Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Osmanische Grüße

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Als Joseph Haydns Entführung aus dem Serail galt den Zeitgenossen dessen Oper L’Incontro improvviso und war damit eines der vielen Musikwerke in orientalischem Milieu und/oder zumindest mit orientalischem Personal, die nach der Aufhebung der Belagerung der Stadt Wien durch die Türken unter Zurücklassung nicht nur eines Sackes Kaffee, sondern auch einer Janitscharenkapelle sich großer Beliebtheit erfreuten. Allerdings musste erst einmal ein Jahrhundert seit der Bedrohung vergangen sein, und der Geist der Aufklärung musste die Gehirne durchlüftet haben, ehe man im Fremden nicht mehr den Feind, sondern durchaus, siehe Bassa Selim, den an Toleranz sogar Überlegenen zu schätzen gelernt hatte. Die opera semi seria wie der Incontro ist dabei bereits die zweite Form der Türkenoper, die zuvor lediglich als opera seria anzutreffen war. Mit ihrem teilweise komischen Personal gehören Entführung wie Incontro zu dieser Gattung.  Die reine opera buffa in orientalischem Milieu war erst einer späteren Zeit vorbehalten und fand mit Rossinis L’Italiana in Algeri oder IL Turco  in Italia ihren Höhepunkt. In den meisten dieser Werke ging es um die Entführung und Befreiung europäischer oder einheimischer Frauen aus dem Harem.

Haydn komponierte seine Oper anlässlich eines Festes, dass sein Brotherr Fürst Esterhazy zu Ehren der Kaiserin Maria Theresia und eines ihrer Söhne auf Schloss Eszterhaz gab. Wohl auch weil Haydns Werk ausschließlich orientalisches Personal hat, findet sich in ihm nicht der Kontrast zwischen „europäischer“ und an die türkischen Janitscharen erinnernder Musik, sondern eher eine an den Orient gemahnende Instrumentierung. Übrigens ging die Musik zu einigen wenigen Rezitativen verloren, so dass sie gesprochen werden.

Das Libretto ist eine Adaption eines bereits von Gluck verwendeten Textbuchs mit dem Titel La rencontre imprevue. Die persische Prinzessin Rezia ist von Seeräubern entführt und an den Sultan von Ägypten verkauft worden. In seinem Harem lebt sie in Gesellschaft zweier Gespielinnen, Balkis und Dardane.   Ihr Verlobter Ali, Prinz von Basra, sucht sie verzweifelt. Er hat einen  verfressenen Diener, Osmin, der vom Derwisch Calandro zum Eintritt in den reichen Essensprofit versprechenden Bettelorden überredet wird. Es wird die Flucht der Rezia und ihrer Gefährtinnen organisiert, sie scheitert, aber der Sultan vergibt allen und lässt sie ziehen.

L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg versetzt den Hörer unmittelbar in eine heitere Stimmung durch sei frisches, zupackendes Aufspielen, nicht zuletzt durch den leicht orientalischen Anstrich, den es der Musik verleiht. Vorwiegend hell, leicht und damit ein wenig eintönig wirkt das Gesangsensemble, denn erst ganz zum Schluss bringt der Sultan von Michael Wagner mit seinem dunklen Bass eine weitere Farbe ins musikalische Geschehen.  Empfindsam geht Bernhard Berchtold seine Partie, den Prinzen Ali, an, sein langes Rezitativ singt er kultiviert und sensibel, leider nicht mit einer Stimme wie aus einem Guss, sondern mit recht flach klingender Mittellage. Im Duett „Son quest‘ occhi“ mit seiner Partnerin kann er sich enorm steigern. Diese ist Elisabeth Breuer mit kindlich klingendem soprano leggerissimo, der klar und silbrig, dazu höhensicher erklingt, koloraturgeläufig ist und nur in der absoluten Extremhöhe an seine Grenzen gerät. Ihre Gefährtinnen sind Annastina Malm als apart klingende Dardane, manchmal etwa scharf, aber angenehm agogikereich, und Anna Willerding als Balkis, licht und fein der Sopran, doch leider etwas verwaschen und unbestimmt. Es gibt ein sehr anmutiges Terzett der Damen, in dem alle drei reüssieren können, so wie auch das Duett Osmin/Calandra zu den Höhepunkten der Aufnahme gehört. Angenehm textverständlich ist der Osmin von Markus Miesenberger, der seinen Charaktertenor mit schöner Geläufigkeit einsetzt, auffallend textverständlich ist. Weniger kann damit der Calandra von Rafael Fingerlos glänzen, dafür aber mit einer auffallend süffigen Farbe aufwarten kann. Insgesamt lohnt die Bekanntschaft mit dieser anderen Entführung durchaus, ist die CD höchst empfehlenswert und das dazu gehörende Booklet höchst informationsreich ( 2 CD CPO 555 327-2). Ingrid Wanja

Bezaubernde Violetta

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An DVD-Aufnahmen von Giuseppe Verdis Oper La Traviata besteht wahrlich kein Mangel. Die neue Aufnahme aus dem Teatro del Maggio Musicale Fiorentino ist vor allem wegen Nadine Sierra in der Titelpartie interessant. Die Sängerin verfügt über eine sehr schöne und wandlungsfähige Stimme, mit der sie die unterschiedlichen Anforderungen der drei Akte makellos erfüllt. Die Koloraturen in ihrer Arie „É strano“, die Melancholie und Betroffenheit des zweiten Akts sowie die Verklärung im Schlussbild –  für alles findet sie den richtigen Ausdruck. Auch rein optisch ist mit ihrer beredten Mimik und mit ihrer Körpersprache eine faszinierende Persönlichkeit: eine Violetta zum Verlieben. Auch Francesco Meli macht als Alfredo neben ihr eine gute Figur. Anfangs kommt er etwas lässig und schnöselig daher, verdeutlicht aber bald seine echten Gefühle. Sein schlanker Tenor verfügt über eine sichere Höhe und viel Differenzierungsvermögen. Der Dritte im Bunde war zum Zeitpunkt der Aufnahme am 28.9.2021 bereits 79 (!) Jahre alt. Es ist Leo Nucci, der als Giorgio Germont noch einmal das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit einbringt. Er macht seine Sache erstaunlich gut, muss aber mit manch steifem Ton dem Alter Tribut zollen. Seine Arie „Di Provenza“ gestaltet er mit viel resignativer Melancholie. Optisch sieht er ein bisschen wie Günter Wewel aus…

