wurde. Lidia Fridmans Lady ist das lebendig gewordene Denkmal einer von Hass und Machtgier zerfressenen Frau, königlich, selbstbewusst und elegant. Mit dem opaken, in der Tiefe dunkel gewichtigen, in den engen Höhen scharfkantigen Sopran übernimmt sie sofort das Zepter, wobei Audi ihrem ersten Auftritt und der Cavatine „L’heure est prochaine“ viel ihrer Wucht nimmt, indem er Macbeth selbst den Brief lesen lässt, in dem die Lady von den Weissagungen erfährt, was in etwa so effektvoll ist, wie wenn Giorgio Gérmont selbst Violetta seinen Brief vorlesen würde und sie somit um das effektvolle Declamato bringen würde. Fridman macht alles sehr überzeugend und gut, doch nicht fesselnd, am besten sicherlich das Brindisi „Par toi, vin généreux“, dessen Feuer sie mit lodernder Brillanz und Kühle erfasst. Der Schlafwandelszene, die Fridman bis zum knappen D gut singt, nimmt Audi wieder viel von ihrer Eindruckskraft, indem er das lange Vorspiel und die Worte zwischen dem Doktor und der Comtesse vor den Vorhang legt und die gesamte Szene viel von ihrer atmosphärischen Magie einbüßt. Es fehlt mir bei der 28jährigen Fridman die Furor und Kraft dieser Figur, auch das stimmliche Durchhaltevermögen. Obwohl diese Fassung alles unternimmt, um die Lady ins Zentrum zu rücken, ist Macbeth die eindringlichste Figur. Ernesto Petti, der mich zuletzt in Stuttgart als Luna nicht wirklich überzeugenden konnte, agiert in Parma viel behutsamer und nachdrücklicher, er singt hier mit leisen und vor allem Zwischentönen und auffallend guter französischer Diktion, gestaltet bezwingende Steigerungen. Die Stimme des 38jährigen Baritons aus Salerno scheint nicht besonders riesig, aber sie packt durch Schönheit und Wärme, sie wird suggestiv eingesetzt, beispielsweise in der Szene mit den Hexen und Erscheinungen im dritten Akt, und obwohl Pettis Macbeths vorerst eine philosophische Dimension noch abzugehen scheint, ist in seinem Monolog im letzten Akt, „Honneurs, respect, tendresse“ großartig. Mit schütterem Bass, aber nobler Linie gab Michele Pertusi den Banquo, Luciano Ganci, dessen grelles Timbre man mögen muss, ist offenbar ein Publikumsliebling und wurde als Macduff nachdrücklich gefeiert. David Astorga, der Tenor aus Costa Rica, war als Macduff ein Gewinn und Rocco Cavalluzzi machte als Médecin nachdrücklich auf sich aufmerksam (26. September 2024).

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„La battaglia di Legnano“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

In keiner Oper hat Verdi sich so dezidiert für die Ideale des Risorgimento stark gemacht wie in La Battaglia in Legnano. Wie setzt man den patriotischen Impetus heute in Szene. Da kapituliert auch die findige Valentina Carrasco. Nach der langen Ouvertüre lässt sie zwischen Rauchwolken in kurzen Videosequenzen in die Augen von Rössern schauen und zeigt durch Matsch stampfende Soldatenbein. Im ersten Akt, mit „Er lebt“, überschrieben, erinnern die Mailänder Bürger und Soldaten des 12. Jahrhunderts stark an die Auseinandersetzungen mit den Habsburgern sechshundert Jahre später. Zu den Opfern der Schlachten und Kriege gehören auch Pferde, die ihren Herren arglos bis in den Tod folgen. Die unwissende Treue der Tiere rührt. Über der Leiche eines Schimmels schwören die Mailänder dem feindlichen Eroberer Rache. Der abgerissene Kopf des Pferdes, den Barbarossa den Stadtvätern von Como entgegenhält und der bis zum Ende der Aufführung auf dem Schlachtfeld liegenbleibt, wird zum Symbol für das zerrissene Land. Entworfen hat die Pferde, von denen zehn als Herde oder nebeneinander aufgereiht die Eyecatcher der Aufführung darstellen, die u.a. als Ronconi-Mitarbeiterin berühmte Margherita Palli. Die Pferde werden gestriegelt, versorgt und gefüttert. Hinter einem Maschendraht schwenkt Carrasco in der Mitte der Aufführung unmerklich aus dem Pseudo-Mittelalter in die Zeit des Ersten Weltkriegs mit den entsprechenden Helmen für die Soldaten und Gasmasken zum Schutz der Pferde.

Von den Opern der Galeerenjahre gehört La Battaglia di Legnano mit der Alzira und dem Oberto vermutlich zu den am selten aufgeführten und unbekanntesten Werken. Immerhin hat es nach 2000, als Domingo an Covent Garden in einer konzertanten Aufführung den Arrigo sang, einige wenige Produktionen in der italienischen Provinz, in Catania, Triest und Piacenza, gegeben; ich erinnere mich an eine von Pizzi hoch pathetisch in Szene gesetzte Produktion mit Mara Zampieri 1983 in Rom, wo die Oper im Januar 1849 auch erstmals über die Bühne gegangen war. Die Battaglia di Legnano ist Ehe- und Dreiecksdrama und patriotisches Gemälde, das den Geist der Aufstände, die seit Januar 1848 von Neapel aus über ganz Italien peitschten und in Mailand die Konfrontation mit den von Radetzky geführten Habsburgern suchten, in der mittelalterlichen Schlacht von Legnano spiegelt, in der Kaiser Barbarossa 1178 der von den lombardischen Städten gebildeten Liga unterlag. Diesem politischen Geist und den Rufen nach einer nationalen Einigung wollte Verdi, der die Ereignisse von Paris aus verfolgte, Rechnung tragen. Seltsam, dass er sich bei der Wahl des Librettos auf Salvatore Cammarano verließ, der ihm seine Inka-Oper Alzira verfasst hatte, die Verdi als „proprio brutta“ abgetan hatte. Cammarano hielt Verdi von einem Rienzi ab und stieß ihn auf die zu napoleonischer Zeit spielende Schlacht von Toulouse des gefälligen Joseph Méry, die er nach Legnano verlegen wollte. Legnano war inzwischen zum nationalen Symbol geworden, das sogar in Geoffredo Mamelis 1847 flugs geschriebenen Fratelli d’Italia Erwähnung gefunden hatte. Also letztlich die richtige Wahl. Am Puls der Zeit. Die Geschichte von dem Mailänder Heerführer Rolando, der im Veroneser Krieger Arrigo seinen totgeglaubten Freund erkennt, der in Gefangenschaft geraten war, und Arrigos einstiger Verlobten Lida, die mittlerweile Rolandos Frau ist, ist als Ehedrama relativ harmlos. Über Lidas Treuebruch ist Arrigo verletzt und schließt sich den Todesrittern an. Lida erfährt davon, bittet ihn um eine letzte Aussprache, die an Rolando verraten wird. Dieser schließt Arrigo im Turmzimmer ein, wodurch der Krieger nicht an der entscheidenden Schlacht teilnehmen kann. Arrigo erträgt diese Schmach nicht und stürzt sich mit dem Schrei „Viva Italia“ aus dem Fenster – Mit „Viva Italia. Ein heiliger Bund vereinigt alle Söhne des Landes“ hatte übrigens bereits der Auftrittschor begonnen. Arrigo überlebt, besiegt Barbarossa, wird aber tödlich verwundet. Diese letzte Begegnung des Arrigo mit seiner einstigen Geliebten findet bei Carrasco im Pferdestall statt, wo Arrigo von dem wütenden Rolando läppischerweise in eine Pferdebox gesperrt wird, aus der er im Handumdrehen entkommt. Der Rest ist ein pathetisches Tableau.

La Battaglia di Legnano hatte einen enormen Erfolg – anfangs musste der letzte Akt bei jeder Aufführung wiederholt werden – doch als Zeugnis einer konkreten Situation schwand ihre Bedeutung und Verbreitung nach 1870, um erst wieder zum 100. Jahrestag der Einigung Italiens 1961 an der Mailänder Scala ausgegraben zu werden. Mir erscheint Battaglia di Legnano wie eine Mischung aus dem Ehedrama Stiffelio und den patriotischen Choropern mit Prozession und Schwurszene („Giuriam d’Italia“) à la Lombardi, Ernani. Jede der drei Hauptfiguren ist bestens versorgt mit Cavatine und Romanze und wechselnden Duetten und Terzetten, die vor allem dem dritten Akt „L’infamia“/ „Die Schande“ eine dichte Struktur geben und nach der Preghiera der Lida in der Gran Scena „Vittoria! Vittoria!“ und dem Hymnus „Per la salvata Italia“/ „Bei der Rettung Italiens“ des sehr kurzen vierten Aktes (mit der Überschrift „Morire per la patria“) gipfeln. Der erst 28jährige Diego Ceretta geht das papierene Werk zu zögerlich an. Da fehlt trotz vieler instrumentaler Details der federnde Sound des frühen Verdi und ein wenig auch der mitreißende Elan seiner Chöre. Vielleicht fühlen sich Chor und Orchester des Teatro Comunale di Bologna auch nicht richtig wohl in Parma. Marina Rebeka war, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als Lida der Mittelpunkt der Aufführung. Etwas kühl, doch mit technisch formidabel geführten Sopran und schönen silbernen Kern sang sie die Stretta ihrer Auftrittsarie mit Strahlkraft, gab den sprunghaften Linien der Lida eine Form und war bewegend in dem Gebet. Antonio Poli gab den Arrigo mit jungmännlichem Draufgängertum, schraubt die Stimme in der ersten Szene mit schmetternder Emphase und fein gehämmerter Diktion in die Höhe, dabei nicht unsensibel im zarten Flirt mit Lida. Zuverlässig, wie stets, zeigte sich Vladimir Stoyanov auch mit reduzierten Mitteln als großer Stilist und sang den Rolando mit weich geschmeidigem Bariton. Neben der prägnanten Arlene Miatto Albeldas als Imelda blieben Riccardo Fassi als Barbarossa, Alessio Verna als Intrigant Marcovaldo, Emil Abdullaiev und Bo Yang als Konsuln von Mailand unauffällig. Verlegener großer Beifall (29. September).

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„Un ballo in maschera“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Verdi war froh, dass sein Ballo in maschera ebenfalls in Rom herauskommen sollte, nachdem ihm die Zensur in Neapel, für das die Oper ursprünglich geschrieben war, so viel Ärger bereitet hatte. Der Erfolg war groß und blieb dem Werk im gesamten 19. Jahrhundert treu und machte es zu einem der beliebtesten in Verdis Werkkanon. Als Fabio Biondi jetzt (27. September) die Aufführung im Teatro Verdi in Busseto dirigierte, war der immense Reichtum dieser Musik zu spüren, ihre Originalität, ihre Tiefe, mit der sie Figuren beschreibt und Situationen einfängt, der Wechsel zwischen Komik und Tragik, nicht zuletzt die Überfülle der Melodien. Der junge Mann neben mir wolle unbedingt wissen, welche mir die liebste aller Verdi Opern sei und bestand darauf, dass der Ballo die bei weitem Schönste sei. Biondi und das Orchestra Giovanile italiana legten mit Schärfe und Präzision die Nerven der Figuren bloß, zeigten die Mechanik der von Scribe ursprünglich eingefädelten Handlung und ihre gnadenlose Stringenz und entfesselten gleichzeitig ein Gesangstheater, das Sänger und Zuhörer im Lauf des Abends mehr und mehr mitriss. Die jungen Sänger, meist so um die 30, brauchten die stimulierende Geste des Dirigenten. Giovanni Sala, der Sänger mit der größten Bühenerfahrung, ist vermutlich kein Verdi-Tenor, dazu fehlt es an Squillo, doch wahrscheinlich ein sehr guter Mozart-Tenor. Die verzierten Passagen des Riccardo lagen ihm sehr schön, er gewann zunehmend auch an dramatischer Überzeugungskraft, an Elan und dunkler Färbung und gestalte die Partie locker tändelnd und packend. In einem größeren Haus würde das nicht so gut funktionieren. Lodovico Filippo Ravizza ist ein Stimmbesitzer, der das Publikum als Renato mit seiner selbstverständlichen Klangfülle im Sturm eroberte, Caterina Marchesini, die sich als Kammerfrau der Lady in Frankfurt demnächst erstmals auf eine deutsche Bühne vortastet und  bereits Liu, Donna Anna und Mimi gesungen hat, ist eine helle energische, etwas unausgewogene Amelia mit schlanker und sehr sicher sitzender Höhe, Licia Piermatteo ein koloraturfeuriger Oscar und Danbi Lee eine dunkel orgelnde Ulrica von Format. Als Opernregisseur ist Daniele Menghini ein Zögling des Festivals, wo er seine ersten Schritte im Rahmen des Verdi Off-Programms machte und Assistent von Graham Vick und Jacopo Spirei war. Für den Tagträumer Riccardo haben Menghini und sein Ausstattet Davide Signorini eine Phantasielandschaft in seiner Bostoner Residenz erschaffen, in der alle Höflinge und Freunde das Spiel des Conte di Warwick und Gouverneurs mitmachen und nur der Richter, Tom und Samuel und sein ihn liebevoll schützender Freund Renato in offizieller Kleidung erscheinen. Das Leben ist ein Fest. Der Gouverneur schlüpft in Verkleidungen, trägt anfangs und am Schluss eine Robe wie eine Tudorkönigin und wirft sich für den Besuch bei der Wahrsagerin behände die Klamotten eines Fischers über. Entsprechend locker und ausschweifend geht es in der Residenz des Gouverneurs mit lasziven Jünglingen und lockenden Gestalten zu, der Thron wird zum Sarg und zum Schädelberg. In diese Mischung aus Grusel- und Horrorkabinett, Geisterbahn und Gothic-Party bringt der abschließende Ballo keinen zusätzlichen Kitzel. Menghinis Inszenierung, die im kommenden Jahr auch nach Bologna zieht, ist eine schwülstig überladene Zustandsbeschreibung, der es an Feinzeichnung fehlt. Rolf Fath

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 35. Musikfest Bremen 2024: Musikalische Sternstunden. Zu den gastierenden Künstlern, die zur Hansestadt eine enge Beziehung haben und seit 30 Jahren immer wieder zurückkommen, um im stimmungsvollen Konzertsaal Die Glocke aufzutreten, gehört Marc Minkowski, Träger des Musikfest-Preises Bremen von 2005. 2018 hatte er mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre Offenbachs Opéra fantastique Les Contes d’Hoffmann zu einem aufregenden Musiktheaterabend gestaltet. In diesem Jahr widmete er sich Johann Strauß und dessen Hauptwerk Die Fledermaus, die vor 150 Jahren in Wien ihre Uraufführung erlebt hatte. Nach seinem irritierenden Hoffmann bei den diesjährigen Salzburger Festspielen erlebte man hier Minkowski at his best. Denn in Bremen stand er nicht vor den Wiener Philharmonikern, sondern vor seinem Orchester, das er 1982 gegründet hatte – den Musiciens du Louvre. Schon die Ouvertüre hatte Schmiss, Walzerseligkeit und eine rasante Steigerung am Schluss, war ein hinreißender Auftakt dieses Abends, der immer wieder Begeisterungsstürme beim Publikum entfachte. Die konzertante Aufführung hatte Witz, Spannung und Tempo – dank einer illustren Besetzung, die mit szenischen Aktionen und mimischen Gesten eine Bühnenatmosphäre zu suggerieren vermochte. Minkowski wartete nach dem schwelgerisch ausgebreiteten Ensemble „Brüderlein und Schwesterlein“ mit einer veritablen Überraschung auf, dirigierte als Einlage die „Russische Marsch-Fantasie“ von Strauß – eine Komposition von straffem Duktus und geballter Energie Und danach ließ er es sich natürlich nicht nehmen, auch die Polka „Unter Donner und Blitz“ zu bringen und dabei ein Feuerwerk an zündenden Klängen zu entfachen.

In Bremen: „Die „Fledermaus“/ Marc Minkowski,_Alina Wunderlin, Rachel Willis-Sørensen, Christoph Filler/ Foto ©Patric Leo

In der Besetzung gab es gesanglich keinen Schwachpunkt, lediglich die Wortverständlichkeit bei den gesprochenen Dialogen müsste bei einigen Interpreten verbessert werden. Dominierend war Rachel Willis-Sørensen als Rosalinde mit einem prunkenden Sopran von betörendem Timbre und satter Fülle. Hinreißend ihr Auftritt im 2. Akt mit einer silbern glitzernden, wie auf den Leib gegossenen Robe – das perfekte Outfit für ihre Darbietung des Csárdás, der vor Temperament sprühte und mit seiner Sinnlichkeit Aufsehen erregte. Sie leitete mit ihrem dominierenden Sopran auch das Schluss-Ensemble „Champagner hat´s verschuldet“ ein, dem der euphorische Beifall des Publikums folgte, was mit einem Da capo der Polka belohnt wurde. Ein stimmiger Kontrast zu ihr war Alina Wunderlin als quirlige Adele, die für ihre Couplets gefeiert wurde, die sie munter und koloraturgewandt servierte und mit Extremtönen schmückte. Glänzend der österreichische Bariton Christoph Filler als Eisenstein mit substanzreicher Stimme und einnehmender szenischer Präsenz. Ein Versprechen für die Zukunft gab der junge deutsche Tenor Magnus Dietrich ab. Sein Alfred strahlte in der Höhe, gefiel mit lebendigem Spiel und hatte auch keine Probleme, aus seiner Gefängniszelle Passagen des Lohengrin und Cavaradossi zu schmettern. Für Marina Viotti, die wegen eines Unfalls absagen musste, übernahm Annelie Sophie Müller den Orlofsky. Der strenge, androgyne Mezzo mit ordinären tiefen Tönen gab der Rolle en travestie glaubhaftes Profil. Dominic Sedgwick mit schmeichelndem Bariton als Dr. Falke, Michael Kraus mit autoritärem Bariton als Gefängnisdirektor Frank und der Wiener Manfred Schwaiger als Frosch ergänzten hochrangig die Besetzung (6. 9. 2024).

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In Bremen: „Missa Solemnis“/René Jacobs, B’Rock Orchestra, Zürcher Sing-Akademie/ Foto (c) Joshua Krüger

Auch in diesem Jahr war das Musikfest wieder zu Gast in Orten der Umgebung, bespielte Kirchen, Schlösser und Museen, so am 5. 9. 2024 den prachtvollen Dom zu Verden an der Aller. Unter Leitung von René Jacobs erklang Beethovens Spätwerk Missa solemnis D-Dur op. 123. Der Dirigent, ist mit dem Werk, das er 2021 für harmonia mundi auch einspielte, eng vertraut, bot mit dem B´Rock Orchestra eine Interpretation von erhabener Größe, die sich bereits bei den ersten Takten des Kyrie ankündigte. Jacobs reizte die dynamischen Kontraste der Komposition bis zum Äußersten aus, betonte die Modernität der Musik, ihre avantgardistische Kühnheit. Der Einbruch des Chaos am Ende des Agnus Dei, wenn donnernde Fanfaren und Pauken eine kriegerische Atmosphäre suggerieren, war  dafür ein treffliches Beispiel. Links und rechts neben dem Orchester war der geteilte Chor der Zürcher Sing-Akademie aufgestellt, womit eine enorme Klangfülle erzielt wurde. Machtvoll ertönte der Jubel im Gloria, gewaltig das Credo – eine Chorvereinigung der Sonderklasse.

Exzellent das Solistenquartett, angeführt von der Norwegerin Birgitte Christensen mit leuchtendem, auch in der Extremhöhe unangefochtenem Sopran. Mit herbem, doch potentem Mezzo kontrastierte Sophie Harmsen, obertonreich klang der Tenor von Thomas Walker und beschwörend der Bariton von Johannes Weisser in seinem Solo zu Beginn des Agnus Dei. Mit der „Bitte um innern und äussern Frieden“ (Beethoven) endete‚ das Werk. Nach gebührender Ergriffenheit des Publikums gab es Ovationen für alle Mitwirkenden, besonders für René Jacobs, der nach dem Konzert im Domherrenhaus zu Verden den Musikfest-Preis Bremen 2024 empfing. Bernd Hoppe

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Salzburger Festspiele 2024: Morde aller Arten. Es ist eine lieb gewordene Tradition bei den Salzburger Festspielen, dass eine Produktion der Pfingstfestspiele in das Sommerprogramm übernommen wird. Cecilia Bartoli kann dadurch ihre Interpretation beim Pfingstfestival im Sommer wiederholen und vielleicht vertiefen. In diesem Jahr gab sie im Haus für Mozart ihr szenisches Debüt als Sesto in Mozarts La Clemenza di Tito – ein wenig spät, möchte man meinen, doch die Aufführung am 13. August 2024 bewies, dass ihre szenische Präsenz und das darstellerische Engagement noch immer genügend stark sind, um eine Figur glaubhaft zu vermitteln.

Daniel Behle sang den Tito in Salzburg 2024/Foto Marco Borelli

Dabei muss sie in dieser Inszenierung von Robert Carsen gar keinen pubertierenden Jüngling abgeben, denn der Regisseur behauptet in einem Einführungstext im Programmbuch, dass man in einer Zeit der Gendervielfalt Sesto und Annio nicht mehr als Hosenrollen behandeln könne. Beide sind nun als Frauen geführt, was zu zwei Paaren mit homoerotischen Neigungen führt. Ausstatter Gideon Davey freilich kleidet sie in Anzüge, was doch optisch dem klassischen Modell der Hosenrollen entspricht. Das Rezitativ vor „Parto, parto“ gestaltete Bartoli mit expressivem Furor, die große Aria selbst mit dunklem, gutturalem Ton und leidenschaftlicher Empathie. Noch immer funktionieren die Koloraturläufe perfekt, wie auch im Rondò „Deh, per questo istante solo“ zu vernehmen war. Dessen Schlussteil formulierte sie in höchster Erregung zu einem packenden Moment der Aufführung.

Die Inszenierung siedelt Carsen ganz im Heute an, was zum einem im Bühnenbild sichtbar wird, das einen grauen Sitzungssaal mit Schreibtischen, Fernsehmonitoren und Fahnen zeigt, von ihm und Peter Van Praet kalt ausgeleuchtet. Politiker im Business-Look mit Laptops und Smartphonen agieren geschäftig bis hektisch. Nach dem Brandanschlag auf das römische Kapitol zeigt die Szene ein Bild der Verwüstung. Unnötigerweise blendet Thomas Achitz noch aktuelle Videoaufnahmen vom Sturm auf das Gebäude in Washington ein. Schließlich verweist auch die Darstellung der Vitellia als Ebenbild von Giorgia Meloni auf heutiges Zeitgeschehen. Die französische Sopranistin Alexandra Marcellier singt sie mit Entschlossenheit und Nachdruck, steigert sich in ihrem Rondò „Non più di fiori“ zu großer Form mit durchschlagenden Spitzentönen und gefährlich-hintergründigem Ausdruck. Da der Regisseur das lieto fine des Werkes nicht umsetzen wollte, ist sie am Ende die Gewinnerin. Nach dem infamen Mord an Tito sitzt sie siegesbewusst auf dem Regierungssessel.

„La Clemenza di Tito“ in Salzburg 2024/Szene/Foto Marco Borelli

Glaubhaft und sympathisch besetzt ist das junge Paar mit Anna Tetruashvili als Annio und Melissa Petit als Servilia. Die israelische Mezzosopranistin lässt eine jugendliche Stimme von schöner Substanz und reizvollem Timbre hören. Die französische Sopranistin kann mit leuchtenden Tönen in ihrer Aria „S`altro che lagrime“ gegen Ende ds 2. Aktes gefallen. Prachtvolle tiefe Klänge mit imponierender Autorität bringt Ildebrando D´Arcangelo als Publio ein. Mit jedem noch so kurzen rezitativischen Einwurf zog er alle Aufmerksamkeit auf sich.

Die Aufführung adelte Daniel Behle als Titelheld mit idiomatischem, makellos geführtem Tenor. Die in ihrer Prägung sehr unterschiedlichen Arien absolvierte er souverän – „Del più sublime soglio“ mit bestechender Kultur, „Ah, se fosse intorno al trono“ mit viriler Attacke und glanzvollen eingelegten Spitzennoten, „Se all´impero“ mit beherztem Entschluss und perfekter Koloratur. Der Chor Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) sang klangvoll und engagiert. Das Orchester Les Musiciens du Prince – Monaco musizierte unter Gianluca Capuano mit Verve und Dramatik – von der martialischen Aggressivität in der Ouverture über die kühnen Dissonanzen beim Anschlag auf den kaiserlichen Palast bis zum furiosen Finale – eine Interpretation voller Sturm und Drang, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

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Traditionell gibt es in jedem Jahr auch konzertante Opernaufführungen, welche sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen wegen der oft selten zu hörenden Werke und der stets hochkarätigen Besetzungen. Eine solche war am 19. August 2024 in der Felsenreitschule bei Ambroise Thomas´ Oper Hamlet zu erleben. In der Titelrolle bewies der französische Bariton Stéphane Degout seinen Ausnahmerang in diesem Repertoire Sein Prinz war gezeichnet von grüblerischer Neurotik, meditativem Nachsinnen, existentieller Zerrissenheit und vehementen Ausbrüchen bis zur Raserei. Sein eloquenter, absolut idiomatischer Gesang mit einer prachtvollen, prägnant artikulierenden Stimme gipfelte im schwungvollen Trinklied („Ô vin, dissipe la tristesse“), der packenden Schilderung des Mordes und im Monolog „Être ou ne pas être“. Neben ihm glänzte die Amerikanerin Lisette Oropesa in der Bravourpartie der Ophélie. Längst kein Geheimtipp mehr, ist sie heute Star auf den Bühnen der Welt. Ihr melancholisch getönter Sopran mit flutenden hohen Tönen und herrlichen Steigerungen sorgte in der berühmten Wahnsinnsszene für eine mirakulöse Sternstunde. Barfuß mit entrücktem Blick und tieftraurigem Ausdruck ließ sie keinen Moment die Szene vermissen. Ihr makelloser Gesang mit perfekten Trillern und staccati, mit sicheren Tönen bis in die Extremlage endete in Verklärung, im Saal mit Jubelstürmen.

Ève-Maud Hubeaux sang die Königin Gertrude im „Hamlet“ in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Ein differenziertes Porträt von Hamlets Mutter Gertrude gab Ève-Maud Hubeaux. In herrscherlicher Attitüde der Königin, aber auch zerrissen als Mitschuldige am Tod ihres Gatten,  faszinierte sie mit expressivem Vortrag ihres streng vibrierenden Mezzos. Spannend gestaltete sich die erregte Auseinandersetzung mit ihrem Sohn, in der sie mit dramatischer Vehemenz aufwartete. Jean Teitgen als König Claudius und Jerzy Butryn sorgten für profunde Basstöne, die von Clive Bayley als Spectre aus den Arkaden klangen gebührend fahl. Unbedingt erwähnenswert der französische Tenor Julien Henric als Laerte wegen seiner potenten Stimme und dem nachdrücklichen Vortrag.

