Archiv für den Monat: Mai 2008

Ernest Reyers „Salammbô“

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Vor vielen, vielen Jahre kaufte ich auf den Puce von Monte-Carlo (stets am ersten Sonntag des Monats) eine Rarität für Sammler: die Ausgabe des Petit Journal/ Supplement illustré vom 13. August 1892, auf dessen Cover die große Sopranistin Lucienne Bréval im Kostüm der Salammbô Ernest Reyers prangte, mit koloriertem, phantastischem Kopfputz, perlenbehangen, die Hände vor der Brust verschränkt. Sie ziert seitdem meine Küche.

Salammbô? Salammbô! Ein mythischer Titel des Romans von Gustave Flaubert, den ich bereits seit Jahrzehnten auf meiner Liste der must-reads hatte und nun am selben Vormittag beim nächsten Bouquinisten in einer hübschen historischen Taschenausgabe gleich mit erstand und schon auf der Rückreise nach Berlin anlas. Was für eine Story! Der ungestüme Kriegsheld Matho und die schöne Priesterin Karthagos in einer wilden Hass-Liebe-Verstrickung, das Ganze hoch-erotisch und in meinem Kopf mit dahingleitenden orientalisierten Melismen. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Der Plot wurmte sich in mein Gehirn. Lange Jahre.

Reyers „Salammbô“: Lucienne Bréval, hier im Kostüm der Salammbô, war die erste Titelsängerin/ BNF/ Académie Nationale de Musique. Salammbo…musique de M. E. Reyer

Der Komponist war mir bekannt. Ernest Reyer, dessen Sigurd  vom ORTF aus den Siebzigern ich kurz auf alten CDs (Chant du Monde) erstanden und akustisch verzehrt hatte. Und für eine Besetzung (Chauvet, Esposito, Guiot und Massard unter Rosenthal)! Später dann zwei Aufführungen in Montpellier und Marseille, sogar vor nicht allzu langer Zeit in Erfurt (und dazu gab´s einen langen Artikel zum Sigurd bei uns in operalounge.de)! Aber Salamambô ….

Ernest Rey (1823-1909), der zu seiner Zeit und bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts unter dem Namen Reyer auch als angeblicher Wagner-Exeget sehr berühmt war, von dem der Opernplatz in Marseille seinen Namen hat, wo der hundertste Jahrestag seines Todes 2008 vorweggenommen wurde. Aber Salammbô (1890)  hatte seit mehr als 60 Jahren (letztmalig in Marseille 1938) die Bühnen der übrigen Welt verlassen.

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In Marseille steht im Park oberhalb des Wasserfalls das Denkmal Ernest Reyers/Winter

Salammbô ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ein paar Auszüge gab´s historisch, aber einmal in meinem Leben das Werk sehen und erleben? Dann kam Marseille 2008. In der schönen, müden Stadt, die wie eine welke Courtisane am Mittelmeer ausruht und auf das legendäre Chateau d`Yf (Der Graf von Monte-Christo!) und die hinreißend kitschige, goldstrotzende Notre Dâme de la Garde blickt, die für die Seeleute gut sichtbar über dem Hafen tront. Dort, im aufregenden Art-Décò-Opernhaus mit den durchgesessenen roten Plüsch-Fauteuilles und dem Charme einer vergangenen, ungemein eleganten Epoche s gab es nun endlich die Salammbô Ernest Reyers. Zugegeben in einer gewöhnungsbedürftigen Sparinszenierung der angestrengten Moderne. Lawrence Foster sorgte für einigen Glanz und Üppigkeit im Graben, und an der Besetzung war – bis auf den trockenen Mecker-Tenor – nichts auszusetzen. Eine Radioaufnahme bestätigt im Nachhinein den Eindruck des Abends mit seinen vielen und zum Teil schmerzhaften Strichen. Leider kam es nicht zu einer offiziellen CD-Übernahme, ein absoluter Verlust. Aber unsere gallischen Nachbarn hatten immer schon ein gespaltenes Verhältnis zu ihren eigenen Opern…

Der Kollege und renommierte Musikjournalist Frieder Reininghaus war so liebenswürdig, uns seinen hochinformativen Artikel zur Marseiller-Aufführung 2008 zu überlassen, die er für den Deutschlandfunk besprach (und in der wir die Tempi als zeitgenössisches Dokument belassen haben). Danke! Und danach gibt einen Artikel zum Werk und Komponisten der amerikanischen Musikwissenschaftler Nick Fuller und Noemi Karacsony, die Daniel Hauser mal wieder aus dem Englischen für uns übersetzt hat. Dank an alle drei.