Regisseur Davide Livermore liefert eine solide, unspektakuläre Inszenierung. Die Bühne ist meistens in sanftes Halbdunkel getaucht. Im ersten Akt ist man Zeuge einer ausgelassenen Party, bei der ordentlich gequalmt und getrunken wird. Violetta sieht in ihrem kurzen Kleidchen wie ein Party-Girl aus. Alle vergnügen sich und tanzen wuselig umher. Die Getränke werden von einer alten Bediensteten auf einem Servierwagen gefahren, den sie wie einen Rollator vor sich herschiebt. Der taucht auch am Schluss wieder auf, nur sind jetzt Medikamente darauf.

Der zweite Akt zeigt kein Landhaus, sondern eher ein Filmset mit Scheinwerfern. Auch hier wuseln noch einige Party-Gäste herum. Im zweiten Bild dieses Aktes sieht es ähnlich aus wie im ersten. Zur Belustigung tritt sogar ein kleinwüchsiger Torero auf. Anrührend ist der Schluss gelungen. Violetta geht verklärt in ein Lichtermeer, während eine Doppelgängerin tot auf dem Sterbelager liegt. Auch die Party-Gäste sind wieder da. Sie schreiten jetzt wie Geister der Vergangenheit in einer Art Trauerzug durch die Szene.

Am Pult steht Altmeister Zubin Mehta, der die Aufführung routiniert, aber manchmal auch mit gemächlichem Tempo leitet. (Dynamic 37955). Wolfgang Denker

Triumph des Gesangs

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Seitdem Cecilia Bartoli künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele ist, zeichnet sich das Programm dieses Festivals durch eine originelle Programmkonzeption aus. 2019 feierte man die Kunst der Kastraten unter dem Motto „Voci celesti“. Im Mittelpunkt stand Nicola Porporas Oper Polifemo, welche an die Interpreten exorbitante Anforderungen hinsichtlich ihrer Gesangskunst stellt. Ein erlesenes Ensemble führte das Unternehmen zu triumphalem Erfolg – nach zu hören nun auf der CD-Einspielung der Oper beim Label parnassus arts productions, die im Juli/August 2021 (nach Aufführungen beim Festival Bayreuth Baroque) und August 2022 in Athen entstand (PARARTS003, 3 CDs). Bis auf die Nebenrolle der Nerea entspricht die Besetzung jener in der Salzburger Felsenreitschule 2019, wo der Counter Max Emanuel Cencic das Geschehen halbszenisch arrangiert hatte.

Das Werk wurde 1735 im Londoner King’s Theatre am Haymarket uraufgeführt, brillant besetzt mit den zwei führenden Kastraten der Zeit: Senesino als Ulisse und Farinelli als Aci. Letzterem fiel jene Arie zu, welche der berühmte Sänger der Legende nach jede Nacht dem  depressiven spanischen König  Philipp V. vortrug und ihn damit aus seiner Melancholie befreite. Porporas Musik ist ein Fest für Gesangsvirtuosen und viele seiner Arien wurden von renommierten Interpreten in deren Konzerte und Recitals aufgenommen.

Das Libretto von Paolo Antonio Rolli fußt auf der von Ovid in seinen Metamorphosen geschilderten Dreiecksgeschichte mit der Nymphe Galatea, die den Hirten Aci liebt, und dem Zyklop Polifemo, der Galatea begehrt und Aci aus Eifersucht mit einem Felsbrocken erschlägt. Dieser aber wird in einen Fluss verwandelt, dessen Wellen die Nymphe auf ewig umspielen. Schon Händel hatte diese Geschichte 1732 in seiner Serenata Aci and Galatea in Musik gesetzt. Porporas Vertonung aber ist eine Huldigung an die Sänger und deren Bravour.

Gesanglich wird die Neuaufnahme von Yuriy Minenko als Aci diminiert – durchaus kein unbekannter Sänger, doch rangiert er bei weitem nicht in der Liga um Fagioli, Cencic, Jaroussky und Sabada, wohin er zweifellos gehörte. Schon in seinem Auftritt mit „Dolci, fresche aurette grate“ betört er mit schmeichelnden Tönen, wunderbar untermalt vom Orchester mit wiegendem, kosendem Melos. Am Ende des 1. Aktes setzt er in „Morirei del partir“ mit schmerzlichem Ausdruck einen einprägsamen Kontrast. Furios trumpft er auf bei „Nell’attendere il mio bene“ im 2. Akt, feuert die Koloraturen mit Attacke ab und kann auch seinen enormen Stimmumfang demonstrieren. Jeder Zuhörer wartet natürlich auf „Alto Giove“ im 3. Akt, in der Minenko magische Momente schafft mit überirdisch schwebenden Tönen und höchster Kunstfertigkeit im Vortrag. Und mit dem letzten Solo der Oper, der Aria „Senti il fato“, kann er noch einmal mit stürmischen Koloraturrouladen brillieren. Der zweite Counter, Max Emanuel Cencic als Ulisse, hat mit „Core avvezzo“ einen stürmischen Auftritt zu absolvieren, was ihm blendend gelingt. „Fortunate pecorelle“ im 2. Akt ist von getragenem Zuschnitt und profitiert von delikater Tongebung und feiner Phrasierung. „Quel vasto“ im 3. Akt verlangt wiederum Vehemenz im Ausdruck und furios herausgeschleuderte Koloraturläufe, was Cencic souverän meistert. Die anhaltende Hochform des Sängers ist erfreulich und soll hier explizit erwähnt werden.

