Archiv für den Monat: März 2025

Eindrucksvoller Erstling

.

Im Mai 1884 wurde im Teatro dal Verme die erste Fassung von Giacomo Puccinis Erstlingswerk Le Villi uraufgeführt, sechs Jahre später nahm sich in Hamburg wahrscheinlich Gustav Mahler persönlich des Werks an, und am 2. Juni 2024 führte die Berliner Operngruppe  das Werk im Berliner Konzerthaus auf. Von noch früheren Berliner Vorstellungen weiß das schlaue Wikipedia jedenfalls nichts zu berichten, ist ansonsten sehr genau mit der Nennung einer Interpretation durch das Sängerpaar Mietta Sighele und Veriano Lucchetti 1972,  der Erwähnung einer Bonner Inszenierung mit Katia Ricciarelli im Jahre 1992, dazu 2001 in Lecce, wo der italienische Superstar Pippo Baudo, ihr damaliger Gatte,  den Erzähler gab, mit der im entdeckungsfreudigen Martina Franca, wo Bruno Aprea den Dirigentenstab für den jungen José Cura schwang, und schließlich die bei Dynamic als Blu-ray erschienene Produktion aus Florenz.

Mit Le Villi dürften die Möglichkeiten , was das Entdecken unbekannterer Puccini-Opern betrifft, allerdings fast bereits erschöpft sein, denn die einzige weitere Oper vor der sofort und dauerhaft zur Erfolgsoper werdenden Manon Lescaut, der düster-leidenschaftliche Edgar und höchstens noch die operettennahe Rondine erfreuen sich weniger Aufmerksamkeit als eine Tosca oder Butterfly.

Von Le Villi gibt es vier unterschiedliche Fassungen. Der Musikverleger Eduardo Sonzogno hatte 1884 einen Wettbewerb für einen Operneinakter ausgeschrieben, zu dessen Teilnahme der junge Puccini von Amilcare Ponchielli ermuntert wurde. Das Werk erlangte zwar keinen Preis, wohl aber die Möglichkeit zu einer Aufführung in Mailand, wo der junge Mascagni im Orchestergraben am Kontrabass gesessen haben soll, der sechs Jahre später Sonzogno mit seiner Cavalleria Rusticana eine noch größere Freude bereiten sollte als Puccini mit seinen Villi. Die durch die Wettbewerbsregeln aufgezwungene Einaktigkeit erwies sich schnell als Erfolgshemmung, es gab noch drei Überarbeitungen, empfohlen auch durch den Konkurrenten Sonzognos, Ricordi, wobei der Komponist des Mefistofele , Arrigo Boito, die Aufführung der zweiten Fassung in Turin durch eine Subskription ermöglichte. In der ersten Fassung noch nicht vorhanden gewesen waren die Arie der Anna, der Frauenchor und die Arie des Roberto, das populärste Stück des Werks. Die dritte Fassung wurde wieder in Mailand, aber an der Scala, aufgeführt, immerhin Roberto Faccio stand am Dirigentenpult.

Dem Ballettfreund mögen Le Villi sehr vertraut erscheinen, ist doch das Ballett Giselle von Adolphe Adam  ähnlichen Inhalts. Es geht um von ihrem Geliebten oder Bräutigam noch vor der Hochzeit aus Gram über das Verlassenwordensein verstorbene Mädchen, die sich gemeinsam mit vom gleichen Schicksal betroffenen Gefährtinnen am Ungetreuen rächen, indem sie ihn zu einem tödlich endenden Tanz zwingen. Das Ballett Giselle beruht auf der Fassung, die Heinrich Heine dem Stoff angedeihen ließ, Le Villi hingegen auf Alphonse Karrs Les Willis.   

In der konzertanten Aufführung in München im Oktober 2024 durch das Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušiċ zeigt sich die frühe Meisterschaft des Komponisten, der in der Arie des Roberto „Torna ai felici dì“ bereits einen schmachtenden Rodolfo oder Cavaradossi hörbar werden lässt, Qualitäten, die der Chinese Kang Wang mit zärtlichen Piani, mit einem frischen, jugendlich klingenden Tenor beglaubigt. Auch die Anna von Anita Hartig setzt einen in zärtlicher Melancholie erklingenden Sopran ein, der sich in der Höhe schön entfalten kann. Beide Stimmen passen sehr gut zueinander. Dem unglücklichen Brautvater Guglielmo verleiht Boris Pinkhasovich mit sonorem Bass Würde und vokalen Anstand. Auch bei den rachsüchtigen Villi mitsingen dürfen die männlichen Mitglieder des Chors des Bayerischen Rundfunks. Ivan Repušiċ ist mit langjähriger Erfahrung im italienischen Fach natürlich der angemessene Sachwalter Puccinis am Dirigentenpult. Man wünscht sich das Werk in Kombination mit einem anderen, ebenfalls rund einstündigen Zwilling öfter als bisher auch abendfüllend auf der Bühne (BR Klassik 900359). Ingrid Wanja

Hallenser Festspieldokument

.

Prominent besetzt war eine Produktion von Händels Lotario bei den Händel-Festspielen Halle 2023, die NAXOS als  Live-Aufnahme jetzt auf zwei CDs herausgebracht hat (8.660570-71). Das Dramma per musica hatte seine Premiere 1729 am King´s Theatre in London und stellt in einer Handlung aus Rache und Heldentum die römische Königin Adelaide ins Zentrum. Ihr Mann wurde vom  italienischen König Berengario ermordet, der gemeinsam mit seiner Gattin Matilde erwartet, dass die Witwe beider Sohn Idelberto heiratet. Dieser liebt Adelaide tatsächlich, sie aber verweigert sich einer Verbindung mit ihm und fühlt sich dem deutschen König Lotario nahe. Mit ihm gibt es am Ende dann auch ein lieto fine. Die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli ist eine Spezialistin im Barockfach und regelmäßiger Gast bei internationalen Festivals der Alten Musik. Sie profiliert die Königin, die mit Anna Maria Strada del Pó von einer legendären Sängerin kreiert wurde, eindringlich, auch wenn sie im Auftritt bei „Quel cor che mi donasti“ zu heulenden Tönen neigt. Aber am Ende des 1. Aktes hat sie in „Scherza in mar“ Gelegenheit, ihre Virtuosität mit jagenden Koloraturgirlanden zu zeigen. „Menti eterne“ im 2. Akt lässt  dann wieder ihren Hang zur Larmoyanz hören.