Stéphane Degout sang den Hamlet in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Der Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh) imponierte schon  im machtvollen Eingangschor, dann im großen Ensemble am Ende des 2. Aktes und im ergreifenden Finale der Oper. Bertrand de Billy ist ein Spezialist in diesem Genre, was er mit dem Mozarteum Orchester Salzburg einmal mehr bewies. Die Verve der Eingangsszene, das schwermütige Motiv bei Hamlets erstem Auftritt, die düsteren Stimmungen in der Szene mit dem Geist von Hamlets Vater, die festlichen Rhythmen beim abendlichen Fest – den ganzen Reichtum der Musik brachte der Dirigent zum Klingen. Im diesjährigen Gesamtkonzept der Festspiele überraschte diese Werkwahl zwar, doch erwies sie sich – gemessen an den langen stehenden Ovationen des Publikums – als ein Geschenk.

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Morde aller Arten (2): Eine der zentralen Neuproduktionen des Festspielsommers war die Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Oper Der Idiot in der Regie von Krzysztof Warlikowski in der Felsenreitschule. Der Pole, Stammgast in Salzburg, sorgte in der Vergangenheit für diverse Eindrücke an der Salzach. Mit dieser Arbeit gelang ihm ein durchschlagender Erfolg, weil er sich mit manieristischen Eigenwilligkeiten zurücknahm, sich ganz auf die Titelfigur, Fürst Myschkin, konzentrierte, der sich wegen seines naiven Charakters, seines Glaubens an das Gute im Menschen in der verlogenen Gesellschaft von St. Petersburg fremd fühlt. Der polnische Komponist vertonte 1986/87 das Libretto von Alexander Medwedew nach Fjodor Dostojewskis Roman, 1991 wurde das Werk in einer Kammerversion in Moskau uraufgeführt. Erst 2013 folgte die erste szenische Realisierung der kompletten Fassung in Mannheim, die der 1996 verstorbene Komponist nicht mehr erlebte.

Szene aus Weinbergs „Idiot“/ Foto Bernd Uhlig

Ausstatterin Malgorzata Szczesniak, regelmäßige Mitstreiterin des Regisseurs, verwandelte die archaische Felsenreitschule in einen holzgetäfelten Raum mit einer roten Sitzgruppe auf der rechten Seite, die als Zugabteil fungiert, wo Myschkin auf der Heimreise aus einem Sanatorium in der Schweiz Ragoschin und Lebedjew kennenlernt. Ersterer erzählt ihm von seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu der unter schlechtem Ruf stehenden Nastassja, Letzterer entpuppt sich in Folge als Kommentator der Geschichte. Ragoschins und Nastassjas Welt ist in einer kleinen Kammer zur Linken angesiedelt, die mit Ikonen und Folklore-Stickerei geschmückt und von einem Schleiervorhang verschlossen ist. In der Mitte befinden sich eine Projektionsfläche und eine Wandtafel, auf der vorüberziehende Landschaften (während Myschkins Zugreise) sowie Formeln von Einstein und Newton zu sehen sind. Der Regisseur deutet den Titelhelden auch als Wissenschaftler von vergeistigter, zarter Natur und Bogdan Volkov gelingt eine ideale Verkörperung dieser Figur. Er zeichnet einen Träumer, einen Idealisten, der nicht an das Böse im Menschen glaubt – der Regisseur sieht in ihm gar eine Christus-Figur. Beklemmend ist die Darstellung des epileptischen Anfalls im 3. Akt mit schonungsloser naturalistischer Deutlichkeit. Sein lyrischer Tenor mit potenter hoher Lage hält allen Anforderungen des groß besetzten Orchesters stand – insgesamt eine festspielwürdige Leistung. Myschkin steht emotional zwischen zwei Frauen – Ragoschins Geliebte Nastassia, die er glaubt retten zu müssen, und Aglaja, eine der drei unverheirateten Töchter der verwandten Familie Jepantschin. In ersterer Partie errang Ausrine Stundyte nach ihrer gefeierten Salzburger Elektra einen weiteren großen Erfolg. Der durchschlagende dramatische Sopran der litauischen Sängerin meistert die hohen vokalen Anforderungen staunenswert und darstellerisch zeichnet sie die Figur plastisch im Konflikt zwischen ihrer seelischen Verletzlichkeit und der leidenschaftlichen Natur. Szczesniak hat sie mondän gewandet bis zu einem rosa Ensemble aus Seide, Federn und Pelz. Die australische Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas gibt die Aglaja mit hellem Mezzo als emanzipierte junge Frau. Entsprechend vehement gestaltete sich ihre Konfrontation mit Myschkin im 3. Akt nach ihrem eher schlichten Lied vom „Armen Ritter“. Am Ende tötet Ragoschin Nasstassja und legt sich gemeinsam mit Myschkin auf ihr Totenbett – eine intime Szene der besonderen Art. Vladislav Sulimsky singt ihn mit markigem Bariton und zeichnet ihn als düstere, hintergründige Figur. Auch die mittleren Rollen  sind glänzend besetzt – mit dem ukrainischen Bariton Iurii Samoilov als skurrilem Lebedjew, dem Tenor Pavol Breslik als Ganja und  Margarita Nekrasova mit sattem Alt als Jepantschina.

Die litauische Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla, erfahren mit Weinbergs Musik durch die Leitung der Passagierin am Teatro Real Madrid und die Einspielung von Werken des Komponisten, dirigiert die Wiener Philharmoniker mit großem Gespür für die reichen Facetten der Musik – ihre schneidenden Akzente, die nervösen Passagen und die zarten Lyrismen. Die Aufführung am 15. August 2024 wurde mit Ovationen bedacht – ungewöhnlich bei einem so unbekannten Werk, aber ein deutliches Zeichen für die Qualität der Aufführung.

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Mit Spannung erwartet wurde die letzte szenische Neuproduktion der diesjährigen Festspiele – Offenbachs Les Contes d´Hoffmann im Großen Festspielhaus, hatte es bei den Festspielen doch schon gefeierte Inszenierungen mit Plácido Domingo und Neil Shicoff gegeben. Der neue Titelheld Benjamin Bernheim ist ein exemplarischer Interpret im französischen Repertoire mit feinem, kultiviertem Tenor und idiomatischem Gebrauch der voix mixte. Die lyrische Stimme wirkt freilich in der Mittellage etwas schmal und kommt im Giulietta-Akt, besonders im Duett mit der Kurtisane, deutlich an ihre Grenzen. Als Ärgernis hat die französische Regisseurin Mariame Clément den Dichter zu einem Filmproduzenten gemacht, der seine drei Liebesgeschichten verfilmt. Nervend sind seine permanenten Anweisungen für die Akteure, seine genervten Reaktionen auf deren Unvermögen, seine Ideen umzusetzen. Ausstatterin Julia Hansen hat auf die Bühne ein Filmstudio mit Gerüsten und einer hohen schäbigen Wand gestellt. Hoffmann in Jeans und Blouson liegt alkoholisiert unter einem Einkaufswagen, in dem sich Filmrollen und Kameras befinden. Aus einer Mülltonne steigt die Muse, die Hoffmann als Nicklausse begleitet und ihn am Ende aus seiner Depression befreit. Kate Lindsey singt die Doppelrolle mit schmalem Mezzo von unsinnlichem, jaulendem Klang. Erst das Chanson „C´est l´ amour“ erklingt in schönem Fluss.

Salzburger Festspiele 2024/ Jacques Offenbach /“Les Contes d‘ Hoffmann“/Foto Monika Rittershaus

Hoffmanns erster Film kreist um die Puppe Olympia, die als Barbarella mit blonden Zöpfen und Schulranzen im Schottenröckchen dargestellt ist. Unter ihrer Bluse verbirgt sich ein Bustier von silbernem Metall, was der Figur einen Sciene-Fiction-Anstrich gibt. Die amerikanische Sopranistin Kathryn Lewek brilliert in dieser Partie vor allem mit virtuosen staccati und Tönen bis in die Extremhöhe.

Als Antonia in einem Biedermeier-Salon mit Treppenaufgang und Damenporträts an der tapezierten Wand überrascht sie mit zarter Lyrik und innigem Ausdruck.  Im Duett mit ihr wechselt Hoffmann vom Regisseur zum Darsteller des Liebhabers. In dieser Doppelfunktion ist er immer wieder zu sehen, was die Grundidee der Regisseurin in Frage stellt. Überraschend lässt sie am Ende des Antonia-Aktes nicht die Sängerin sterben, sondern Hoffmann nahe einem Herzinfarkt in den Armen von Nicklausse zusammenbrechen. Stimmig inszeniert ist der Gesang von Antonias Mutter, den spontan eine Regie-Assistentin (Géraldine Chauvet) übernimmt. während ihr Gemälde an der Wand aufleuchtet. Marc Mauillon in den vier Charakterpartien tönt hier als tuntiger Frantz nach pointiertem Beginn penetrant.

Nichts von venezianischer Pracht ist im Giulietta-Akt zu sehen, stattdessen die Rückseite der hohen Wand, versehen mit Neonröhren. Korrespondierend unerotisch klingt die Barcarolle zwischen Nicklausse und Giulietta. Dabei sorgt Lewek mit dem später voller Raffinement und vokaler Brillanz vorgetragenen Chanson „L´amour lui dit“ aus der Fassung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck für ein musikalisches Glanzlicht. In diesem Akt bringen herum geisternde Statisten mit Riesenaugen einen surrealistischen Effekt ein, während Christian Van Horn, der alle vier Bösewichte gibt, als Dr. Miracle und Dapertutto mit Hörnern und Schwanz ein konventionelles Mephisto-Klischee abgeben muss. Der amerikanische Bassbariton singt eine andere Fassung der „Diamanten“-Arie, seiner Stimme fehlen die dämonische Färbung und die Wandelbarkeit für die verschiedenen Charaktere. Im Duell tötet Hoffmann Schlemil (Philippe-Nicolas Martin) und trifft statt Giulietta, von der er sich betrogen sieht, noch ihren Vertrauten Pitichinaccio. Zuletzt sieht man ihn wieder an seinem Einkaufswagen, aber zum Glück sorgt die Muse für keinen so tristen Ausgang der Geschichte.

Wie Mariame Clément enttäuscht auch Marc Minkowski, dem es mit den Wiener Philharmonikern nicht gelingt, den Esprit der Musik einzufangen und eigene Akzente zu setzen. Mit seinen Musiciens du Louvre und in einem kleineren Haus hätte er wohl ganz anderer Klänge hören lassen. Ein großes Ensemble („Nur die Liebe macht uns groß“) beschließt die Inszenierung, die bei der Premiere noch umstritten war, am 21. August 2024 aber begeistert aufgenommen wurde. Bernd Hoppe

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Fanbo und Pesaro. Il Bel Canto Ritrovato 2024 (über das wir in operalounge anlässlich der Gründung berichteten): Highlights von Lauro Rossi und Nicola Vaccaj. Das Opernfestival Il Bel Canto Ritrovato (IBR), das nun schon zum dritten Mal stattfindet, folgte auch in diesem Jahr dem Rossini Opera Festival in Pesaro und Umgebung. Das ROF schloss seine Pforten mit einer konzertanten Aufführung von Il viaggio a Reims am 23. August, und das IBR wurde am nächsten Abend im nahe gelegenen Fano mit Lauro Rossis Oper La casa disabitata eröffnet . In diesem Jahr stehen zwei Komponisten aus den Marken auf dem Programm, die beide eine enge Beziehung zu Pesaro haben: Lauro Rossi, der im nahe gelegenen Macerata geboren wurde, und Nicolai Vaccaj, der in Tolentino geboren wurde, aber lange Zeit in Pesaro lebte, wo sein Haus noch immer steht, nur einen Häuserblock von der Casa Rossini entfernt. Das Festival umfasste zwei Hauptveranstaltungen: eine szenische Aufführung von Rossis Oper im Teatro della Fortuna in Fano am 24. August und ein Vokalkonzert mit Orchester mit Auszügen aus längst vergessenen Vaccaj-Opern im Teatro Rossini in Pesaro am 25. August.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Auch andere Veranstaltungen standen auf dem Programm: „Il Buffo all’Opera“, ein interessantes Konzert mit komischen Stücken aus Opern von Rossi, Ricci und anderen aus dieser Zeit, das in Urbino und später in Pesaro aufgeführt wurde, und „I Marchigiani alla Scala“ mit Auszügen aus Opern von märkischen Komponisten (Federico, Vaccaj, Rossi, Nini, Rossini und Salieri) in der Scala. Kurze Konzerte auf den Balkonen der Casa Rossini und der Casa Vaccaj sowie wissenschaftliche Vorträge über die Komponisten waren ebenfalls Teil des Festivals.

Zu seiner Zeit galt La casa disabitata als das Meisterwerk von Lauro Rossi. Der in Macerata geborene Rossi (1810-1885) hatte 1829 kurz nach Abschluss seines Studiums in Neapel debütiert und bereits zehn Opern komponiert, als La casa disabitata am 16. August 1834 nach einem Libretto von Jacopo Ferretti an der Scala uraufgeführt wurde. Es war ein großer Erfolg und Rossi überarbeitete es etwa zehn Jahre später unter dem Titel I falsi monetari für Aufführungen in Turin. Die Oper war viele Jahre lang weit verbreitet, bis nach Spanien und sogar nach Mexiko, wo sie von einer von Rossi selbst geleiteten Truppe aufgeführt wurde. Es war die von Damiano Cerutti herausgegebene Fassung von 1844, die zum ersten Mal in der Neuzeit in Fano wiederaufgeführt wurde, obwohl man sich für den ursprünglichen Titel La casa disabitata „ ( Das unbewohnte Haus“) entschied, da dieser Begriff für die Handlung zentraler ist als der andere Titel Die Fälscher“.

Lauro Rossis Oper „La casa disabitata“ beim IBR 2024 in Fano/ Foto IBR

Ferrettis Handlung für La casa disabitata geht weit zurück, bis hin zu Plautus‘ altrömischer Komödie Mostellaria, in der der schlaue Sklave Tranio den Besitzer eines Hauses davon überzeugt, dass es in dem Gebäude spukt, damit Tranios Herr darin ungestört eine Affäre mit seiner Freundin haben kann. In Ferettis Libretto, das direkt auf einem Theaterstück von Giovanni Giraud (Rom, 1808) basiert, geht es um einen wohlhabenden Spanier, Don Raimondo Lopez, der sechs Jahre zuvor sein Haus auf der Suche nach seiner Geliebten Annetta verlassen hat, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Während er auf der Suche nach ihr war, wurde das Haus von einer Bande von Fälschern übernommen, die von Don Isidoro angeführt wird, der auch Raimondos wichtigster Domo ist. Isidoro hat Annetta entführt und hält sie im Haus gefangen, um sie dazu zu bringen, ihn zu lieben, da er sich in sie verliebt hat. Um die Neugierigen fernzuhalten, haben Isidoro und seine Männer verbreitet, dass es in dem Haus spukt. Raimondo kehrt von seiner Suche zurück und findet Don Eutichio und seine Frau Sinforosa auf dem Marktplatz neben dem Haus. Eutichio ist ein verarmter Dichter/Librettist, der gerade zusammen mit Sinforosa aus seiner Wohnung geworfen wurde, weil er die Miete nicht zahlen kann. Raimondo bietet sein Haus mietfrei für jeden an, der dort wohnen kann. Eutichio beschließt, das Angebot anzunehmen, trotz des schaurigen Rufs und obwohl seine eifersüchtige (und ältere) Frau vermutet, dass er das Haus für eine Affäre mit einem Mädchen nutzen will.

Im 2. Akt befindet sich Eutichio im Haus, als Mitternacht naht. Die als Gespenster und Dämonen verkleideten Fälscher quälen ihn, bis er schließlich vor Angst zusammenbricht. Annetta, der es endlich gelungen ist, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, betritt das Zimmer und weckt versehentlich Eutichio, der sie für ein Gespenst hält. Sie hat ihn gerade davon überzeugt, dass sie aus Fleisch und Blut ist, als Sinforosa hereinplatzt; sie glaubt, dass Eutichio und Annetta eine Affäre haben, und es kommt zu einem Zickenkrieg zwischen den beiden Frauen. Isidoro kommt als Geist verkleidet herein und wird von Eutichio erschossen. Raimondo, der schon die ganze Zeit ruchlose Machenschaften vermutet hat, trifft ein und sieht seine geliebte Annetta. Am Ende wird alles gut: Die „Geister“ werden entlarvt, Annetta und Raimondo werden vereint und Eutichio und Sinforosa versöhnen sich.

Die Musik ist ein wahrer Strom von eingängigen, italienischen Melodien. Isodoro und Annetta singen in der Eröffnungsszene beide Romanzen, er sanft („Amo sprezzato, ed ardo“), sie trotzig („Aprirò fra voi la scuola“). In der nächsten Szene ist ein Marktchor mitreißend und Raimondo hat eine brillante Arie mit Cabaletta. Eutichio und Sinforosa stellen sich in einem komischen Duett vor, gefolgt von einem Quartett. Annetta singt in ihrem Gefängnis eine unwiderstehliche „Canzone alla spagnola“, gefolgt von einem lebhaften Duett mit Isidoro, bevor das große Concertato-Finale des 1. Im 2. Akt gibt es ein großartiges Duett zwischen dem misstrauischen Raimondo und dem verräterischen Isidoro, gefolgt von einer langen, lustigen Szene und Arie für Eutichio, der versucht, sein Libretto für einen neuen Don Giovanni nach „modernem“ Geschmack zu überarbeiten und dabei von den „Geistern“ gequält wird. Ein lustiges Duett mit der entflohenen Annetta wird zum Trio, als Sinforosa auftaucht, voller Eifersucht und Bosheit, und alles endet mit dem fröhlichen Finaletto. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses fröhliche Finale aus der Partitur von 1834 oder aus der Revision von 1844 stammt, aber es klingt sehr nach dem Finale von Don Pasquale (1843). Zufall? Eine Reminiszenz?

Der Chor hat in dieser Oper viel zu tun und die verschiedenen Ensembles sind noch köstlicher als die Soli, die Orchestrierung ist solide und interessant. Klingt es nach jemand anderem? Nicht wie Rossini, gelegentlich wie Donizetti, aber es ist wahrscheinlich sicherer zu sagen, dass Rossi und Donizetti in diesem Stadium ihrer Karriere wie der jeweils andere klingen. Rossi hat jedoch seine eigene Stimme, die eher der neapolitanischen Popoloresco-Seite Donizettis ähnelt, als seiner eher formalen Stimme. Diejenigen, die die CD-Aufnahme von Rossis Il domino nero gehört haben, werden wissen, was ich meine. Rossis Musik hat sich sicherlich mit der Zeit entwickelt, wie Aufführungen seiner späten Cleopatra (1876) in dem nach ihm benannten Theater in Macerata vor einigen Jahren gezeigt haben. Aber es ist sein Hang zur Komödie und zur eingängigen Melodie, den wir hier haben, und wahrscheinlich auch in einigen anderen komischen Opern dieser Zeit wie Dottor Bobolo, o la fiera (1847) – eine Oper, die ich gerne aufgeführt sehen würde.

Die IBR-Produktion in Fano war aus musikalischer Sicht erstaunlich gut. Enrico Lombardi leitete das Orchestra Sinfonica G. Rossini mit absoluter Klarheit und Prägnanz in einer völlig unbekannten Partitur, für die das Orchester (und der Chor), die im Rahmen des Rossini-Festivals intensiv an Opern gearbeitet hatten, nur wenig Zeit zum Einstudieren hatten. Mirca Rosciani, die Chordirektorin, verdient ein ebenso großes Lob, denn diese Oper enthält viel Chormusik. Obwohl spezielle Fernsehmonitore aufgestellt wurden, um dem überlasteten Chor zu helfen, sich an seinen Text zu erinnern, schienen sie dies nicht zu brauchen und spielten und sangen als Dorfbewohner, Fälscher, „Geister“ und „Dämonen“.

Pressevorstellung des Festivals IBR 2024/IBR

Auch die Hauptsängerinnen und -sänger leisteten Außergewöhnliches bei der Aufführung dieser unbekannten Musik. Tamar Ugrekhelidze zeigte einen attraktiven Mezzosopran, besonders in den spanischen Rhythmen ihrer „Canzone alla Spagnolo“ im ersten Akt, und Vittoriana De Amicis hatte einen präzisen und brillanten Koloratursopran für die Sinforosa, obwohl sie Jahrzehnte jünger aussah (und ist), als die Sinforosa eigentlich sein sollte. Jennifer Turri war eine kecke Ines, mehr oder weniger die Leadsängerin des Chores. Antonio Mandrillos solider Tenor war in seiner Arie mit Cabaletta und in den vielen Ensemblestücken ein starker Trumpf. Das Gleiche gilt für Matteo Mancini als mürrischer Isidoro. Vielleicht am besten von allen war Giuseppe Toia als Don Eutichio, der mittellose Dichter. Er schauspielerte gut, besser als die anderen, und sang hervorragend in der Buffo-Rolle. Martin Csölley als Alberto rundete die Besetzung ab. Tatsächlich gab es unter den Sängern kein schwaches Glied, wie es bei fortgeschrittenen Schülern oft der Fall ist. Wie das Orchester und der Chor hatten sie nur wenig Zeit zum Proben, und die Oper enthält mehrere wirklich komplexe Ensemble-Nummern. Bravissimi an sie alle.

Die einfache Inszenierung stammt von Cristina Pietrantonio. Es gab Hintergrundprojektionen in Schwarz und Weiß, die von den Studenten der Sezione Audiovisivi e Multimedia des Liceo Artistico Mengaroni in Pesaro entworfen wurden. Die Kostüme waren eine Mischung aus historischer und zeitgenössischer Kleidung, und die Fälscher verwandelten sich mit Hilfe von dunklen Schleiern über ihren Gesichtern in Geister. In einer Szene brachten sie große Luftballons mit aufgemalten Augen an Stöcken hervor. Titelkarten, wie sie für Stummfilme verwendet wurden, wiesen auf die Szenen hin. Es war einfach, aber wirkungsvoll. Die Sängerinnen und Sänger haben meist nicht viel gespielt. Ich glaube, sie hatten ihre Augen oft auf den Dirigenten gerichtet, was auf die Unbekanntheit der Musik und den Mangel an Probenzeit zurückzuführen ist. Toia’s Eutichio und manchmal De Amicis‘ Sinforosa waren die Ausnahmen. Ferretti, der auch die Libretti für Rossinis Cenerentola und Mathilde di Shabran schrieb, hat hier ein sehr lustiges Libretto verfasst, und die Inszenierung nutzte das komödiantische Potenzial nicht immer aus. Mit mehr Probenzeit oder erfahreneren Sängern, oder beidem, wäre La casa disabitata ein sehr komisches Werk. Die brillante musikalische Leistung wird jedoch zu gegebener Zeit zu einer CD (von Bongiovanni) führen, die für alle Belcanto-Liebhaber ein Muss ist. (Die CD der letztjährigen Bel Canto Ritrovato-Oper, Riccis Il birraio di Preston, wurde gerade veröffentlicht und ist ebenfalls ein Muss für Belcanto-Liebhaber).

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Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Der andere Schwerpunkt des diesjährigen Festivals war das Werk von Nicola Vaccaj, und die Aufführung, mit der Vaccaj gefeiert wurde, war ein Konzert mit sehr seltenen Auszügen aus seinen Opern, dargeboten von einer Phalanx feiner Sänger und wiederum dem Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman, der auch der künstlerische Leiter des Festivals ist. Beim Betreten des Konzertsaals, des Teatro Rossini in Pesaro, fielen dem Publikum die beiden gemalten Medaillons auf dem Bühnenvorhang auf, die von Angelo Monticelli anlässlich der Eröffnung des Hauses im Jahr 1818 (mit Rossinis La gazza ladra unter der Leitung des Komponisten selbst) gemalt worden waren. Die gemalten Medaillons zeigen Rossini in einer Ecke und Vaccaj in der anderen. Vaccaj (1790-1848) war zwei Jahre älter als Rossini; ihre Eltern waren befreundet und die Jungen wuchsen zusammen auf. Zu der Zeit, als das wieder aufgebaute Opernhaus eingeweiht wurde, galten beide als wichtige Söhne der Stadt. Heute ist das Porträt Vaccajs verblasst und verschwommen – auf dem Vorhang wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Das Konzert am 25. August stand unter dem Titel „Nicola Vaccaj, Profilo d’Autore“. Es gab großzügige Ausschnitte aus sieben von Vaccajs achtzehn Opern, die einen Zeitraum von 1816 bis 1838 umfassen: Malvina (1816), La Pastorella feudataria (1824), Zadig ed Astartea (1825), Giovanna d’Arco (1827), Giovanna Gray (1827), Saladino e Clotilde (1828) und Marco Visconti (1838).

Vaccajs Portrait rechts unten auf dem historischen Abschluss-Vorhang im Teatro Rossini Pesaro/Wikipedia

Seine berühmteste Oper, Giulietta e Romeo, war nicht unter den ausgewählten Werken, vielleicht weil sie in der Neuzeit (in Jesi) aufgeführt und aufgenommen wurde. Die Musik hat eine klassische Zurückhaltung mit Anklängen an Bellini. Es ist erstaunlich, dass die meisten dieser Werke beim Publikum durchfielen. Dies gilt nicht für das Duett Presso un ruscello limpido“ aus Pastorella feudataria, das in der Tat eine schöne, klare Melodie mit Harfeneinleitung und -begleitung aufweist. Die Buffo-Arie aus Malvina war wie viele solcher Arien aus Rossinis frühen, für Venedig komponierten Farcen , und diese Oper (die scheiterte) war Vaccajs Versuch, auf dem venezianischen Markt Fuß zu fassen. Alle Stücke zeigen die volle Beherrschung der Techniken der damaligen Zeit, sowohl für die Sänger als auch für das Orchester. Nicht weniger konnte man vom Autor des „Metodo Pratico di Canto Italiano“ erwarten, das Vaccaj während seines Aufenthalts in England schrieb, wo er auf Opernaufträge gehofft hatte, die nicht zustande kamen. Dieses didaktische Werk, das noch heute von Sängern verwendet wird, ist wahrscheinlich Vaccajs wichtigster Beitrag zur Oper.