Die russische Sopranistin Julia Lezhneva ist seit längerer Zeit eine feste Größe in den Produktionen von Max Emanuel Cencic. Auch hier als Galatea besticht sie wiederum mit ihrer scheinbar grenzenlosen Virtuosität, die sie schon in ihrer ersten, zärtlich getupften Aria, „Se al campo e al rio“, ausstellen kann. Mit der vehementen Aria „Ascoltar no“ beendet sie den 1. Akt in fulminanter Manier. Genüsslich kostet sie die Aria im 2. Akt „Fidati alla speranza“ mit kosenden Trillern und raffinierten Vorschlägen aus. Ein weiteres Glanzlicht setzt sie im 3. Akt mit ihrem letzten Solo „Smanie d’affanno“, welches sie mit schmerzerfüllten Tönen ausbreitet. Mit Aci hat sie im 2. Akt zwei Duette: In dem lieblichen „Placidetti zeffiretti“ umschmeicheln sich die Stimmen bezaubernd, in „Tacito movi e tardi“ ist die Stimmung geprägt von bangen Gedanken an die Zukunft. Am Ende des Werkes gibt es sogar ein Terzetto („La gioia immortal“), in welchem sich die Stimmen von Galatea, Aci und Ulisse höchst kunstvoll vereinen.

Selten wurde die Titelfigur einer Barockoper vom Komponisten einem Bassisten anvertraut – Pavel Kudinov absolviert sie mit Glanz und stilistischer Kompetenz. Mit der Aria „M’accendi in sen col guardo“ führt er sich Achtung gebietend ein. Im 3. Akt hat er mehrere Soli, von denen das pochende Arioso „Crudel“, die energische Aria „Dun disprezzato amor und das träumerische Arioso „Ma i piè“ in ihrer kontrastreichen Charakteristik hohe Anforderungen an den Interpreten stellen.

Die Besetzung komplettieren zwei weitere Nymphen – Calipso und Nerea -, die von der Mezzosopranistin Sonja Runje und der Sopranistin Narea Son wahrgenommen werden. Letzterer fällt, gemeinsam mit Galatea, die erste Nummer des Werkes zu – Aria e Duetto „Vo presagendo“, in der Lezhneva mit klagenden Tönen aufwartet, während Son eine sinnliche Stimmung beisteuert. Mit „Sorte un’umile capanna“ hat sie auch ein träumerisches Solo, in welchem die angenehme Stimme zu schöner Wirkung kommt. Reizend ist ihre muntere Aria Una beltà che sa zu Beginn des 2. Aktes, die sie kokett vorträgt und mit feinen Verzierungen schmückt. Calipso hat mit „Giusata non ha delle tue forze“ eine sublime Aria, die sie mit schwebender Stimme ungemein delikat singt. Alle Sänger vereinen ihre Stimmen in den tutti-Passagen – mit dem Ergebnis eines ausgewogenen Zusammenklanges.

Wie oft bei parnassus-Produktionen steht George Petrou am Pult des Ensembles Armonia Atenea und erweist sich einmal mehr als Spezialist für das Barockgenre. Sogleich in den beiden einleitenden Ouvertüren setzt er markante Akzente, differenziert prägnant zwischen den gravitätischen  und lebhaften Tempi. Das zeichnet insgesamt seine Interpretation aus, die von vielfachen Stimmungen und spannenden Affekten geprägt ist. parnassus gebührt Dank: Nach der Einspielung von Porporas Carlo il Calvo ist dieser Polifemo eine weitere Großtat. Bernd Hoppe

Vielseitig, temperamentvoll, subtil

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Ferenc Fricsay brannte für die Musik und verbrannte vielleicht an ihr. Fricsay war, wie Peter Sühring in einer neu erschienenen Monographie über den Dirigenten schreibt „als musikalischer Künstler ein Besessener, dessen Drang zu musizieren, Musik unter seinen Händen entstehen zu lassen, unersättlich war.“ Das berichten auch die ihn kannten und Musiker, die mit ihm arbeiteten. In den penibel vorbereiteten Proben rasch und zielstrebig voranschreitend, unerbittlich in seinen Forderungen –dabei gelegentlich auch ungerecht und unangenehm gegenüber den Musikern. Er war aber alles Andere als ein eitler Musik- oder gar Selbstdarsteller. „Er hatte die Vorstellung, dass man die Musik erschaffe, indem man als Dirigent – wie ein werkbezogener Doppelgänger des Komponisten – die Musiker des Orchesters dazu inspiriert, ihre jeweilige Stimme im Sinne der Partitur und des in ihr vorgestellten Gesamtklangs zu spielen, sofern dieser aus den Noten erkennbar sei“ (Sühring, S. 21, dazu die Besprechung des Buches s. unten)