Büste von Bernacchi
(Künstler unbekannt, 19. Jahrhundert,
Museo internazionale e biblioteca della musica von Bologna)/Wikipedia

In der Titelrolle, die bei der Uraufführung von dem renommierten Altkastraten Antonio Maria Bernacchi wahrgenommen wurde, ist mit Carlo Vistoli ein neuer Stern am Counter-Himmel zu hören. Nach seiner Aufnahme in William Christies Ensemble Le Jardin des Voix startete er eine bedeutende Karriere mit Gastspielen in Rom, Madrid, Wien, San Francisco und Monte-Carlo. Unvergesslich ist für mich sein Auftritt als Glucks Orfeo an der Berliner Komischen Oper 2022 in Michielettos streitbarer Inszenierung. Wie damals verströmt er sich auch in Halle mit seiner wunderbaren Stimme voller Kraft, Geschmeidigkeit und sinnlichem Reiz. Davon zeugt sogleich sein Auftritt, „Rammentati, cor mio“, mit schwärmerischem Klang und schmeichelnden Nuancen. Seine zweite Arie, „Già mi sembra al carro avvinto“, ist von energischem Duktus und Vistoli serviert sie mit gebotener Entschlossenheit. Hinreißend die zärtlichen Töne bei „Tiranna, ma bella“ zu Beginn des 2. Aktes, wie auch die träumerischen an dessen Ende bei „Non disperi peregrino“. Ein Paradebeispiel für die Kunst des Sängers ist die Arie „Vedrò più liete“ im 3. Akt, in der Bravour und Ausdruck eine perfekte Einheit bilden. Und mit Adelaide darf er das jubelnde Schlussduett „Sì, bel sembiante“ singen, in welchem sich beide Stimmen gebührend verblenden.

Als Berengario wirkt der polnische Tenor Krstian Adam mit. Mit „Grave è ´fasto di regnar“ und „Non pensi quell´altera“ fallen ihm die beiden ersten Arien des Werkes zu, in denen er seine klangvolle, kultivierte Stimme präsentieren kann. Den 2. Akt eröffnet er mit Regno e grandezza und beweist hier seine Flexibilität. Im 3. Akt hat er mit „Vi sento“ eine ergreifende Szene von schmerzlicher Intensität.

In der Partie seiner Gattin Matilde, die Händel für die auf Hosenrollen spezialisierte Alitstin Antonia Merighi schrieb, ist Anna Bonitatibus zu erleben, die im Jahr der Lotario-Produktion mit dem Händel-Preis der Stadt Halle ausgezeichnet wurde. Die italienische Mezzosopranistin setzt gleich in ihrem munteren Auftritt, „Vanne a colei che adori“, ein Achtungszeichen mit betörend schönem Klang und pointiertem Gesang. Reizvoll ist die Koketterie in „Orgogliosetto va l´augelletto“, stupend das rasante Tempo der Koloraturen in „Arma lo sguardo“.

Als Idelberto ist mit dem Polen Rafal Tomkiewicz ein weiterer Countertenor zu hören. Er beginnt noch vor dem Titelhelden mit weicher, sanfter Stimme, welche die Figur eines Sohnes perfekt imaginieren kann (Per salvarti, idol mio). Im 2. Akt hat er bei „Bella, non mi negar“ Gelegenheit für kosende und feine Spitzen-Töne. Die Besetzung komplettiert der südkoreanische Bass Ki-Hyun Park als Berengarios General Clodomiro. Mit seinen Arien „Se il mar promette calma“ und „Non t´inganni la speranza“ bringt er profunde tiefe Töne ein.

Das Händelfestspielorchester Halle auf historischen Instrumenten musiziert unter seinem Leiter Attilio Cremonesi, der der dramatisch orientierten Musik und ihrer  Virtuosität zu gebotener Wirkung verhilft. Schöne Akzente setzt er in der dreiteiligen Ouverture, der heroischen Sinfonia zu Beginn des 2. Aktes und jener, welche den 3. Akt einleitet.

Interessant ist der Vergleich mit der verfügbaren Aufnahme von 2004 bei der deutschen harmonia mundi unter Alan Curtis, wo keine Countertenöre mitwirken und die Partien des Loltario und Idelberto mit einem Mezzo und einem Alt besetzt sind. Barock-Liebhaber können also wählen, aber jeder der beiden Aufnahmen hat ihre Meriten. Bernd Hoppe

Velluti-Ehrung

.

Schon mit seiner CD Arias for Caffarelli erinnerte der Altus  Franco Fagioli 2013 an einen berühmten Kastraten und bei den Salzburger Pfingstfestspielen gab er 2014 einen Arienabend, der dem letzten berühmten Kastraten, Giovanni Battista Velluti, gewidmet war (wobei natürlich heutige Falsettisten nur einen Ersatz für die zu ihrer Zeit hochgepriesenen Kastraten darstellen). Der 1780 geborene Sänger wurde schon mit acht Jahren kastriert und in Bologna ausgebildet. 1800 debütierte er in Florenz, sang danach in mehreren Uraufführungen, so in Werken von Nicolini, Guglielmi, Mayr, Mercadante. Morlacchi, Rossini (Aureliano in Palmira) und Meyerbeer (Il crociato in Egitto). 1825 triumphierte er In London, ging jedoch nach Italien zurück, wo er letztmalig 1853 in Meyerbeers Crociato auftrat und 1861 verstarb. Gerühmt wurden die außergewöhnlich schöne Stimme, auch wegen ihrer Kraft und Beweglichkeit, sowie seine eindrucksvolle Stimmbeherrschung.

Nun veröffentlicht Château de VERSAILLES eine Platte mit Franco Fagioli und eben seiner Konzeption, der Hommage an eine Legende, die 2024 in Versailles entstand (CVS162). In der Arien-Auswahl gibt es freilich Unterschiede zwischen dem Konzert und der CD. In Salzburg sang Fagioli Szenen aus Rossinis Aureliano in Palmira und Meyerbeers Il crociato in Egitto. Auf der Platte ist der Schwan von Pesaro vertreten mit seiner Kantate Il vero omaggio, aus der die Arie „Al conforto inaspettato“ erklingt und den bravourösen Schlusspunkt der Anthologie markiert. Sonst aber findet man in der Sammlung eher unbekanntere Komponisten, einzig Salvatore Mercadante ist noch ein geläufiger Name. Aus seiner Oper Andronico stellt Fagioli zwei Szenen des Titelhelden vor – die Cavatina „Era felice un dí/Sì bel contento in giubilo“ und die Gran Scena „O solinghe dimore/Soave immagine/Non tradirmi“. Erstere ist ein Stück von lyrischer Noblesse mit feinen Verzierungen, welche der Solist mit hoher Kultur umsetzt, die zweite von ähnlich hohem Anspruch und ähnlich souveräner Bewältigung durch den Interpreten.