Il Bel Canto Ritrovato hatte vier hervorragende Sängerinnen und Sänger, um dieses Material zu untersuchen: Laila Alamanova (Sopran), Marta Pluda (Mezzosopran), Brayan Avila Martinez (Tenor) und der berühmte Bruno De Simone (Bariton). De Simone, ein Veteran vieler Komödien des Rossini-Festivals, verankerte die jungen Sänger, die alle außergewöhnlich stark und gut vorbereitet waren. Pluda hat einen ansprechenden Mezzo, reichhaltig und mit makelloser Technik ausgestattet; Alamanovas Sopran ist solide und volltönend von oben bis unten, und auch sie ist eine Meisterin der feinen Koloraturtechnik. Martinez war ebenfalls gut, und natürlich ist De Simone in jeder Hinsicht ein Profi.
Es war ein Genuss, und der Applaus des großen Publikums war lang und anerkennend. Bongiovanni hat das Konzert aufgezeichnet, und es wird eine CD davon geben, ebenso wie von der Rossi-Oper.
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Il Bel Canto Ritrovato bezeichnet sich selbst als „Festival Nazionale“, aber es ist ein zunehmend internationales Festival, das sich sowohl an ein lokales als auch an ein internationales Publikum richtet. Es basiert auf der Prämisse, dass italienische Komponisten etwa zwischen 1790 und 1850 eine enorme Anzahl lyrischer Werke schufen, um ein gefräßiges Publikum anzusprechen. Das Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses riesige und vergessene Repertoire zu erforschen und jedes Jahr ein oder zwei ehemals populäre Werke ans Tageslicht zu bringen oder ein neues Licht auf Komponisten zu werfen, die im Vergleich zu Verdi oder Rossini „unbedeutend“ sein mögen, aber reizvolle Werke komponiert haben, die es nicht verdienen, in Archivregalen zu verstauben. Dies ist eine praktisch unerforschte Schatztruhe des mächtigen italienischen künstlerischen Erbes, die nicht ignoriert werden sollte, und dank des IBR wird der Deckel dieser Truhe nun angehoben. Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL

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Giacomelli Giulio Cesare beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024: Opernstoffe aus der römischen Geschichte sowie „exotische“ Schauplätze waren im 18. Jahrhundert vor allem in der Handels­republik Venedig – deren Kaufleute ständig mit fremden Kulturen in Kontakt kamen – äußerst beliebt, wobei sich das ägyptische Sujet als außerordentlich populär erwies. Die Liebesgeschichte zwischen Julius Caesar und Kleopatra (die aus Makedonien stammte und somit Griechin aus dem früheren Imperium Alexanders des Großen war) wurde bereits in den Schriften der antiken Historiker Plutarch und Sueton erwähnt und war dem venezianischen Publikum bereits gut bekannt. Sie wurde unzählige Male von Librettisten bearbeitet und von Komponisten vertont, unter anderem auch von Geminiano Giacomelli.

Geminiano Giacomelli/ Wikipedia

Der heute fast vergessene Komponist (geboren am 28. Mai 1692 in Piacenza, gestorben am 25. Januar 1740 in Loreto) hat etwa 10 Jahre nach Georg Friedrich Händels „Masterpiece“ seinen „Cesare in Egitto“ herausgebracht. Giacomelli schuf ungefähr zwanzig Opern, Pasticci, Arien und Intermezzi für verschiedene italienische Städte.

Bis vor einiger Zeit war Geminiano Giacomelli nur wenigen Kennern der Barockoper ein Begriff. Doch in den letzten Jahren hat die Musik dieses zu Lebzeiten hochgeschätzten Komponisten, der regelmäßig für die größten Häuser Italiens und die bedeutendsten Gesangsvirtuosen seiner Generation schrieb, eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, sowohl auf der Konzertbühne als auch in Gesangsrezitals und Einspielungen.

Zu seiner Biografie: 1727 wurde Giacomelli auf ausdrücklichen Wunsch des Herzogs Francesco Farnese auf Lebenszeit zum Kapellmeister von San Giovanni in Piacenza ernannt. Dazu erhielt er das Vorrecht, nach Belieben abwesend zu sein, sofern er für eine Vertretung sorgte und Kompositionen lieferte. Außerdem war er Kapellmeister am Hofe von Parma, ausserdem an der dortigen Kirche San Giovanni della Steccata sowie später Kapellmeister an der Kirche Santa Casa in Loreto, wo er auch starb.

Uraufgeführt wurde Giacomellis „Cesare“ 1735 als Karnevalsoper im Teatro Regio Ducale in Mailand, dann wurde die Oper schon im November desselben Jahres im Teatro San Giovanni Crisostomo in Venedig, nachgespielt. Es folgten Florenz, Graz und Verona.

Die Vorstellungen der Oper am venezianischen Teatro San Giovanni Crisostomos schienen besonders erfolgreich gewesen zu sein. Schon in zeitgenössischen biografischen Artikeln zu Giacomelli wird „Ce­sare in Egitto“ als eines der Meisterwerke des Komponisten hervorg­ehoben. Von Venedig verbreitete sich das Werk in ganz Europa.

Giacomellis wachsender Ruhm als Opernkomponist ermöglichte Giacomelli zahlrei­che Reisen und Tätigkeiten auch nördlich der Alpen. So war er 1737 Theaterdirektor in Graz, wo er unter anderem Aufführungen seines schon damals recht populären “Cesare“ aufführte.

Auch wenn Domenico Lalli offiziell als Librettist des „Cesare“ gilt, darf vermutet werden, dass verantwortlich für viele textliche Details und Arientexte, kein anderer als der junge, aufstrebende Carlo Goldoni war. Am Teatro San Giovanni Crisostomo war Goldoni Lallis Assistent, daher wurde Goldonis Arbeit an den Textbüchern nicht einmal mit einer eigenen Signatur gewürdigt. „Cesare in Egitto“ ist mit dem Namen Domenico Lalli unterzeichnet, ohne Erwähnung Goldonis. Dieser scheint jedoch damit völlig einverstanden gewesen zu sein.

Unter dem Motto „Wohin kommen wir? Wohin gehen wir“ steht vom 21. Juli bis 30. August 2024 die Wiederaufführung der Oper „Cesare“ von Geminiano Giacomelli auf dem Programm des diesjährigen Festivals Alter Musik in Innsbruck, dessen finanzielle Verhältnisse erfreuli­cherweise als stabil gelten dürfen. Ottavio Dantone hat Giacomellis Oper für seine erste szenische Produktion als neuer Musikalischer Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik auserkoren. Eine an sich begrüßenswerte Ausgrabung eines vergessenen Werks.

Man spielt allerdings nicht die Kritische Ausgabe von Holger-Schmitt Hallen­berg., der gleichwohl einen gelehrten Essay im Programmheft beisteuert, sondern eine Kritische Ausgabe von Bernardo Ticci und Ottavio Dantone nach der Uraufführungsversion von Venedig 1735. Als Librettisten werden ausdrücklich Carlo Goldoni und Domenico Lalli genannt. Dantone nennt das dreiaktige „dramma per musica“ schlicht „Oper“.

Er wolle „die Emotionen der damaligen Zeit ins Heute übersetzen“, so erklärte der Italiener seine künstlerische Programmatik. Dass sei eben etwa durch die Reduzierung der Spieldauer möglich. Damit gelinge „eine Anpassung an die heutigen Gegebenheiten.“ Tatsächlich dauert die Aufführung „nur“ drei Stunden, doch die werden lang! Dantone erklärte vorab: „Unser Ziel ist es, dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen.“

Die Inszenierung von Leo Muscato, der sein Debut in Innsbruck gibt, löst dieses Versprechen nur bedingt ein. Er verlegt die Handlung in das augenscheinlich schon muslimisch besetzte Ägypten, die Herren Ägypter tragen den klassisch arabisch-türkischen Fez (in blau) zu sandfarbenen Uniformen. Die Leibgarde des ägyptischen Hofes trägt moderne rote Kampfanzüge und Helme, die Kalasch­nikows stets im Anschlag. Die Herren fuchteln in Machopose mit Pistolen herum, oder sie rennen von einem Raum der aus altägyptischen Tempelruinen bestehenden Drehbühne in den nächsten.

Im Hintergrund fünf römische rote Krieger mit geschlossenen Helmen als Kolossalstatuen. Während der Ouvertüre stehen sie an der Rampe.

Bei den vielen Arien verharren die Sänger meistens in theatralischer Starre. Die Kostüme (Giovanna Fiorentini) sind zeitlos modern, vor allem die der Damen. Cesare, der von einer Frau gesungen wird, was die erotische „Sache“ nicht sehr glaubwürdiger macht, trägt einen roten Kampfanzug, Cleopatra indifferente Damengewandung mit Turban. Alle altägyptischen Erwartungen in Kostümierung (wie Dekoration) werden Lügen gestraft.

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Ob die nicht wirklich einsichtige Aktualisierung geeignet ist, eine „Anpassung an die heutigen Gegebenheiten“ zu vermitteln oder gar „dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen,“ sei dahingestellt. Gewiss zeigt das bewegte, leicht variierte Bühnenbild von Andrea Belli immer wieder schöne Momente, zumal in stimmungsvoller Beleuchtung von Alessandro Verazzi, aber die Aufführung ist weitgehend statisch, spannungslos, um nicht zu sagen langweilig. Die Personenführung ist weitgehend konventionell, von Personen­psychologie kann kaum geredet werden, allerdings enthält das (deutsch übertitelte) Libretto auch wenig individuelle Charaktere, verbleibt weitgehend stereotyp und reichlich pathetisch. Worthülsen statt Emotionen. Eine gefühllose Staatsaktion. Wie überwältigend anders kommt Händels (und seines Librettisten Nicola Francesco Hayms) „Giulio Cesare“ daher. Und selbst Carl Heinrich Grauns “Cesare e Cleopatra“ ist um Vieles lebendiger, überzeugender, weniger klischeehaft, gefühlsechter und auch – last not least – musikalisch interessanter, ja faszinierender.

Von seinen Zeitgenossen wurde Giacomelli sowohl als Opernkom­ponist als auch als Gesangslehrer hochgeschätzt. Es gelang ihm, wie Benedetto Marcello im siebten Brief seines „Estro poetico-armonico rühmte, „seine Werke optimal an die Fähigkeiten der jeweiligen Sänger anzupassen. Gleichzeitig hatte er ein starkes Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und eine schlichte traditionelle Tonsprache, durch die er große Popularität erlangte. Seine Melodien wirken weich, spontan und kantabel. Sie sind dem Zeitgeschmack entsprechend mit Vokalisen und Koloraturen Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und Modulationen belebt.“ Das mag schon sein, aber die Bedürfnisse des Theaters wie des Publikums, die Hörgewohnheiten und die Erwartungen an die Oper. waren zu Giacomellis Zeiten eben andere als heute.

Giacomellis Vertonung des „Cäsar“-Stoffs hält dem uns vertrauten Händelschen Vorbild jedenfalls nicht stand.  Er erreicht das psycholo­gische Einfühlungsvermögen Händels nicht, auch wenn er sich bemüht, einen präzisen Blick auf die Seelenzustände seiner Protagonisten in Töne zu setzen. Doch die Arien seiner Protagonisten sind eher hochvir­tuos als persönlichen oder gar gefühlvoll. Man kann sie bewundern, aber man wird von ihnen nicht berührt.

Giacomellis schon zu seinen Lebzeiten sowohl in der Gesangslinie als auch im genau durchgearbeiteten Orchestersatz als anspruchsvoll geltende Musik, akzentuiert die Persönlichkeitszüge häufig mit großen Intervallsprüngen, expressiven Dissonanzen, synkopierten Akzenten und einer oft imitierenden, selbständigen zweiten Violinstimme. Anspruchsvoll kann man seine Musik wohl nennen, (uns heute affizierende) Gefühlstiefe ist ihr fremd.

Ottavio Dantone und seine Accademia Bizantina bemühen sich redlich, nach Maßgabe der historisch informierten Aufführungspraxis die Reize der Musik Giacomellis, das ihr Eigene und Besondere zu Gehör zu bringen. In der dreiteiligen, recht rasant genommenen Ouvertüre hörte sich das noch vielversprechend an, doch im weiteren Verlauf des Abends machte die Musik einen immer drögeren Eindruck, gar nicht zu. Nicht zu reden von den vielen, langen Rezitativen

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Vor allem das (bei Händel) so Flirrende, das erotisch Bezaubernde Cleopatras vermisst man. Sie wird im Libretto als eiskalte, ehrgeizige Machtpolitikerin gezeichnet, die nur Eines im Sinne hat: Das römische Imperium an sich zu reißen. Ihre Liebe zu Cäsar ist lediglich strategisch und berechnend. Wenn überhaupt, ist die Rolle der Cornelia „sympathisch“ gezeichnet, obwohl auch sie eine selbstsüchtige Politikerin ist, die ihre Rolle im rücksichtslosen und grausamen Machtpoker des Stücks spielt, in dem die Frauen die dominanten Persönlichkeiten sind und Cäsar eher eine „milde“, weshalb das Stück auch mit einem „lieto fine“ endet.

Die sängerische Besetzung der Aufführung ist – zumal auf weiblicher Seite – vorzüglich, bei den männlichen Partien gab es hingegen Licht und Schatten: Die Sopranistin Arianna Vendittelli singt einen anständigen, wenn auch (naturgemäß) wenig „männlichen“ Giulio Cesare. Die Mezzosopranistin Emöke Baráth singt eine hochvirtuose, aber keineswegs einschmeichelnde oder gar betörende Cleopatra, Königin von Ägypten und Schwester des Tolomeo. Die sängerischen Höhepunkte des Abends sind der Altistin Margherita Maria Sala zu verdanken, die eine beeindruckende Cornelia, Witwe des Pompeo singt.  Der Tenor Valerio Contaldo leiht Tolomeo, König von Ägypten seine Stimme. Der Sopranist Federico Fiorio singt den römischen Senator Lepido, Liebhaber der Cornelia, den Achilla, General des Tolomeo der Countertenor Filippo Mineccia. Alles in allem eine respektable, aber nicht gerade mitreißende Reanimierung. Dieter David Scholz

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Familienangelegenheit: Luigi Riccis Chi dura vince in Neuburg an der Donau. Die Neuburger Kammeroper in Neuburg an der Donau, einem malerischen Städtchen an der Donau, ist vielleicht nicht über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt, aber sie spielt jeden Sommer für ein paar Wochenenden in dem exquisiten, winzigen Stadttheater aus dem Jahr 1869. Es werden eine zweiaktige Oper oder manchmal zwei einaktige Opern aufgeführt, die immer komisch sind. Sie werden auch immer auf Deutsch aufgeführt, unabhängig von der Originalsprache, und mit gesprochenen Dialogen. Außerdem handelt es sich immer um sehr ungewöhnliche Werke aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die man sonst nirgendwo zu hören bekommt. Im Jahr 2019 haben Peggy und ich zwei Einakter von Ferdinand Hérold gesehen, L’Auteur Mort et Vivant und Le muletier. In diesem Jahr war die Oper von Luigi Ricci, eine italienische Komödie in zwei Akten, die im Original Chi Dura Vince heißt, oder Eine Rosskur in der modernen deutschen Übersetzung von Annette und Horst Vlader. Es handelte sich um die 56. Aufführung des Festivals, das 1969 begann.

Luigi Ricci: „Eine Rosskur“ in Neuburg an der Donau/Szene/Foto Kammeroper Neuburg

Chi Dura Vince bedeutet „Wer ausharrt, gewinnt“, und der deutsche Titel lautet wörtlich „Eine Rosskur“, was eine drastische Heilung bedeutet, ein Ein-Wort-Ausdruck der englischen Idee „it will make you well if it doesn’t kill you first“. Das Libretto von Jacopo Ferretti ist eine Version der Geschichte, die Shakespeare in Der Widerspenstigen Zähmung “ verwendet hat , mit einigen Buffo-Bässen, die die Geschichte über eine zänkische Ehefrau, die sich der Pferdekur“ unterzieht, auflockern. Der Graf Sanviti hat eine junge, aber verarmte Adelige namens Fiorina geheiratet, die er als hochmütig, kapriziös und geradezu gemein empfindet. Er hat sie während der Flitterwochen im Stich gelassen, um seinen Plan für eine „Heilung“ zu verfolgen, indem er sich zunächst als Bauer verkleidet, der eine Stelle auf einem Schloss bekommt, das er selbst gerade gekauft hat. Das Schlossgut wird von zwei Taugenichtsen verwaltet, Gennaro, dem Aufseher, und Giovanni, der auf dem Gut eine Hutmacherei betreibt (in unserer Produktion ein Weingut). Als Fiorina eintrifft und sich über alle Einheimischen hinwegsetzt (auch über Biagio, den Chef der örtlichen Polizeibrigade), ist sie schockiert, als sie erfährt, dass sie keinen Grafen geheiratet hat, sondern jemanden, der auf den Ländereien des Grafen arbeitet. Wut und Abscheu verwandeln sich im zweiten Akt in Entsetzen und Eifersucht, als sie glaubt, ihr Mann wolle sie zugunsten einer neuen Liebe verlassen, nämlich der Baronin Galeotti (die in Wirklichkeit die Schwester des Grafen Sanviti ist). Die Eifersucht lässt sie erkennen, dass sie ihren Mann wirklich liebt, der sich praktischerweise als der echte Graf entpuppt, und die Geschichte endet mit einem fröhlichen Walzerlied.

Der meiste Spaß in der Oper entsteht nicht durch die Geschichte der Verwechslungen und Missverständnisse, sondern durch die Possen von Gennaro und Giovanni und ihre Begegnungen mit der Gräfin Fiorina. Sie überwinden bald ihr Erstaunen über ihre hochmütige Behandlung und geben so viel zurück, wie sie bekommen. Eine der besten Nummern der Partitur ist das Buffo-Duett „Ser Gennaro…Ser Giovanni/Quante pene, quanti affanni“ im zweiten Akt. Ein Genuss ist auch Gennaros eröffnende Buffo-Nummer „Ehi plebe! Volgo! Sudditi!“, in der er sich über die Bauern lustig macht, während diese ihn verspotten. Die Baronin, die zum ersten Mal im zweiten Akt auftaucht, ist auch mit von der Partie, aber sie ist die „seconda donna“, und als solche hat sie in der Originalpartitur keine eigene Arie. Also haben die Neuburger zur Bereicherung ihrer Rolle Musik interpoliert, und zwar aus (wie man mir sagte) Riccis Il birraio di Preston, das letztes Jahr beim Festival Il Bel Canto Ritrovato in Pesaro aufgeführt wurde.

Federico und Luigi Ricci /Wikipedia

Luigi Ricci hatte zusammen mit seinem Bruder Federico am Konservatorium von Neapel studiert, und zwar unter der Leitung von Vincenzo Bellini, der als Seniorstudent eine Art Assistent des Absolventen war. Auch Luigi begann seine Karriere dort mit L’impresario in angustie (1823), der ersten von etwa dreißig Opern, die er schreiben sollte, einige davon in Zusammenarbeit mit seinem Bruder. Seine erfolgreichsten Werke scheinen komisch gewesen zu sein. Acht von ihnen entstanden in Zusammenarbeit mit Jacopo Ferretti, einem römischen Geschäftsmann aus der Tabakindustrie, der nebenbei Libretti schrieb, darunter das für Rossinis La Cenerentola. Ferretti hatte eine klassische Ausbildung genossen und kannte die Möglichkeiten von Missverständnissen und Verwechslungen aus den Farcen des Plautus. Dieses Wissen nutzte er in Chi Dura Vince, dessen Untertitel La Luna di Miele – Die Flitterwochen lautet, was sicherlich ironisch gemeint ist, denn die Flitterwochen der Sanvitis sind alles andere als das.

Chi Dura Vince wurde 1834 in Rom uraufgeführt. Es erlebte eine rege Aufführungsgeschichte und wurde lange nach Luigis Tod (1859) von Luigi Riccis Bruder Federico überarbeitet und 1876 in Paris als La petite comtesse wiederaufgeführt. Die Musik ist immer melodiös und voluminös und manchmal unvergesslich. Je mehr wir von den Brüdern Ricci (und vor allem von Luigi) hören, desto mehr verstehen wir, dass ihr Werk eine Brücke zur leichten Oper und zur Operette des späteren neunzehnten Jahrhunderts bildet. Die leichte Orchestrierung hat Operettenqualität, und die meisten Rollen sind technisch nicht so schwierig wie die Opernrollen der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Die Brüder Ricci wirken wie ein Bindeglied zu Franz von Suppé und zu den Strauss-Brüdern. Die abschließende Walzernummer „Ah! Che al brillar dell’iride“ ist nicht nur fröhlich und einprägsam, sie ersetzt auch das kunstvolle Cabaletta- oder Rondo-Finale, das früher diesen Ehrenplatz einnahm.

Diese Opern waren dafür gemacht, in kleinen und Provinztheatern und gelegentlich auch in großen Häusern gespielt zu werden. Sie eignet sich perfekt für die intimen Räumlichkeiten des Neuburger Stadttheaters und das Gemeinschaftsgefühl der Aufführungen, bei denen Bürgerinnen und Bürger aus der Umgebung im Chor singen, die Bühnenbilder bauen, die Kostüme nähen oder sogar einige der Hauptrollen übernehmen – oder die Regie übernehmen. Das ganze Unterfangen hat etwas Familiäres: Chormitglieder in Kostümen mischen sich unter das Publikum und verkaufen vor der Aufführung Programme, und die Darsteller mischen sich in der Pause unter das Publikum. Viele von ihnen sind Nachbarn, die ihre Nachbarn unterhalten.

Selbst die Hauptsopranistin, die Gräfin Fiorina (im italienischen Original Elisa genannt), Da-yung Cho, ist in Wien geboren und aufgewachsen, obwohl die Familie aus Korea stammt. Ihr heller Sopran wäre sowohl für die Operette als auch für die Oper geeignet, und ihre Technik war sicher. In dem kleinen Saal funktionierte alles perfekt, und ihr Schauspiel war perfekt. Frau Da-yung Cho hat schon früher in Neuburg gearbeitet und ist Teil der Familie. Patrick Ruyters war ebenfalls ein Volltreffer und ein fähiger Farceur als Gennaro. Seine Baritonstimme ergänzte den Giovanni von Michael Hoffmann, der seit vielen Jahren an der Neuburger Kammeroper engagiert ist. Horst Vlader (Biagio) ist einer der Gründungsväter des Neuburger Ensembles und trägt seit Jahrzehnten mit seinen vielen Talenten zum Erfolg des Ensembles bei, auch als Comprimario. Der polnische Tenor Karol Bettley spielte die Rolle des Grafen. Seine Stimme würde vielleicht besser zur musikalischen Komödie oder Operette passen, aber egal, er war großartig auf der Bühne. Das Gleiche gilt für Martha Harreiter als Baronin; ihr Charme auf der Bühne übertraf ihre kleine Stimme.

Alois Rottenaicher leitete das 28-köpfige Orchester, Horst Vlader führte mit sicherer Hand Regie und Michele Lorenzini entwarf einfache, funktionelle Bühnenbilder.

Kurzum, man könnte die Aufführung oder die Sänger kritisieren, aber warum? Es ist am besten, wenn man die Mitglieder der Familie nicht kritisiert. Außerdem sind Opernhäuser, die Werke von Luigi Ricci aufführen, selten, und Werke, die so ungetrübtes Vergnügen bereiten, sind viel lohnender als eine weitere Regieversion von Tosca. Die Neuburger Kammeroper folgt dem Libretto und es gibt kein Konzept, das nichts mit dem Werk zu tun hat. Die Brüder Ricci gehörten zu einer großen Gruppe von Komponisten, Librettisten und Interpreten, die das Publikum in einer Zeit unterhielten, in der die Oper eine der wichtigsten Formen der Unterhaltung war. Das ausverkaufte Publikum im Jahr 2024, das größtenteils aus der Region stammte, verließ das Haus glücklich und gut unterhalten, mit dem letzten Walzerlied im Kopf, genau wie 1834 in Rom. Was ist daran falsch? Charles Jernigan, 27./28. Juli, 2024/Übersetzung DeepL

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Kammeroper Schloss Rheinsberg – in stimmungsvoller Kulisse. Der Komponist Niccolò Piccinni war Italiener, lebte und starb jedoch in Paris. Dort gab es den berühmten Komponistenstreit zwischen ihm und dem Reformer der Oper Christoph Willibald Gluck, ausgefochten zwischen den Anhängern der beiden. Sonst aber ist der italienische Meister heute so gut wie vergessen. Umso verdienstvoller das Bemühen der Kammeroper Rheinsberg, ihn nach 222 Jahren erneut aufzuführen, denn in Rheinsberg war das Werk zuletzt 1802 im Schlosstheater zu hören. Das Festival ist bekannt dafür, sich vergessener Werke anzunehmen – ein Verdienst des Künstlerischen Leiters Georg Quander, der auch zu interessanten Kombinationen in den Programmen findet. In diesem Jahr stellte er unter dem Motto „Der Schatten Trojas“ Glucks Iphigenie in Aulis Piccinis Didon gegenüber. Viele Komponisten haben den Stoff vertont, man denke nur an Purcell, Hasse und Berlioz. Piccinnis Librettist Jean-François Marmontel fokussiert die Handlung auf die wenigen Tage, in denen sich Énée entscheidet, Didon zu verlassen, um in Italien Rom zu gründen.

Zu Piccinnis „Didon“: der bezaubernde Spiwelort, der Innenhof des Schlosses Rheinsberg/Kammeroper Rheinsberg

Piccinnis Musik ist voller Esprit, reich an melodischen Eingebungen und delikat instrumentierten  Zwischenspielen, wird bestimmt von tänzerischem Duktus, der die französischen Konventionen befolgt, nach denen große Chor- und Tanztableaus obligatorisch waren. Der Klang der Akademie für Alte Musik Berlin unter Bernhard Forck entfaltete sich im Schlosshof Rheinsberg, wo das Werk in französischer Sprache halbszenisch aufgeführt wurde (Regie: Andreea Geletu), zauberhaft und wunderbar transparent. Preisträger des Internationalen Gesangswettbewerbes der Kammeroper übernahmen die Partien und legten durchweg Ehre ein, angeführt von Noemi Bousquet in der Titelrolle, die mit größtem Einsatz und leidenschaftlicher Darstellung das Schicksal der Königin packend verkörperte. Ihr farbiger, substanzreicher Sopran ließ schon bei „Venez, enfant des Dieux“ im 1. Akt durch lyrische Delikatesse aufhorchen. Selbstbewusst und mit flammenden Tönen lehnt sie das Werben des feindlichen Königs Yarbe ab, empfindsam und mit leuchtenden Obertönen singt sie „Ah! Que je fus bien inspirée“ im 2. Akt. Herzzerreißend versucht sie mit „Vous la savez“ Énée in seinem Plan, sie zu verlassen,  umzustimmen. Emotional völlig aufgewühlt formt sie das erregte „Non, ce n´est plus pour moi“ zu Beginn des 3. Aktes, ergreifend das „Prend pitié de ma faiblesse“. Am Ende wechselt ihr Gefühlszustand in Raserei, mit „Je veux mourir“ nimmt sie Didons Szene in Berlioz` Tragédie vorweg.

Chen Li lässt als Énée einen hellen, durchschlagenden Tenor hören und bewältigt die. exponierte Partie souverän. Spannend schildert er in „Au noir chagrin“ seinen Konflikt zwischen der Liebe zu Didon und dem Auftrag der Götter. Mit Didon hat er mehrere Duette, die von resolutem Zuschnitt sind und von den beiden Sängern eindringlich geformt werden.

Piccinnis „Didon“ in Rheinsberg 2024/Szene/Foto Uwe Hauth

Der Bariton Yiwei Mao als Yarbe gestaltet sowohl die noblen als auch die vehementen Soli beeindruckend. Das Vokalsystem Berlin absolviert in Konzertkleidung (Leitung: Johannes Wolf) seine Auftritte markant, so das energische „Aux armes“ am Ende des 2. oder lärmende „Victoire!“ zu Beginn des 3. Aktes, wenn die Karthager siegreich aus dem Krieg gegen Yarbe und die Numidier zurückkehren. Grandios die Schilderung der Naturgewalten („Les éléments troublé“) und erschütternd das Finale („O Ciel!“), wenn die Karthager die tote Didon betrauern und mit Hass und Aggressivität den Trojanern ewige Rache schwören. Das Publikum in der zauberhaften Kulisse des Schlosshofs feierte auch in dieser 3. Aufführung am 28. 7. 2024 alle Interpreten begeistert. Bernd Hoppe (ein ausführlicher Artikel zur Oper selbst findet sich als Beitrag in unserer Serie Die vergessene Oper.)