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Reyers „Salammbô“ in Marseille 2008/ ONM

Wüstensand in Marseille: 1862 resümierte Gustave Flaubert mit Salammbô seine nordafrikanischen Reise-Erfahrungen, setzte in emphati­scher Sprache der karthagi­schen Fürstentochter ein Denk­mal – in erotisch lockenden und blutig dro­henden Tableaus eines farbenfrohen Kunstori­ents. 1998 brachte Philippe Fénelon (nach Mussorsgky) in Paris an der Opéra Bastille eine Oper nach Flauberts großem Roman heraus. Er war nicht der erste, den dieser Text faszinierte. Ernest Reyer, der als junger Mann nach einigen Dienstjahren in einer algerischen Regierungsbehörde bereits 1850 die Symphonie orientale Le sélam komponiert hatte, präsentierte 1890 am Théatre Royal de la Monnaie in Brüssel eine erste Salammbô -Vertonung. Die kehrt nun am Heimatort des Komponisten wieder – er wurde 1823 in Marseille als Louis Etienne Ernest Rey geboren (und starb 1909 in Le Lavandou bei Toulon).

Von Marseille aus betrachtet liegt Karthago gar nicht so weit entfernt. Man muss nur an Korsika und Sardinien vorbeisegeln, um dort an die Gegenküste zu gelangen, wo heute Tunis liegt. Dass das Kulturleben Marseilles sich in den kommenden Jahren verstärkt um die Fragen des Mittelmeerraums kümmern soll, wird durch die Wahl zur Kulturhauptstadt 2013 unterstrichen. Bereits jetzt wurde auf die große Aufgabe eingestimmt. Die Opéra de Marseille erinnerte an den bevorstehenden 100. Todestag des in der Stadt geborenen Komponisten Ernest Reyer mit dessen bedeutendste musikdramatische Arbeit: Salammbô.

Reyers „Salammbô“ 2008 in Marseille/S Szene/ OM

Den Opernfreunden ist das in grauen Vorzeiten vermutlich von vorderasiatischen Kolonisatoren gegründete Karthago durch Henry Purcells Dido and Aeneas wie durch die Trojaner von Hector Berlioz ein fester Begriff. Es könnte nun Salammbô hinzukommen – eine exotistische Oper mit einem fast klassizistischen, von dramatischen Chorpartien belebten und von hervorragend virtuosen Gesangspartien gekrönten Tonsatz. Bemerkenswert an Reyers Musik ist, dass sie in keiner Weise auf den bei seinen Zeitgenossen in Italien und auch bei seinem französischen Kollegen Jules Massenet unüberhörbaren Wagnerismus reflektierte, sondern eher noch einmal an Mendelssohns Oratorien anknüpfte. In einem solchen dezidiert traditionell mitteleuropäisch fundierten Zugriff auf eine maghrebinische Thematik lag ein klares Bekenntnis. Die Kompositionsmethode hat jedenfalls den Vorteil, dass sie alles schwüle Gedünst vermeidet und für klar mediterrane Lichtverhältnisse sorgt (da widerspreche ich meinem Kollegen und verweise auf die für mich unüberhörbare exotisch-erotische musikalische Komponente in der Oper/ G. H.).