Fricsay selbst betonte, dem Dirigenten stünden im Konzert „sein Gesichtsausdruck, seine Hände, sein Dirigentenstab, außerdem die mit diesen Mitteln ausgeführten Bewegungen und schließlich die Fähigkeit zum Führen … kurz Suggestion zur Verfügung. Und weiter: „Das Hauptziel ist, dass der Dirigent die in den Proben gegebenen Anweisungen bei den Musikern wieder wachruft und diese noch womöglich mit neuen Gedanken erweitert, ohne dass er damit den musikalischen Ablauf mit unpassenden Bemerkungen stört oder die Leitung des Orchesters hemmt.“ Fricsay war sogar der Auffassung, ein guter Dirigent spiele „das ganze Werk als Pantomime dem Orchester und auch dem Publikum vor, doch ständig etwas früher, als das Orchester es zum Klingen bringt, denn die Verzögerung zwischen der Wahrnehmung und der Ausführung darf nicht außer Acht gelassen werden“ (zit. nach Sühring, S. 21 f.). Wie er selbst dieses Ideal umsetzte, kann man anhand von Probenausschnitten auf einer CD und einer DVD verfolgen. Wie minuziös und detailliert Fricsay probte, verrät der (akustische) Mitschnitt einer Probe von Smetanas Moldau mit dem Symphonieorchester des Süddeutschen Rundfunks. Allerdings zeigt die anschließende Aufführung doch, dass die Musiker eher über ein Kurzzeitgedächtnis verfügen. Denn manches klingt eben nicht ganz so, wie vorher geprobt und wie der Dirigent es eigentlich wollte.

Fricsay mag dem heutigen Musikpublikum nur noch bedingt in Erinnerung sein. Bis zu seinem frühen Tod war er vor allem in Berlin zu erleben. Hier hatte er mit dem RIAS- und späteren Radio-Symphonie-Orchester (heute Deutsches Symphonie-Orchester) seine wohl künstlerisch bedeutendste Heimat gefunden. Die Deutsche Grammophon-Gesellschaft versicherte sich schon 1949 des jungen, talentierten Dirigenten, der nicht nur als Chefdirigent des RSO Berlin sondern auch als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin das Musikleben der Stadt stark prägte. Die meisten Aufnahmen dieser 86-CD-Box entstanden mit dem RSO Berlin. Außerdem ging Fricsay mit den Berliner Philharmonikern, den Wiener Philharmonikern, dem Bayerischen Staatsorchester sowie dem Pariser Lamoureux-Orchester ins Aufnahmestudio.

Wenn der Name Fricsay fällt, dann denken viele gleich an ungarische Musik. Fricsays Repertoire war freilich breit und vielseitig. In der vorliegenden Box sind 60 Komponisten vertreten – von Bartók, Beethoven, Brahms, Mozart bis zu Verdi, Wagner und Weber. Außerdem enthält die Sammlung allein acht Operneinspielungen von Gewicht.

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Mozart war ein, wenn nicht der Schwerpunkt von Fricsays Arbeit. Das belegen allein knapp 50 Aufnahmen mit Symphonien, Klavierkonzerten, Opern, geistlichen Werken und unterschiedlich besetzter Orchestermusik. Bleibende Highlights sind dabei die Klavierkonzerte Nr. 19, 20 und 27 mit Clara Haskil und Symphonien mit dem RIAS-Orchester und den Wiener Symphonikern, wobei die Wiener Aufnahme gelungener erscheint. Neben Mozart war Bartók der wichtigste Komponist in Fricsays Repertoire, hier hat er exemplarische Einspielungen hinterlassen – man denke nur an die auch heute noch faszinierende Gesamtaufnahme der Klavierkonzerte und der Klavierrhapsodie mit seinem Landsmann Géza Anda, die durch ihre Luzidität sowie ein faszinierendes, fabelhaftes Zusammenspiel aller Beteiligten imponiert. Weitere Bartók-Höhepunkte sind das zweite Violinkonzert mit Tibor Varga, das Klavierkonzert Nr. 3 mit Monique Haas und der Operneinakter Herzog Blaubarts Burg mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hertha Töpper. Auch die Musik des anderen großen ungarischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, Zoltán Kodály, ist bei Fricsay in besten Händen, wie anhand der Maroszeker Tänze, der Tänze aus Galánta, der Háry-János-Suite oder des Psalmus Hungaricus erfahrbar ist.

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Beim klassischen und romantischen Repertoire ging es Fricsay mehr um die Vielfalt denn um vermeintliche Vollständigkeit. Mit den Berliner Philharmonikern entstand ein fast kompletter Zyklus der BeethovenSymphonien (mit Ausnahme der Nr. 2, 4, 6): stellenweise etwas konventionell in Ton und Gangart, aber immer deutlich, sehr artikuliert, spannend, nie falsch heroisch, manchmal unerwartet drängend im Tempo. Sehr ausgewogen und zugleich voller Überraschungen spielt Annie Fischer das Dritte Klavierkonzert. Zu bewundern ist, wie Géza Anda, Wolfgang Schneiderhan und Pierre Fournier das Tripelkonzert musizieren, wie hier die Solisten miteinander und mit dem Orchester konzertieren. Symphonien von Haydn werden animiert, spannungsreich, nie behäbig oder gar zopfig musiziert. Brahms ist u. a. mit dem Zweiten Klavierkonzert (G. Anda), dem Konzert für Violine und Violoncello (W. Schneiderhan, Janos Starker) in beseelten und leidenschaftlichen Interpretationen vertreten.

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Die wichtigsten Opern-Dokumente sind die Aufnahmen von Mozarts Entführung aus dem Serail, Die Zauberflöte, Don Giovanni, Le nozze di Figaro mit den bedeutenden und bewährten Sängerinnen und Sängern der Zeit (wie Ernst Haefliger, Maria Stader, Josef Greindl, Dietrich Fischer-Dieskau, Sena Jurinac, Irmgard Seefried), dem fabelhaften RIAS-Kammerchor und dem RSO Berlin. Mozarts Idomeneo entstand 1961 mit Waldemar Kmennt, Ernst Haefliger, Elisabeth Grümmer, Pilar Lorengar u.a., dem Chor der Wiener Staatsoper und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen. Insbesondere der Berliner Don Giovanni mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle, Karl Christian Kohn als Leporello, Sena Jurinac als Donna Anna und Maria Stader als Donna Elvira ist nach wie vor eine mitreißende Referenzaufnahme. 1956 entstand Glucks Orpheus und Eurydike mit Dietrich Fischer-Dieskau und Maria Stader als Protagonisten, 1952 wurde in Berlin Wagners Der fliegende Holländer mit Josef Metternich, Josef Greindl, Annelies Kupper, Wolfgang Windgassen u. a. eingespielt. Beethovens Fidelio nahm Fricsay 1957 in München mit Leonie Rysanek, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau u. a sowie dem Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper auf. Bei den Vokal– bzw. Chorwerken reicht die Spannweite von Mozarts Requiem und Großer Messe c-Moll, Haydns Jahreszeiten über Rossinis Stabat Mater und Verdis Messa da Requiem bis zu Kodálys Psalmus Hungaricus und Strawinskys Oratorium Oedipus Rex.