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Rossini in Wildbad 2024: Während in zwei Wochen auf und an der Seine bereits die Eröffnung der Olympischen Spiele stattfindet, wehte im Juli ein Hauch von Paris durch den Nordschwarzwald. Ganz punktgenau hat es Jochen Schönleber nicht hinbekommen, doch die beiden erweiterten Wochenenden, auf die er das Belcanto Opera Festival „Rossini in Wildbad“ reduziert und konzentriert hat, fallen fast genau zwischen Fußball-Euphorie und Olympische Spiele.  (…)

Rossini selbst, Wildbads berühmter Kurgast, ließ sich für seine Bäderbehandlung 1856 mehrere Wochen Zeit. Ein Sportsmann war er sicherlich nicht. Bewegungen vermied er tunlichst. Wenn er sich regelmäßig zu Ausflüge im Bois de Boulogne mit Michele Carafa traf, ritt der neapolitanischen Adelige und Offizier auf seinem Pferd, während es sich Rossini in seiner Kutsche bequem machte. Sie waren gut befreundet, seit sie in Neapel das seinerzeit beste Opernhaus der Welt erobern wollten. Beide verschlug es in den 1820er Jahren nach Paris. Der perfekt französisch sprechende Bonapartist Carafa, der auch die französische Staatsbürgerschaft annahm, konnte an der Opéra-Comique, die fortan sozusagen seine künstlerische Heimstatt blieb, sofort mit französischen loslegen, während Rossini zögernd mit französischen Umarbeitungen früherer Werke und einer Festkantate begann, aus der er dann seine erste originale französische Oper Le Comte Ory filterte.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene/Patrick Pfeiffer

Dieser Graf Ory steht zusammen mit Carafas Masaniello im Zentrum der 35. Festspiele 2024. In zehn Tagen geht es hurtig Schlag auf Schlag und atemlos wie im Crescendo einer Rossinischen Ouvertüre, denn hinzu kommen im Königlichen Kurtheater Aufführungen der Italienerin in Algier unter José Miguel Pérez-Sierra, ganz kommod auch vormittags, was geballte Rossini-Besuche erlaubt, dazu Cenrentola für Kinder, instruktive Arienkonzerte, wobei sich beispielsweise Mert Süngü des Tenors Duprez annimmt, und zum Abschluss ein Waldkonzert hoch oben auf dem Berg.

Singen ist Hochleistungssport. Das bewiesen Nathanael Tavernier und Camilla Carol Farias, die am 20.7. nach dem Masaniello wieder ran mussten, um Patrick Kabongos Grafen Ory zur Seite zu stehen. Wobei sie als Erzieher und Pförtnerin des Schlosses kaum das Treiben des Erotomanen gutheißen können, der in wechselnder Verkleidungen Sophia Mchedlishvilis sehr kapriziöser Gräfin an die Wäsche will, im Dunkeln aber an seinen Pagen Isolier gerät. Das alles spielt einer alten Legende zufolge um 1200 in der Tourraine, wo die Frauen während der kreuzzugsbedingten Abwesenheit ihrer Männer Enthaltsamkeit geschworen haben. Diese gilt es zu erschüttern. Rossini hat einen gewichtigen Teil seiner Il viaggio a Reims-Musik in seine erste originale französische Oper gerettet, die dezidiert nicht als opéra comique, sondern als „Opera“ ausgewiesen wurde. Denn schon Philip Gossett wies einst darauf hin, „Während die Instrumentierung einer damaligen opéra comique relativ durchsichtig ausfällt, ist Rossinis Orchesterapparat in Le Comte Ory riesig und durchaus vergleichbar dem, den er in Guillaume Tell verwendete“.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene mit Patrick Kabongo/Patrick Pfeiffer

Witz, Geist und Esprit verströmt in reichem Maß die Leitung Antonino Foglianis, der sich einmal mehr als profunder Rossini-Kenner erwies, bei dem Timing, Phrasen und Nuancen wie selbstverständlich sitzen, wie sich im präzisen Agieren des Krakauer Orchesters und Chors zeigte. Patrick Kabongo gab den liebestollen Ory mit ansprechender Geschmeidigkeit und federleichter Verblendung von Mittellage und Höhe und die ihm übergestülpten Kostüme mit Nonchalance. Bemerkenswert die virtuose, in der Mittellage etwas verkniffene Gräfin der georgischen Sopranistin Sophia Mchedlishvili, die eher dem Pagen des Grafen geneigt ist. Diana Haller singt den Isolier als handele es sich um Verdis Amneris, mit bolleriger Mittellage, viel Kraft, mühelos strömend, guter Höhe, aber auch etwas wackelnd. Tavernier blieb als Erzieher bei reicher Tiefe etwas gleichförmig, Fabio Capitanucci machte als Raimbaud wenig aus seiner Arie, Camilla Carol Farias war die resche Ragonde, Yo Otahara die süße Alice. Jochen Schönleber und seine Kostümbildnerin Olesja Maurer haben dazu einen Flower-Power-Mix angezettelt, der ein bisschen mit kultureller Aneignung und genderfluiden Stereotypen kokettiert. Ekstatische Begeisterung. Rolf Fath (der auch den erstmalig Masaniello Michele Carafas als moderne Erstaufführung erlebte, seine Rezension findet sich zum Artikel in der Reihe Die vergessene Oper.)

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Bei der styriarte Graz: Vivaldis Le quattro stagioni als Soap-Opera. Kaiserin Maria Theresia hat sich in Graz angesagt und die Vorbereitungen auf den hohen Besuch sind in vollem Gange. Ein reiches Programm soll die Monarchin unterhalten.  Schon am Vortag der Ankunft Ihrer Majestät herrscht reges Treiben im Palais des Grafen Attems, wo die Putzdirndln und -burschen in historischen Kostümen (der HIB.art.chor) das goldene Besteck polieren und dazu steirische Balladen aus dem 18. Jahrhundert und „Deutsche Volkslieder aus Steiermark“ singen.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

So beginnt der 1. Teil der Attems-Saga, die Thomas Höft erdacht und Adrian Schvarzstein in Szene gesetzt hat. Grundlage ist der historisch verbürgte Besuch der Kaiserin Maria Theresia in der steirischen Hauptstadt am 4. Juli 1750 samt der Bemühungen des Grafen Ignaz Maria Attems, der Herrscherin mit einer neuen Oper zu imponieren. Leider hatte die Kaiserin die Stadt nach nur wenigen Stunden wieder verlassen…

Nun soll mit einem großen Spektakel an diese historische Episode erinnert werden. Sänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker wirken mit. Beim Gang durch die prachtvollen Räume des Palais unter Führung des Haushofmeisters Hippolyt (gebührend aufgeregt: Matthias Ohner) wird man auch Zeuge einer Affäre von Marianne Gräfin Attems (exaltiert: Maria Köstlinger) mit ihrem Geliebten Monsieur de la Tour (Georg Kroneis virtuos an der Viola da Gamba). Schließlich geht es zu Fuß in die ehrwürdige Aula der Alten Universität mit ihren wunderbaren floralen Deckenmalereien, wo ein Vorsingen stattfindet für die Aufführung von Vivaldis „Jahreszeiten“-Oper am nächsten Abend. Große Chancen haben zwei Damen – die Primadonna Daniela Papagallo (die Italienerin Carlotta Colombo mit substanzreichem Sopran) und die Nichte des Basteischließers Mizzi Huber (Anna Manske mit angenehmem, hellem Mezzo). Zweifelhaft ist der Auftritt des dänischen Tenors Svend-Poul Hjorth-Stromqvist (wirklich aus Dänemark: der Tenor Valdemar Villadsen mit schmaler Stimme).

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Tags darauf begegnet man diesen drei Sängern im Schauspielhaus bei der Aufführung von Le quattro stagioni stiriane wieder. Der 2. Teil der Attems-Saga ist ein Pasticcio aus den vier Concerti von Vivaldis Le quattro stagioni und einer Auswahl seiner berühmtesten Arien. Am Pult der Palais Attems Hofkapelle steht Michael Hofstetter im Kostüm eines bettelnden Straßenmusikanten (Bettina Dreißiger). Erfahren  in der historischen Barock-Praxis, findet er die Balance zwischen delikaten Passagen mit filigranen Instrumentalsoli und furios auftrumpfenden oder eisig klirrenden Episoden.

Die Spanierin Lina Tur Bonet als Konzertmeisterin des Ensembles brilliert in den zahlreichen Soli der Komposition mit musikantischer Verve und stupender Technik.

Auf die Bühne hat Christina Bergner ein drehbares Modell gestellt, welches bunte Landschaften, Blumen-Arrangements und winterliche Gletscher-Massive zeigt. Zum Amüsement des Publikums werden die über den Abend verteilten Sätze aus Vivaldis Concerti mit pantomimischen Szenen garniert (Choreografie: Mareike Franz) – ein Schäfer mit Hund, Blumenmädchen, ein Jongleur, Eisbären…

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Immer wieder wird auch die Ankunft der Kaiserin verkündet, das Publikum aufgefordert, sich zu erheben und den Begrüßungschor anzustimmen, ein aus Dorilla in Tempe stammendes und eigens für diesen Anlass mit neuem Text versehenes Stück. Doch jedesmal erweist sich die Ansage .als Irrtum, was die Künstler nicht von der Fortsetzung des Programms abhält. Im Falle der Primadonna Daniela Papagallo alias Carlotta Colombo ist man darüber besonders erfreut, denn die Sopranistin glänzt in „Ombre vane“ aus Griselda mit Klangfülle und starkem Aplomb im rasanten Mittelteil. Das „Addio caro“ aus La verità in cimento im zweiten Teil geriet dagegen etwas beiläufig, während die Aria „In furore iustissimae irae“ wahrhaft mit Furor vorgetragen, im Da capo angemessen verziert und mit Spitzentönen geschmückt war. Die Mezzosopranistin Anna Manske als Mizzi Huber imponierte bei „Gelido in ogni vena“ aus Farnace durch starke Expressivität, während es ihr für die Cantata in Scena con Viola all´inglese (Georg Kroneis) an Pathos fehlte. Mit der Sopranistin fand sie im Duetto „Placa l´alma“ aus Händels Alessandro zu ausgewogenem, harmonischem Zusammenklang. Gegenüber den Sängerinnen blieb der Tenor Valdemar Villadsen im Schatten, doch gelangen ihm in „Care pupille“ aus Tigrane immerhin feine Kopftöne. Dagegen blieb der auftrumpfende Nachdruck in „Alle minacce di fiera belva“ aus Farnace unterbelichtet.

Mit dem Finalsatz Allegro. Lento aus „L´Inverno“ endet die Aufführung, aber es wird natürlich noch einmal der Begrüßungschor angestimmt – auch wenn die Kaiserin bis zum Schluss nicht erschien (was ein wenig an Rossinis Reise nach Reims  erinnert). Die Begeisterung im Publikum bewies, dass darüber niemand enttäuscht war.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Am nächsten Vormittag waren alle eingeladen, im prachtvollen Planetensaal von Schloss Eggenberg dem Spiel Königlicher Bläser zu lauschen. Die fünf Musiker, Virtuosen auf ihren Instrumenten, gehören zur Compagnia di Punto, benannt nach dem größten Hornisten der Mozart-Zeit Wenzel Stich alias Giovanni Punto. In Telemann Ouvertüre in F zu Beginn wechselten Jagdsignale mit einem lieblichen Menuet, einer feierlichen Sarabande und einer munter beschwingten Loure. In drei Stücken kam noch einmal Händel zu Wort. und mit einer Triosonate in g wurde an Vivaldi erinnert. Nach diesen Kompositionen für kleinere Besetzungen vereinten sich alle fünf Mitglieder des Ensembles am Ende beim Quintett in F von Telemann, das mit einer festlichen Fanfare ausklingt. Danach konnten alle Freunde von Natur und Musik im Park bei einem PicknickKonzert Hornkonzerte von Punto mit David Fliri und Christian Binde, dem Leiter der Compagnia, hören, was das originelle und innovative Wochenendprogramm der styriarte (28., 29. und 30. 6. 2024) stimmungsvoll beendete.. Bernd Hoppe

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Musikfestspiele Potsdam Sanssouci: Der Kaiser auf dem Koffer. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci zeichnen sich seit Jahren durch originelle Programmkonzeptionen aus. In diesem Jahr war „Tanz“ das Motto, was eine Fülle von attraktiven Aufführungen versprach. Im Schlosstheater des Neuen Palais gab es Grauns Oper Adriano in Siria, welche erstmals 1746 an der Königlichen Oper in Berlin erklang, seither aber nicht mehr gespielt wurde. Wie die berühmten opéra-ballets im Frankreich des 17. Jahrhunderts erfreute sich diese Kunstform auch in Preußen großer Beliebtheit. Friedrich II. engagierte ab 1744 für den Potsdamer Hof eine Tanzkompagnie, an deren Spitze die italienische Startänzerin Barbara Campanini („La Barberina“) für Furore sorgte und natürlich bei der Uraufführung des Adriano mitwirkte.

Die legendäre Künstlerin hatte auch in der aktuellen Inszenierung von Deda Cristina Colonna einen Platz gefunden. Die Regisseurin arrangierte die Handlung um den römischen Kaiser Hadrian, der den syrischen König Osroa besiegt und dessen Tochter Emirena entführt hat, vor einer hohen dekorativen Wand (Ausstattung: Domenico Franchi), welche mit Kunstobjekten sowie Details aus dem Palastinterieur und dem Garten geschmückt ist. Unnötigerweise wurde eine Vielzahl von Jalousien installiert, die von den Akteuren unmotiviert fast pausenlos bedient werden müssen. Attraktiv und kostbar sind die Kostüme in ihrer historischen Orientierung, entbehrlich einige modische Zutaten wie ein Reisekoffer, der für den Kaiser als Sockel dient, ein Einkaufstrolley und ein Fahrrad. Für die Auftritte der Barberina an den Aktschlüssen hatte Graun Divertissements komponiert, wofür nun eine moderne Lösung gefunden wurde. Als Auftragswerk der Musikfestspiele schuf der 1965 in Rom geborene Italiener Massimiliano Toni eine „Barberina Suite“, bestehend aus drei Intermezzi, die von der Spezialistin für Barocktanz Valerie Lauer mit Grazie und Geheimnis interpretiert werden. Ihre orientalische Gewandung und das golden geschminkte Gesicht sind von fremdartigem Reiz, passend zur Musik mit ihren exotischen Instrumenten Nay, Clavictherium, mediterranem Perkussioninstrumentarium und  von Dorothee Oberlinger selbst gespielter Flöte.

Mit ihrem Ensemble 1700 sorgte die Dirigentin schon in der dreiteiligen Ouvertüre für einen lebhaften Einstieg mit rhythmischer Prägnanz und großem Farbenreichtum. Die Musik ist beschwingt und galant, oft auch elegisch und wehmütig. All diese Stimmungen bringt Oberlinger wirkungsvoll zur Geltung, setzt auch starke Akzente durch prägnant platzierte Affekte.

Szene aus Grauns Oper „Adriano in Siria“ in Potsdam 2024/Foto Sebastian Gloede

Ein erlesenes Solistenensemble meistert die anspruchsvollen Partien in staunenswerter Manier, angeführt von Valer Sabadus in der Titelrolle. Der Counter war in der 4. und letzten Aufführung der Serie am 13. 6. 2024 in blendender Form. Die Stimme klang resonant und ausgeglichen, ohne Schärfen in der Höhe und auch in der tiefen Lage präsent, wie die furiose Arie „Wenn ein wilder Löwe“ im 2. Teil zeigte. Beeindruckend war auch die emotionale Gestaltung seiner Soli, während das Spiel bei diesem Sänger immer recht verhalten bleibt. Spektakulär war der Auftritt des Sopranisten Bruno de Sá als Partherfürst Farnaspe. Nicht nur die stupende Beherrschung der Extremhöhe mit topsicheren Spitzentönen überwältigte, auch die makellose Demonstration des virtuosen Zierwerks mit Koloraturen, Trillern und Fiorituren war von schier mirakulösem Zuschnitt. Als seine Verlobte Emirena war Roberta Mameli zu erleben. Die italienische Sopranistin ist in Potsdam regelmäßig zu Gast und noch immer ein Garant für hochkarätigen Barockgesang. Zu rühmen sind neben ihrer individuellen Stimme die intensive Darstellung und das expressive Gebärdenspiel. Nach ihrer Arie „Als verlassene Gefangene“ mit resolutem Nachdruck sorgt sie gemeinsam mit de Sà im Duett „Meine Seele soll übergehen“ für einen überwältigenden Moment, in dem die Zeit still zu stehen schien – zwei Sopranstimmen, die sich zu einem harmonischen Zusammenklang umschlingen und ihre Individualität aufgeben zugunsten einer wundersamen Symbiose. Auch die zweite Sopranistin, Keri Fuge als Sabina, Verlobte des Kaisers Adriano, die in dessen Affinität zu Emirena eine Rivalin wittert, bot eine exzellente Leistung.  Die substanzreiche, technisch blendend geführte Stimme der Britin war der Mameli ebenbürtig, und auch sie überzeugte durch die engagierte Darstellung. Zu den Trümpfen der Besetzung zählte auch der französische Haute-contre David Tricou als besiegter Partherkönig Osroa. Von stattlicher Erscheinung und herrscherlicher Aura zog er bei jedem seiner Auftritte die Blicke auf sich. Auftrumpfend und furios sein Gesang, furchtlos sein Ausdruck, würdevoll seine Haltung. Der junge italienische Sopranist Federico Fiorio komplettiert das Personal als Adrianos Adjudant Aquilio mit knabenhafter, buffonesk-leichter Stimme. Reizend und mit großer Spielfreude trägt er seine Arien „Ein alter Krieger“ und „Der vorsichtige Schnitt des Winzers“ vor. Am Ende vereinen sich alle Mitwirkenden zum jubelnden Schlusschor „Möge dein Name, großer Kaiser“ und fröhlich-ausgelassenen Tanz, denn Adriano hat Osroa die Freiheit und Farnaspe seine Emirena geschenkt. Nach diesem lieto fine gibt es auch im Saal anhaltende Begeisterung. Bernd Hoppe

Vielbeiniges

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Bei NAXOS: Tschaikowsky-Lieder szenisch. An der Oper Frankfurt hat Christof Loy an einem Abend Tschaikowsky-Lieder szenisch arrangiert – unter dem Titel NONE BUT THE LONELY HEART ist dieses Programm jetzt bei NAXOS auf einer Blu-ray Disc erschienen, gefilmt zwischen dem 24. und 26. Februar 2021 (NBD0181V). Herbert Murauers Ausstattung wurde von Loys Stockholmer Inszenierung der Fedora Giordanos übernommen, die nach Frankfurt wechseln sollte, was sich wegen der Pandemie nicht realisieren ließ. Der Bühnenraum ist ein multifunktionales Zimmer, tapeziert und gediegen  möbliert, welches an einen bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert, wo man sich zum gemeinsamen Singen oder Musizieren traf. Die szenische Atmosphäre erinnert an die intimen Szenen in Eugen Onegin. An der  hinteren Wand befindet sich ein prachtvoller mattgoldener Bilderrahmen, in den mehrfach die Köpfe der Sänger als schwarz/weiß Aufnahmen projiziert werden (Video: Ruth Stofer).

Die 24 Romanzen, die aus über 100 Liedern ausgewählt wurden, interpretieren fünf Sänger, die von den Pianisten Mariusz Klubczuk und Nikolai Petersen begleitet werden. Ein Instrumentalstück aus der Feder Tschaikowskys – das Adagio cantabile. aus dem Sextett d-Moll, Souvenir de Florence, op. 70 – spielen Mitglieder des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters.

Zentrales Motiv der Handlung ist ein Glas Wasser, zu dem der Protagonist (der Bariton Vladislav Sulimsky) immer wieder greift, womit an Tschaikowskys möglichen Suizid erinnert werden soll. Freilich sind die Umstände vom Tod des Komponisten bis heute ungeklärt – niemand weiß, ob eine Infektion mit der Cholera vorsätzlich oder unbewusst geschah. Sulimsky, dessen Physiognomie entfernt an die Tschaikowskys erinnert, eröffnet mit dem schwermütigen „Reconcilation“. Sein Bariton ist aufgeraut und vibrierend, doch stark im Ausdruck. Für das bekannte „Amid the din of the ball“ fehlt es ihm an Eleganz, das düstere „On yellow fields“ bekommt dagegen packende Kontur. In „Final“ schwingt er sogar das Tanzbein, geht das Lied doch auf ein Motiv aus dem Ballett The Sleeping Beauty zurück. Ausgelassen und lärmend beteiligen sich alle Sänger an dieser körperlichen Aktion. Ein leichterer, jugendlicher Bariton ist Mikolai Trabka eigen, der sich mit „I never spoke to her“ vorstellt. Ihm gehört die schönste Stimme, die sich in „The Night“ schwärmerisch verbreitet. „To forget so soon“ gehört zu den bekannteren Liedkompositionen des Meisters – dem Tenor Andrea Carè anvertraut, der es recht grobschlächtig vorträgt und in der darstellerischen Vehemenz Lenski mit seinen Zornesausbrüchen gleicht. Auch bei „Why?“ gerät er nach maßvollem Beginn ins Forcieren. Im Hosenanzug aus schwarzer Seide und im weißen Tüllrock geben die beiden Damen ein elegantes Bild ab – Olesya Golovneva/Sopran und Kelsey Lauritano/Mezzo vereinen ihre Stimmen mit strengem Vibrato anfangs zu Duetten mit herbem Klang. In ihrem Tutu und Ballettschuhen posiert die Sopranistin mit Figuren des klassischen Balletts und geht sogar auf die Spitze (Choreografie: Andreas Heise), stimmlich ist sie ein dramatischer Typ, der eine Lisa gut anstehen würde. Auch die Tatjana, an die das Lied „He loved me so“ erinnert, würde in ihr Repertoire passen. Das Lied, welches dem Programm den Titel gab, ist der Mezzosopranistin anvertraut, die es gemessen und auf Linie bedacht vorträgt. Auch „Frenzied nights“ profitiert von ihrer kulturvollen Interpretation.  Der Schluss, „Again as before alone“, gehört dem imaginären Tschaikowsky, der dem Lied die gebührende Melancholie gibt. Bernd Hoppe

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The Christopher Wheeldon Collection bei Opus Arte. Einen Schuber mit drei Blu-ray Discs veröffentlicht OPUS ARTE, welche einen Einblick in das Schaffen des britischen Choreografen Christopher Wheeldon, Artistic Associate des Royal Ballet, ermöglichen (OABD73198D). Drei seiner bekanntesten Ballette werden vorgestellt, deren ältestes (und bekanntestes) Alice´s Adventures in Wonderland von 2011 ist. Seit seiner umjubelten Uraufführung wird es weltweit gespielt, auch das Bayerische Staatsballett München hat die Choreografie in seinem Repertoire. Hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahre 2017 zu sehen, die viele Principals der Londoner Compagnie vereint, angeführt von der bezaubernden Lauren Cuthbertson in der Titelrolle und Federico Bonelli als ihrem Freund Jack und später verwandeltem Herzbuben. Eine Glanzrolle in diesem Stück ist die exzentrische Herzkönigin, der Laura Morera einen gebührend extravaganten Umriss gibt. Auch die Doppelrolle des Zauberers und verrückten Hutmachers ist ein Fest für einen Tänzer von Ausnahmeformat – einfach wie geschaffen für den unvergleichlichen Steven McRae. Neben der tänzerischen Pracht sorgt auch die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley für optische Freuden und nicht zuletzt trägt Joby Talbots schwungvolle Musik zum stimmigen Gesamteindruck bei.

Ähnlich erfolgreich ist das im April 2014 herausgekommene Shakespeare-Ballett The Winter´s Tale, das hier in einer Aufzeichnung aus der Uraufführungsserie zu sehen ist. Wieder waren Wheeldons regelmäßige Mitarbeiter – der Komponist Joby Talbot und der Designer Bob Crowley – mit am Werk. Erzählt wird die Geschichte des eifersüchtigen Königs Leontes (Edward Watson in psychopathischer Intensität bis zum Wahnsinn), der seine schwangere Gattin Hermione (Lauren Cuthbertson mit viel Liebreiz und tiefer Empfindung) des Ehebruchs mit seinem Freund Polixenes (Federico Bonelli mit sinnlicher Aura) bezichtigt. 17 Jahre später spielt der 2. Akt in Böhmen, wohin die Tochter des Paares Perdida (Sarah Lamb von bezaubernder Anmut) mit ihrem Geliebten Florizel (Steven McRae mit hinreißender Vitalität und starker Ausstrahlung) fliehen konnte. Zurück nach Sizilien führt der 3. Akt, welcher die Versöhnung von Leontes und Hermione schildert. Zum Erfolg der Produktion, die inzwischen auch beim Hamburg Ballett gezeigt wurde, tragen auch das Orchestra of the Royal Opera House und der Dirigent David Briskin bei.

Das dritte (und aktuellste) Ballett trägt den Titel Like Water for Chocolate und ist eine Koproduktion mit dem American Ballet Theatre. Sie wurde im Juni 2022 im Royal Opera House London uraufgeführt, wovon auch der DVD-Mitschnitt stammt. Wieder ist das Trio Christopher Wheeldon (Choreografie), Joby Talbot (Musik) und Bob Crowley (Ausstattung) künstlerisch verantwortlich. Das Ballett wurde durch den mexikanischen Roman „Bittersüße Schokolade“ von Laura Esquivel inspiriert – eine Familiensaga von magischem Realismus in Mexiko um 1910. Die zentrale Figur ist Tita, verliebt in den Nachbarn Pedro, den sie jedoch nicht heiraten darf gemäß einer Familientradition, sich um die alte Mutter, Mama Elena, sorgen zu müssen. Statt ihrer ist Pedro die Hand Ihrer Schwester Rosaura versprochen. Dieser hofft, durch die Heirat näher bei seiner einzigen Liebe Tita zu sein. Ein Jahr ist vergangen und Rosaura hat Probleme, ihr neu geborenes Baby zu stillen. Wie durch ein Wunder kann Tita dieses Amt übernehmen, was Pedros Liebe zu ihr noch verstärkt. Ein nächtliches Treffen mit Tita wird gestört von Elena und Rosaura – Pedro muss mit seiner Frau und dem Baby die Farm verlassen. Die Magd Chenca übermittelt die Nachricht vom Tod des Kindes, Tita beschuldigt ihre Mutter als die Verursacherin des Unglücks. Ihren emotionalen Kollaps will Doktor John Brown in seinem Haus in Texas heilen. Er liebt Tita und will sie heiraten. Sie willigt ein trotz ihrer fehlenden Gefühle für diesen Mann, bei dem sie sich aber Frieden und Sicherheit verspricht. Die inzwischen verstorbene Mutter wird aufgebahrt, unter den Trauernden sind Pedro und Rosaura mit ihrer neuen Tochter Esperanza. In einer Kassette entdeckt Rosaura ein Tagebuch ihrer Mutter, welches ihre Liebe zu einem Mann namens José enthüllt, doch bestimmten die Eltern eine Heirat mit Juan de la Garza, Titas Vater. Die Liebenden wollten fliehen, doch Juan wird von Elenas Brüdern getötet. Dr. John gibt seine Verlobung mit Tita bekannt, aber Pedro erklärt ihr seine unverbrüchliche Liebe. Beider leidenschaftliche Verbindung endet in einer schrecklichen Vision – dem Erscheinen von Elenas Geist. Tita offenbart Dr. John ihre anhaltende Liebe zu Pedro und gibt ihm den Ring zurück.