Giovanni Battista Vellutti sang den Tebaldo in der Venezianischen Uraufführung von Morlacchis „Tebaldo ed Isolina“/ Wikipedia

Die Reihe der unbekannteren Tonsetzer beginnt gleich mit dem Auftakt des Programms, bei dem eine Komposition von Paolo Bonfichi (1769 – 1840) vorgestellt wird – die Scena und Cavatina des Lotario, „Dolenti e care immagini/Vedrai quest´anima“, aus Attila. Fagioli kann hier den beeindruckenden Umfang seiner Stimme und deren aufregende Sinnlichkeit demonstrieren. Danach folgt Giuseppe Nicolini (1762 – 1842) mit sogar drei  Werken. Aus Balduino erklingen Recitativo ed aria des Titelhelden, „Ma i figli miei/Vederla dolente“. Der virtuose Zuschnitt dieser Nummer lässt Fagioli brillieren und verstehen, dass er bereits mit Erfolg den Arsace in Rossinis Semiramide gesungen hat.  Aus Traiano in Dacia ist die Aria des Decebalo, „Ah se mi lasci o cara“ zu hören, auch diese in rossinischer Manier komponiert. Schließlich stellt der Sänger aus Carlo Magno die ausgedehnte Scena e rondo des Vitekindo, „Ecco o numi compiuto/Ah quando cesserà/Lo sdegno io non pavento“, vor. Mit dramatischem Rezitativ, empfindsamer Arie und gestrafftem Schlussteil ist sie ganz im Stil des Belcanto konzipiert und gibt dem Sänger Gelegenheit zur Ausstellung seiner gestalterischen Fähigkeiten. Das Trio der Unbekannten vollendet Francesco Morlacchi (1784 – 1841) mit seiner Oper Tebaldo e Isolina, aus der die Scena e romanza des Tebaldo, „Notte tremenda… Caro suono lusinghier“ ertönt. Fagioli wartet hier mit einer reichen Palette von stimmlichen Farben auf und setzt das Brustregister effektvoll ein.

Der Solist wird begleitet vom Orchestre de l´Opéra Royal unter Stefan Plewniak. Der polnische Dirigent leitet das Orchester seit der Saison 2019/20 und hat für das Label Château de VERSAILLES bereits mehrere bedeutende Alben aufgenommen. Seine Affinität nicht nur zum Barock, sondern auch zum Stil der Grand opéra um Rossini und Meyerbeer ist in jedem Takt spürbar (11.03.25). Bernd Hoppe

Nachklang

.

Irritationen und Argwohn löst beim Werktreue liebenden Opernfreund bereits das Cover der Naxos Bluray aus, auf dem Richard Strauss‘ Oper Arabella angekündigt wird und auf dem sich prügelnde Mannsbilder zu sehen sind; verstärkt wird das unbehagliche Gefühl durch das Foto auf dem Booklet, das ein Schnurrbart tragendes androgynes Wesen wohl kurz vor dem Orgasmus zeigt, und die Silberscheibe selbst ziert ein höchst gegenwärtig wirkendes Paar in bester Laune: Zdenka weiterhin mit Bärtchen und Matteo mit modischer Haarknotenfrisur. Und Arabella? Das Hassobjekt des kämpferischen Feminismus („Du sollst mein Gebieter sein!“) fand wohl nicht das Interesse des Regisseurs Tobias Kratzer, dessen Zuneigung ganz offensichtlich nicht einmal der das Mädchensein herbeisehnenden, aber aus Kostengründen zum Mannsein verdammten jüngeren Schwester der Titelheldin galt, sondern der mit seiner Einbeziehung alles nur denklichen Queerseins sich den Matteo filmisch zum Vorspiel zum dritten Akt erotisch an Schnäuzer und (weiblichen)Brüsten abarbeiten lässt, und irgendwann denkt man sich in Eugen Onegin versetzt, nur dass nicht Lenski (Matteo) erschossen wird, sondern sich Zdenka zwischen die Duellanten wirft..

Dabei beginnt es ganz traditionell wirkend und erst allmählich irritierend übertreibend, was szenischen Naturalismus betrifft, in einem mit allen Insignien der Belle Époque ausgestatteten Wiener Hotelzimmer, mit ebenso prachtvoller Rezeption und nur ab und zu störend dazwischen herum huschenden Kameraleuten, die Schwarzweißbilder, mal von Gesichtern, mal auch nur von Stiefeln auf die Leinwand werfen. Der zweite Akt spielt nicht in einem, sondern vor einem Ballsaal, Bauhausstil macht sich breit und die üppigen Kostüme des ersten Akts (Bühne Rainer Sellmaier, Kostüme eben der plus Clara Hertel) weichen allmählich Zwanziger-Jahre-Chic, SA-Leute brechen prügelnd herein, und der dritte Akt spielt schließlich auf der bis auf eine Bank leeren Bühne, auf der die  sich emanzipiert habende Arabella mit einer Plastikflasche erscheint, um den sich recht lächerlich dagegen wehrenden Mandryka nass zu spritzen. Hurra, sie hat sich emanzipiert! Im Programmheft heißt es, dass „ihr Verhältnis neu verhandelt“ werden muss. Aber auch die ältere Generation lässt sich in puncto sexueller Befreiung nicht lumpen , denn Adelaide zog bereits im zweiten Akt mit einem der gräflichen Freier an der Hundeleine ab. Tobias Kratzer bekam den kürzlich verliehenen Preis für die beste Regie nicht für diese Arbeit, sondern für den mittleren Teil der aus Arabella, Intermezzo und Die Frau ohne Schatten stammenden Trilogie an der Deutschen Oper Berlin.

Da einige der Sänger am Premierenabend indisponiert waren, die kurzfristig eingesprungene Sängerin der Titelpartie die dritte nach zwei Absagen war, stammen die Aufnahmen aus zwei Vorstellungen, darunter auch der Schlussapplaus aus der Premiere, der einen heftigen Buh-Sturm auf das Regieteam niedergehen und einige Missfallensbekundungen auch den Dirigenten treffen sah.