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Manche Werke sind in zwei Einspielungen vertreten – mit dem gleichen oder verschiedenen Orchester/n. Die Wahl für die eine oder andere Aufnahme ist weitestgehend subjektiv. Auffällig ist indes, dass ein Fortschritt in der Aufnahmetechnik (wie der Wechsel von Mono zu Stereo) kein qualitativer Sprung sein muss. Bedeutender scheint mir, dass Fricsay in seinen frühen Interpretationen vielfach raschere Tempi wählte, mit mehr Temperament und Leidenschaft musizieren ließ. Beispielhaft: Die Aufnahme der Neunten Symphonie von Dvořák mit den Berliner Philharmonikern imponiert auch heute noch, doch ungleich drängender, packender, feuriger und auch (in Mono!) klanglich direkter ist die Einspielung mit dem RIAS-Symphonieorchester. Auch Tschaikowskys Sechste Symphonie wurde zweimal aufgenommen. Die frühere (Mono-) Einspielung mit den Berliner Philharmonikern ist interessanter, zügiger in den Tempi, spannender als die spätere (stereophone) mit dem RIAS-Orchester, die mir konventioneller und spannungsärmer erscheint. Verdis Messa da Requiem (großenteils ähnlich besetzt) ist in der Aufnahme von 1953 drängender, eindringlicher, nicht über-dramatisch, klanglich gelungener als die Produktion von 1960, die stellenweise zu getragen ist und dadurch an Spannung verliert, aber andererseits auch sehr feine pianissimi bietet.

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Die Edition erinnert erfreulicherweise auch an seinerzeit bedeutende Interpretinnen und ihre männlichen Kollegen. An erster Stelle ist die ziemlich in Vergessenheit geratene schweizerische Pianistin Margrit Weber (1924-2001) zu nennen, deren Karriere 1955 begann, als Fricsay sie in Winterthur kennenlernte und gleich von ihrem Klavierspiel beeindruckt war. Er lud sie zu Konzerten ein und nahm mit ihr eine Reihe konzertanter Kompositionen auf: de Fallas „Nächte in spanischen Gärten“, Rachmaninows Paganini-Rhapsodie, seltener gespielte Werke wie die Concertinos von Francaix und Honegger, die reizvollen Bagatellen von Alexander Tscherepnin, nicht zu vergessen die Strauss’sche Burleske und die spröden Mouvements von Strawinsky. Die Geigerinnen Johanna Martzy und Erica Morini sind mit den Konzerten von Dvorák bzw. Bruch und Glasunow zu erleben. Sie spielen diese Werke virtuos, schlank, gefühlvoll, aber nicht sentimental und werden vom RSO subtil begleitet. Mit Wolfgang Schneiderhan erlebt man Mendelssohns Violinkonzert e-Moll ebenfalls schlank, frei von Schnörkeln, ohne jedes Auftrumpfen, immer gut eingebettet in den Orchesterklang.

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Von den Komponisten des 20. Jahrhunderts lagen Fricsay – wenn man das an seinen Aufnahmen misst – besonders Boris Blacher, Rolf Liebermann, Gottfried von Einem, Werner Egk, aber auch Hans Werner Henze und die schon als Klassiker zählenden Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Karl Amadeus Hartmann – außerdem Frank Martin, dessen apart besetzte Petite symphonie concertante schon dank der vortrefflichen Solistinnen Irmgard Helmis (Cembalo), Gerty Herzog (Klavier), Sylvia Kind (Harfe) eine der wertvollsten und schönen Einspielungen mit dem RIAS-Symphonie-Orchester ist.

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Fricsay beherrscht als gebürtiger Ungar auch die „leichte“ Musik, war mit dem Idiom Österreich-Ungarns bestens vertraut, konnte den Orchestern, mit denen er arbeitete, sogar eine gewisse Walzerseligkeit abgewinnen. Mit Peter Anders, Anny Schlemm und weiteren Solisten, dem RIAS-Orchester und RIAS-Kammerchor stellte er eine respektable Fledermaus auf die Beine. Lange vor anderen Dirigenten interpretierte er die Symphonien von Tschaikowsky schlank, unsentimental, ohne Pathos, sehr temperamentvoll. Er setzte sich auch für den russischen Komponisten Reinhold Glière ein, dessen Dritte Symphonie „Ilja Murometz“, eher ein grandioses Orchesterpoem denn eine herkömmliche Symphonie ist. Nicht zuletzt nahm er sich auch der „kleineren“ Orchesterwerke der Klassik und Romantik an, widmete diesen die gleiche Sorgfalt in der Aufführung und Inszenierung wie den „großen“ Werken des Repertoires.