Reyers „Salammbô“: Szenenbild zur Erstaufführung 1892 in Paris/ BNF Gallica

Das Libretto zur Oper Salammbô basiert auf dem Roman von Gustave Flaubert. Nach den Missverständnissen und der Empörung, die dessen Madame Bovary 1857 ausgelöst hatte, wollte Flaubert seine orien­talischen Reiseeindrücke auf eine Weise verarbeiten, welche die ihn umgebende bourgeoise Krämer- und Stutzersphäre in Paris indi­rekt aufs Korn nahm. Flaubert entwarf mit glühenden Worten Bilder von den Begier­den und Leiden eines bunten mediterranen Völkergemischs in der Zeit der Punischen Kriege. Aus ihnen ragen der Söldner und Kriegsheld Mâthò hervor sowie (selbstverständlich!) die Tanit-Priesterin Salammbô, die Tochter des regierenden Fürsten Hamilkar. Die schier unbeschreiblich schöne Jungfrau weckt die äußersten Begierden der Männer. Flaubert verwob ihr Bild mit dem religiös-erotischen Motiv eines Schleiers, der im Tanit-Kult und für die Kampfmoral der Karthager eine bedeutsame Rolle gespielt habe – für eine „Republik“ mit einer Bevölkerung, derer ethnische Rivalitäten womöglich ebenso für die Niederlage in den Kriegen gegen das römische Imperium ausschlaggebend waren wie die Konflikte mit afrikanischen „Randvölkern“ (diese werden im Roman und in der Oper u.a. vom numidischen König Narr’Havas repräsentiert). Wie später Richard Wagners Tristan und Isolde, so endet bereits Salammbô mit einem Opfer- und Liebestod: die Titelheldin muss am Tag der zwangsweisen Verheiratung mit dem bündnistreuen Numider-König den von ihr geliebten Mâthò opfern, ersticht aber statt ihm sich – und er dann sich selbst.

Reyers „Salammbô“: Szenenbild zur Erstaufführung 1892 in Paris/ BNF Gallica

Der Dirigent Lawrence Foster sorgte nun in Marseille für eine höchst intensive Wiedergabe der Musik, der in allen fünf Akten Vortritt gelassen wurde, Gilles Ragon bestritt seinen Tenor-Marathon mehr als respektabel. Die noch relativ junge und schlanke Kate Aldrich sang die Titelpartie vorzüglich, ahmte als Darstellerin auf verblüffende Weise Anna Netrebko nach. Der Regisseur Yves Coudray arrangierte die Tableaus der Schlacht-, Trink- und Liebes-Szenen vor einem leeren Horizont, in den auf die eine oder andere Weise zwei Säulen ragen (also ohne die von Reyer vorgesehenen Wechsel der exotischen Stadt- und Palastansichten). Die tonangebenden Herren trugen Fräcke, die Männer des Chors dunkle Alltagsanzüge – keine Uniformen, Rüstungen oder Waffen. Allerdings wurden häufig die bunten und exotischen Kostüm- und Bühnenbildentwürfe für die Uraufführung vor knapp 120 Jahren eingeblendet und so die Historizität und der originäre kulturgeschichtliche Horizont des Werks in Erinnerung gerufen. Das war eine pfiffige Notlösung. Frieder Reininghaus/ Deutschlandfunk

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Reyers „Salammbô“: Auch Francois Rosay sang die Titelpartie in Paris/ OBA

Und nun der Artikel zu Reyer und Salammbô von Nick Fuller: Als Ernest Reyer 1909 starb, schrieb ein Zeitgenosse, dass sich Reyer mit dem Wissen zur ewigen Ruhe legen könne, dass sein Name nicht zugrunde gehen würde, weil er die beiden unsterblichen Gestalten von Sigurd und Salammbô als Hüter seiner Erinnerung zurückgelassen hatte. Mehr als ein Jahrhundert später ist diese Unsterblichkeit verschwunden. Keine seiner fünf Opern gehört zum Standardrepertoire. Sigurd, selten aufgeführt, wird als französische Kopie von Wagners Ring in Erinnerung behalten. Salammbô wurde seit den 1940er Jahren nur ein einziges Mal und zudem in gekürzter Fassung auf die Bühne gebracht, erste 2008 wieder in Marseille und danach eben auch nicht mehr). Reyer ist nicht unsterblich; er ist nicht einmal ein Halbgott. Seine Werke sind in den Hades hinabgestiegen, und dort wandert sein Geist zwischen den düsteren Schatten. Trotzdem enthalten Reyers Werke viel Schönes und Beeindruckendes. Sigurd und Salammbô standen jahrzehntelang auf der Bühne; und eine andere Oper, die nie aufgenommen wurde, könnte ein verlorenes Meisterwerk sein, so gut wie Gounods Faust.