Rosauras gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich immer mehr, verursacht durch ihre Eifersucht. Ihre Tochter Esperanza, die mit Johns Sohn Alex scherzt, ruft sie gebieterisch zu sich und wiederholt damit das Verhalten ihrer Mutter. Bald hält Pedro seine tote Frau im Arm. 20 Jahre wird eine weitere Hochzeit gefeiert – die von Esperanza und Alex. Endlich sind die Familien in Liebe vereint.

Für diese vielschichtige Saga erdachte Christopher Wheeldon eine facettenreiche Tanzsprache, die ihre starke Wirkung ebenso aus den intimen Momenten der Protagonisten bezieht wie aus mitreißenden Gruppenszenen. Tita und Pedro tanzen am Ende einen neoklassischen Pas de deux von ekstatischer Hingabe als apotheotisches Bekenntnis zur Macht der Liebe.

Führende Solisten der Compagnie verzeichnet die Besetzungsliste. An ihrer Spitze zwei Principals: Francesca Hayward als Tita und Marcelino Sambé als Pedro. Die in Kenia geborene Britin und der Portugiese sind längst das neue Traumpaar in London. Beider Tanzduos sind aufgeladen von überschäumendem Temperament und erotischer Leidenschaft. Sambé ist ein Ausbund an Vitalität und jugendlichem Übermut, hinreißend in den fulminanten Sprüngen und virtuosen Hebefiguren. Hayward ist bezaubernd und anmutig, aber sie vermag auch den. Schmerz und die Trauer zu vermitteln, beginnend bei Pedros Hochzeit mit Rosaura, später beim Tod der Mutter und beim leidenschaftlichen Wiedersehen mit Pedro.

Laura Morera ist faszinierend als strenge, hartherzige Mama Elena – fanatisch, unnachgiebig und grausam. Rasant und hocherotisch ist sie in einer Rückblende mit ihrem Geliebten José  (Joseph Sissens von animalischer Sinnlichkeit), grotesk und fast eine Nachfolgerin der Herzkönigin als ihre eigene Geistererscheinung. Matthew Ball als fürsorglicher und großherzig liebender Dr John Brown ist ein Sympathieträger. Wheeldon hat für ihn und Tita zu Beginn des 2. Aktes ein inniges Duett erdacht, das beider Gefühle anschaulich schildert.

Bob Crowleys Ausstattung ist inspiriert von mexikanischer Kunst und Folklore, besitzt Strenge und Abstraktion, aber auch Naivität. Joby Talbots Musik lässt gleichfalls die Einflüsse mexikanischer Musiktradition hören, ist sehr rhythmisch betont und mit viel Schlagwerk instrumentiert. Am Ende rauscht sie hymnisch auf und bezieht auch noch die Gesangssolistin Sian Griffith ein. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt unter Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra mit südländischem Schwung und Temperament. Bernd Hoppe

Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe

Bezaubernd

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Sind vier Opernhäuser für eine Stadt wie Berlin nicht genug? Offensichtlich nicht, denn neben der Deutschen Oper, der Staatsoper, der Komischen Oper und der Neuköllner Oper gibt es schließlich noch die Berliner Operngruppe, die einmal im Jahr eine italienische Oper aufführt und dazu hat sich, allerdings sich nicht auf die Gattung beschränkend, auch noch der Klangkörper Eroica Berlin unter seinem Dirigenten Jakob Lehmann gesellt und hat 2022 Gioacchino Rossinis Oper L’Italiana in Algeri halbszenisch aufgeführt. Davon gibt es seit kurzem eine 2-CD-Aufnahme, die dem Hörer viel Freude bereiten kann.

Das Ensemble hat sich erst 2015 gegründet, spielt Musik teilweise auf historischen Instrumenten und zwar meistens im Kino Delphi in Berlin Weißensee, ist aber auch bereits in der Hamburger Elbphilharmonie, dem Linzer Brucknerhaus und der Berliner Philharmonie aufgetreten. Die Musiker halten mehrere Programme, die man buchen kann, bereit, man kann zwischen Bach, Mozart und einem Wagner-Beethoven-Konzert wählen und eventuell Lioba Braun oder Mojca Erdmann hören. Dabei ist nicht nur ein Hörgenuss garantiert, sondern im Eintrittspreis von 20 Euro für die Kammerkonzerte ist jeweils auch ein Getränk inbegriffen.

Die bei PanClassics erschienene Aufnahme ist, wie der Beifall nach den einzelnen Musiknummern beweist, der Mitschnitt von einem Konzert und vereint eine prominente Sängerbesetzung mit einer hochprofessionellen Orchesterbegleitung. Das Zusammenspiel von modernen Holzbläsern und Streichern mit Darmsaiten ist effektvoll und die Begleitung der Rezitative nicht nur mit einem Tasteninstrument , sondern mit Cello, Kontrabass und Hammerklavier macht Sinn.

Bereits in der Sinfonia werden, was Lautstärke und Geschwindigkeit betrifft, alle Kontraste ausgereizt, blitzt Ironie auf, und die Finali werden geschickt in ständiger Steigerung aufgebaut. Die Frische des Spiels, das harmonische Miteinander mit den Sängersolisten versetzen den Hörer zunehmend in gute Laune. Der Neuer Männerchor Berlin ist zwar klein, aber fein.

Von der Lindenoper her bekannt ist der Säger des Mustafa, David Oštrek, der den sexgierigen Herrscher mit einem süffigen „me la voglio goder“ charakterisiert, der die notwendige Agilität für Rossini besitzt und sich nicht nur mit „già d’insolito ardore“ noch einmal zu steigern weiß. Einen stilsicheren, sensiblen Lindoro singt Miloš Bulajić, weiß seinen Tenor in  beachtliche Höhen zu schrauben und ist mit „Languir per una bella“ in seinem vokalen Element. Nur hin und wieder ist die Registerverblendung noch nicht perfekt. Zwei tadellose Baritone sind mit Adam Kutny als Haly und mit Manuel Walser als Taddeo zu hören, sehr sonor der eine in seiner Charakterisierung der italienischen Frauen, geschmeidig der andere in „Ho un gran peso“.

Auch noch in der Höhe  eine schöne Mezzofarbe hat die Stimme von Hannah Ludwig als Isabella, viele warme, weiche Töne, ihre Stimme kann Ironie ausdrücken und in „Per lui che adoro“ ist die Stimme wie aus einem Guss, was bei Intervallsprüngen nicht durchweg der Fall ist, aber bei einer raffinierten Wiederholung mit schönen Verzierungen kaum ins Gewicht fällt. Mit leichter Emission der Stimme und angenehmer Frische erfreuen die Elvira von Polly Ott und die Zulma von Laura Murphy. Was man auf diesen beiden CDs zu hören bekommt, hätte auch an einem der großen Opernhäuser der Stadt kein Missfallen erregt (PanClassics PC 10455). Ingrid Wanja

Harte Arbeit

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„Laßt mich euch ihr menschenbrüder wie es war erzählen“, sagt Max, der ehemalige SS-Offizier Dr. jur Maximilian Aue. Was nun beginnt ist keine Märchenstunde, sondern bereits nach wenigen Augenblicken ein gellendes, schreiendes Chaos mit einem wütenden und kreischenden Akteur, der von Bach und Couperin erzählt, von seiner Homosexualität, „auf den Reisen sind es männer, die mich nehmen mich als frau“, von der Mechanik des Tötens „einer schließt die eisentür, einer dreht am hahn die hand“ und von seinem Tick, „Ich muss kotzen rasch verzeiht. Das begann im Krieg. Ein tick“. Nun ja. Der Text ist größtenteils nicht zu verstehen. Die Musik des seit 2002 in Paris lebenden spanischen, zeitweise am IRCAM lehrenden Komponisten Hèctor Parra fährt mit brachialer Gewalt und Wucht durch die von Händl Klaus aufgetürmten Textmassen, die dieser aus dem 1400-Seiten-Roman von Jonathan Littell als Libretto herausschnitt. Den Titel der 2006 erschienenen französischen Ausgabe des Romans, der zwei Jahre später in Deutschland als Die Wohlgesinnten herauskam, behielt Parra für sein größtenteils auf Deutsch gesungenes, sechstes großes Werk für das Musiktheater bei.

Die Uraufführung des von Aviel Cahn beauftragten Werks erfolgte 2019 in Gent, wo auch der Mitschnitt des Dreiakters entstand (3 CD b.records LBMU62). Inszeniert wurde die mit Nürnberg und Madrid koproduzierte Aufführung von Parras katalanischem Landsmann Calixto Bieto, der – den Bildern nach – die Bühne in drei Stunden in ein Schlachthaus verwandelte.

Der Roman verwendet fiktive und reale Personen, gegliedert ist er in Kapitel, deren Bezeichnungen einer barocken Suite entsprechen, was die Oper getreu übernimmt.  Im kurzen Anfangskapitel denkt Max Aue über sein Leben während des Kriegs und seine Schuld nach. Unter falscher Identität lebt er jetzt in Frankreich, leitet eine Spitzenfabrik und hat zwei Kinder, Zwillinge. Die folgenden Abschnitte spielen alle während der Kriegszeit: in Babi Jar, Stalingrad, Antibes, Auschwitz, Pommern und Berlin während des Zusammenbruchs, immer wieder trifft er auf seinen Freund und Förderer, den SD-Mann Thomas Hauser, seine Schwester Una, mit der ein inzestuöses Verhältnis unterhielt, deren Ehemann, den Komponisten Berndt von Üxküll, seine Mutter und deren neuen Gatte, die er während seines Besuchs mit einer Axt ermordet, weshalb forthin die Kriminalbeamten Weser und Clemens, die ihn für schuldig halten, verfolgen, sowie den uralten fanatischen Nationalsozialisten Dr. Mandelbrod. Der Titel des vielfach verschlungen und beziehungsreichen Romans bezieht sich auf die Eumeniden des Aischylos, die Orest wegen des Muttermordes jagen. Die Orte und die Handlung lassen sich kaum auf Anhieb erkennen, derart verschachtelt hat Händl Klaus den Romantext und offenbar kunstvoll neu zusammengesetzt.

Immerhin lassen sich einige Personen klanglich ausmachen, so der von dem lyrischen Bariton Günter Papendell gesungene Thomas, die Una der in extreme Bereiche singkreischenden, eisig exakten Schweizerin Rachel Hanisch, Natascha Petrinskys leicht hysterische Mutter, und immer wieder das aus zwei Frauen- und zwei Männerstimmen bestehende Quartett. Der amerikanische Tenor Peter Tantsits ist zu bewundern für die hochtenorale Kraft, Energie und das schiere Durchhaltevermögen, mit der er einerseits den hochkultivierten Ästheten und Bach-Bewunderer und andererseits den psychisch derangierten und manipulativen Mörder Max und dessen Perversionen darstellt und grenzüberschreitend von Falsett bis Schreien alle stimmlichen Extravaganzen ausreizt. Der Text ist auch bei ihm kaum zu verstehen. Peter Rundel bemüht sich um eine gewisse Durchsichtigkeit der Stimmen aus Chor und Nebenfiguren und ist sich mit Choeurs und Orchestre Symphonique de L‘Opera Ballett Vlaanderen offenbar bewusst, dass sie hier ein Werk zur Aufführung bringen, dessen Bedeutung sich vielleicht erst viel später herausstellt. Die flächigen, schrammenden und heulenden Orchestertutti, die Parra, in immer neuer sadomasochistischer Saftigkeit aufbaut, lassen an Strauss‘ Elektra denken: Mutter und Stiefvater von Max stehen für Klytämnestra und Aegisth. Nur sehr sparsam setzt Parra kurze schimmernde Nachtklänge mit Harfe, Celesta und Englischhorn ein, die von der Brutalität niedergemetzelt scheinen.  (21. 07. 24)             R.F.

Joachim Raffs „Samson“

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Das Alte Testament ist nichts für schwache Nerven: da werden zerteilte Jungfrauen per Kurier verschickt, junge Männer im vermeintlich heiligen Krieg geopfert und hin und wieder ganze Völker eliminiert. Die Episode um den Israeliten Samson bildet in Sachen Mord und Totschlag keine Ausnahme. Samson hat sich in Delilah verliebt, eine Frau aus dem Lager seiner Widersacher – eine eher ungünstige Fügung, die ihn seine Frisur, sein Augenlicht und später alle Beteiligten das Leben kosten wird.

In den 1850er Jahren griff der Komponist Joachim Raff das Thema auf und machte daraus eine Oper mit dem Titel Samson. Anders als der spätere Camille Saint-Saëns schrieb er auch das Libretto. Wenn Raffs Samson auch mindestens so blutig ist wie die Passage aus dem Buch der Richter, so ist sein Samson doch reicher an zahlreichen Szenen mit tiefem und innigem Gefühlsausdruck – weniger ein religiöser Akt (übrigens in dieser Fassung ohne den Mythos des Haarschnitts), mehr ein menschliches Drama. Sieben Jahre lang hat Raff an seinem Samson gearbeitet. Entstanden ist eine groß angelegte Komposition mit abwechslungsreicher Orchestrierung, feiner Linienführung, einigen beeindruckenden Massenszenen und einer immer wieder spürbaren Affinität zum Musikdrama à la Richard Wagner. Trotz der unbestreitbaren Anziehungskraft des Werkes verzögerte sich die Uraufführung: 2022 wurde sie am Nationaltheater in Weimar uraufgeführt.

Das ausführliche Libretto der Ersteinspielung der Oper liefert eine Erklärung für diese verspätete Premiere. Übrigens enthält es auch das Libretto in drei Sprachen – sehr schön! Henrike Leissner

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Selten oder nie gespielte Opern haben ja für Opernfreunde stets ihren Reiz, zumal wenn sie vom Plot her Parallelen aufweisen: Es ist stets spannend zu sehen, wie das die Kollegen gemacht haben. Aber das Bessere ist eben auch leider der Feind des Guten oder des Soliden. Und es gibt da ja auch die Frage, warum ein Werk keinen Erfolg hatte oder warum es nicht zur Aufführung kam. Nicht alle Ausgrabungen lohnen sich, zumindest nicht für einen laufenden Theaterbetrieb, eher für Festivals. Oder die CD, wie nun hier.

In den 1850er Jahren beschäftigte sich der Komponist mit dem Thema des biblischen Samson, bei dem ich als Zuhörer weniger der Verführung sondern eher der Langeweile erliege, denn die neue Aufnahme bei der Schweizer Fonogramm – so verdienstvoll sie sicher ist – kann in keiner Weise mit Saint-Saens´ Bauchtanz-Oper mithalten (diese noch im Titel durch die Dame selbst erweitert). Bei Raff liegt sicher der Akzent auf dem allzumenschlichen Gefühl, auf alemannischer Befindlichkeit, wenngleich es da auch um Mord und Todschlag geht. Und natürlich ist Raff der Komponist des Kraftvollen ebenso wie des Zarten, der intimen Szenen ebenso wie der monumentalen kriegerischen Auseinandersetzungen (wie soll man das inszenieren?), aber im schweizerischen Bern verbleibt alles eher im Händelschen Oratorien-Fahrwasser, bleibt unüberzeugend, akademisch, papiern. Und eben im Gesamteindruck langweilig.

Dem arbeitet die neue Aufnahme nicht entgegen. Sicher, Philippe Bach am Pult des Berner Symphonieorchester, dem Chor der Bühnen Bern (toll!) und der Protagonisten macht einen wirklich guten Job und versucht uns von der Klangfülle der Komposition zu überzeugen – aber da ist mir zu wenig musikalisches Backing, zu wenig Rückhalt für die Protagonisten, die doch angeblich in elementaren Situationen aufeinandertreffen.

Und eben diese sind das Defizit der Aufnahme, denn einen so stentoralen Samson hat man seit Jon Vickers nicht mehr erlebt (und seiner kam aus Frankreich): Magnus Virgilius und Michael Weinius als Samson und Micha lassen mich jede Minute zum Lautstärkeregler greifen, um einer Kündigung meiner Wohnung vorzubeugen. Das ist einfach zu forciert, zu sehr unter Druck, zu unschön im Ton, Altes Testament oder nicht. Und es wird in der Dynamik schlicht zu monochrom. Auch Bariton Robin Adams als Abimelech muss sich den Vorwurf einer recht grauen, unscharfen Stimmführung gefallen lassen (meine Meinung sag ich mal gleich prophylaktisch). Das ist alles nicht spannend, nicht ereignisreich.

Der Dirigent Philippe Bach/ Wikipedia

Die Dame selbst, Olena Tokar, verwechselt Sinnlichkeit mit Kraft. Jeder Samson würde aus seiner Trance erwachen und ihr die Schere aus der Hand schlagen. Das ist mir zu viel Vibrato, zu robust der Ton, wenngleich sie von den Dreien zumindest um Zärtlichkeit und bewegende Momente bemüht ist. Auch ihr Schluss macht was her, in der Tat, selbst wenn man bei den hohen Noten etwas in Deckung geht.

Die übrigen sind funktional im großen Ganzen, das mich ab CD2 mehrere Teepausen einlegen ließ. Bei aller Wertschätzung der ganz sicher kostspieligen, mit Schweiß und Ausdauer verbundenen Bemühungen diese seltene Oper eines wenig bekannten Komponisten ans Tageslicht zu bringen und eben diesem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mehr als akademisches Interesse kann ich der neuen Aufnahme nicht entgegenbringen. Pardon. Stefan Lauter

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Dazu auch ein Text zum Komponisten und Werk von Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, anlässlich der Uraufführung in Weimar 2022: Mit der Uraufführung des Lohengrin unter dem Taktstock von Franz Liszt am 28. August 1850 im Weimarer Hoftheater begann der Siegeszug der Wagnerschen Bühnenwerke im deutsch-sprachigen Raum und bald auch darüber hinaus. Der Komponist des bahnbrechenden Werkes war zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch schon einige Schritte weiter: In seinen theoretischen Schriften, die der Exilant von seinem neuen Wohnort Zürich aus in die Welt entließ, entwirft er das «Musikdrama», das sich kategorisch von der zu überwindenden, kommerziellen Oper unterscheiden soll. «Wie hast du’s mit Wagner?» wurde bald zur musikästhetischen Gretchenfrage der Zeit. Zu den gründlichsten Kennern von Wagners Werk und Theorie in dieser Sattelzeit der Geschichte des Musiktheaters gehört der damals knapp 30-jährige Lehrer und autodidaktische Komponist Joachim Raff, der von 1850 bis 1856 in Weimar als Assistent von Franz Liszt wirkte. Ermuntert durch den Erfolg der Weimarer Uraufführung seiner grossen historischen Oper König Alfred am 9. März 1851 machte sich Raff sogleich an sein zweites Bühnenwerk, Samson. In einem Brief an seine Stuttgarter Freundin Kunigunde Heinrich charakterisiert Raff das Werk folgendermassen: «Was nun meine neue dramatische Arbeit anlangt, so verlasse ich darin den Boden der Oper, auf dem der ‹König Alfred› noch steht, gänzlich, und stelle mich aufs Gebiet des von Wagner angebahnten Musikdrama’s; auf welchem ich übrigens in einer von jenem Componisten und Dichter verschiedenen Weise zu arbeiten gedenke oder vielmehr im Begriffe bin.»

Der Autor: Severin Kolb, MA und Leiter der schweizerischen Joachim Raff-Gesellschaft/ Facebook

Raff zeigt sich in seinem Schaffen als Komponist, der stets versucht, die Positionen seiner Vorgänger zu einer Synthese zu amalgamieren. So ist auch Samson ein Versuch, Wagners Schaffen mit der Grand Opéra, insbesondere mit Giacomo Meyerbeers überaus erfolgreichen Werken, zu versöhnen, wie schon auf den ersten Blick auf die Einteilung des Werks in drei Abteilungen und die fünf Akte der französischen Tragödie sichtbar wird. Bei der Lektüre von Raffs parallel zum Samson entstandener Schrift Die Wagnerfrage, der ersten Wagner-Monographie überhaupt, kristallisiert sich heraus, in welchen Belangen Raff an Wagners Theorie und an Lohengrin (in Ermangelung an bereits existenten Musikdramen) anknüpfte, und in welchen er andere Wege ging.

Die Musik soll auch für Raff im Dienst des Dramas stehen, dessen Sujet er zwar der Bibel entnimmt, aber realistisch wie einen säkularen historischen Stoff behandelt: Parallel zur Ent-stehung des Werks wollte sich Raff mit einer Doktorarbeit über den Samson-Stoff an der Universität Jena «in der Gelehrtenwelt hinlänglich accreditieren». Der Plan scheiterte. Doch die Arbeit war nicht vergebens, denn Raff legte höchsten Wert auf eine historisch fundierte, re-alistische und enorm detailgetreue Umsetzung von Bühnenbild und Kostümen. Die Gestaltung des Titelhelden ist zeittypisch: Samson erscheint in Raffs eigenhändig verfasstem Libretto wie Wagners Rienzi oder Raoul de Nangis aus Meyerbeers Les Huguenots als Spielball des Schicksals, nicht als dessen Schmied. Zwischen den einzelnen Akten vergeht einige Zeit, so dass die Anlage des Werks Züge eines Stationendramas trägt, zumal Raff mehrfach an die biblische Passionsgeschichte anspielt.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/ Foto Candy Welz

Wie in der Grand Opéra üblich (auch Wagner geht im Lohengrin keine anderen Wege), kombiniert Raff eindrückliche Massenszenen und eine intime Privathandlung, die an den widrigen Umständen letzten Endes scheitert und zum Untergang der beiden Hauptprotagonisten führt. Der dramatischen Anlage des Werks entsprechend stehen sich in der Partitur grossbesetzte Szenen (sowohl der erste Akt mit dem eingängigen Bittgesang der Philister im Zentrum oder der finale Akt mit dem umfangreichen Ballett, das ebenfalls auf die Grand Opéra verweist, sind gross angelegte Massenszenen) und psychologisch subtil gestaltete Solonummern und Duette gegenüber. In Bezug auf die Dramaturgie folgt Raff Wagners Forderung zur Auflösung von Einzelnummern in ein größeres Gefüge, ohne jedoch selbst die Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie zu nivellieren. Die arienartigen Gebilde sind zumeist kurz, verzichten auf viel Textwiederholung und bieten wenig Gelegenheit zur Demonstration von vokaler Virtuosität – obwohl die Partitur hohe Ansprüche an die Interpretierenden stellt. Wäh-rend sich die beiden Soloszenen von Abimelech (2. Akt) und Samson (3. Akt) an der traditionellen, aus zwei kontrastierenden Teilen bestehenden Scena orientieren, lösen sich die Duette in kleingliedrigere Einzelteile auf. In dieser Hinsicht ragt das Duett des 4. Akts hervor, der Kerkerszene mit der Wiederbegegnung von Samson und Delilah, in der die Liebenden im-mer wieder neue Affekte durchleben. Raffs Tonsprache verbleibt trotz immer wieder kühnen Modulationen, chromatischen Einfärbungen und Ausflügen in ferne tonartliche Regionen weitgehend diatonisch. Er gliedert die Vertonung seiner Verse zudem weitgehend in jene quadratische syntaktische Taktgruppen, die Wagner in seinen Musikdramen auf der Suche nach der «endlosen Melodie» immer mehr aufsprengt. Dies hängt nicht zuletzt mit dem auf traditionelle Weise gereimten Libretto zusammen: Raff schätzte Wagners Dichtung des Lohengrin, verwarf aber dessen vor allem in Oper und Drama angebahnte Emanzipierung des Stabreims, der den Ring des Nibelungen prägt.

Zu Raffs „Samson“: Franz Liszt am Klavier in Weimar/ Postkarte/ Weimar-Lese

Raff nutzt die Möglichkeiten des Komponierens für Orchester auf der Höhe der Zeit: Mehrere Leitmotive setzt er auf subtile Art und Weise ein, jedoch nicht annähernd in dem Ausmaß wie Wagner im Ring des Nibelungen: (Samson-Herausgeber Volker Tosta schreibt dazu: Raff verwendet das gleiche Orchester wie Wagner im „Lohengrin“, also die Kräfte, die er am Hoftheater Weimar erwarten konnte. Er verwendet damit im „Samson“ die größte Orchesterbesetzung aller seiner Werke. Mehr noch als Wagner setzt Raff aber auf ein kammermusikalisches Klangbild mit zahlreichen Instrumentalsoli. Ein volles Orchestertutti und entsprechende Lärmentfaltung ist äußerst selten.) Während das Samson-Motiv, das vielleicht nicht zufällig dem «Siegfried/Schwert»-Motiv gleicht, die Präsenz des Helden sogar noch dann andeuten kann, wenn sich dieser gar nicht auf der Bühne befindet, wird der zweite Akt durch ein ahnungsvolles Motiv geprägt, das mit Abimelechs Intrige verknüpft ist – in der Verwendung nicht unähnlich wie das «Frageverbot»-Motiv aus Lohengrin. Ausgedehnte instrumentale Passagen – zu einem Vorspiel existiert bloß eine Skizze – verwendet Raff in erster Linie, um Szenerien zu charakterisieren, so das mit «Ländliches» überschriebene pastorale Vorspiel zu dritten Akt oder das die Kerkerszene einleitende düstere Fugato des vierten Akts. Ersteres er-scheint im vierten Akt als Erinnerungsmotiv. Steht die Instrumentalmusik der ersten vier Akte weitgehend im Dienst des Dramas, so zeigt sich Raff im die Handlung retardierenden Ballett auch als geschickter Komponist von geschlossenen Marsch- und Tanzformen. In den meisten Szenen dient das Orchester zur traditionellen Begleitung oder der Charakterisierung der Stimmung, doch in Samsons Arie des dritten Akts erweist es sich besonders deutlich als «wissendes Orchester», das durch Molleintrübungen auf Samsons Selbsttäuschung hinweist und dessen Aussagen unterminiert. Da Raff schon als feinsinniger Instrumentator gelobt wurde, ehe er überhaupt die Gelegenheit hatte, eigene Orchesterwerke zu hören, so überrascht es nicht, dass auch Samson zahlreiche faszinierende Einfälle enthält.