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Der Autor unseres Artikels zu Ferenc Fricsay, Helge Grünewald: Jahrgang 1947, studierte in Berlin Politikwissenschaft, Soziologie und Musikwissenschaft. Seit 1973 als Musikjournalist tätig. Arbeit für verschiedene Rundfunkanstalten (SFB, DeutschlandRadio), Orchester (Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Berliner Philharmoniker), die Berliner Festspiele, Zeitschriften (FONO FORUM, Klassik heute), Zeitungen sowie Schallplattenfirmen. Von 1989 bis 2006 Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Philharmoniker, danach bis 2016 Dramaturg mit Zuständigkeit für Ausstellungen, das Archiv des Orchesters, die Herausgabe historischer Aufnahmen sowie die von ihm initiierte Filmreihe »Musik bewegt Bilder«. Seit 2016 ist er Präsident der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, seit 2011 Juror beim PdSK/ Foto Ines Grabner

Zur Edition gibt es ein stattliches, informatives Begleitbuch mit vielen Abbildungen. Ausgesprochen ärgerlich ist allerdings die Gewohnheit, die CDs bei solchen „Complete“-Editionen in den miniaturisierten Hüllen der Originalausgaben zu präsentieren. Doch leider finden sich zu oft gar nicht Werke in der Hülle, die auf dem Cover stehen. So darf die Hörerschaft dann mühsam anhand des Booklets mit seinem Verzeichnis aller CDs die Titel suchen, die sich zwar auf dem Cover, aber nicht auf der enthaltenen CD finden. Das trübt den Genuss!

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.Eine ideale Ergänzung, informative und anregende Lektüre zu der umfangreichen Edition der DG bietet das fast zeitgleich erschienene Buch von Peter Sühring: „Ferenc Fricsay – der Dirigent als Musiker“ (edition text & kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2023). Der Autor versucht in seiner Monographie, „eine neue Sicht auf Leben und Wirken des Dirigenten zu geben“, vor allem „auf Grundlage einer Erschließung seines Nachlasses im Archiv der Akademie der Künste in Berlin“. Der 200 Seiten starke Band ist (zum Glück) keine der Musikerbiographien, wie man sie kennt.

Sühring verfolgt weniger die persönliche Biographie des Dirigenten als dessen künstlerische Entwicklung: von der Kindheit und Jugend und der musikalischen Ausbildung über die Arbeit als Kapellmeister von Militärorchestern (die auch Unterhaltungsmusik und anspruchsvolle symphonische Werke aufführten), als Dirigent des Philharmonischen Orchesters in Szeged (auch Opern) über die Tätigkeit am Budapester Opernhaus bis zum internationalen Debüt in Salzburg (1947) und der Entscheidung für Berlin als künstlerischer Mittelpunkt. Hier dirigierte Fricsay im Herbst 1948 zunächst das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, reüssierte dann rasch an der Städtischen Oper (später Deutscher Oper Berlin). Erst danach begann seine Arbeit mit dem RIAS-Orchester.

Das Verdienst von Peter Sühring ist es, auch die Komplikationen bei Fricsays künstlerischer Arbeit in Berlin detailliert aufzuzeigen: die Schwierigkeiten, die das RIAS-Orchester hatte, seine Auflösung und Neugründung als Radio-Symphonie-Orchester Berlin, die Probleme, die Fricsay als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper und auch an der Münchner Oper hatte, weil er sich weigerte, faule Kompromisse einzugehen und seine hochgesteckten künstlerischen Ziele und Forderungen aufzugeben. Das Buch ist zugleich eine Geschichte des Musiklebens in Nachkriegsdeutschland, besonders in Berlin.

Zum Glück ist die vorliegende Monographie keine „Hagiographie“ Ferenc Fricsays. So bleibt sein persönliches Schicksal, seine Krankheitsgeschichte nicht ausgespart. Auf der einen Seite standen Verausgabung, kräftezehrende Arbeit, auf der anderen Enttäuschung über das Nichterreichen hochgesteckter Ziele. Fricsays Schwachstelle waren sein Magen und Darm, er litt an psychisch bedingten somatischen Störungen und Krankheiten, die letztendlich zu seinem frühen Tod führten. Nach Jahren, in denen die Krankheit immer wieder zuschlug, und mehreren Operationen mit zum Teil folgenden Komplikationen starb Ferenc Fricsay am 20. Februar 1963 im Alter von 48 Jahren in Basel. Die Erinnerung an ihn kommt 60 Jahre nach seinem Tod genau zur richtigen Zeit. Helge Grünewald

Aufführungs-Kritiken

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Hier nun findet sich eine Übersicht der in operalounge.de besprochenen Live-Aufführungen der letzten Zeit, ob nun unter der Rubrik „Die besondere Oper“ oder unter „Festivals“ (und die Dame oben ist die Muse der Musik, Calliope, hier von Charles Meynier 1798 gemalt/Cleveland Museum of Art/Wikipedia).

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Die besondere Oper: Auch 2022/23 sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. G. H.