Reyers Zeitgenossen sahen ihn als ernsthaften, innovativen Komponisten, der wie seine Vorbilder Berlioz und Wagner seinen eigenen Weg ging, ohne um die öffentliche Gunst zu werben. „Er hatte eine Erfindung“, sagte Théophile Gautier. „Originalität, sowohl natürlich als auch kultiviert; ein wilder Hass auf das Alltägliche, das Abgedroschene, das Schlagwort; ein tiefes Gefühl für exotische und bizarre Rhythmen; eine seltene Frische der Melodie; eine Liebe zu seiner Kunst, die fast fanatisch ist; eine Begeisterung für das Schöne, die nichts entmutigen konnte; und die unerschütterliche Entschlossenheit, dem schlechten Geschmack der Öffentlichkeit niemals ein Zugeständnis zu machen.“

Reyers „Salammbô“: Mrs. Algernon-Bourke als Salammbô auf den Devonshire Costume Ball 1897/lafayette.org.uk

In dieser Entschlossenheit, seiner eigenen Muse zu folgen, war Reyer ebenso hochmütig wie sein berühmter Vorfahr Berlioz. „Erfolg kam (und wieder in gewissem Maße), ohne dass er sich dem Mob beugte“, schrieb Hugues Imbert, „und er folgte dabei dem Beispiel von Berlioz.“ Reyer trat die Nachfolge von Berlioz als Musikkritiker für das Journal des Débats an . Sein Herausgeber, der Comte de Nalèche, schrieb, Reyer habe alle Gaben eines Schriftstellers und eines Kritikers: „Die Liebe zur Perfektion ohne Zugehörigkeit zu einer Schule, Aufrichtigkeit, Begeisterung für das Schöne, Empörung und Verachtung der Mittelmäßigkeit.“ Wie Berlioz wurde er vom Pech verfolgt. Obwohl er als Kritiker geachtet war, scheiterte eine seiner Opern in Paris, eine andere wurde Jahre vor ihrer endgültigen Aufführung geschrieben, und er befürchtete, dass er, genauso wie Berlioz Cassandre in Les Troyens nie singen hörte, seinen Sigurd niemals hören würde. Er hatte jedoch mehr Glück als Berlioz, als dieser Erfolg in den letzten Jahrzehnten seines Lebens endlich eintrat – und weniger Glück, da seine Werke vergessen wurden.

Zwar war Reyer Berlioz nicht ebenbürtig, aber er war sein künstlerischer Erbe und sein auserwählter Nachfolger. Er trat die Nachfolge von Berlioz als Mitglied der Académie an, und Berlioz vermachte Reyer das Schwert und den Mantel als Akademiemitglied. Berlioz‘ Diener Schumann bewahrte sie während des Deutsch-Französischen Krieges auf, um sie Reyer zu geben, als der Moment gekommen war.

Reyers „Salammbô“: Szenenbild zur Pariser Erstaufführung 1892/ BNF Gallica

Während Berlioz lebte, war Reyer der Tröster von Berlioz‘ traurigen Stunden, und an seinem Bett, als er starb. Er hörte seine letzten Worte: „On va donc jouer ma musique!“ („Jetzt werden sie meine Musik spielen!“) Reyer arbeitete mehr als jeder andere daran, diese letzten Worte wahr werden zu lassen. Im Jahr nach Berlioz‘ Tod, 1870, leitete Reyer ein Festival an der Opéra, dem Haus, in dem Benvenuto Cellini scheiterte und welches Les Troyens nicht inszenieren wollte. Er organisierte Aufführungen von La Damnation de Faust bei den Concerts Populaires im Jahre 1877 und bei den Concerts du Châtelet. 1879 organisierte er ein zweites Festival im Hippodrom – und überzeugte Frankreich langsam vom Genie des größten seiner musikalischen Söhne.

Reyer setzte sich auch für die Arbeit von Richard Wagner ein, als das deutsche Genie in Frankreich unbeliebt war. Er hörte Tannhäuser zum ersten Mal 1857 in Wiesbaden in Begleitung des Schriftstellers Théophile Gautier, Vater einer von Wagners Geliebten, und schrieb im Courrier de Paris eine glühende Rezension. Er hörte Lohengrin und (in London), Die Meistersinger und drängte darauf, La Valkyrie, Lohengrin und die Maîtres chanteurs in Paris aufzuführen – eine mutige Position, die er nach 1870 einnehmen sollte. So sehr er Wagners Opern bewunderte, verabscheute er den Wagner-Kult. „Ich bin kein tollwütiger Wagnerianer und nicht mehr ein Wagnerianer parti pris, als vielmehr ein Wagnerianer, ohne es zu wissen.“ Als Wagner in Paris gespielt werden sollte, wollte er, dass die Musikdramen neben den Opern anderer Komponisten, die er bewunderte, gespielt werden: Meyerbeer, „dem größten dramatischen Komponisten unserer Zeit“; Weber, „dem größten Musiker des Jahrhunderts“; Gluck, Spontini, Félicien David – und Berlioz.

