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Ist dies eine Virginia Woolf-Oper? Eine Mrs. Dalloway-Oper? Am treffendsten vermutlich eine Oper nach dem Film The Hours. Der wiederum basiert auf dem 1998 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Roman des amerikanischen Roman- und Drehbuchautors Michael Cunningham, der darin das Schicksal dreier Frauen verfolgt, deren Leben in Bezug zu Woolfs Roman Mrs. Dalloway stehen. Also eine Oper nach gleich zwei Romanen. Der Film bot 2002 die Stars Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep auf, die Oper wurde zum Star-Vehikel für Joyce DiDonato, Kelli O’Hara und Renée Fleming, die in der jeweils an einem einzigen Tag über drei Zeitebenen 1923, 1949 und 2001 spielenden Handlung die entsprechenden Rollen bzw. Partien als Virginia Woolf, Laura Brown und Clarissa Vaughan übernehmen. Tatsächlich wurde die Idee von Renée Fleming aufgebracht, als sie mit dem Komponisten Kevin Puts (Pulitzer Prize 2012 für seine erste Oper Silent Night) an einem Lied-Zyklus arbeitete, „She suggested that it would be great to do something that takes place in different time periods all at the same time, like The Hours, and right away I thought it was an amazing idea.“
Bei der Uraufführung am 22. November 2022 kehrte Fleming erstmals nach fünfjähriger Abwesenheit an die Met zurück. An Puts (* 1972) wird keiner mehr im Zusammenhang mit der Oper denken. Was vermutlich ungerecht ist. Puts und Librettist Greg Pierce behielten die Grundstruktur des Films bei, der an einem einzigen Tag vom Schicksal dreier Frauen erzählt: außerhalb von London, in Richmond, beginnt Virginia Woolf 1923 mit einem neuen Roman, den sie anfangs The Hours nennen will. In Los Angeles liest die schwangere Hausfrau Laura Brown 1949 den Roman, der sie stark beeindruckt. Mit ihrem Sohn Richie bereitet sie einen Kuchen für den Geburtstag ihres Mannes vor. Sie liebt heimlich ihre Nachbarin, plant ihren Selbstmord, scheut aber zurück. 1999 plant die New Yorker Lektorin Clarissa eine Party für ihren an AIDS erkrankten Freund Richard. Richard ist der Sohn Laura Brown. Obwohl mit ihrer Freundin Sally zusammen, wünscht sie sich die Stunden mit Richard zurück. Man merkt Fleming an, wie sie sich nach der Partie sehnte. Gleich in der Anfangssequenz – mit Denyce Graves als Sally – singt sie die selbstbewusste Clarissa mit breit strömender, flexibel reagierender und farbiger Mittellage, textbewuster, als man es von ihr in Erinnerung hat, mit fester und sicherer Höhe.
Schade, dass die nur mit englischsprachigem Beiheft karg ausgestattete Aufnahme (2 CD Erato 5054197910524) auf ein Libretto verzichtet. Joyce DiDonato, auf dem Titelbild mit den drei Damen in altbackener Zurückhaltung, gibt uns Virginia Woolf mit der Autorität und in sich ruhender Selbstgewissheit der Dichterin. Mit ruhigem Mezzosopran und reichem Ton tastet sie sie sich Zeile um Zeile vor. Unauffälliger schaltet sich die klassisch ausgebildete, vor allem durch ihre Broadway-Auftritte populäre Kelli O’Hara, die an der Met Despina und Valencienne gesungen hat, als Laura Brown in das Geschehen. Viele namhafte Met-Protagonisten steuern Miniaturen bei, darunter Kyle Ketelesen als Richard. Kevin Puts stattet sie mit einer filigranen Wohlfühlmusik aus, die allen Situationen entspricht, die den Pulsschlag der Handlung aufgreift, sich aber nicht aufdrängt und allen drei Frauen und ihrem Zeitalter im Sinn einer etwas altmodischen Literaturoper ein Gesicht geben will. Zu den memorablen Momenten des musikalisch vielfach rauschhaften, schwelgerischen Werks gehört zweifellos das Terzett „All along?“ der drei Frauen am Ende der Oper, in dem sich Strauss‘ Der Rosenkavalier und Barbers Vanessa begegnen. Yannick Nézet-Séquin dirigiert die beiden Akte (82 und 60 Minuten) mit freundlicher Dezenz. R.F.