Deutsche Oper Berlin: Jules Massenets Hérodiade am 15. 6. 2023; Zandonais Francesca da Rimini an der Deutschen Oper Berlin am 29. 5. 2023 ; Felix Weingartners Orestes am Theater Erfurt. am 27.05.2023: Paria von Stanislaw Moniuszko in der Berliner Philharmonie; Ambroise Thomas` Hamlet an der Komischen Oper Berlin; Benjamin Godards Dante am Staatstheater Braunschweig: Krieg und Frieden von Sergej Prokofjew an der Bayerischen Staatoper 18 März 2023: Saverio Mercadantes Francesca da Rimini an der Oper Frankfurt 26.2.23:  Georges Bizets  Ivan IV am Staatstheater Meiningen am 24.2.23: Giacchino Rossini Le Siège de Corinth am Theater Erfurt am 25.2.23; Uraufführung in Ulm Charles Tournemires Legende  de Tristan; Massenets Hérodiade an der Opéra National de Lyon am 23. November 2022; Donizettis Caterina Cornaro am Stadttheater Gießen; Modest MusorgskysBoris Godunow am Teatro alla Scala 7. Dezember 2021;  Verdis Alzira Opéra de la Wallonie Liege 01.12.22; Asger Hameriks Vendetta an der Königlich Dänischen Oper in Aarhus; Wilhelmine von Bayreuth L’Homme Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth; Franz Schreker Der ferne Klang an der Opéra de Stasbourg; Albert Lortzings Undine an der Oper Leipzig 2022; Teatro Comunale Pavarotti Freni in Modena Mefistofele 9. Oktober 2022; Deutsche Oper Berlin Gioacchino Rossini Semiramide 20./22. 10. 2022; In der Berliner Philharmonie Léo Délibes Lakmé 27. 9. 2022; Opéra National de Montpellier Occintanie Ambroise Thomas Hamlet (Tenor) 27. 08. 22; Louise Bertin  Le loup garou an der Opera Southwest in Albuquerque 11. September 2022; Im Berliner Konzerthaus Mascagnis Zanetto und Wolf- Ferraris Il Segreto di Susanna 14.6.2022; Gustave Adolph Kerker The Belle of New York am TFN Hildesheim 26. Mai 2022; Guirauds/Masenets Fredegonde am Theater Dortmund 2022;  an der Budapest Staatsoper Erkels Hunyadi László 2022; Nino Rotas Aladin und die Wunderlampe am TFN Hildesheim 19.02.2022; In Budapest Hubays Geigenbauer von Cremona/ Dohnányis Tante Simona/ Poldinis Hochzeit im Fasching 2022;  An der Opéra National du Rhin in Straßburg Die Vögel von Walter Braunfels 2022;  Am Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg Ralph Benatzkys Der reichste Mann der Welt/ Erich Zeisls  Leonce und Lena 2022; In Osnabrück Theater am Domhof Karol Rathaus’ Fremde Erde 2022; 

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Festivals 2023: Musikfest Berlin: Les Troyens von Hector Berlioz 02. 09., 23; Bel Canto Ritrovato Festival Pesaro & Fano Luigi Riccis Il birraio di Preston & Konzert in Fano 24.8.2023; Salzburger Festspiele 2023 Orfeo ed Euridice/ Bohuslav Martinus The Greek Passion/ Bellinis Capuleti e i Montecchi/ Hector Berlioz´Les Troyens August 2022; Rossini Opera Festival Pesaro 2023 Eduardo e Cristina/ Adelaide di Borgogna/ Aureliano in Palmira August 2023; Festival Alte Musik Knechtsteden  Giovanni Alberto Ristori Orfeo August 2023; Bayreuther Festspiele 2023 Parsifal & Der fliegende Holländer August 2023; Innsbrucker Festwochen der Alten Musik Antonio Vivaldi Olimpiade 8. August 2023/ Bernardo Pasquinis Idalma 23. 6. 2023; Rossini in Wildbad: Giovanni Pacini Gli Arabi nelle Gallie August 2023; Festival Ancient Music New York/ Lincoln Center Ricci Crispino e la Comare; Festival Palazzetto Bru Zane 2023 Louise Bertin Fausto Paris 20. Juni 2023; Musikfestspiele Potsdam Sanssouci L’Huomo von Andrea Bernasconi Juni 2023/  Marc-Antoine Charpentier David et Jonathas; Schloss Rheinsberg Osterfestspiele Carl Heinrich Graun La clemenza di Silla

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Festivals 2022: Auch in 2022 waren wir bei der Auswahl der vorgestellten Festivals sehr wählerisch und konzentrierten uns – wie bei Live-Aufführungen überhaupt – auf wenige und für uns interessante Aufführungen, von denen wir einige Rezensionen der Wichtigkeit der Operntitel wegen weiterhin auf unserer Seite stehen lassen . G. H.

Donizetti-Festival Bergamo 2022 La Favorite, Chiara e Serafina, L´Aio nel´ imbarazzo; David und Halevy beim Wexford Festival Opera 2022 La tempesta & Lalla-Roukh 24 + 25 . Oktober 2022; Festival Radio France Opéra National de Montpellier Occintanie Ambroise Thomas Hamlet (Tenor) 27. 08. 22;  Bregenzer Festspiele 2022 Puccinis Madama Butterfly und Giordanos Siberia 20. + 21. Juli 22; Rossini in Wildbad 2022 Armida, Ermione 15. + 16. Juli 2022; Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Inseln Scarlattis I portentosi effetti della Madre Natura/ Johann Friedrich Reichardt Die Geisterinsel 18. 6. 2022/  Carlo Pallavicino Le Amazzoni nell’isole fortunate

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Schloss zu gewinnen

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In dramatischer wie musikalischer Hinsicht verdiene La Princesse de Trébizonde so viel Aufmerksamkeit wie La Belle Hélène oder La Grande Duchesse de Gérolstein. Der das sagt, ist Jean-Christophe Keck, dessen Ausgabe von Offenbachs Baden-Badener Opéra-bouffe im Rahmen seiner Offenbach Edition Keck das Material der Uraufführung im Schwarzwälder Kurort im Sommer 1869 und der wenige Monate in Paris aufgeführten Version sichtete und herausgab. Opera Rara griff zu und präsentiert die Princesse als Dreiakter in der Form, wie sie im Dezember 1869 am Théâtre des Bouffe-Parisiens erstmals aufgeführt wurde, ergänzt um Passagen aus der zweiaktigen Baden-Badener Fassung, die aus dramaturgischen Gründen geopfert wurden (2 CD ORC63).