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Reyers „Salambô“: Albert Saléza und Rose Caron als Protagonistenpaar Paris 892/ BNF Gallica

Leben und Werk: Louis Étienne Ernest Reyer wurde am 1. Dezember 1823 in Marseille geboren. Obwohl er schon in jungen Jahren von Musik angezogen wurde, wollten seine Eltern nicht, dass er Musiker wird. Um ihn von einer musikalischen Karriere abzuhalten, schickten sie ihn im Alter von 16 Jahren (1839) nach Algerien, wo sein Onkel in der Finanzabteilung arbeitete. Büroarbeit passte nicht zu ihm; immer wenn ihm sein Oheim den Rücken zuwandte, las der junge Mann diejenige Partitur, die er unter einem Deckblatt versteckt hielt. Eines Tages musste dieser Onkel für ein paar Wochen weggehen und bat seinen Neffen, sich um sein Klavier und sein Pferd zu kümmern. Als er zurückkam, fand er das Klavier zerlegt und (in Adolphe Julliens plakativen Worten) wie eine Leiche im Wohnzimmer liegend, während das Pferd ein echter Leichnam war; Reyer hatte es achtlos auf einem Feld mit giftigem Unkraut grasen lassen.

Sein nordafrikanischer Aufenthalt trug Früchte. Er schrieb eine Messe für die Ankunft des Duc d’Aumale in Algier (1847), und die Region lieferte das Lokalkolorit und die Inspiration für eine Sinfonie und zwei Opern.

Reyer kehrte 1848 nach Paris zurück, kurz nach der Revolution, welche die Juli-Monarchie verdrängte und die Zweite Republik zur Folge hatte. Paris fand er sympathischer als Afrika. Er studierte Musik bei seiner Tante, der Pianistin und Komponistin Louise Farrenc, und bewegte sich in künstlerischen Kreisen, wo er sich mit Théophile Gautier, Baudelaire, Gérard de Nerval, Heinrich Heine, Flaubert, Méry, Félicien David und Hector Berlioz anfreundete. Viele dieser Autoren arbeiteten an musikalischen Projekten mit: Gautier und Méry schrieben Libretti für seine Musik, und eine seiner Opern basierte auf einem Flaubert-Roman. (…)

Reyers letzte Oper kehrte in die exotischen Gefilde seiner frühen Werke zurück. Salammbô ist eine Adaption von Flauberts Roman über Mystik und Melodram im Karthago  des 3. Jahrhunderts v. Chr., komponiert mit dem Segen des Schriftstellers.

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Zum Inhalt: Salammbô (Sopran) ist die Tochter von Hamilkar (Bariton), Shophet (Konsul) von Karthago. Sie unterdrückt einen Aufstand von Söldnern, angeführt vom libyschen Söldner Mathô (Tenor). Mathô schleicht sich in den Tempel der Göttin Tanit und stiehlt den Zaïmph, den mysteriösen Schleier der Göttin. Der Verlust des Schleiers wendet das Blatt gegen Karthago, und der Ältestenrat ernennt den Hamilkar zum Diktator. Er fordert eine Opferung von zwanzig Knaben an Moloch. Währenddessen befiehlt Shahabarim (Tenor), der Hohepriester von Tanit, Salammbô, den Schleier zurückzuholen. Sie geht zu Mathôs Zelt und verführt ihn, um den Schleier zu ergattern, doch die beiden verlieben sich tatsächlich. Die Karthager besiegen die Söldner und Mathô wird gefangen genommen. Er ist dazu verurteilt, Moloch geopfert zu werden, und die Menge fordert Salammbô auf, ihn zu töten. Da sie ihn liebt, ersticht sie sich stattdessen, und Mathô stürzt sich, sie umarmend, in sein eigenes Schwert.