Kurzfristig eingesprungen war Sara Jakubiak als Arabella mit schöner optischer und unangefochtener auch vokaler, allerdings etwas kühl klingender Präsenz. Umso inniger und dabei noch mit strahlenden Höhen ausgestatteter Sopranstimme begabt klang die Zdenka von Elena Tsallagova, die allerdings es auch der Regie zu verdanken hatte, dass sie zur eigentlichen Heldin des Werks wird. Die Familie komplett war mit dem die Bühne dominierenden Paar Waldner vom basspotenten Albert Pesendorfer und Gattin Adelaide in Gestalt und mit Stimme der hochpräsenten Doris Soffel. Russel Brauns Bariton klingt auf der Aufnahme wärmer und runder als aus der Premiere erinnerlich, der Tenor von Robert Watson, der den Matteo singt, klingt weniger strahlend als der des Elemer von Thomas Blondelle. Szenisch stiefmütterlich behandelt, stellt sich die Fiakermilli von Hye-Young Moon umso strahlender dar.  Aber ist es um den deutschen Sängernachwuchs oder seine Ausbildung so schlimm bestellt, dass nur die ältere Generation sich noch auf den Bühnen behaupten kann?  Nicht nur die Regie war für alle drei Straussopern einer Hand anvertraut, auch Nochchefdirigent Donald Runnicles dirigierte nicht nur die erste, sondern auch die beiden weiteren Strauss-Werke und das mit leuchtendem Orchesterklang und, wo angebracht, straffem und  doch zugleich die Schönheiten der Partie auslotendem Spiel sich als Straussdirigent bewährend (Naxos 800182V). Ingrid Wanja        

 

Akustische Freude

.

Bereits 2012 gab es aus der Donizetti-Stadt Bergamo eine DVD und CD von des berühmten Sohnes Frühwerk Akustische Freude,  L’aio nell‘ imbarazzo, Der Erzieher in Nöten, allerdings die zweite Fassung mit gesprochenen Rezitativen und hinzugefügten Arien und unter dem Titel Don Gregorio, 1826 für Neapel. Die Urfassung existiert seit 1984 als CD und wurde in Turin unter Bruno Campanella aufgenommen, und bereits damals gehörte zur Besetzung Alessandro Corbelli, der großartige Buffo, der auch noch in der jüngsten Aufnahme aus Bergamo vertreten ist, wieder als leidgeprüfter Vater zweier liebesdurstiger Söhne, die von ihrem Erzieher vom weiblichen Geschlecht ferngehalten werden sollen, wobei der Ältere bereits heimlich verheiratet und Vater eines Sohnes ist, während der Jüngere wohl eine Beute der Haushälterin werden wird. 1959 tauchte das Werk zum ersten Mal in Bergamo nach Aufführungen im entdeckungsfreudigen Wexford auf. In Turin waren nicht nur die beiden älteren Herren mit gestandenen Sängern, darunter Enzo Dara, besetzt, sondern auch das jugendliche Personal mit Luciana Serra und Paolo Barbacini, Bruder des gleichnamigen Dirigenten. In Bergamo hingegen pflegt man die schöne Tradition, die mittleren und kleineren Partien mit Masterclass-Studenten der Bottega Donizetti zu besetzen und so jungen Sängern zu wertvoller Bühnenerfahrung zu verhelfen.

Auf den Buffo-Spuren von Alessandro Corbelli bewegte sich lange Zeit auch der Bass-Barion Alex Esposito, der inzwischen zum basso profondo mit Partien wie Filippo und Fiesco herangereift ist. 2022 vernimmt man in seiner Stimme, die er dem Gregorio verleiht, bereits ein reiches Farbspektrum, Lust an Irrsinnstempi, in denen er seinem Affen so richtig und vergnüglich Zucker geben kann, man hört der Stimme an, dass der Sänger mit großem Spaß bei der Sache ist. Etwas matter klingt naturgemäß Alessandro Corbelli, jedoch mit allen Buffo-Wassern gewaschen und seine anspruchsvolle Arie zu Beginn zwar altersmilde, aber  um alle Finessen des Donizetti-Gesangs wissend und sie auch anwendend.

Eine sehr anspruchsvolle Arie am Schluss des Zweiakters hat die Gilda, Ehegattin des älteren Bruders, mit „No, caro padre, che tal ti chiamerò“, in der Marilena Ruta im Unterschied zum vorangegangenen eher schüchternen Einsatz,  mit raffinierten Verzierungen und flinken Koloraturen noch überzeugender wirkt als bereits zuvor mit zart-zärtlichem Gesang ihres mädchenhaften Soprans. Der Mezzosopran, der für die als ältlich bezeichnete Leonarda von Caterina Dellaere eingesetzt wird, ist einfach zu jugendlich und frisch, als dass er dies beglaubigen könnte.  Mit einem Tenor  besetzt ist der Enrico, dem Francesco Lucii ein herb-frisches Timbre, eine sinnvolle Phrasierung, aber wenig dolcezza verleiht, so dass am Ziel tenore di grazia noch etwas gearbeitet werden müsst.  Lorenzo Martelli ist mit erstklassiger Diktion und entsprechendem Timbre auf dem richtigen Weg zum Charaktertenor. Einen anständigen Simone singt Lorenzo Liberali. Graziös und kapriziös und damit sehr angemessen mit hörbaren Anklängen auch an Rossini dirigiert Vincenzo Milletari das Orchestra Donizetti Opera, versucht nie, dem Orchester eine gewichtigere Rolle zuzuteilen, als es sie als Sängerbegleitung hat. Das Klavier erklingt unter den flinken Händen  von Hana Lee, Chormeister ist Claudio Fenoglio.

Dem Werk kann man nach Anhören dieser Aufnahme durchaus einen Einstieg ins Repertoire der Opernhäuser zutrauen und wünschen, allerdings nicht in der auf dem Cover enthüllten Optik, in der Müllmänneranzüge in Orange dominieren (Naxos 8.660565-66). Ingrid Wanja      

Le Prix de Rome

.