Zu Raffs „Samson“: Wagners Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld/ hier mit Ehefrau Malwina als Isolde auf einem Foto von Albert, sollte die Titelpartie singen/ Wikipedia

Zwar zeigten sich so eminente Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Hans von Bülow und, der erste Sänger von Wagners Tristan, von dem Stück begeistert. Zu einer Aufführung kam es bis heute jedoch nicht. Scheiterte eine Produktion in Darmstadt an «Delilahmangel», so lag es in Weimar zunächst an Engpässen in der Spielplangestaltung. Wegen der sabotierten Aufführung der von Liszt protegierten Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius legte dieser sein Amt als Kapellmeister im Dezember 1858 nieder und begrub dadurch die Hoffnung, den Samson in Weimar zur Aufführung zu bringen, auf längere Zeit. In den frühen 1860er Jahren versprach Raff seinen Freunden Hans von Bülow und Lud-wig Schnorr von Carolsfeld, das Werk wieder in Angriff zu nehmen. Nach Schnorrs unerwartetem Tod im Alter von bloß 29 Jahren gab Raff das Werk 1865 erneut auf. Albert Schäfer, der im Jahre 1888 das erste Verzeichnis der Werke Raffs herausgab, berichtet jedoch, dass der Komponist in seinem Todesjahr noch mehrfach davon gesprochen habe, den Samson zu überarbeiten, um ihn endlich aufgeführt zu sehen. Nach Raffs Tod geriet das Werk, das so früh wie kaum ein zweites auf das im Entstehen begriffene Musikdrama Wagners reagierte, weitgehend in Vergessenheit (…). Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, gab uns 2022 seinen Text anlässlich der Uraufführung der Oper am Nationaltheater Weimar. Mit herzlichem Dank an den Autor.

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Und der Herausgeber der musikalischen Edition des Samson, Volker Tosta, schreibt dazu: Es kommt fast einem Wunder gleich, wenn ein Herausgeber/Verleger es einmal schafft, ein Theater für ein vergessenes Werk zu begeistern. Normalerweise ist man dort gerne autark, auch wenn es darum geht Randrepertoire zu erkunden. Im Falle des Musikdramas in fünf Aufzügen Samson von Joachim Raff (1822-1882) mag geholfen haben, dass der Komponist in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, aber der Enthusiasmus, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Nationaltheaters Weimar den schon 2019 zum ersten Mal herausgegebenen Klavierauszug des Stücks begrüßten, war doch sehr bemerkenswert.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/Foto Candy Welz

Die hohe Meinung von dem Werk, die sich jetzt bei den Proben unter den Beteiligten noch gesteigert hat, lässt die Überzeugung wachsen, dass sich der Funke bei der Premiere am 11. September 2022 auch auf das Publikum in Weimar überträgt. Es ist vielleicht DIE Ausgrabung der vergangenen Jahre. Schon Hans von Bülow, enger Freund Joachim Raffs, schrieb diesem: „Lass den ‚Samson‘ nicht liegen! Dass der einschlägt, ist mir sicher.“ Aber Raff ließ den 1851 begonnen und 1857 fertiggestellten „Samson“ tatsächlich liegen. Da halfen auch die flehentlichen Bitten Ludwig Schnorr von Carolsfeld (dem ersten Tristan) nichts, der das Werk in Dresden herausbringen wollte. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vermutlich war Raff, der im Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Traditionalisten eine neutrale Position einnehmen wollte, dieses Werk doch zu nahe an Wagner, zu modern geraten.

Volker Tosta, Herausgeber der Edition Nordstern/ Link

Das DNT schreibt im Flyer zu Produktion: „Die Musik Raffs erinnert an Wagner, ist jedoch kühner in der Harmonik und klassizistischer in ihrer Durchlässigkeit.“ Man kann noch hinzufügen, dass sie kontrapunktischer ist und die traditionellen Formen immer wieder durchscheinen lässt. Raff konzipierte das Werk, zu dem er auch das Libretto selbst verfasste, als Musik gewordene Manifestation seiner umfangreichen Schrift „Die Wagnerfrage“, mit der er 1856 ordentlich Wirbel im Kreise der Neudeutschen entfachte. Die 1850 erfolgte Premiere des „Lohengrin“, bei er selbst tatkräftig Liszt assistierte, waren Raff Anlass zu Lob aber auch Tadel an Wagners Werk. So erscheint der „Samson“ als Melange zwischen deutschem Musikdrama und französischer grand opéra. Dabei ist das reichbesetzte Orchester oft kammermusikalisch reduziert und gibt der vokalen Linie ungeschmälerte Präsenz. Bülow schreibt: „…das (dramatisch)-Gesangliche hat mich fast durchgängig im höchsten Grade überrascht. Reiche, schöne – ‚blühende‘ – Melodik – ungeheuer sangbar – ungeheuer dankbar!“

Zu Raffs „Samson“: Der Dirigent Hans von Bülow/ Wikipedia

Obwohl Raffs Verhältnis zu Liszt durch die Nachwirkungen der „Wagnerfrage“ getrübt war, bemühte sich dieser um eine Uraufführung des „Samson“ in Weimar, verlor dort aber bald seine Stellung und konnte das Projekt nicht weiter verfolgen. Erst 1870 gab es wieder die Premiere einer Raff Oper in Weimar. Das war aber dann die komische Oper „Dame Kobold“, mit der Raff allen neudeutschen Einflüssen abschwor und seine Ambitionen für das ernste Musikdrama für immer einstellte. Es sollten noch drei weitere Opern folgen, alle von heiterem oder lyrischem Charakter. Ausgerechnet in Weimar erfolgte dann 1877 die Premiere eines Konkurrenzwerks über den gleichen Stoff: Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Die Riege der handelnden Personen in beiden Opern ist durch die gemeinsame Vorlage (AT: Buch der Richter) natürlich ähnlich, aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Motivation ist deutlich verschieden. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Raff Religion und Metaphysik keine Rolle spielen. Alles ist menschlich, politisch und diesseitig. Auch in seiner tiefsten Agonie kommt Raffs Samson der Ausruf „Gott“ nicht über die Lippen. Frappant ist auch die Parallele zwischen dem großen Liebesduett zwischen Samson und Delilah  im dritten Akt und der dramaturgisch ähnlichen gebauten Szene in Wagners „Tristan und Isolde“, die beide durch Eindringlinge von außen jäh beendet werden. Mit Genreszenen hält sich Raff in den ersten vier Aufzügen zurück, um dann aber im fünften Aufzug ein opulentes Fest der Philister mit großem Ballet zu zeigen. Auch hier gibt es Orientalismen, aber nicht so auffällig wie bei Saint-Saëns, der den Vorteil hatte, derartige Musik selbst gehört zu haben. Volker Tosta/ Nordstern

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Die Autoren: Severin Kolb (*1988), ist M. A., Studium der Musikwissenschaft, Religionswissenschaft und Hermeneutik an der Universität Zürich (Abschluss 2016), wo er nach einer Masterarbeit über Raffs Sinfonik über das Verhältnis von Raff zu Richard Wagner dissertiert. Seit 2016 ist er im Vorstand der Joachim-Raff-Gesellschaft und wirkt als wissenschaftlicher Leiter des Joachim-Raff-Archivs. (Quelle arbido)

Der Musikforscherr Volker Tosta von der Edition Nordstern ist der Herausgeber vieler Aufführungspartituren vergessener Opern, so zuletzt der von Meyerbeers Feldlager in Schlesien an der Oper Bonn und so auch des Samson von Raff nun am Nationaltheater Weimar im September 2020, zu dem wir dann eine längere Präsentation planen und die Aufführung auch besprechen werden. Das Vorspiel zum 3. Akt ist in einer Aufnahme unter Roland Kluttig auf youtube zu hören.  G. H.

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Abbildung oben: Samson et Dalilah von José Echenagusia Errazquin/Ausschnit.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Ruy Coelho

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Obwohl er mehr als zwanzig Opern komponierte und Portugal endgültig eine Nationaloper in eigener Sprache gab, in seinem Heimatland eine genuin portugiesische Variante des Kunstlieds etablierte, in der Orchestermusik Werke in den Dimensionen Gustav Mahlers schuf und auch in anderen Genres der klassischen Musik über ein halbes Jahrhundert außerordentlich präsent war, ist Ruy Coelho (1889-1986) heute nahezu vergessen – oder wird bewusst totgeschwiegen. Wiewohl seine kontroverse Beziehung zum diktatorischen Regime Estado Novo mit den spezifisch portugiesischen autoritären Elementen nicht von der Hand zu weisen ist, rechtfertigt seine künstlerische Bedeutung die eingehendere Beschäftigung mit diesem Komponisten.

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Der Komponist Ruy Coelho, ca. 1911/Wikipedia

Denkt man an die Iberische Halbinsel, so nimmt Spanien rein quantitativ mit nahezu 85 Prozent das Gros der Fläche ein. Portugal kommt lediglich auf etwas über 15 Prozent und hat mit etwa 10 Millionen Einwohnern auch nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung Spaniens vorzuweisen. Gleichwohl wäre es gewiss falsch, die landläufig nach wie vor verbreitete Meinung zu vertreten, Portugal sei nichts weiter als ein Anhängsel Spaniens. In musikalischer Hinsicht zeigen sich freilich ähnliche Charakteristika, fiele es doch vermutlich auch fortgeschrittenen Musikliebhabern aus dem Stegreif schwer, auch nur drei bedeutende portugiesische Komponisten zu benennen. Ist bereits die spanische Oper weitestgehend ein randständiges Thema – sieht man einmal vom Sonderfall des nicht exakt in den westeuropäischen Kanon einzuordnenden Genres der Zarzuela ab –, so gilt dies in noch weitaus stärkerem Maß für das portugiesische Musiktheater. In diesem Zusammenhang scheint ein Blick in die Geschichte notwendig, um die größeren Zusammenhänge zumindest in groben Zügen aufzuzeigen.

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Die Gattung der Oper, die sich unstrittig in Italien entwickelte und deren Anfänge man auf um 1600 datieren kann, entfaltete im Laufe des 17. Jahrhunderts eine ungemeine Attraktivität auch in den angrenzenden Ländern, insbesondere in Frankreich. Während sich die Anfänge einer spanischsprachigen Oper bereits in die Regierungszeit Felipes IV. (reg. 1621-1665) datieren lassen – der bis 1640 in Personalunion als Filipe III. auch noch König von Portugal war (die sogenannte, von 1580 bis 1640 währende und schließlich von den Portugiesen wieder abgeschüttelte Iberische Union) –, findet man in Portugal erste nennenswerte Ansätze zur Etablierung einer eigenen und eigensprachlichen Operntradition erst unter João V. (reg. 1706-1750), teilweise als der portugiesische Sonnenkönig bezeichnet. Ganz sicher war der italienische Einfluss lange Zeit übermächtig, was sich bereits darin zeigt, dass sich beinahe sämtliche portugiesische Opern im 18. und auch im 19. Jahrhundert italienischsprachiger Libretti bedienten.

Ruy Coelho: „Serão da Infanta“ im Teatro São Carlos, Lissabon, 1913/Wikipedia

Als bedeutende Opernkomponisten Portugals wären in diesem Zusammenhang vor allem Francisco António de Almeida (1702-1755), Pedro António Avondano (1714-1782), João de Sousa Carvalho (1745-1798) und Marcos Portugal (1762-1830) zu nennen. Eine interessante Ausnahme stellt António Teixeira (1707-1769) dar, der zwischen 1733 und 1739 mehrere Singspiele bzw. Marionettenopern in portugiesischer Sprache komponierte (die meisten leider verloren), darunter zwei auf Texte des brasilianisch-stämmigen Marranen António José da Silva (1705-1739), bekannter als O Judeu, der, von der Inquisition verurteilt, tragischerweise auf dem Scheiterhaufen endete (As Variedades de Proteu von 1737 wurde vom Label Portugalsom tatsächlich eingespielt). Das Erdbeben von 1755, welches Lissabon zu erheblichen Teilen in Schutt und Asche legte und einen unwiederbringlichen Kulturverlust darstellt, konnte den Siegeszug der Oper nur zeitweilig bremsen. Dafür stehen die in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eröffneten beiden großen und bis heute tonangebenden Opernhäuser São Carlos in Lissabon (1793) und São João in Porto (1798).

Noch im 19. Jahrhundert waren portugiesische Opern in italienischer Sprache üblich. Mit Francisco dos Santos Pinto (1815-1860) und Francisco de Sá Noronha (1820-1881) gab es ab der Jahrhundertmitte zaghafte Ansätze, portugiesischsprachige Opern und Operetten etablieren zu wollen. Besonders Augusto Machado (1845-1924) verfolgte die Absicht, einen nationalen portugiesischen Typus gerade der Operette zu schaffen, doch blieben die französischen und italienischen Vorbilder unverkennbar.

Ruy Coelho als Dirigent/YouTube

Wie übermächtig das Italienische war, lässt sich auch anhand des zeitgenössischen Falls von Carlos Gomes (1836-1896), der heute als Schöpfer der brasilianischen und eben portugiesischsprachigen Nationaloper gilt, aufzeigen. Einzig seine beiden frühesten Opern A Noite do Castelo (1861) und Joanna de Flandres (1862) bedienten sich des Portugiesischen, diejenigen danach – darunter seine erfolgreichste, Il Guarany (1870) – kehrten, trotz teils betont nationaler Thematik, zur italienischen Sprache zurück, nicht zuletzt, um an der Mailänder Scala überhaupt ernst genommen zu werden. Es blieb Alfredo Keil (1850-1907), dem Schöpfer der portugiesischen Nationalhymne A Portuguesa, der deutsche Wurzeln hatte, vorbehalten, mit Serrana 1899 die bis heute populärste Oper in portugiesischer Sprache, die längst im Rang einer Nationaloper steht, zu komponieren (vergleiche den Artikel in der Serie Die vergessene Oper). Aber selbst Serrana wurde zunächst in italienischer Übersetzung uraufgeführt und gelangte erst 1909, zwei Jahre nach Keils Ableben, im Original auf die Bühne. 1907 verstorben konnte er die weitere Entwicklung nicht mehr mitgestalten.

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So bietet sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor ein zwiespältiges Bild, wenn es um eine nationale Operntradition Portugals in der eigenen Landessprache geht. Diesen Umstand endgültig im Sinne einer patriotischen, originär portugiesischen Erneuerung umzulenken blieb die selbstgesetzte Lebensaufgabe eines anderen Komponisten, dessen Vita beinahe ein ganzes Jahrhundert umspannt: Ruy Coelho (1889-1986), eine der heute unbekannten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Camões“, 1946/Poster/IMDb

Am 3. März 1889 in Alcácer do Sal, an der Küste des Alentejo und knapp 100 km südlich von Lissabon gelegen, als Sohn eines Fährmanns geboren, studierte Coelho – dank des Geschäftsmanns und Amateurgeigers Jorge Yerosch, Inhaber einer Handelsniederlassung in Lissabon – zwischen 1904 und 1909 zunächst am Lissabonner Konservatorium Klavier, Komposition, Flöte und Kontrapunkt. Seine früheste Ouvertüre ist bereits von 1907. Zwei Jahre später ging er nach Berlin und begann ein Kompositionsstudium bei Engelbert Humperdinck, dem sich wenig später eines der Analyse bei Max Bruch anschloss. In Berlin hörte der junge Coelho u. a. Straussens Salome und Wagners Parsifal, der seit 1914 nach Ablaufen der Urheberrechte auch außerhalb von Bayreuth aufgeführt werden konnte. Ein Kommilitone aus der Humperdinck-Klasse war übrigens der Baske Andrés Isasi (1890-1940), der sich später für einen nationalistisch aufgeladene baskische Oper stark machte (auch wenn er nie eine solche komponierte).

Ein erstes bedeutendes Orchesterwerk, die Ballettmusik Die Prinzessin mit den eisernen Schuhen (Einspielung bei Portugalsom), entstand 1912 noch in Berlin. Zwischenzeitlich war in Portugal die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen worden (1910). Wohl begeistert von Teófilo Braga (1843-1924), den portugiesischen Schriftsteller und zweimaligen Staatspräsidenten (1910/11 und 1915), kam Coelho verstärkt in Berührung mit der Ideologie, Portugal erlebe eine Phase der Dekadenz und solle sich auf seine heroische Vergangenheit berufen.

Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Camões“, 1946/Szene daraus/IMDb

Der legendäre portugiesische Nationalpoet Luís de Camões (1524-1580), Schöpfer der Lusiaden (und Bariton-Held in Donizettis Dom Sébastien), stand wie kein anderer für die „goldene Epoche“ des kolonialen Portugals mit ihrer weltumspannenden maritimen Größe und wurde somit zum Fixstern auch für Coelho, dessen Glaube an eben diese neue Ideologie unerschütterlich wurde. „Sehen Sie nicht, dass Portugal nach Wagners Tetralogie der Erde unweigerlich die Tetralogie des Meeres schaffen wird?“, schrieb er damals. Die Beschäftigung mit der Camões-Thematik erscheint daher folgerichtig. (Darin ähnlich wie in Italien der aufkommende Faschismus, am 23. März 1919 als Fasci italiani di combattimento gegründet, der sich auf die einstige Glorie Roms besann und die römische Liktorenbündelung, die Faszien, zur Namensgebung nahm. Auch Komponisten wie Italo Montemezzi und Pietro Mascani waren dagegen nicht immun. – In Spanien verlegte sich Francisco Franco auf die Förderung der volkstümlichen Zarzuela als nationale Eigenart.)

Ruy Coelho verehrte den portugiesischen Dichter Luis de Camões/der liegt, wie hier abgebildet, im Mosteiro dos Jerónimos, Lissabon/Wikipedia; Camões taucht zudem bereits vor Coelho in musikalischem Zusammenhang auf, so zum Beispiel in Donizettis Oper „Dom Sébastien“, Paris 1842, und in Flotows Pariser Operette „Indra – L’Esclave de Camoëns“, 1843

Coelhos Symphonia Camoneana (teils Sinfonia Camoniana geschrieben), die in ihrer chorsinfonischen Monumentalität gewiss auch durch die von ihm erlebte Berliner Erstaufführung von Mahlers Sinfonie der Tausend angeregt wurde, offeriert interessanterweise tatsächlich gerade Einflüsse Arnold Schönbergs, bei dem er zudem Unterricht genommen hatte. Die Uraufführung eben jener Symphonia Camoneana am 13. Juni 1913 im Lissabonner Teatro São Carlos, kurz nach Coelhos Rückkehr nach Portugal, führte zu einem mittleren Skandal, verstörte ihr gewagter Tonfall die Kritiker doch überwiegend.Dieser künstlerische Misserfolg seiner megalomanischen Sinfonie führte nun allerdings dazu, dass sich Coelho dem Operngenre zuwandte. Mit Serão da Infanta stellte er den portugiesischen Königshof unter João III. (reg. 1521-1557) in den Mittelpunkt. Das Libretto steuerte niemand Geringerer als eben Teófilo Braga bei. Tatsächlich handelte es sich um die erste portugiesische Oper, die bei ihrer Uraufführung wirklich auf Portugiesisch gesungen wurde. Die Partitur legt nahe, dass sich der Komponist von der avantgardistischen Moderne der Symphonia Camoneana distanzierte; dennoch war dem Werk kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Und es gab nur diese einzige Aufführung am 1. Dezember 1913. Infolgedessen begab sich Coelho geradezu fluchtartig zeitweilig nach Paris. Während des Ersten Weltkriegs trat die Oper für Coelho temporär wieder in den Hintergrund, dafür kann er als Schöpfer des portugiesischen Kunstlieds gelten, das mit den Canções de saudade e amor (1917) auf Texte von Afonso Lopes Vieira (1878-1946) einen essentiellen Beitrag erhielt. Bereits davor schuf Coelho die Symphonia Camoneana Nr. 2 (1912-1915), die in ihren Dimensionen zwar hinter die Vorgängerin zurücktrat, zunächst aber zwei Lieder der besagten Canções als Intermezzo enthielt und dadurch ebenfalls einen vokalsinfonischen Charakter besaß. Bei einer 1938 erfolgten Überarbeitung strich er allerdings besagten Liedanteil komplett; in dieser revidierten Form existiert eine Einspielung des Portugiesischen Rundfunks unter der musikalischen Leitung des Komponisten.

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Zur Opernkomposition kehrte Coelho nach dem Ersten Weltkrieg zurück und schrieb zwischen 1919 und 1970 mehr als zwanzig weitere Vertreterinnen dieser Gattung. Die so bezeichnete „Ekloge“ Crisfal (1920) galt seinem Komponistenkollegen Ivo Cruz (1901-1985) als „erste Offenbarung der portugiesischen dramatischen Musik“. Mit der dreiaktigen Oper Inês de Castro (1927), basierend auf der berühmten tragischen Liebesgeschichte von Kronprinz Pedro von Portugal und seiner galizischen Geliebten Inês, gleichsam Romeo und Julia von Iberien um 1350, kreierte Coelho sein erstes musikdramatisches Großwerk. Wie sich anhand einer als Tondokument auszugsweise festgehaltenen Aufführung im Teatro São Carlos erahnen lässt, gipfelt die Handlung in der von Pedro (jetzt König) anbefohlenen Krönung der zuvor von den Handlangern seines Vaters ermordeten und nun exhumierten Inês zur Königin von Portugal im Kloster von Alcobaça. Die gespenstische Atmosphäre der rührenden Szene, in welcher der gesamte Hofstaat sich genötigt sieht, die Hand der Toten als Zeichen der postumen Ehrerbietung zu küssen, ist durch Coelho und seinen Librettisten António Patricio bezwingend umgesetzt. In Belkiss (1928), einem weiteren Dreiakter, steht die sagenumwobene Königin von Saba im Zentrum. Deren von exotisch anmutenden Klängen begleiteter Einzug in Jerusalem ist ebenfalls als Tonaufnahme überliefert und zeugt von des Komponisten Händchen für überlebensgroßes Pathos.

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In Büchern und Artikeln verteidigte Coelho im Übrigen die auf Portugiesisch gesungene Oper, da er der Ansicht war, dass Opern, ähnlich wie in Deutschland, Frankreich und England, in der jeweiligen Landessprache gesungen werden sollten. Das Gegenteil bezeichnete er als schädlich für die Interessen der Kunst und der Öffentlichkeit, die dann nicht wirklich verstehe, was sie sehe und höre.

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Betrachtet man das Œuvre Ruy Coelhos, so fällt gerade auch die quantitative Fülle desselben auf. Neben den genannten über zwanzig Opern komponierte er drei Oratorien, weltliche Chormusik, Lieder, beinahe zwanzig Ballettmusiken, mehrere Sinfonien (darunter drei weitere Camões gewidmete), Suiten und Tondichtungen, Konzerte für Klavier und Violine, Kammer- sowie Klaviermusik. Nur ein kleiner Teil davon wurde eingespielt, meist unter seiner eigenen Stabführung.

Sucht man nach einem Grund, wieso Ruy Coelho heute außerhalb seines Heimatlandes quasi unbekannt und innerhalb desselben gleichsam totgeschwiegen wird, so wird man unweigerlich auf den Estado Novo (Neuer Staat), die portugiesische Diktatur von 1926/33 bis 1974, zu sprechen kommen. Tatsächlich gibt es gute Gründe, ihn zumindest als den halboffiziellen Komponisten dieses Regimes zu bezeichnen. António de Oliveira Salazar (1889-1970), der Diktator Portugals zwischen 1932 und 1968, war nicht nur derselbe Jahrgang wie Coelho, sondern kann auch als wohlwollender Gönner des Künstlers betrachtet werden. Salazar, anders als Franco und Mussolini ein Intellektueller und genuiner Professor der Volkswirtschaft, erkannte die Notwendigkeit, die bis dato weitestgehend ausgebliebene Nationalisierung der portugiesischen Musik voranzutreiben.

Es nimmt nicht wunder, dass sich der Estado Novo das offenkundige Talent Coelhos zunutze machte, welches dieser bereits lange vor dem Militärputsch von 1926 bewiesen hatte. Coelhos eigene Faszination für Themen der portugiesischen Geschichte, Mythologie und Folklore und seine Fähigkeit, diese in überhöhter, idealisierender Weise in Musik zu setzen, prädestinierten ihn geradezu für diese Aufgabe eines musikalischen Unterstützers des Regimes. Mit dem Oratorium Fátima (1931), abermals zu einem Text von Lopes Vieira, griff er die stark verbreitete Volksfrömmigkeit infolge des gleichnamigen Wunders und zugleich das Wiedererstarken der katholischen Kirche auf, die bereits in den letzten Dekaden der Monarchie und insbesondere unter der demokratischen Republik stark in Bedrängnis geraten war und daher den Wechsel zum Salazarismus ganz überwiegend begrüßte.

Ruy Coelho: „Belkiss“ im Coliseu de Lisboa, 1938/Glosas

Mit der Ballettmusik Dom Sebastião (1943) setzte er Portugals als tragisch empfundenem Herrscher (reg. 1557-1578), der mitsamt des größten Teils seiner Armee bei einem Kreuzzug in Marokko unterging und später in Form des Sebastianismus zur messianischen Sehnsuchtsfigur der Nation verklärt wurde, ein apotheotisches Tongemälde.

Die in einem portugiesischen Fischerdorf angesiedelte Oper Tá-mar (1936) bediente gleichsam die von Salazar so geliebte rurale Romantik mit Themen der einfachen Menschen abseits des dem Machthaber von Grund auf verdächtigen urbanen Raums.

Schließlich Dom João IV (1940), eine Art offizielle Festoper zum 300. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Spanien, als der Herzog von Bragança im Zuge einer nationalen Erhebung zu eben jenem König João IV. proklamiert wurde.

Für die vom Regime propagierten Filme Ala-Arriba! (1942), Camões (1946) und Rainha Santa (1947) steuerte Coelho die Filmmusik bei.

Ruy Coelho schrieb die Film-Musik für „Ala-Arriba“, 1942/CinePT

Trotz seiner zweifelsfreien Bedeutung für das Regime hatte Ruy Coelho, anders als seine landläufig als politisch unbelastet geltenden Komponistenkollegen José Vianna da Motta (1868-1948) und Luís de Freitas Branco (1890-1955), keine offiziellen Ämter inne. (Nicht ganz zu unrecht weist Coelhos Enkel Rui Ramos Pinto Coelho auf diese Diskrepanz hin.) Es ist zwar richtig, dass er 1939 auf Einladung das Orchester des Reichssenders Berlin ebendort dirigierte und während der Gastspiele der Berliner Philharmoniker in Portugal in den Jahren 1942 (unter Clemens Krauss) und 1943 (unter Hans Knappertsbusch) sogar ans Dirigentenpult derselben gebeten wurde. Allerdings ist es genauso zutreffend, dass seine eigenen Werke 1939 auch in London und Brüssel und zwei Jahre zuvor in Paris aufgeführt wurden.

All dies hielt man Ruy Coelho nach der Nelkenrevolution von 1974 freilich vor. Zwar verschwand der damals bereits 85-Jährige nicht sofort aus dem öffentlichen Leben, doch verblasste sein bis dahin hohes Ansehen innerhalb kurzer Zeit. Seine Werke verschwanden noch zu seinen Lebzeiten sukzessive von den Spielplänen der Opern- und Konzerthäuser, die sie ein halbes Jahrhundert davor geprägt hatten.