Reyers „Salammbô“: noch einmal Rose Caron in der Titelpartie Paris 892/ BNF Gallica

Wirkung und Verbreitung: Flaubert gab seinem Freund Reyer das Exkluvirecht zur Komposition der Oper, doch wurde sie erst 25 Jahre nach den ersten Plänen aufgeführt. Reyer begann seine Arbeit 1878, aber nach Flauberts Tod im Jahr 1880 gelobte Reyer, die Arbeit daran erst wieder nach der Uraufführung von Sigurd aufzunehmen. Nach dem Erfolg von Sigurd widmeten sich die Regisseure von La Monnaie Salammbô; wiederum kam Rose Caron zum Einsatz, deren Darstellung der Brunehild sie zu einem Star gemacht hatte. Das Werk sollte in Paris einstudiert werden, als die Autoren von Massenets Le Mage ihre Entscheidung, die Aufführung zu verschieben, rückgängig machten und die sofortige Aufführung forderten. „Ich konnte nur eines tun“, sagte Reyer. „Mich verbeugen und Le Mage passieren lassen. Und Le Mage hat bestanden. „

Als Eugène Bertrand neuer Direktor der Pariser Opéra wurde, kündigte er an, dass Salammbô die erste Oper sein würde, die er auf die Bühne bringen würde. Am 16. Mai 1892 wurde Salammbô in einer luxuriösen Inszenierung präsentiert. Die Verwaltung gab die enorme Summe von 300.000 Francs aus, die sie wieder einbrachte. In Paris wurde die Oper allein 1892 46 Mal aufgeführt, erreichte 1900 ihre 100. Aufführung und wurde im Februar 1943 zum letzten und 196. Mal aufgeführt. Sie wurde 1900 in den USA in New Orleans und 1901 in New York aufgeführt.

Jullien hielt es wegen seiner stilistischen Einheitlichkeit für ein besseres Werk als Sigurd. Reyer, schrieb er, schuf ein Werk, in dem jeder Akt eine vollständige Einheit ohne genau festgelegte Unterteilungen bildete. Dieses strenge Werk, das auch in seinen Linien klassisch war, beeindruckte das Publikum; dieses wurde von der durchdringenden Kraft der Musik erobert, deren Reichtum an Inspiration so frisch und leidenschaftlich war, als wäre der Komponist erst 30 Jahre alt.

Für ein modernes Publikum ist Salammbô jedoch schwer einzuschätzen. Es gibt nur eine inoffizielle Radio-Aufzeichnung einer Aufführung von 2008 aus Marseille, anlässlich des 100. Todestages von Reyer. Diese Aufnahme ist stark gekürzt. Ganze Szenen wurden geschnitten. Die Partitur, die nach einem großen Chor verlangt, wird häufig auf die wichtigsten Sänger reduziert; was aber ist eine Grand opéra ohne Ensembles? Sigurd unter Rosenthal war eine Studioaufnahme des ORTF mit vielen der führenden Sänger Frankreichs (ehemals Chant-du-Monde); dies ist eine Live-Aufnahme mit ein paar hervorstechenden Sängern, die von einer soliden, aber nicht erstklassigen restlichen Besetzung mit einem zweifelhaften Tenor unterstützt werden.

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Reyers „Salammbô“: Lager des Matho, A1, Szenenentwurf/ BNF Gallica

Die Musik: Wie viele französische Opern ist Salammbô ein ganzheitliches Kunstwerk, das sowohl gesehen als auch gehört werden sollte. Die alte Szenerie gibt einen Eindruck vom Umfang der Produktion: riesige Bühnenbilder mit Tempeln, Foren, in denen sich Ratsherren unter der Statue des Baal versammelten, und öffentliche Plätze, auf denen sich Menschenmassen sammelten und drängten. Kritiker schwärmten von Salammbôs und Mathôs Liebesszene in seinem Zelt, während draußen ein Sturm tobt und die Karthager das Söldnerlager angreifen. Szenen, die auf der Bühne beeindruckt haben mögen, verlieren auf CD ihre Wirkung (und waren in Marseille 2008 nur von frugaler Wirkung/ G. H.).