Die französischen Komponisten in der Villa Medici im 19. Jahrhundert: Der 1803 ins Leben gerufene Prix de Rome für Musik ermöglichte es der Elite der französischen Komponisten, mehrere Jahre in Italien zu studieren. Der Wettbewerb und der anschließende Aufenthalt des Gewinners waren ebenso umstritten und beneidet wie bewundert und begehrt …

Der Wettbewerb um den Prix de Rome war lange Zeit der begehrteste Weg an die Spitze der französischen Kunstausbildung. Dies lag daran, dass er nicht nur die Elite der Nation auszeichnete, sondern seinen Preisträgern auch finanzielle Unterstützung und – inoffiziell – Karriereförderung bei ihrer Rückkehr aus Italien in Form von Lehrstellen oder staatlichen Aufträgen bot. Obwohl die Episode der Aufnahmeprüfung selbst reichhaltig dokumentiert und ausführlich kommentiert wurde, insbesondere von den Kandidaten selbst (und vor allem von Berlioz und Debussy), vermittelt die Zeit des Aufenthalts in Rom immer noch den Eindruck einer goldenen Legende, über die wenig bekannt ist. Es ist dieses Geheimnis um das „Pensionnat“ in der Villa Medici, das der Palazzetto Bru Zane mit seinem Frühlingsfestival teilweise auflösen möchte.

Die Villa Medici um 1900/Palazzetto Bru Zane

Die dort entstandene Musik – die „envois de Rome“, so genannt, weil die Stücke zur Begutachtung nach Paris geschickt wurden – deckt ein sehr breites Spektrum ab, von Oper und Symphonie bis hin zu Mélodie und Kammermusik. Da die italienische Herkunft der meisten envois, die der Nachwelt erhalten blieben – darunter Debussys Ariettes oubliées, Gounods Le Soir und Berlioz‘ Rob-Roy Overture – oft wenig bekannt ist, haben sich nur wenige Kommentatoren für einen Aufenthalt ausgesprochen, bei dem das Farniente die Oberhand über solide harte Arbeit zu gewinnen schien. Eine solche Einstellung zeugt jedoch von einem geringen Verständnis für den leidenschaftlichen künstlerischen Austausch, die oft überbordende Kompositionsproduktion und die endlosen Polemiken, die das Ergebnis eines Aufenthalts in der Villa Medici waren …

.

Von Paris nach Rom: In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es keine leichte Aufgabe, die Villa Medici zu erreichen, als Pferdekutschen und die Seefahrt die einzigen Transportmittel waren. Es gab zwei Möglichkeiten: über die Alpen zu fahren und dann Italien von Norden nach Süden zu durchqueren oder im Hafen von Marseille an Bord zu gehen und zu einer Küstenstadt in der Nähe von Rom zu segeln. Obwohl das Mittelmeer selten rau war, war die Überfahrt dennoch chaotisch und anstrengend. Vor allem aber beraubte sie den Reisenden der herrlichen Landschaften und der Möglichkeit, in legendären Städten Halt zu machen. Daher entschieden sich die meisten Gewinner des Prix de Rome für eine Landroute, die sie nacheinander durch Turin, Mailand, Venedig, Bologna und Florenz führte. Um zur ersten dieser Städte zu gelangen, reiste man mit einem Maultierzug über den Mont-Cenis, durch Windböen und Schneestürme. Bei der Ankunft am Gebirgspass, der das Tor zu Italien bildet, eröffneten sich dem Auge neue Landschaften. Der Maler Flandrin schrieb, dass er noch nie etwas so Reichhaltiges gesehen habe: „Die Ebene war von Licht durchflutet, aber von so weichem Licht“. Für den Bildhauer Simart war „die Reise von Lyon nach Rom allein schon den Gewinn des Grand Prix wert“. Diese erste Etappe blieb allen Reisenden lange in Erinnerung.

Hector Berlioz made four attempts at winning the Prix de Rome music prize, finally succeeding in 1830. As part of the competition, he had to write a cantata to a text set by the examiners. Berlioz’s efforts to win the prize are described at length in his Memoirs. He regarded it as the first stage in his struggle against the musical conservatism represented by the judges, who included established composers such as Luigi Cherubini, François-Adrien Boieldieu and Henri-Montan Berton. Berlioz’s stay in Italy as a result of winning the prize also had a great influence on later works such as „Benvenuto Cellini“ and „Harold en Italie“. The composer subsequently destroyed the scores of two cantatas („Orphée“ and „Sardanapale“) almost completely and reused music from all four of them in later works. There was a revival of interest in the cantatas in the late 20th century, particularly „Cléopâtre“, which has become a favourite showcase for the soprano and mezzo-soprano voice./Gemälde 1832, Émile Signol/Wikipedia

Akademismus trifft auf Modernität: In jeder Epoche der Geschichte des Prix de Rome kam es zu Aufständen seitens der Bewohner, von denen einige ihren Anspruch auf völlige kreative Freiheit geltend machten. Während der Wind der Romantik den kreativen Geist beflügelte, kam es unter den Direktoren Vernet und Ingres (1828–41) zu einer „gotischen“ Welle. Diese Rückkehr zur harmonischen Schlichtheit Palestrinas erreichte ihren Höhepunkt dank der Anwesenheit der Komponisten bei den Auftritten der Kastraten der Sixtinischen Kapelle. Androt fand ihren Gesang „großartig“ und Massenet sagte, er sei „beeindruckt“. Dann erfasste der Wagnerismus die Villa: Alle beeilten sich, diese Modernität zu studieren, die das Institut vergeblich auszumerzen versuchte. „Und zu denken, dass es Amateure gibt, die diese Musik bewundern“, schrieb Gabriel Pierné. Im Gegensatz dazu erlebte Gustave Charpentier dank Wagner „unvergessliche Schauer, Tränen, Vibrationen, den Zusammenbruch des Wesens, die Erhebung der Seelen“. In den 1870er Jahren protestierte das Ministère des Beaux-Arts gegen den akademischen Immobilismus in der Villa, die es beschuldigte, „das ursprüngliche Temperament der Studenten einzuschränken und zu ersticken“. Nach und nach entstanden auf dem Pincio Werke, die ihre Wurzeln in der Beschäftigung mit den neuen „Ismen“ hatten: Symbolismus, Naturalismus, Expressionismus … Der Weg schien endlich frei, um sich Gehör zu verschaffen. Zwei Schlüsselkonzepte wurden zur Norm: Anfechtung und Übertretung. Dieser Widerstand gegen die etablierte Ordnung zeugte von der Entschlossenheit erfinderischer, freiheitsliebender junger Menschen. Die Art und Weise, wie sie die Vorschriften umgingen – sei es in der Art der envois oder in ihrem Stil – veranschaulicht perfekt den daraus resultierenden Machtkampf zwischen zwei Generationen, in dem ältere Mentoren und junge Dissidenten jeweils ihre Argumente in eine lebhafte ästhetische Debatte einbrachten. (Palazzetto Bru Zane)

.