Und von nennenswerten Schallplattenaufnahmen kann seither auch nicht mehr die Rede sein. (Das Gros der Tondokumente befindet sich im Übrigen im Archiv des Portugiesischen Rundfunks RTP.) Selbst in musikalischen Nachschlagewerken erfolgte eine Relativierung unbestreitbarer Verdienste. Kritische Stimmen wie der kommunistische Komponist Fernando Lopes-Graça (1906-1994), nach dem Umbruch hofiert wie kein anderer, sorgten für eine pauschale Destruktion Coelhos und seines Werkes („Musik für Milchmänner, Fischhändler, Polizisten, Suppenköche, Karrenfahrer und Fado-Sänger“; immerhin gab derselbe Lopes-Graça etwas kleinlaut zu, als junger Mann selbst bei der Uraufführung der Inês de Castro begeistert applaudiert zu haben). Als Ruy Coelho am 5. Mai 1986 im biblischen Alter von 97 Jahren in Lissabon starb, war er längst zur persona non grata geworden.

Ruy Coelho schrieb auch die Film-Musik für „Rainha Santa“, eine portugiesisch-spanische Koproduktion (span. „Reina Santa“), 1947/Filmaffinity

Gewiss ist diese faktische damnatio memoriae – so sehr eine Distanzierung von Ruy Coelho nach dem Ende des Estado Novo seinerzeit auch geboten erschienen sein mag – aus künstlerischer Sicht bedauerlich und lässt sich zumal 50 Jahre nach dem demokratischen Umbruch in Portugal in dieser Schärfe auch nicht mehr nachvollziehen. Der von Coelho eingeschlagene Sonderweg, an dem er trotz Kenntnisnahme der musikalischen Hauptströmungen in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts festhielt, rechtfertigt, ihn nicht nur als den eigentlichen Initiator einer portugiesischen Nationaloper, sondern ihm auch auf dem Gebiet weiterer musikalischer Genres wie des Oratoriums, des Kunstlieds, der Ballettmusik, der Orchestermusik und nicht zuletzt der Filmmusik eine wichtige nationale Bedeutung zuzumessen.

Jüngste Entwicklungen wie die Coelho gewidmete, nüchtern-sachlich argumentierte Dissertation des Musikwissenschaftlers Edward Luiz Ayres de Abreu sind zumindest ein gewisser Hoffnungsschimmer, dass der Musiker Ruy Coelho doch noch eine späte künstlerische Rechtfertigung erhält. Daniel Hauser

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Quellen: Edward Luiz Ayres de Abreu, Ruy Coelho (1889-1986): o compositor da geração d’Orpheu, Lissabon 2014; Rui Ramos Pinto Coelho, Ruy Coelho: a personalidade e a obra, in: Glosas, Mai 2010deutschsprachiger Wikipedia-Artikel 

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Ruy Coelho: Szene aus „Ala-Arriba“, 1942/MUBI

Zum Hören gibt es bei YouTube einiges, hier eine Auswahl: „Am Quell von Inês‘ Liebe“ aus der Symphonia Camoneana Nr. 2; Ballettmusik „Dom Sebastião“; Finale des 1. Akts aus „Inês Pereira“; Luís de Camões zitiert vor König Sebastião aus den „Lusiaden“ (Spielfilm „Camões“); den Spielfilm „Ala-Arriba“ von 1942; ebenfalls den Film „Camões“ von 1946 und vieles mehr.

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Diskographie (wenn nicht anders angegeben, unter musikalischer Leitung des Komponisten): A bela dama sem pecado, Parabel (Archiv RTP) A Princesa dos sapatos de ferro, Ballettmusik, Dir.: Silva Pereira (CD Portugalsom PS 5012) Álbum para a Juventude Portugueza, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Alcácer, Tondichtung (Archiv RTP) Alfama, Ballettmusik (Archiv RTP) Auto da barca do inferno, Oper (Archiv RTP) Auto da barca da glória, Oper (Archiv RTP) Belkiss, Oper: Arie der Belkiss, Der Einzug der Belkiss in Jerusalem (LP Ruysta RU 012) Canções de concerto, Sopran: Maria Justina de Aldrey (LP Aldrey 6806 001) Canções folclóricas portugesas, Sopran: Maria Justina de Aldrey (LP Aldrey 6806 001) Canções populares portugesas, Sopran: Maria Justina de Aldrey (Archiv RTP) Chegada dos portugueses à Índia, Festouvertüre (Archiv RTP) Crisfal, Oper: Maria und die Novizinnen im Garten des Klosters Lorvão (LP Ruysta RU 012) D. João IV, Oper: Die Glocken von Lissabon (LP Ruysta RU 012) D. Sebastião, Ballettmusik (Archiv RTP) Fantasia portuguesa für Violine und Orchester, Violine: Vasco Barbosa, Dir.: Frederico de Freitas (Archiv RTP) Fátima, Oratorium: Unsere Liebe Frau erschien, Die Pilger (LP Ruysta RU 012)

Zu Ruy Coelho: Pierre-Charles Comte, „Die Krönung der Inês de Castro“, 1849/Wikipedia

Inês da Castro, Oper: Die Krönung der Inês de Castro im Kloster Alcobaça (LP Ruysta RU 012) Inês Pereira, Oper: Vorspiel, Hochzeitstanz der Inês Pereira, Finale des ersten Akts (LP Ruysta RU 012) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Largo für 2 Violettas, 2 Celli und Klavier, Ensemble MPMP (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Missa breve a Santa Teresinha (Archiv RTP) No jardim quimérico, Tondichtung (Archiv RTP) Noites na ruas da Mouraria für Klavier und Orchester, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Nuno Alvares, Tondichtung (Archiv RTP) O cavaleiro das mãos irresistíveis, Oper (Archiv RTP) O castelo de Lisboa, Tondichtung (Archiv RTP) Oratória da Paz, Oratorium: Der Einzug Jesu in Jerusalem (LP Ruysta RU 012) Orfeu em Lisboa, Oper (Archiv RTP) Passeios de estio, Suite, Dir.: Silva Pereira (CD Portugalsom PS 5012) Pequena Sinfonia Nr. 2 (Archiv RTP) Promenades Enfantines à Paris, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Rainha Santa, mystische Legende (Archiv RTP) Rapsódia de Águeda, Dir.: Costa Santos (Archiv RTP) Rapsódia de Lisboa (Archiv RTP) Rapsódia Portuguesa für Klavier und Orchester, Klavier: Lourenço Varela Cid (Archiv RTP) Rosas de todo o ano, Oper: Arie der Suzana (LP Ruysta RU 012) Sinfonia Clássica Nr. 2 (Archiv RTP) Sinfonia de Além-mar (Archiv RTP) Sinfonia Henriquina (Archiv RTP) Sinfonie Nr. 2 (Archiv RTP) Sinfonie Nr. 3 (Archiv RTP) Sonatina, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29)

„Endechas do Choupal, Música de Ruy Coelho sobre os versos de Luiz de Camões para do filme de Leitão de Barros ‚Camões'“, Sassetti & C.ª Editores“/Museu do Fado

Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 1 (Archiv RTP) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 2 (LP Ruysta R 001) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 4 (Archiv RTP) Symphonia Camoneana [Sinfonia Camoniana] Nr. 5 de São Paulo (Archiv RTP) Sonate für Violine und Klavier Nr. 1, Vasco u. Grazi Barbosa (CD Portugalsom PS 5012), Alexander Stewart u. Philippe Marques (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Sonate für Violine und Klavier Nr. 2, Vasco u. Grazi Barbosa (CD Portugalsom PS 5012), Alexander Stewart u. Philippe Marques (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) Suites Portuguesas Nr. 1-4 (LP Parlophone CPMC 22) Suites Portuguesas Nr. 1-3, Dir.: Jorge Machado (LP Decca SLPDX 533) Tá-mar, Oper: Quartett, Arie der Maria Bem, Ballett der Fischer von Nazaré (LP Ruysta RU 012) Três Prelúdios, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Três Prelúdios Peninsulares, Klavier: Bernardo Santos ( Digital MPMP Melographia Portugueza 29) Trio für Violine, Cello und Klavier op. 3, Ensemble MPMP (Digital MPMP Melographia Portugueza 12) – Triptico de Coimbra, Suite (Archiv RTP) Triptico de Lisboa, Suite (Archiv RTP) (Zusammenstellung Daniel Hauser)

Jung und alt

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Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts etwas miteinander zu tun haben? Ja, meinen die Urheber der CD Debussy & Strauss und finden es darin, dass beide Komponisten für ihnen nahe oder sehr nahe stehende Sängerinnen komponiert haben. Das wäre für Debussy seine allerdings anderweitig verheiratete Geliebte Mary Garden, später seine erste Melisande, und für Strauss seine Gattin Pauline, die allerdings Jahrzehnte vor dem Entstehen der Vier letzten Lieder sich als Sängerin, so als erste Freihild im Guntram produzierte. Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts in einem Kontrast zueinander stehen? Auch ja, meinen seine Verursacher und sehen diesen darin, dass Debussy beim Entstehen von Ariettes oubliées erst 24, Strauss hingegen beim Entstehen seines Mini-Zyklus, der nicht als solcher gedacht war, bereits 84, war allerdings zu dieser Zeit und auch sonst nicht gezwungen, ins Exil in die Schweiz zu gehen, wie das Booklet behauptet.

Die Texte zu Debussys Chansons wurden auf Gedichte des Symbolisten Paul Verlaine vertont, ursprünglich mit Klavierbegleitung, die Begleitung durch Orchester komponierte Brett Dean auf Anregung von Simon Rattle und Magdalena Kožena und orientierte sich dabei zwischen La Mer und L’Après-midi d’un faune. Für Strauss weist das Booklet interessanterweise darauf hin, dass aus Eichendorffs letzter Zeile „Ist das etwa der Tod“ ein „Ist dies etwa der Tod“ und damit eine größere Nähe zum nahenden Lebensende wurde.

Die Sängerin der beiden Zyklen ist Siobhan Stagg, eine australische Sopranistin, die dem Berliner Publikum durch jahrelange Präsenz an der Deutschen Oper Berlin bestens bekannt ist. Hier konnte man sie als leichten, dann lyrischen Sopran zwischen Sophie und Pamina erleben, inzwischen hat sie eine internationale Karriere gemacht und kümmert sich auch bereits um die nachfolgende Sängergeneration mit den Siobhan Stagg Encouragement Awards. Der Dirigent der Aufnahme ist Jaime Martin, Chefdirigent des Melbourne Symphony Orchestra, das er auch für dieses Konzert leitet.

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Strauss hatte sich für die Uraufführung, die er selbst nicht mehr erlebte, Kirsten Flagstad gewünscht, die auch als Erste, begleitet von Wilhelm Furtwängler, den Zyklus sang. Frühe Aufnahmen gibt es auch von Sena Jurinac und Fritz Busch, Lisa della Casa und Kurt Böhm sowie Elisabeth Schwarzkopf und Herbert von Karajan. Das sind sehr unterschiedliche Stimmtypen für eine Musik, für die man sich die lockere Stimmführung, den natürlichen, duftigen Klang einer Sophie und die Wärme und den melancholischen Touch einer Marschallin wünscht, dazu noch wegen der hohen Qualität der Texte eine perfekte Diktion. Die von Siobhan Stagg ist etwas verwaschen, da vertraut die Sängerin wohl darauf, dass das australische Publikum sowieso auf eine Übersetzung angewiesen ist. Der Sopran nimmt allerdings sehr schön das Farbenspiel des Orchesters auf, die Stimme  schraubt sich mühelos in die höchsten Höhen, dem Klangrausch die Textverständlichkeit opfernd. Ein sehr sanfter Tod wird mit einem schön verhallenden Schluss des letzten Liedes verheißen. Die leichte Veränderung des Eichendorfftextes von „ist das“ in „ist dies vielleicht der Tod“ wird damit eher zurückgenommen als bestätigt.

Der Debussy-Zyklus beginnt mit einer „extase langoureuse“ in schillernder Bewegtheit, allerdings auch wieder verhuschter Diktion, der Sopran korrespondiert in Il pleur dans mon cœur schön mit den Orchesterfarben und hat für L’ombre des arbres eine reiche Agogik. Leichtigkeit und Geschmeidigkeit zeichnen den instrumental geführten Sopran in Chevaux de Bois aus, Eleganz und schillernde Farben hat sie für Green und kraftvoll aufblühen kann sie für Spleen– insgesamt ist sie bei der Interpretation des jungen Debussy noch weit mehr in ihrem Element als bei der des über achtzigjährigen Strauss., während das Orchester beiden Komponisten in seiner begleitenden Funktion gerecht wird (SACD MSO 001)I. Ingrid Wanja  

Auf dem Flügel nach Walhall

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Es dauert ungefähr zehn Sekunden, bis auch die mit dem Werk Richard Wagners vertrauten Hörer schwören können, was ihnen geboten wird. Mit Macht tönt es aus dem Innern des Flügeln: Einzug der Götter in Walhall, das pompöse Rheingold-Finale. Für mich eine der imposantesten Eingebungen des Komponisten, die auch noch mit Blockflöte oder Akkordeon Eindruck machen dürfte. Das Klavier aber hat neben dem Orchester immer noch die größeren, die differenzierteren Ausdrucksmöglichkeiten. Bearbeitungen von Wagners Musikdramen für dieses Instrument sind so alt wie die Werke selbst. Sie sind aus der Not geboren. Schließlich waren seinerzeit die Möglichkeiten beschränkt, Wagner nach Laune und Bedürfnis hören zu können. Wir aber greifen in die Fülle der Regale und Festplatten mit einschlägigen Aufnahmen oder gehen ins Netz. Wagner für Klavier ist längst keine Lösung mehr – eine Möglichkeit schon. Mir gefällt daran am meisten, dass ich mich nicht über sängerische Defizite ärgern muss. Gerade in besagter Rheingold-Szene wird in Opernhäuser der Froh, der die Regenbogenbrücke zur Burg festlich besingt, vernachlässigt. Was hat man nicht alles gehört. Die „Bricke“, die zur Burg „fiehrt“ war noch harmlos. Solches Kauderwelsch bringt der Flügel nicht hervor.

Den neuerlichen Beweis liefert eine CD, die bei harmonia mundi erschienen ist (HMM 902393). Der russische Pianist Nikolai Lugansky hat die Musik aus dem Ring des Nibelungen sowie aus Parsifal und Tristan und Isolde weitestgehend selbst arrangiert, bedient sich also nicht nur aus dem großen Vorrat einschlägiger Bearbeitungen. Er folgt damit einem eigenen Bedürfnis, das er im Booklet eindrucksvoll und mit eigenen Erinnerungen versehen schildert. Er ist sich dessen bewusst, dass es selbstverständlich „verschiedene Methoden der Bearbeitung“ gibt. „Entweder man bleibt dem Original treu mit dem Ziel, das Werk bekanntzumachen und damit ein möglichst großes Publikum zu erreichen, was der Fall war, als es noch keine Plattenaufnahmen und kein Radio“ existierten. Und dann gebe es die „mehr frei, offene Art, bei der man das Klavier mit dessen eigenen Mitteln diese großartigen Erzählungen schildern lässt“. Für ihn, Lugansky, sei die „ideale Klavierbearbeitung ein Werk, dass für sich allein steht“. Wagner betreffend „bedeute dies, dass man die Orchesterstimmen der Originalpartitur nicht alle strikt beibehält, sondern idealerweise eine Auswahl trifft und ein Gleichgewicht findet, dass die emotionale Wirkung aufrechterhält“. Insofern ist seine Arbeit Ausdruck einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem verehrten Wagner, dessen Musik er als Achtzehnjähriger erstmals ganz bewusst vernahm. Wer die Einspielung genau hört, findet schnell heraus, was ihm wichtig ist. Er stellt seine Empfindungen zur Diskussion, lädt das Publikum dazu ein, herauszufinden, wo die eigenen Berührungspunkte mit Wagner jenseits der oft schwärmerischen Verehrung für Sänger, Chöre, Orchester und Dirigenten liegen.

Mit gut vierzig Minuten ist Musik aus dem Ring der größte Posten der CD. Zweimal, nämlich beim schon erwähnten Einzug der Götter in Walhall und beim Feuerzauber in der Walküre greift Lugansky auf Translationen des 1884 in St. Petersburg gestorbenen belgischen Pianisten Louis Bassin zurück und verknüpft sie teils mit eigener Bearbeitung. Die Verwandlungsmusik aus dem ersten Parsifal-Aufzug stammt von Felix Mottl und die Schluss-Szene aus Parsifal ist ein Mix von ihm selbst mit der Arbeit seines 2016 verstorbenen ungarischen Kollegen Zoltán Kocsis. Mit Isoldes Liebestod wird eine Reminiszenz an Franz Liszt gewählt, der sich mit seinen feinsinnigen Klavierbearbeitungen unermüdlich für die Verbreitung des Werkes seines Freundes Richard Wagner einsetzte.

Eine knappe Stunde Tristan und Isolde ohne Gesang. Ist das überhaupt möglich? Für das Solistenensemble D’Accord schon. Es hat eine Version mit Streichseptett eingespielt. Die sieben Musiker sind Martina Trumpp, von der die Bearbeitung stammt, und Franziska Bauer (Violine), Daniel Schwartz und Stephan Knies (Viola), Guillaume Artus und Nicola Pfeffer (Cello) sowie Benedikt Büscher (Kontrabass). Erschienen ist die CD in umweltfreundlichem Karton bei Caviello Classics (COV 92311). Die Fassung folgt dem Aufbau des Musikdramas, das Richard Wagner selbst als Handlung in drei Aufzügen hatte verstanden wissen wollen. Auf die jeweiligen drei Vorspiele folgen die konkreten Geschehnisse, die so bezeichnend sind, dass die Hörer auf Anhieb wissen, an welcher Stelle sich die Handlung befindet. Oft reichen Textzitate wie „Frisch weht der Wind der Heimat zu“ aus dem Lied des jungen Seemanns oder „Einsam wachend in der Nacht“ aus Brangänes Wachgesang. Dann wieder sind einzelne Szenen etwas lakonisch beschreibend markiert. Liebestrank, Ankunft auf der Burg, Jagd, Sehnsucht oder Tristans Tod, heißt es dann. Der Schluss aber, auf den alles hinausläuft in dem Werk, ist in aller Ausführlichkeit beschrieben mit „Mild und leise“ (Isoldes Liebestod. Tristan-Vertraute hätten die Notizen nicht gebraucht. Sie wisse im Schlaf, welche Musik in welcher Situation erklingt. Doch sie sind vielleicht auch nicht die ersten Adressaten für die Neuerscheinung. Sie wollen das Werk wohl am liebsten auch gesungen und auf der Bühne aufgeführt. Wer aber auf Gesang keinen sonderlichen Wert liege – dafür gibt es schließlich auch gute Gründe – und Wagner dennoch liebt, der ist bestens bedient mit dieser Version. Sie betont den sinfonischen Charakter der Musik.

Das Ensemble hat im Booklet Cosima Wagner als Zeugin aufgerufen. Sie habe in ihren Tagebüchern geschrieben, dass Tristan und Isolde „eigentlich gar keine Oper sei“ – jedenfalls „keine für Singstimmen mit Handlung und Orchesterbegleitung“. Wagner habe sich in diesem Werk „einmal ganz symphonisch geben“ wollen, ein Geflecht aus Harmonien und „unendlicher Melodie“ erschaffen, in dem Gesang nicht unbedingt die Hauptrolle spiele. Das Experiment finde ich sehr gelungen. Ich habe die Stimmen nicht vermisst. Das Septett gleicht sie durch seinen fein sinnigen und hochsensiblen Vortrag aus. Rüdiger Winter

Eric Tappy

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Mit großem Bedauern und persönlicher Betroffenheit las ich vom Tode des von mir außerordentlich bewunderten Schweizer Tenors Eric Tappy. Kaum eine andere männliche Stimme hat mich so erreicht wie die seine, zumal auch seine elegante, virile Erscheinung seine Wirkung auf der Bühne und im Konzert ergänzte. Ich erinnere mich sehr lebhaft an seinen Monteverdi-Nerone im bezaubernden Holztheater des schweizerischen Jura, an seine Auftritte in Salzburg und Zürich (die dankenswerter Weise als DVD dokumentiert sind). Sein Pelléas neben der erotischen Rachel Yakar unter Armin Jordan bei Erato bleibt für mich der beste überhaupt (und zudem einer der wenigen Tenöre in dieser Partie).  An seine vielen Aufnahmen unter Corboz und Harnoncourt et.al.  braucht man nicht zu erinnern. Seine Lieder-Einspielungen bleiben beispielhaft (Claves et al.), aber seine Wirkung war eben auch eine optische von unerreichter Wirkung. Was für eine Persönlichkeit und Präsenz. Er war für mich eine feste Größe meines eigenen Musiklebens. Daher die Betroffenheit. Nachstehend eine Würdigung durch die englische Wikipedia mit Dank. Geerd Heinsen

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Eric Tappy und Rachel Yakar in Monteverdis „Poppea“ in Zürich/Film/Wikipedia

Éric Tappy (19. Mai 1931 – 11. Juni 2024) war ein Schweizer Operntenor. Er trat international auf, sowohl in der Oper, bekannt als Mozart-Tenor, als auch im Konzert, insbesondere als Evangelist in Bachs Passionen. Ab 1981 konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit. Von 1962 bis 1974 war Tappy Mitglied des Grand Théâtre de Genève, wo sein breites Repertoire große Mozart-Rollen und Uraufführungen wie La Mère coupable von Darius Milhaud umfasste. Er gilt als legendär, weil er Monteverdis Orfeo, den Tamino in Mozarts Die Zauberflöte und Debussys Pelléas mit einer Stimme von beispielhafter Klarheit und Diktion gesungen hat.

Tappy wurde am 19. Mai 1931 in Lausanne als Sohn des Metallarbeiters Constant Albert Tappy und seiner Frau Cécile Emile, geborene Apothéloz, geboren. Er erhielt früh musikalischen Unterricht in Geige und Chorgesang von seinem Cousin André Charlet.

Nachdem Tappy 1951 Lehrer geworden war, studierte er Gesang am Conservatoire de Musique de Genève bei Fernando Carpi. Weitere Studien absolvierte er am Salzburger Mozarteum bei Ernst Reichert,[2] am Conservatorium van Hilversum bei Eva Liebenberg,[7] und in Paris bei Nadia Boulanger.[2] Die Konzerttätigkeit begann 1956, und verstärkte sich, als er 1958 mit einem Preis ausgezeichnet wurde, mit Konzerten in der Schweiz und im Ausland; 1959 gab er deshalb seinen Lehrauftrag auf.[3] 1959 sang er in Straßburg erstmals die Rolle des Evangelisten in Bachs Matthäuspassion. Im Dezember 1959 sang er die Tenorpartie in Frank Martins Oratorium Mystère de la Nativité in Genf.

Als das Grand Théâtre de Genève 1962 wiedereröffnet wurde, trat Tappy als Graf de Lerme in Verdis Don Carlos auf. Er trat dem Ensemble bei und sang dort zwölf Jahre lang ein breites Repertoire, darunter große Mozart-Partien und Rollen in neuen Werken wie Martins Monsieur de Pourceaugnac und La Tempête; er wirkte bei der Uraufführung von Darius Milhauds La Mère coupable mit.

Er gastierte international in Rameaus Zoroastre in Bordeaux und in Paris, in der Titelrolle von Monteverdis L’Orfeo am Schlosstheater Drottningholm und als Nerone in L’incoronazione di Poppea an der Staatsoper Hannover. Im August 1970 beeindruckte er als Tamino in Mozarts Die Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen, gefolgt von derselben Rolle und der Titelrolle in Mozarts La clemenza di Tito beim Festival von Aix-en-Provence.

Eric Tappy als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“/Agence Nouvelle/HB

Nachdem er 1979 als Nerone in L’incoronazione di Poppea am Opernhaus Zürich unter der Regie von Jean-Pierre Ponnelle und unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt an der Seite von Rachel Yakar in der Titelrolle aufgetreten war, wurde die Produktion auch beim Edinbourg Festival und an der Mailänder Scala gezeigt und gefilmt.[ Tappy trat erstmals 1974 am Royal Opera House in London in Mozarts La clemenza di Tito auf.

1981 zog sich Tappy von der Bühne zurück; seine letzten Auftritte auf der Bühne waren Mozarts Lucio Silla in Zürich und Nerone an der San Francisco Opera.

Nach seiner Pensionierung arbeitete Tappy als Regisseur und konzentrierte sich auf das Unterrichten. Er gründete ein Opernstudio, das Atelier d’interprétation vocale et dramatique, an der Opéra National de Lyon und leitete es. Von 1984 bis 1999 lehrte er am Conservatoire de Musique de Genève. Er starb am 11. Juni 2024 im Alter von 93 Jahren.

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Aufnahmen: Tappy nahm 1968 L’Orfeo auf. Zweimal nahm er Debussys Pelléas et Mélisande auf, 1969 eine Live-Aufnahme in Genf unter der Leitung von Jean-Marie Auberson mit Erna Spoorenberg, Gérard Souzay und dem Orchestre de la Suisse Romande und 1979 unter der Leitung von Armin Jordan mit Yakar, Philippe Huttenlocher und Chœurs et Orchestre National de L’Opéra Monte Carlo. Ein Rezensent bemerkte seine „feine, schlanke Stimme“, viriler und durchsetzungsfähiger als die mancher Kollegen, „kraftvoll in seinen Liebesbekundungen“, aber „geneigt, hart im Ton zu werden, wenn man ihn drängt“. [9] Tappy sang die Rolle des Tamino in einer Aufnahme von Die Zauberflöte, die 1980 bei den Salzburger Festspielen entstand, neben Ileana Cotrubaș als Pamina und Zdzisława Donat als Königin der Nacht, dirigiert von James Levine.  Tappy war auch in zwei Filmen von Ponnelle zu sehen: L’incoronazione di Poppea (1979)[1] und La clemenza di Tito (1980), neben Tatiana Troyanos und Carol Neblett. Er nahm das Oratorium L’Enfance du Christ von Berlioz unter der Leitung von Colin Davis und Clairières dans le ciel, einen Liederzyklus von Lili Boulanger, auf[1].

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Für seine Darstellung von Monteverdis Orfeo wurde Tappy 1966 mit der Goldmedaille des Drottningholm-Theaters ausgezeichnet. Zwei Jahre später erhielt er den Edison Award für seine Aufnahme derselben Rolle. 1994 wurde er Offizier des Ordre des Arts et des Lettres. 2007 wurde er mit dem Prix culturel de la Fondation Leenaards und der Médaille d’or von Lausanne ausgezeichnet./ Wikipedia

WONDER WOMEN

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Forschungen der Musik der Spätrenaissance im Übergang zum Frühbarock haben ergeben, dass es eine ganze Reihe ansprechender Werke von Komponistinnen gibt, die entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten eher im Stillen gewirkt haben. Stücke dieser Frauen hat.

Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata in den Mittelpunkt ihrer neuesten CD mit dem Titel WONDER WOMENMusic by and about women gestellt. Im sehr instruktiven Beiheft weist die kompetente Lautenistin darauf hin, dass es bereits im 17. Jahrhundert „wundervolle“ Komponistinnen“ gegeben habe, „von denen Lieder hier interpretiert werden.“ Außerdem habe man sich Inspiration aus der traditionellen Musik Mexikos und Italiens geholt; so erklingen Lieder über „außergewöhnliche, starke, mutige, aber auch traurige Frauen“.  So hört man Lieder der venezianischen Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619-1677), von Francesca Caccini (1587-1641) aus der florentinischen Musikerfamilie sowie je ein Lied von Antonia Bembo (1640-1720) aus Venedig, Isabella Leonarda (1620-1704), einer Nonne aus Norditalien, und Francesca Campana (1615-1665). Zusätzlich enthält die CD mehrere, von Christina Pluhar arrangierte Traditionals aus Mexiko und Italien, die sich dem Stil der Alten Musik gut anpassen. Im Übrigen sind drei Instrumentalstücke von männlichen Komponisten dabei, und zwar vom neapolitanischen Lautenisten Andrea Falconieri (1586-1678) und Maurizio Cazzati (1616-1678), der hauptsächlich in Bologna als Kirchenmusiker tätig war. Bei den rein instrumentalen Stücken, aber natürlich auch bei der Begleitung in den vokalen Werke fällt besonders positiv auf, wie stilsicher und gut durchhörbar das Instrumentalensemble L’Arpeggiata unter seiner Gründerin musiziert. Das schon länger mit Christina Pluhar zusammen arbeitende Gesangsensemble ist eine Klasse für sich: Alle wissen ihre Stimmen dem Stil der Spätrenaissance entsprechend schlank zu führen, was die Verständlichkeit der Lieder erheblich erleichtert, obwohl der Abdruck auch in deutscher Sprache hilfreich gewesen wäre. Die belgische Sängerin Céline Scheen verfügt über einen volltimbrierten Sopran mit großer Ausdruckspalette, die sie überzeugend einzusetzen weiß. Ein dunkel getönter Mezzosopran ist der Schwedin mit chilenischen Wurzeln Luciana Mancini eigen, der bestens zu mexikanischen Traditionals wie La Bruja (Die Zauberin) oder den Vorwürfen gegenüber Alcina (Cosi, perfida Alcina von Francesca Caccini) passt. Die andere Mezzosopranistin der Aufnahme ist Benedetta Mazzucato, deren helle Stimme ebenfalls über unterschiedliche, geschickt eingesetzte Farben verfügt. Ausgesprochen feminin klingt der Altus von Vincenzo Capezzato, wodurch das italienische Traditional La Canzone di Cecilia angenehm authentisch wirkt. Insgesamt ist die CD allen zu empfehlen, nicht nur den ausgemachten Liebhabern dieser Alten Musik (ERATO 5054197959163).

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Unter dem Titel Mélodies d’ailleurs ist bei Carpe Diem Records eine CD erschienen, die spätromantische Lieder enthält, die die schweizerischen Künstlerinnen Viviane Hasler (Sopran) und Maren Gamper (Klavier) präsentieren. Im Kontrast dazu enthält die CD den Zyklus Ophelia sings von Wolfgang Rihm. Bereits in den sechs fast durchgängig melancholischen Ariettes oubliées nach Gedichten von Paul Verlaine von Claude Debussy zeigen sich die Vorzüge der jungen Sopranistin, die mit den teilweise extremen Intervallsprüngen keine Probleme hat. Mit den lautmalerischen Effekten im Klavier (Regen und Pferde-Karussell auf dem Jahrmarkt) werden die jeweiligen Stimmungen überzeugend nachempfunden. Das setzt sich in fünf gegenüber Debussy etwas schlichteren Liedern von Ernest Chausson fort, wenn hier unterschiedliche Gemütslagen ebenfalls mit perfektem Legato und damit ausgesprochen weicher Stimmführung wiedergegeben werden. Dazwischen erklingt der erste der drei Gesänge Ophelias, deren zum Wahnsinn führende Zerrissenheit mit hohen technischen Anforderungen an die Sängerin darzustellen ist. Wie diese im von ihr verfassten, sehr instruktiven Beiheft schreibt, erfordern die drei eingestreuten Lieder „schnelle Wechsel in Lagen, Dynamik und Gestus und umfassen einen weiten Ambitus“. Trotz dieser enormen Schwierigkeiten, zu denen auch gesprochene Einwürfe im Klavierpart gehören, gelingen den kompetenten Musikerinnen eindrucksvolle Seelenbeschreibungen. Mit sprudelnder Leichtigkeit und auch zurückhaltender Verträumtheit werden vier feine Miniaturen von Cécile Chaminade gestaltet. Den Abschluss der gut gelungenen CD bilden fünf Lieder von Raynaldo Hahn, die wieder mit wie selbstverständlicher Intonationsreinheit und leichter Stimmführung in exzellentem, partnerschaftlichem Zusammenspiel musiziert werden (CARPE DIEM RECORDS 11792009).

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Schwarze Erde ist eine neue CD übertitelt, die Solo MUSICA herausgebracht hat. Der Titel weist auf das erste der Acht ungarischen Volkslieder von Béla Bartók hin, der diese  sozusagen zu Kunstliedern erhoben hat. Ähnlich ist Zoltán Kodály vorgegangen, indem er in den Verspäteten Liedern op. 6 ebenfalls auf ungarische Volksmusik zurückgegriffen hat. Die aus einer deutsch-ungarischen Familie stammende Sängerin Corinna Scheurle und die Pianistin Klara Hornig interpretieren diese Lieder sowie auch die frühen Lieder op. 2 von Alban Berg, die fast alle tiefe Traurigkeit atmen. Zusätzlich enthält die CD als kompositorisch krassen Gegensatz zu den Anfang des 20. Jahrhunderts komponierten Werken die romantischen Fünf Lieder op. 40 von Robert Schumann, die allerdings thematisch passen, indem auch sie um unglückliche Liebe und die Nähe von Liebe und Tod kreisen. Bestechend an den ausgefeilten Deutungen der Lieder ist die klare, prägnante Tongebung der zur Zeit im Ensemble des Staatstheaters Nürnberg tätigen Mezzosopranistin, die ihre charakteristisch timbrierte Stimme abgerundet durch alle Lagen zu führen weiß. Allgemein ist bei der Liedgestaltung die Textverständlichkeit immens wichtig, die wohl wegen ihrer Abstammung auch in den ungarischen Liedern geradezu perfekt ist. Außerdem setzt die Sängerin den Farbenreichtum ihres Mezzos dem jeweiligen Inhalt der melancholischen Lieder angepasst gekonnt ein. Schließlich ist ihr die Pianistin, die den anspruchsvollen Klavierpart sicher beherrscht, jeweils eine gleichrangige Partnerin, so dass jeweils ungemein eindrucksvolle Stimmungsbilder entstanden sind (Solo MUSICA SM435). Gerhard Eckels

On the Golden Road to Samarkand

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Kaum jemand hierzulande dürfte noch Beechams Aufnahme von Intermezzo and Serenade von Frederick Delius Schauspielmusik zu Hassan kennen. Wie denn der in Bradford geborene und seit der Jahrhundertwende bei Fontainebleau lebende Delius (1862-1934) trotz des Einsatzes von Thomas Beecham bereits zu Lebzeiten ein wenig in Vergessenheit geriet. Mit der Schauspielmusik zu Hassan rief sich Delius als Komponist nochmals in Erinnerung, wobei er offenbar nicht die erste Wahl war. Auf jeden Fall gelang ihm damit einer der größten Erfolge seiner Laufbahn, zugleich eines der letzten Werke, bevor der Kranke auf die Hilfe und Unterstützung des jungen Komponisten Eric Fenby angewiesen war, der Delius bis zu seinem Tod betreute und seine Werke notierte. Den Auftrag erhielt Delius durch den Schauspieler und Regisseur Basil Dean, der ihn in Grez-sur-Loing aufsuchte und überredete die Musik zu einem Stück des berühmten James Elroy Flecker (1884-1915) zu schreiben, das dann 1923 im Londoner His Majesty’s Theatre eine exorbitant aufwendige und überladene Aufführung erlebte: Das Versdrama The Story of Hassan of Baghdad and How He Came to Make the Golden Journey to Samarkand. Delius zierte sich ein wenig. Doch Delius‘ Frau schrieb bald danach an Dean: „Ich werde nie vergessen, wie Sie herkamen und uns das ganze Drama vorlasen. Es war so aufregend zuzusehen, wie Delius immer interessierter wurde“.

Die Musik war rasch geschrieben, wobei Delius und später dessen Freund, der australische Komponist Percy Grainger, weitere Musik für erforderliche Szenenwechsel beisteuerten. Die Aufführung in Deutschland (Darmstadt, Juni 1923), wo sich Delius aufgrund der Uraufführung dreier seiner Opern einer gewissen Beliebtheit sicher sein konnte, war ein Reinfall. Die Londoner Aufführung ein Vierteljahr später am 20. September 1923 war indes ein großer Erfolg, an dem u.a. der Ballets Russes-Choreograph Michel Fokine und der Dirigent Eugene Goosens Anteil hatten. Die reine Bühnenmusik hängt an einem seidenen Faden. Ohne die Geschichte, die weitgehend den englischen Übersetzungen von Tausendundeine Nacht folgen, bleibt sie blutleer.

Einer der Vorzüge der neuen 80minütigen, im Februar 2023 entstandenen Chandos-Aufnahme (CHAN 20296/ das Label nun neu im Naxos-Verrtieb) besteht darin, dass zu den Britten Sinfonia Voices und der Britten Sinfonia quasi als gleichberechtigter Partner der Rundfunkmann und durch vielfache Beteiligung als Sprecher bei klassischen Konzerten und Projekten hervorgetretene Zeb Soanes hinzukommt. Soanes gelingt es die von Meurig Bowen eingerichteten Texte und die rund 20 Minuten verbliebene Sprechzeit derart lebhaft zu füllen, dass man sich mit den kurzen Hinweisen des Narrators mühelos den Fünfakter imaginieren kann. Jamie Phillips überzeugt durch dramatische Gestaltungskraft und sublime Farben vor allem im fünften Akt, in dessen Schlussszene sich der weltkluge Hassan einer Pilgerkarawane anschließt, die durch die Wüste „zu den großen Bildungs- und Religionszentren von Buchara und Samarkand unterwegs ist“. Rolf Fath

 

In Offenbachs Spuren

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Nur Mascagnis einziger Ausflug zur Operette ist um einen Buchstaben kürzer: Si ist der Name einer Schauspielerin der Folies Bergère, die nicht „nein“ sagen kann oder will. In Maurice Yvains Opérette Yes! handelt es sich um das bedeutungsvolle „Ja“, das dem schönsten Tag im Leben eines Paares das Glanzlicht aufsetzt. Bei Totte und Maxime ist es jedoch ein nüchterner Akt, mit dem man Maxime Gavards Vater, dem neureichen „Nudel-König“ („Il n’est qu’un roi sur terre“), eins auswischen möchte. Der alter Gavard besteht darauf, dass sein Sohn zur Festigung geschäftlicher Beziehungen eine exotische Schönheit aus Valparaiso heiraten solle. Der junge Maxime lebt vom Geld seines einfältigen Vaters und unterhält eine Beziehung zu Lucette de Saint-Eglefin, deren Gatte von dem jungen Charmeur ebenso angetan ist wie Madame. Gemeinsam verfallen sie auf den Plan einer Heirat in England, wo man ohne größere Formalitäten sein „Yes“ vor dem Standesamt sagen und bald darauf lösen könne. Nach vielen frivolen Verwicklungen bleiben Maxime und seine Manikürin Totte zusammen, der Nudel-König erkennt die Liebe der beiden und heiratet selbst die reiche Geschäftsfrau aus Südamerika.

Es ist ein Stoff, aus dem noch in den 1920er Jahren Operetten gezaubert wurden. Auch in Paris, wo Yes! nach dem Bestseller Totte et sa chance von Pierre Solanine und René Pujol am 28. Januar 1928 über die Bühne des kleinen Théâtre des Capucines ging. Die schmale Bühne wurde durch kein Orchesterchen zusätzlich verkleinert: Yvain begnügte sich mit zwei Klavieren, wobei die Pianisten Georges Raffit und Léo Kartun zu den Stars der umjubelten Uraufführung gehörten, und zwei spätere Stars des französischen Kinos, Arletty und Renée Devillers, frühe Erfolge feierte. Einen Monat später wechselte die Show in das Théâtre des Variétés, wo die beiden Klaviere durch ein zehnköpfiges Orchester ergänzt wurde. Im Mai zog Yes! schließlich ins 2000-Pätze-Theatre Apollo, wo zusätzlich zu den neuen Dekorationen und Kostümen das Orchester auf 35 Musiker aufgestockt wurde und Chorus Girls auftraten. Volker Klotz beschreibt in seiner Operetten-Enzyklopädie diesen Schritt, „Yvain, der ironische Gegner musikalischer Verkitschung ergab sich später leider dem Trend zur aufgeblasenen „opérette a grand spetacle“, die den internationalen Verfall der Gattung klangbunt besiegelte“.

Über rund drei Jahrzehnte setzte der 1891 in Paris und 1965 in Suresnes bei Paris gestorbene Yvain mit seiner alerten Handwerkskunst bedeutende Akzente im französischen Unterhaltungstheater, das nur selten ins Ausland vordrang. Vor allem war er, obwohl er noch nach dem Zweiten Weltkrieg tätig blieb, der „prägende Meister der Pariser Operette in den zwanziger Jahren“, eigentlich der Meister der Kammeroperette. Dieser untrügliche Bühneninstinkt, der Sinn für gestisch mitreißende Melodik, treffsicher illuminierte Texte, die bis in die 50er Jahre fast durchgehend von Albert Willemetz stammen, springen den Hörer in dieser glänzenden, im Juni 2022 entstandenen Aufnahme von Alpha-Classics (2 CD Alpha 974, engl.-franz. Beiheft, franz. Libretto) mit Les Frivolités Parisiennes in der Orchesterfassung mit Michael Ertzscheid und Nicolas Royez an den Klavieren sofort an. Das Ensemble hält Spannung und Tempo auf bewundernswerte Weise, ist jazzig und südamerikanisch, leicht und rhythmisch elegant, stets graziös und durchsichtig wie im Sextuor du thé, drall wie in Arlettys „Moi je cherche un emploi“ oder rasant purzelnd wie im Terzett „Dites à mon fils“. Die Stimmen haben Charakter und Gesicht, sind sicherlich nicht in jedem Fall hübsch, aber prägnant und sprechend, wie die unschuldig engstimmige, raffinierte Sandrine Buendia als Totte oder Guillaume Durand mit einem farblos gewöhnlichen Bariton, der schon wieder reizvoll klingt, als Maxime. Jugendliche Stimme mit außerordentlich Projektionskraft. Clément Rochefort gibt den Sprecher mit milder Affektiertheit. Die eineinhalb CDs mit 61 Minuten und 33 Minuten Spielzeit vergehen wie im Flug, hinterlassen den Hörer aber auch etwas ermattet, da die vielen kurzen temporeichen und artistischen Nummern kaum eine Atempause einlegen (13.06.24). Rolf Fath

Enchantement doublé

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Desmarests Circé zum Zweiten: Höchst ungewöhnlich ist die Veröffentlichung von Henry Desmarests Circé bei cpo (555 594-2, 3 CDs), hatte doch das Label Château de VERSAILLES diese Tragédie en musique etwa ein halbes Jahr zuvor herausgebracht (die Rezension s. nachstehend). Eine zweite Aufnahme bei einer solchen Rarität ist ohnehin ein Wagnis. Die Einspielung entstand im August 2022 in Bremen als Koproduktion des Boston Early Music Festival und radiobremen. Wenn sie auch nicht das Siegel der Erstveröffentlichung tragen kann, so doch das der ersten kompletten Aufnahme, ist sie immerhin etwa 45 Minuten länger als die Vorgängerin bei VERSAILLES unter Sébastien d´ Hérin. Auf diesen Seiten wurde sie bereits besprochen, so dass wir jetzt auf eine Inhaltsangabe verzichten können.

Das Boston Early Music Festival Orchestra wird geleitet von Paul O´Dette und Stephen Stubbs, die durch die Wiedereinfügung mehrerer Tänze (Menuet, Gigue, Bourrée, Gavotte, Canarie, Sarabande, Rondeau, Ritournelle, Loure, Passe-pied, Rigaudon) die Balance zwischen orchestralen und vokalen Teilen wiederherstellen. Das Orchester musiziert sehr kultiviert mit eher moderaten Tempi und originellen instrumentalen Effekten. Der Boston Early Music Festival Chorus nimmt seine vielfältigen Aufgaben (besonders im Prologue als Götter und Nymphen) mit hörbarem Einsatz und hoher Gesangskultur wahr.

Die Besetzung wird dominiert von der Mezzosopranistin Lucile Richardot in der Titelpartie. Sie ist eine singende Darstellerin mit sehr persönlich timbrierter, eigenwilliger Stimme und reizt die Emotionen der Figur bis zum Äußersten aus. Besonders reizvoll ist ihre Färbung in der tiefen Lage, welche bis in die Contralto-Dimension reicht und ihrem Vortrag einen sinnlich-androgynen Hauch verleiht. Ihre Szene zu Beginn des 4. Aktes „Sombres Marais du Styx“, von der Windmaschine aufregend untermalt, deklamiert sie furios, was sich mehr und mehr zu wilden Ausbrüchen steigert. Die Stimme nimmt zuweilen einen hysterischen oder heulenden Ton an, der doch stets als Ausdrucksmittel eingesetzt ist. Ihre Interpretation gipfelt im 5. Akt mit einer veristischen Hasstirade („O Rage/ô douleur mortelle!“) und in der ausgedehnten Schluss-Szene („Ah! quelle rigueur extrême“), in der sie bei aller Raserei auch eine tragische Dimension erreicht.

Ihre Gefährtin Astérie gibt Teresa Wakim mit lieblichem Sopran. Sie liebt Polite (Douglas Williams mit resonantem Bassbariton), einer der Griechen, die von Circé in wilde Tiere verwandelt wurden. Beide können im 5. Akt endlich ihr Glück besingen („Enfin le juste Ciel a comblé nos désirs“). Der Bariton Jesse Blumberg ist ein markanter Elphénor, den Circé nicht verzaubert hat, da er ihr die geplante Flucht der Griechen verraten hatte. Da seine Liebe zu Astérie unerfüllt bleibt, scheidet er aus dem Leben. Diese seine Todesszene am Ende des 3. Aktes gestaltet er mit packender Intensität.

Circés Liebe gehört Ulisse (der Tenor Aaron Sheehan mit weicher, ausgewogener Stimme), doch hat sie eine Rivalin in Èolie (Amanda Forsythe mit delikatem Sopran), die am Ende mit dem Helden vereint auf einem Schiff die Insel verlässt („Ne nous quittons jamais“). Gewaltiger Donner begleitet diese Szene und führt das Werk zu einem grandiosen Finale. Bernd Hoppe

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Und das Ganze bei Chateau de Versailles: Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

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.Foto oben: Still aus dem Film „Die Irrfahrten des Odysseus“ mit Kirk Douglas und Silvana Mangano, Italien 1954, Regie Mario Camerini/Die Nacht der lebenden Texte/Wordpress

Starbesetzt aus der Met

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Ist dies eine Virginia Woolf-Oper? Eine Mrs. Dalloway-Oper? Am treffendsten vermutlich eine Oper nach dem Film The Hours. Der wiederum basiert auf dem 1998 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Roman des amerikanischen Roman- und Drehbuchautors Michael Cunningham, der darin das Schicksal dreier Frauen verfolgt, deren Leben in Bezug zu Woolfs Roman Mrs. Dalloway stehen. Also eine Oper nach gleich zwei Romanen. Der Film bot 2002 die Stars Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep auf, die Oper wurde zum Star-Vehikel für Joyce DiDonato, Kelli O’Hara und Renée Fleming, die in der jeweils an einem einzigen Tag über drei Zeitebenen 1923, 1949 und 2001 spielenden Handlung die entsprechenden Rollen bzw. Partien als Virginia Woolf, Laura Brown und Clarissa Vaughan übernehmen. Tatsächlich wurde die Idee von Renée Fleming aufgebracht, als sie mit dem Komponisten Kevin Puts (Pulitzer Prize 2012 für seine erste Oper Silent Night) an einem Lied-Zyklus arbeitete, „She suggested that it would be great to do something that takes place in different time periods all at the same time, like The Hours, and right away I thought it was an amazing idea.“

Bei der Uraufführung am 22. November 2022 kehrte Fleming erstmals nach fünfjähriger Abwesenheit an die Met zurück. An Puts (* 1972) wird keiner mehr im Zusammenhang mit der Oper denken. Was vermutlich ungerecht ist. Puts und Librettist Greg Pierce behielten die Grundstruktur des Films bei, der an einem einzigen Tag vom Schicksal dreier Frauen erzählt: außerhalb von London, in Richmond, beginnt Virginia Woolf 1923 mit einem neuen Roman, den sie anfangs The Hours nennen will. In Los Angeles liest die schwangere Hausfrau Laura Brown 1949 den Roman, der sie stark beeindruckt. Mit ihrem Sohn Richie bereitet sie einen Kuchen für den Geburtstag ihres Mannes vor. Sie liebt heimlich ihre Nachbarin, plant ihren Selbstmord, scheut aber zurück. 1999 plant die New Yorker Lektorin Clarissa eine Party für ihren an AIDS erkrankten Freund Richard. Richard ist der Sohn Laura Brown. Obwohl mit ihrer Freundin Sally zusammen, wünscht sie sich die Stunden mit Richard zurück. Man merkt Fleming an, wie sie sich nach der Partie sehnte. Gleich in der Anfangssequenz – mit Denyce Graves als Sally – singt sie die selbstbewusste Clarissa mit breit strömender, flexibel reagierender und farbiger Mittellage, textbewuster, als man es von ihr in Erinnerung hat, mit fester und sicherer Höhe.

Schade, dass die nur mit englischsprachigem Beiheft karg ausgestattete Aufnahme (2 CD Erato 5054197910524) auf ein Libretto verzichtet. Joyce DiDonato, auf dem Titelbild mit den drei Damen in altbackener Zurückhaltung, gibt uns Virginia Woolf mit der Autorität und in sich ruhender Selbstgewissheit der Dichterin. Mit ruhigem Mezzosopran und reichem Ton tastet sie sie sich Zeile um Zeile vor. Unauffälliger schaltet sich die klassisch ausgebildete, vor allem durch ihre Broadway-Auftritte populäre Kelli O’Hara, die an der Met Despina und Valencienne gesungen hat, als Laura Brown in das Geschehen. Viele namhafte Met-Protagonisten steuern Miniaturen bei, darunter Kyle Ketelesen als Richard. Kevin Puts stattet sie mit einer filigranen Wohlfühlmusik aus, die allen Situationen entspricht, die den Pulsschlag der Handlung aufgreift, sich aber nicht aufdrängt und allen drei Frauen und ihrem Zeitalter im Sinn einer etwas altmodischen Literaturoper ein Gesicht geben will. Zu den memorablen Momenten des musikalisch vielfach rauschhaften, schwelgerischen Werks gehört zweifellos das Terzett „All along?“ der drei Frauen am Ende der Oper, in dem sich Strauss‘ Der Rosenkavalier und Barbers Vanessa begegnen. Yannick Nézet-Séquin dirigiert die beiden Akte (82 und 60 Minuten) mit freundlicher Dezenz.                     R.F.

Du bist wie eine menschliche Blume

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Seit seiner Uraufführung 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet dürfte  das „Mystère en cinq mansions composé en rhythme français“, dessen Aufführung selbst gekürzt etwa viereinhalb Stunden dauerte, nicht eben häufig aufgeführt worden sein. Ich erinnere mich nur an eine von Maurice Béjart verwaltete, ratlos lassende Aufführung 1986 an der Mailänder Scala mit Eric Vu-An als Sébastien. Dirigiert wurde die Aufführung von Sylvain Cambreling, der sich eine Neigung für das Stück bewahrte und es als Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, wo er 1999 die Nachfolge von Michael Gielen angetreten hatte, im Januar 2005 in Freiburger Konzerthaus aufführte. Die Aufnahme erscheint nun neuerlich; diesmal beim hauseigenen Label (SWR19149CD).

Das ehrgeizige Unternehmen des Dichters, Dandys und Ästheten Gabriele D’Annunzio brauchte Attraktionen. Die Figur des Heiligen Sebastian schrieb er für die Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, die in der Folge Aufträge an bedeutende Komponisten vergab, darunter Igor Strawinsky, der sich nicht scheute, sie als eine der dämlichsten Frauen der Kunstwelt zu bezeichnen. Der Choreograph Michel Fokine und der Ausstatter Léon Bakst, zwei Exponenten des Ballets Russes, waren Rubinstein durch ihre Petersburger Jahre vertraut. Punkten konnte D’Annunzio vor allem mit der Wahl der Musik, für die er Claude Debussy gewinnen konnte. Debussy stellte die Musik innerhalb kürzester Zeit, von Januar bis April, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten André Caplet her, insgesamt 17 Nummern von circa 50 Minuten Dauer. So entstand ein szenisches Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Musik, Tanz und bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken. Bald nach der Premiere waren Debussy und seine Schüler bestrebt, die Musik für den Konzertsaal zu retten, beispielswiese durch eine Orchestersuite.

Der Dirigent Inghelbrecht erstellte eine Konzertfassung mit einem zusätzlich zur Musik Debussys auf etwa 15 Minuten radikal gekürzten Text. Ebenso verfuhr Cambreling in Freiburg mit seiner 77minütigen Fassung, indem er der Musik Debussys Texte Martin Mosebachs entgegensetzte, die nicht unbedingt den Verlauf der Handlung wiedergeben. Die Musik führt, um den Titel des 2. Akts zu zitieren, in eine „Wunderkammer“, „La chambre magique“, in ein Reich altertümlicher Choräle, klarer Linien, raffinierter Schmerzensgesten, süßer Engelsgesänge und beschwörender Sanftmut, instrumental so kostbar austariert und abgehört, dass sich die exotisch mystische Atmosphäre unmittelbar einstellt. So sanftmütig Dörte Lyssewski sowohl die Erzählerin als auch den Heiligen gibt, lässt sich die der hybriden Anlage geschuldete Fremdheit und Steifheit im Zusammenspiel mit den Gesängen der himmlischen Chöre und der Zwillinge Markus (Dagmar Pecková) und Marcellianus (Nathalie Stutzmann), die auf glühenden Kohlen hingerichtet werden sollen, nicht überhören. Cambreling ist von großer Intensität in den zauberisch verinnerlichten ersten Akten, wo im zweiten Abschnitt das Lied der Erigone auffällt; Heidi Grant Murphy ist für himmlische Stimmen und seelenvolle Inbrunst zuständig. Ab dem dritten Akt am Hof des von Sebastians Schönheit verzauberten Kaisers Diokletian prunken Cambreling und das SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg sowie das Collegium Vocale Gent mit der schillernden Prachtentfaltung, mit der Debussy das Leiden und Sterben Sebastians geradezu wollüstig ausstellt, auskostet, steigert und samten umkleidet. Kurz vor der Aufführung hatte der Pariser Erzbischof den Besuch der Aufführung verboten, da die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult und die Darstellung des Heiligen durch eine Frau als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen wurden. Debussy versicherte, er habe die Musik so geschrieben, als sei sie ihm von einer Kirche aufgetragen worden.  Rolf Fath