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Die Partitur ist wagnerischer als bei Sigurd. Während man in dieser Oper noch Spuren von Nummern entdecken konnte, entfaltet sich Salammbô wie Saint-Saëns‘ Opern in einer Reihe von Szenen. Das musikalische Interesse gilt mehr dem Orchester als den Stimmen. Ausdrucksstarkes Schreiben für die Streicher wechselt mit gehobenem Rezitieren. Teile der Partitur sind üppig und träge, andere scheinen eher französische Ideen des Exotischen aus dem späten 19. Jahrhundert zu sein, ohne den besonderen Touch, den Saint-Saëns oder Massenet gebracht hätten. Zur Verteidigung des Werks führt David LeMarrec jedoch an, dass Lawrence Fosters Dirigat nicht die Poesie hervorbringt, die einen Hauptreiz des Werkes darstellt. Es klingt weniger attraktiv als die Partitur.

Im Gegensatz zu Sigurd, der heroisch, männlich und mittelalterlich daherkommt, ist Salammbô verträumt, mystisch, introvertiert und feminin: eine Oper, in der eine Frau, die in einen Schleier verliebt ist, im Mondlicht in nordafrikanischen Gärten wandelt. Die schönsten Passagen finden sich im zweiten Akt im Tempel der Göttin Tanit. Priester singen Hymnen an die karthagischen Götter: „Tanit! Rabetna! Anaitis! Astarté! Derceto! Astoreth!“ Salammbô, gewarnt durch eine übernatürliche Vermittlung, dass der Zaïmph, der heilige Schleier, in Gefahr ist, betritt den Schrein; dort trifft sie Mathô, in den Schleier gehüllt, und glaubt, er sei ein Gott. Die berühmteste Szene ist Salammbôs Terrassenarie „Ah! qui me donnera comme à la colombe“, gesungen als der Mond über dem Wasser aufgeht und der Chor sich über das Opfer für Baal freut, das Pougin für eines der wunderbarsten und bewegendsten Spektakel hielt, die man sich vorstellen kann.

Reyers „Salammbô“: Le Sanctuaire, Bühnenbild A2 von Philippe Chaperon 1892, BNF Gallica

Obgleich die Produktion aus Marseille eine beherzte Anstrengung war, ist eine inszenierte Bühnenfassung oder eine vollständige Studioaufnahme erforderlich, um zu zeigen, warum diese Oper Reyers Zeitgenossen beeindruckte.

Zu Reyers letzten Werken gehörten Vertonungen von Edouard Blaus Gedichten Tristesse (1884), Gustave Boyers L’Homme (1892) und Camille du Locles Trois sonetts. Am 15. Jänner 1909 starb er in Lavandou in Südfrankreich. © N. Fuller, 2016/ Übersetzung Daniel Hauser (Quelle Ernest Reyer – Disciple of Berlioz, in: Music Web International)

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 Dazu auch ein Auszug aus dem Aufsatz der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Noemi Karacsony: Exoticism in Salammbô .Das Bild des Orients und seine Faszination begleiteten Reyer sein ganzes Leben lang und färbten seine Kompositionen. Der Großteil seiner Werke basierte auf orientalischen Themen: „Wie Félicien David, waren es die Liebe zum Orient und seine Reiseerinnerungen, zuerst Algerien, dann Ägypten, sowie die fundierten Kenntnisse der arabischen Musik, die E. Reyer mit einer besonderen Vorliebe für orientalische Themen inspirierten. Le Sélam, Sacountalâ, Érostrate, La Statue und Salammbô zeugen von dieser Vorliebe. Außerdem übte sie den glücklichsten Einfluss auf sein Talent aus. Diese Liebe zum Malerischen unterscheidet ihn besonders von modernen Musikern, die fast alle einen Hauch von Vertrautheit haben“ (Servières 1897, S. 270–271).