Es ist das große Verdienst des Palazzetto Bru Zane, einige Preisträger des Prix de Rome in gewohnt luxuriösen CD-Buch-Ausgaben mit ihren Kompositionen für und um diesen Anlass zu präsentieren. Bereits erschienen sind in dieser Ausgabe Charles Gounod, Paul Dukas, Gustave Charpentier, Camille Saint-Saens, Claude Debussy. Mit der Edition No. 4 und No. 5 machen wir auf den heute kaum noch bekannten Max D´Ollone und auf den jungen Georges Bizet aufmerksam, dessen Jugendwerke so gut wie vergessen sind. Rolf Fath wirft einen Blick darauf. Anschließend haben wir Bizets Erinnerungen an seine Zeit beim Prix de Rome ausgeraben. G. H.

.

.

Was auf den ersten Blick wie die Resteverwertung aus vielen Aufnahmesitzungen oder ein willkürliches Sammelsurium aussieht, hat dennoch Sinn und Verstand, wie der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki ausführt, „the Palazzetto Bru Zane presents nearly five hours of unknown or rearly performed music by Bizet, spanning his entire career. All the genres to which he contributed are to be found here: the opera, the cantata, the chorus, the mélodie, orchestrale and piano music. Yes, it is still possible, in 2024, to unveil so impressive an array of unpublished or rare works by so famous an artist“. Alles hat Sinn und Verstand, was Palazzetto Bru Zane veröffentlicht, die 4-CD-Ausgabe Bizet aus der Serie der Portraits und die 2 CDs zu Max d’Ollone aus der, wie die Portraits-Serie auf sechs Nummern angewachsenen Collection Prix de Rome, mit der das Label seinen weitaus umfangreicheren Katalog französischer Opern aus den Jahren 1780 bis 1920 ergänzt. Beide exquisite Buchformate mit den entsprechenden CDs in den Laschen der vorderen und hinteren Innenseiten sehen imposant aus, die Max d’Ollone-Ausgabe ziert sogar eine Goldprägung, auf dass der Band seinen Platz im Wohnzimmerschrank neben dem Meyer-Lexikon finde. Dazu kommen jeweils mehrere schöne Texte (franz./ engl), viele von Dratwicki, die Gesangstexte, Auflistungen und Abbildungen der Mitwirkenden. Ganz hinten, wo man schon nicht mehr zu hoffen wagt, dann endlich die Tracklist mit den ziemlich klein gedruckten jeweiligen Interpreten, was den Eindruck unterstreichen könnte, dass neben der wissenschaftlichen Fleißarbeit der sinnlich-musikalische Aspekt nebensächlich ist.

.

Der junge Georges Bizet/Gemälde von Félix Henri Giacomotti/Detail/Wikipedia

Das Bizet-Portrait kommt nicht ohne Bekanntes aus, denn eine der vier CDs nimmt seine 1872 an der Opera-Comique uraufgeführte Djamileh ein. Das geht insofern in Ordnung, da es nicht allzu viele Einspielungen des Einakters für drei Sänger, Chor und Orchester gibt, und schon gar keine Einspielung mit historischen Instrumenten wie Les Siècles unter François-Xavier Roth, die wie bei einem alten Gemälde den originalen Firnis freilegen. Denn wie ein Gemälde mutet Alfred de Mussets Namouna–Dichtung an, nach der Louis Gallet seine schlichte und undramatische Handlung um Djamileh entworfen hat, die sich in Haroun verliebt. Regelmäßig tauscht dieser aber seine Gespielinnen aus, doch mit Hilfe des Dieners Splendiano kommt Djamileh heimlich noch einmal des Nachts verschleiert zu ihm. Haroun verliebt sich natürlich in sie. Die Aufnahme wirkt frisch und direkt, hier weht allerdings weniger der Duft des Orients als die pragmatische Hemdsärmeligkeit der Spieloper, Sahy Ratia ist ein leichtgewichtig tenorzärtlicher Haroun, Isabella Druet eine lodernde Djamileh und Philippe-Nicolas Martin der noble Bariton-Diener.

Zu Bizets „Paul et Virginie“/Illustration von Paul Massé/BNF Gallica

Doch ein Hauptaugenmerk dieser Ausgabe liegt auf Werken, die Georges Bizet am Konservatorium erstellte, in das er kurz vor seinem zehnten Geburtstag 1848 aufgenommen und ab 1853 hauptsächlich von Fromenthal Halévy unterrichtet wurde. Sein Ziel, wie das aller Kommilitonen, war der Prix de Rome, der nicht nur Prestige und Anerkennung versprach, sondern auch einen mehrjährigen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom. Als Gegenleistung für den kostenfreien Rom-Aufenthalt hatten die Stipendiaten der Académie jährlich ein Werk einzureichen. Für den Prix de Rome kamen in der entscheidenden zweiten Runde des Wettbewerbs ausschließlich Kantaten-Kompositionen für drei Solisten und Orchester auf einen vorgegebenen Text in Frage. In diesem Zusammenhang erklingt auf der dritten CD als Novität und Ersteinspielung die bislang nie aufgeführte Kantate Le Retour de Virginie, die Bizet um 1855 auf einen Text komponierte, der für den Prix de Rome-Wettbewerb des Jahres 1852 vorgegeben war, den Léonce Cohen gewann. Der Text von Auguste Rollet konzentriert den 1787 erschienen Roman Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre auf wenige zentrale Szenen, in denen Bizet durch instrumentale Delikatesse bildhaft die Szenerie auf Mauritius ausmalte. Die späte Uraufführung erfolgte im Mai 2024 im Auditorium de Lyon. Ben Glassberg leitete das Orchestre national de Lyon, es singen Marie-Andrée Bouchard-Lesieur, Cyrille Dubois und Patrick Bolleire, die sich im zentralen Gebet „O roi des cieux“ wirkungsvoll verbinden. Dubois triumphiert in der ausgesprochen umfangreichen und in unbequemer Lage angesiedelten Partie des Paul, das meckernde Vibrato muss man in Kauf nehmen.

