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Unglaubliche achtzehn Jahre sind seit der Erstausgabe von Kevin Clarkes Glitter and be Gay-Buch von 2007 vergangen. Es war als das damals „weltweit (!) erste Buch, das sich mit Homosexualität und Operette“ beschäftigte: ein Solitär. Und ist es geblieben. Da aber „seit 2007 so unendlich viel passiert ist, kam die Idee auf, das lange vergriffene Original nicht einfach neu aufzulegen, sondern eine „Reloaded-Version zu gestalten zu der queeren Operettenrevolution, die seither stattgefunden hat“. Für die Reloaded-Ausgabe überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Herausgeber Kevin Clarke das Buch, dessen ursprünglicher Untertitel „Die freche Originaloperette und ihre schwulen Verehrer“ in der Reloaded-Ausgabe zu „Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“ wurde. Zu der queeren Operettenrevolution zählt Clarke „die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin“ mit Ausgrabungen in den Inszenierungen Koskys sowie anderer Regisseure, „Die Uraufführung der Der Operette für zwei schwule Tenöre von Florian Ludewig und Johannes Kram, das Sci-Fi-Singspiel „Planet Egalia über trans Identitäten im Weltall, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d’amore und Produktionen wie Magna Mater, als Mash-up von Franz von Suppés Die schöne Galathée und Paul Linckes Lysistrata“.
Gegliedert ist das Buch mit dem hübschen Bernstein-Titel in Grundsatzartikel und zahlreiche wie Häkeldeckchen unterlegte kurze „Operettenmomente“, in denen Regisseure, Macher und Intendanten von Axel Ranisch (über Dagmar Manzel) bis Josef Köpplinger (über seine Großtante), von Tilmann Krause (über Elisabeth Schwarzkopf) bis zum jüngst verstorbenen Bernd Feuchtner (über Schostakowitschs Moskau, Tscherjomuschki) sich zu „Mein schwulster Operettenmoment“ bekennen. Auch der Leipziger Intendant Tobias Wolff ist dabei, an dessen Musikalischer Komödie das Reloaded-Buch am 28. März im Rahmen der Leipziger Buchmesse präsentiert wird. Das will man haben. Die Abbildungen könnten bei einer Neuausgabe etwas größer, der lilafarbene Untergrund bei den Operettenmomenten muss nicht sein.

ORCA-Chef, Autor, Musikwissenschaftler und langjähriger Aktivist Kevin Clarke vor dem Yiddish Theatre NY/ ORCA
Auf einige ältere Artikel wurde verzichtet, neue kamen dazu. Der Anspruch ist ein wissenschaftlicher, was beim 8-Seiten-und zehn-Zeilen-Aufsatz über das „Operettenpublikum in der deutschen (Nicht-)Besucher*innenforschung“ mehr als vier Seiten an Anmerkungen zur Folge hat. Autor Tilmann Triest stellt die „vage Vermutung“ an, „dass bei Koskys Operettenarbeiten an der Komischen Oper Berlin eher ältere schwule Männer anzutreffen sind und bei den Produktionen des queerfeministischen Oper*ettenkollektivs tutti d’amore in der Freien Szene tendenziell eher junge Personen, die sich als queer identifizieren“. Weitgefächert die Auswahl der Autoren, deren Geburtsjahre sechs Jahrzehnte auseinanderliegen. Die einen verdanken „Erkennen Sie die Melodie“ und dem “Blauen Bock“ glühende Fernseh-Momente und entdeckten Rothenberger & Co als schwule Sehnsuchtsfiguren, die jüngere Generation gesteht, dass den Studenten im Musiktheaterseminar Namen wie Lucille Ball, Zarah Leander und Clivia absolut unbekannt waren. Gut deshalb, dass neben Christoph Domkes Ausführungen zur „Fernsehoperette als Coming-out Hilfe“ auch sein Text über das „Zauberwort Camp“ aus der alten Ausgabe übernommen wurde.
Die bunte Mischung an Themen und Autoren bringt nicht die Dramaturgie der Texte durcheinander, die alles in allem zwar keine Kulturgeschichte der Operette bilden, aber trotz des manchmal etwas verengten Blicks einer solchen recht nahekommen. Etwa durch den Text „Raus aus dem Schrank! Eine Evolutionsgeschichte der Repräsentation“, in dem Clarke durch die lebendige Verbindung von Theater-, Literatur- und Sittengeschichte und die Fülle von Details und Informationen fasziniert und den Bogen von Offenbachs île de Tulipatan, die 1868 das Thema gleichgeschlechtliche Ehe behandelte, bis zu The Beastly Bombing von 2006 über zwei schwule Terroristen schlägt. Und zu dem Schluss kommt, „dass ausgerechnet die vermeintlich altbackene und verstaubte Gattung Operette ein Vorreiter und früher Verfechter der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung im Kern viel moderner ist, als ihr heute gemeinhin zugetraut wird“. Spannend auch Clarkes Ausführungen zu „Deutschlands Greatest Showman“, dem in Breslau geborenen Erich Karl Löwenberg, der sich in Berlin als Erik Charell neu erfand.

Pirates in Wiltons Musical Hall 2019/ Insz. Sasha Regan/ Credit SRylander/KC
Christophe Mirambeau schreibt über die „années folles“ und „männliche und weibliche Homosexualität in den Pariser Operetten der 1920er und 1930er Jahre“, was zum schwulen Operettenstartenor Luis Mariano führt. Richard C. Norton beschreibt in „Mad about the Boys“ Leben und Werk von Noël Coward und Ivor Novello, „beide Briten, beide homosexuell“, beide Operettenkomponisten, wobei Coward dazu noch Schauspieler, Autor und Conférencier war; endlich kann ich einige Titel aus „Joan Sutherland sings Noel Coward“ besser einordnen, darunter die von der Massary kreierten Lieder aus der Operette Operette über einen alternden Wiener Star. Novello schrieb u.a. mit The Dancing Years die einzige Operette, „die jemals explizit und kritisch von Nazis und der Situation jüdischer Komponisten nach dem Anschluss Österreichs handelte“. Brian Valencia untersucht „Internalisierte Homophobie und queere Subtexte“ in Leonard Bernsteins Operette Candide“, aus der Kunegundes sprichwörtlich gewordene Arie „Glitter and be Gay“ stammt. Nahe gehen Texte, die an einzelne Persönlichkeiten erinnern. Etwa den Sänger Paul O’Montis, den Vortragskünstler Wilhelm Bendow, den Librettisten Hans Müller, „die Diva Assoluta der erotisierten Operette“ Fritzi Massary, zu der Klaus Thiel Details zusammengetragen hat, die auch Kennern neu sind, und die suggestive Beschreibung Richard Taubers und seines Gesangs durch John Rigby (Männerschwarm Verlag ISBN 978-3-86300-381-4). R. F.