Um eine dramatische Einheit zu gewährleisten, verwendet der Komponist wiederkehrende Themen (Leitmotive) wie das Thema der Salammbô, das Thema des Zaïmph oder die Themen, welche die Figuren Matho, den nubischen Narr-Havâs, Hamilkar usw. begleiten. Die verschiedenen Kulturen, die an der Handlung beteiligt sind, werden auch in einer für jede dieser Kulturen spezifischen Weise dargestellt. Sérvieres argumentiert, dass Reyers Verwendung wiederkehrender Themen in Salammbô Wagners Kompositionstechnik nur geringfügig ähnelt und vielmehr der Tradition der französischen tragédie lyrique folgt, die in den Werken von Gluck, Spontini und anderen berühmten französischen Komponisten vertreten ist (Servières 1897, S. 262). Herausragend ist die homogene Struktur dieser Arbeit, die wahre Natur der Deklamationen. Servières spricht von den drei wiederkehrenden Hauptthemen, die erstmals im kurzen Vorspiel der Oper vorgestellt wurden: „Das sehr kurze Vorspiel legt drei Hauptthemen fest (…)“ (Servières 1897, S. 263). Die Oper wird durch diese Leitmotive vereint, jenes des Zaïmph, jenes der Göttin Tanit und jenes von Salammbô. Der Mondcharakter der Göttin Tanit, die Karthago bewacht, ist in der gesamten Handlung allgegenwärtig, eine Präsenz, die dem Werk einen mysteriösen Charakter verleiht, ein gewisses Mondambiente, das sich auch in der Musik offenbart. Das Thema des Zaïmph wird zum ersten Mal im Vorspiel erwähnt und wird während der Entfaltung der Ereignisse wieder auftreten, wobei die absteigende Bewegung zusammen mit den verwendeten rhythmischen Formeln den heiligen Charakter des Schleiers und seine Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Schicksals hervorhebt.

Reyers „Salammbô“: Mathò and Salammbô, French card, late 19th or early 20th century/ lookandlearn.com

Laut Lacombe war die Verwendung wiederkehrender Motive in den Werken französischer Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts für die Konstruktion der Handlung von wesentlicher Bedeutung, und jeder Komponist konnte diese Technik auf eine Weise anwenden, die seinem eigenen Ansatz entsprach: „Gounod, Thomas, Reyer und Bizet verwendeten jeweils wiederkehrende Motive gemäß ihrem eigenen Stil, und die Praxis wurde schließlich zu einem Reflex, insbesondere im letzten Viertel des Jahrhunderts. Der erste Auftritt der Salammbô wird durch ein schönes, wellenförmiges Thema eingeleitet, das sich über mehr als vierzehn Takte erstreckt. Die Schönheit der zarten Priesterin wird heraufbeschworen, ihre Weiblichkeit durch diese Phrasen ausgedrückt, die so eng mit den Hymnen verbunden zu sein scheinen, welche der Göttin Tanit gesungen wurden. Die Atmosphäre, welche die Musik auf diese Weise hervorruft, ist geheimnisvoll, zum Mond gehörig und ähnelt den Eigenschaften dieser Gottheit. Trotz der Tatsache, dass der Komponist keine besonderen orientalischen Charakteristika verwendet, ruft das Thema dennoch die Faszination einer fernen, exotischen und unbekannten Welt hervor.“

Bemerkenswert ist die Szene, in der Salammbô zu Mathos Zelt geht, um den heiligen Schleier wiederzugewinnen. Der Dialog zwischen den beiden wird durch die Rufe der Krieger im Lager unterbrochen. Das traditionelle Duett wird durch einen dramatischen Dialog ersetzt, wodurch die Szene zum innovativen Charakter von Reyers Werk beiträgt. Die Oper schließt mit einer abschließenden Hervorhebung der wiederkehrenden Themen, die die Hauptsymbole der Oper definieren: das Leitmotiv des heiligen Schleiers, der die Tragödie umhüllt, das Thema der Tanit sowie die der Göttin gesungenen Hymnen. .Noemi Karacsony/ Übersetzung Daniel Hauser

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Zitiert aus: Noemi Karacsonys Aufsatz “An Image of the Exotic in the Works of Ernest Reyer:  From Le Sélam to Salammbô” in  BULLETIN OF THE TRANSILVANIA UNIVERSITY OF BRASOV •  VOL. 11(60) – 2018: Special Issue No. 2 – 2018: Proceedings of the 8th International Conference „The Science of Music – Excellence in Performance“, 28 -31 of October, 2018, Brasov, Romania; SERIES VIII; PERFORMING ARTS, ISSN 2344-200X (Print)  ISSN-L 2344-200X (Online), ISSN 2344-2018 (CD-ROM), ziterte Quellen: Servières, George. 1897. La Musique française Moderne. Paris: G. Havard Fils, Éditeur.; Lacombe, Hervé. 2001. The Keys to French Opera in the Nineteenth Century. Berkeley – Los Angeles: University of California Press: Quellen: Lacombe, Hervé. 2001. The Keys to French Opera in the Nineteenth Century. Berkeley – Los Angeles: University of California Press; Servières, George. 1897. La Musique française Moderne. Paris: G. Havard Fils, Éditeur.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.