Zu Bizets „Clovis et Clotilde“: „Le baptême de Clovis“ von Jean Alaux 1835/Wikipedia

Mit Clovis et Clotilde auf einen Text von Amédée Burion setzte sich Bizet 1857 gegen den von der Musiksektion der Académie favorisierten Charles Colin durch und gewann endlich mit den Stimmen der gesamten Académie des Beaux-Arts den Prix de Rome, was ihm zum erhofften Rom-Aufenthalt verhalf. Auch Clovis et Clotilde geriet völlig in Vergessenheit und wurde erst 1986 durch Jean-Claude Casadesus wiederentdeckt. Den Übertritt des Merowingerkönigs Chlodwig bzw. Clovis zum Christentum gestalten Karina Gauvin als Clotilde, Julien Dran als Clovis und Huw Montague Rendall als auf der vierten CD auf überaus effektvolle und packende Weise; Julien Chauvin dirigierte bei der Aufführung im März 2022 in Soisson. Bizet belebte das steife religiöse Thema durch die bildhafte Darstellung lärmender Schlachten und inniger Gebete und eine sensible Orchestrierung, wie sie Clotildes Romance „Il est si beau, mon doux Sicambre“ umkleidet. Das anschließende Duett „Vers toi monte notre prière“ verwendete Bizet neuerlich in Les pêcheurs de perles.

Hingewiesen werden soll auf einige Männerchöre, die Bizet zwischen 1854-57 und 1869 („La Mort s’avance“) schrieb. David Reiland führte diese im Juli 2023 in Metz mit dem Flemish Radio Choir und dem Orchestre national de Metz Grand Est auf; Mélissa Petit und Cyrill Dubois sangen die Soli. Die gleichen Musiker präsentieren (CD 2) auch die nach dem Vorbild von Félicien Davids Le Désert und Christophe Colomb zwischen weltlichem Oratorium und Oper angesiedelte sehr interessante Ode symphonique Vasco da Gama für Solisten, Chor und Orchester und Erzähler. Es war eines der zahlreichen Werke, die Bizet in den vier Jahren in Rom u.a. neben der Buffa Don Procopio und dem Te Deum schrieb. Von den drei Akten, zu denen ihm Louis-Michel-James Lacour-Delâtre den Text verfasste, stellte er nach dem mediokren Erfolg bei der ersten Aufführung in Paris 1863 nur den ersten Akt mit Vasco da Gama, dem Leutnant Alvar und dem Seemann Leonard fertig. Letzterer ist eine Hosenrolle für einen Koloratursopran, dem der virtuose, später in Ivan IV. wieder verwendete Bolero „La marguerite a fermé sa corolle“ zufällt. Mélissa Petit singt den Léonard, Thomas Dolié spricht den Vasco da Gama, Dubois singt den Bruder Alvar.

.

.

Genau 40 Jahre nach Bizet errang Max d‘Ollone den Prix de Rome. Keiner kennt den 1875 in Besançon geborenen und 1959 in Paris gestorbenen Komponisten. Vielleicht ist in Frankreich sein Enkel, der Komponist Patrice (*1947), eher bekannt, der 1990-2002 als künstlerischer Leiter des Orchestre National de France (ONF) fungierte, Musikwissenschaft an der Sorbonne lehrte und die Festivals in Menton, Béziers und in der Abtei von Valmagne leitete. Großvater Max war, wie Patrice d’Ollone in der schönen Ausgabe schreibt, vor allem ein Komponist von Bühnenwerken und Verfasser von zehn Bühnenwerken, von denen fünf in den 1920er und 30er Jahren an der Opéra bzw. an der Opéra-Comique uraufgeführt wurden. Er sei durch die Bühnenwerke von Wagner und Saint-Saens beeinflusst, er bewunderte Massenet, in dessen Kompositionsklasse er 1894 eintrat. Später unterrichtete Max d’Ollone selbst am Conservatoire, war 1941-44 Direktor der Opéra-Comique sowie Mitglied der Groupe Collaboration, was vielleicht erklärt, weshalb er nahezu in Vergessenheit geriet. Palazzetto Bru Zane beleuchtet das Schaffen von d’Ollone anhand seiner Kantaten und Chorwerke, die im Zusammenhang mit dem Prix de Rome entstanden, seien es die Essais, die Versuche, L’Èté auf den Text von Victor Hugo von 1894, Hymne nach Jean Racine von 1895, Pendant la tempête nach Théophile Gautier von 1896, Sous-bois auf den Text von Philippe Gille von 1897, die Kantate Clarisse Harlowe mit dem auf dem berühmten Richardson-Roman Clarissa (1748) basierenden Text von Edouard Noël, mit der er 1895 den zweiten Preis errang, und die Kantate Mélusine nach Fernand Beissler, die 1896 nicht prämiert wurde. Die lebhaften Auseinandersetzungen, welche die Findungen begleiteten, werden im Buch ausführlich beschrieben. Umsichtig und fleißig haben Hervé Niquet und der Flemish Radio Choir und die Brussels Philharmonic diese Werke zusammengetragen und bereits im März und Juni 2012 in Brüssel aufgenommen.

Der junge Max D´Ollone/Fotografie von Nadar/Palazzetto Bru Zane

Das zentrale Werk, wenngleich nicht das umfangreichste, ist die 1897 mit dem Prix de Rome ausgezeichnete Frédégonde. Im vierten Anlauf errang Max d’Ollone endlich den Preis, der ihn im Winter 1897/98 nach Rom führte, wo er bald von Cavalleria rusticana, La Bohème, Manon Lescaut und Norma schwärmt und alle Italien-Impressionen einen lebenslangen Einfluss auf sein Schaffen haben werden. Im Zusammenhang mit der Siegerkantate denkt man an die 2022 in Dortmund als deutsche Erstaufführung präsentierte Frédégonde von Guiraud, die sein Freund Saint-Saens für die Pariser Uraufführung 1895 vervollständigt hatte. Wie bei Bizets Clovis et Clotilde handelt es sich um einen Stoff aus der Merowingerzeit, den Charles Morel in Rezitative, eine Arie, ein Duett und ein Terzett packte, wobei d’Ollone die beiden Konkurrentinnen, die hochdramatische wütende Frédégonde und die lieblichere Galswintha, scharf charakterisierte. Auf der Aufnahme werden sie von Jennifer Borghi und Chantal Santon übernommen, die sich im melodisch leidenschaftlichen Terzett mit Julien Drans drahtigem Tenor (Chilpéric) verbinden. Rolf Fath

.

.

Und nun Georges Bizets Erinnerungen an den Prix de Rome: 1856 bewarb ich mich um den renommierten Prix de Rome, allerdings ohne Erfolg. In diesem Jahr wurde der Musikpreis an niemanden vergeben, der am Wettbewerb teilgenommen hatte. Stattdessen nahm ich an einem Opernwettbewerb teil, der von Jacques Offenbach organisiert wurde und mit einem Preisgeld von 1.200 Francs dotiert war. Ich gewann zusammen mit Charles Lecocq, der später die schockierende Behauptung aufstellte, ich hätte nur gewonnen, weil Halévy einer der Juroren gewesen sei.

Obwohl diese Behauptungen unnötig waren, wurde ich durch den Gewinn des Wettbewerbs zu einem regelmäßigen Gast bei Offenbachs Dinnerpartys am Freitagabend, wo ich eine Reihe von Musikern mit unterschiedlichem Erfolg traf. Mein Lieblingsbegegnung war jedoch die mit Gioachino Rossini, der mir ein signiertes Foto schenkte. „Rossini ist der Größte von allen, denn wie Mozart hat er alle Tugenden.“

Mit neunzehn Jahren nahm ich 1857 erneut am Prix de Rome teil. Mit Gounods Zustimmung reichte ich die Kantate Clovis at Clotilde von Amédée Burion ein. Ich gewann den ersten Preis und erhielt ein Stipendium für fünf Jahre. Gemäß den Bedingungen des Preises sollte ich zwei Jahre in Rom, ein drittes in Deutschland und die letzten beiden in Paris verbringen. Während dieser Zeit sollte ich jedes Jahr ein Originalwerk bei der Académie einreichen. Vor meiner Abreise wurde meine preisgekrönte Kantate an der Académie mit großem Erfolg aufgeführt.

.Rom: Georges Bizets Inspirationen und Misserfolge. Am 27. Januar 1858 kam ich in der Villa Medici an. Es war ein Paradies, in dem die französische Académie in Rom untergebracht war, und der perfekte Ort für mich und die anderen Preisträger, um unseren künstlerischen Ambitionen nachzugehen. Das Problem war, dass ich mich zu sehr in mein neu gefundenes gesellschaftliches Leben verstrickte, sodass das einzige Stück, das ich in den ersten sechs Monaten meines Aufenthalts in Rom komponierte, ein religiöses Stück namens Te Deum war.  Te Deum beeindruckte die Juroren nicht, und ich war so entmutigt, dass ich mir schwor, nie wieder religiöse Musik zu schreiben. Te Deum blieb bis 1971 unveröffentlicht.

Rom: Georges Bizets Inspirationen und Misserfolge. Im Winter 1858/59 arbeitete ich an meinem ersten Gesuch für die Académie. Es sollte eine Messe nach Carlo Cambiaggios Libretto Don Procopio werden, aber nach meinem Schwur beschloss ich, einen anderen Weg zu gehen und die Regeln zu umgehen. Am Ende reichte ich etwas anderes ein, und zu meiner Überraschung gefiel es der Académie. Sie sagten, ich hätte eine „leichte und brillante Note“ und einen „jugendlichen und kühnen Stil“.

Für meinen zweiten Envoi hatte ich beschlossen, ein halbreligiöses Stück einzureichen, um die Toleranz der Académie nicht zu überstrapazieren. Es hieß Carmen Saeculare, eine weltliche Messe auf einen Text von Horaz, und war als ein Lied an Apollo und Diana gedacht.

Leider existiert dieses Stück nicht. Ich habe nie damit angefangen. Während meiner Zeit in Rom wurde es zu einem Teil meines Lebens, ehrgeizige Projekte aufzugeben. Ich habe mindestens fünf Opern verworfen, zwei Versuche einer Symphonie und eine symphonische Ode zum Thema Odysseus und Circe. Ich habe es geschafft, in Rom nur ein Stück fertigzustellen, eine symphonische Dichtung namens Vasco da Gama, die Carmen Saeculare als mein zweites Werk ersetzte. Vasco da Gama wurde von der Académie gut aufgenommen, geriet aber schnell wieder in Vergessenheit.

Georges Bizet Entdecken Italiens. In den wärmeren Monaten des Jahres 1859 begannen meine Begleiter und ich, Orte in der Umgebung von Rom wie Frosinone zu besuchen. Es waren inspirierende Orte, reich an Geschichte. Im August wagte ich mich nach Neapel und Pompeji, wo mich Letzteres so sehr inspirierte, dass ich begann, eine Symphonie zu entwerfen. Daraus sollte später „Roma“ werden, aber zu diesem Zeitpunkt kam ich nur sehr langsam voran und vollendete sie erst 1868.

Nach meiner Reise nach Pompeji kehrte ich nach Rom zurück und erhielt auf meinen Antrag hin die Zusage für ein drittes Jahr in Italien, anstatt nach Deutschland zu gehen. So konnte ich „ein wichtiges Werk vollenden“, das ich, wie ich glaube, nie fertiggestellt habe.

Leider erhielt ich während eines Besuchs in Venedig mit Ernest Guiraud die Nachricht, dass meine Mutter schwer erkrankt war, und kehrte sofort nach Paris zurück. (Leading Musicians)/DeepL/ Foto oben Villa Medici/VillaMedici.it)

Giuseppina Grassini

.

Anlässlich der zwei Ausgaben (CD und DVD) von Zingarellis Oper Giulietta e Romèo bei Chateau de Versailles vielleicht ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen Bedeutenden ihrer Zeit, verführte und dazu noch einen eigenen gutwilligen Ehemann besaß.

1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um ihre Ausbildung zu machen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen (Conte Ludovico Luigi Carlo Maria di Barbiano e Belgiojoso, 1728 – 1801) kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte.

Giuseppina Grassini in „Le nonnes del sol marito“ [„Due nozze e un sol marito“] von Cimarosa/Ricordi Archives

1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand an die Scala zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragendenKastraten Girolamo  Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing„Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite„Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: Der Geiger und Komponist Pierre Rode Jacques/Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Giuseppe Conte Ragani (1785 – 1862), der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone„Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini (!) wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da noch Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) | Twitter)

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

.

Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Baur) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini und Napoleon/ kolorierte Zeichnung von Antoine Calbet/ BNF/ Gallica

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…) Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Ehemann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia, das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

.

 

Den Artikel von Laurent Brunner und deren Übersetzung entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur CD-Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Redaktion G. H.

.