Vielleicht liegt die Missachtung der Prinzessin von Trapezunt daran, dass es sich bei der Prinzessin aus dem Kaiserreich am Schwarzen Meer im Gegensatz zu den beiden anderen Damen nur um eine Puppe handelt. Sie ist die Attraktion des Schaustellers Cabriolo, der mit seiner Schwester Paola und seinen beiden Regina und Zanetta sowie dem Diener Tremolini seine Künste auf einem Marktplatz darbietet. Durch einen Zufall, ein unter die Tageseinnahmen geratenes Lotterielos, verschlägt es die Schausteller auf ein Schloss, während sich die Adeligen unters Volk mischen. In seinem musikalischem Vexierspiel nimmt Offenbach spätere TV Container-Formate vorweg, löst Standesunterschiede auf und gab einen Typus vor, von dem die Operetten noch ein halbes Jahrhundert zehren konnte. Die große Unbekannte aus Offenbach Werkkatalog war vor wenigen Jahren im Rahmen der Osterfestspiele in Baden-Baden erstmals wieder in das Theater zurückgekehrt, wo sie 1869 unter Offenbachs Leitung erstmals erklungen war; damals allerdings bereits in der dreiaktigen Fassung, die seit Offenbachs Überarbeitungen de rigieur war.

Trapezunt mutiert bei Offenbach nicht zu einem Sehnsuchtsort der Musikbühne des 19. Jahrhunderts. Die Prinzessin ist die Attraktion im Wachsfigurenkabinett Cabriolos. Versehentlich bricht ihr seine Tochter Zanetta die Nase ab, weshalb sie selbst als Puppe posiert. Prompt verliebt sich Prinz Raphael in sie. Ebenso prompt gewinnen die Gaukler mit dem Lotterielos des Prinzen ein Schloss. Eine hübsche Idee der Librettisten Nuitter und Tréfeu und Offenbachs, der immerhin durch den Casino-Betreiber Bénazet an die Oos gelockt worden war und im mondänen Modebad Stoff für weitere Operetten gefunden haben sollte. Cabriolos zweite Tochter Regina verliebt sich in den Clown Tremolino, seine Schwester Paola in Raphaels Erzieher Sparadrap. Das alles lässt sich nicht erzählen, muss man auch nicht, ist pure Buffonerie, welcher Karl Kraus ein „buntes Raketenfeuer phantastischer Erfindung“ beschied und Offenbach in erstaunlich viele kleine Chansons und Couplets verpackte, die er im rasanten Tempo ins erste Finale treibt, bevor die Handlung auf das Schloss Cabriolos schwenkt, wo sich die Truppe schrecklich langweilt. Nun kommt die Handlung richtig in Fahrt, bis zum dritten Finale drei heiratswillige Paare zusammenfinden und Raphaels Vater Prinz Casimir das Schlusswort spricht „Allons! Mariez-vous tous“.

Das geht musikalisch alles schwuppdiwupp. Kaum hat sich Antoinette Dennefeld als Régina mit dunkel schwerem Mezzo, der gerade noch apart und nicht ordinär wirkt, vorgestellt, lässt Virginie Verrez als Prinz Raphael mit seiner Tauben-Romanze, Romance de tourterelles, die Herzen dahinschmelzen; Raphael ist ein Romanzen-Prinz, denn im dritten Akt hat Offenbach ihm eine nicht minder schmachtende Romanze zugedacht. Anne-Catherine Gillet ist in Frankreich eine Konstante in Aufführungen komischer Oper von Offenbach, Auber, Varney, Lecocq und Messager und gestaltet die Zanetta mit Witz, Eleganz und mit Geschmack. Der Kanadier Josh Lovell klingt als Raphaels Vater zweifellos zu jung, doch das muss nicht stören, denn er kann hinsichtlich Tempo, Schmelz und Charme, etwa in den Couplets de la canne, gut mit mithalten mit solchen Buffonisten wie dem drollig stimmlosen, aber erfahrenen Christophe Mortagne als Tremolini und Loïc Félix als Erzieher Sparadar oder Christophe Gay als Cabriolo. Sie erweisen sich alle als idiomatisch glänzende, spritzige Singakteure, die durch die Ensembles wippen. Nicht nur die perlenden Ensembles zeigen, welchen Spaß die Truppe bei den konzertanten Aufführungen im September 2022 in London hatte, wobei es Paul Daniel gelingt, anfängliche Bedenken, dass er und das London Philharmonic Orchestra vielleicht doch zu akademisch klingen könnten, in den Eskapaden des dritten Aktes mit den herrlichen Nummern, darunter die Couplets und das Rondo der Pagen, die irrwitzigen Ariette du mal de dents und das Brindisi et Grand galop, wegwischt. Das hat alles Witz und Tempo, ist nie vorlaut und überschäumend. Und dann gibt es quasi als Zugabe noch eine gute halbe Stunde Musik aus der ursprünglichen Fassung. Viele Stücke wurden in Paris durch nicht minder originelle Alternativen, etwa das Grand duo zwischen Zanetta und Raphael oder „Mal de dents“-Ensemble, ersetzt bzw. wurden, wie das Quartett „Oh les belles femmes“ in Fantasio, anderweitig wiederverwendet. Ein großer Spaß. Rolf Fath

Normannen in Pompeji

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Eine seit langem vergessene Oper, die ihre (zu kurze) Auferstehung verdiente, ist rund 185 Jahre nach der Geburt des Musikers und Komponisten Temistocle Marzano wiederentdeckt worden. Marzano, Lieblingsschüler von Mercadante, wurde von Salerno, seiner Adoptivstadt , damit geehrt, dass sie seine Oper I Normanni a Salerno im Januar 2006 mit Erfolg in eben dieser Stadt, Salerno, wiederaufführte.

Nun gibt es sie erneut am 20. Oktober 23 im Teatro di Costello von Pompeji.

„I Normanni a Salerno“: Der Komponist Temistocle Marzano/ OBA

Diese Oper, die 1872 das Teatro Verdi von Salerno eröffnete, ist danach wegen ihrer Komplexität nie wieder gegeben  worden. Vier Akte, drei Stunden Musik, fünfzig Orchestermitglieder, vierzig Choristen, mehr als fünfzig Tänzer und Statisten – das erfordert einen enormen Aufwand. Die Wieder-Produktion und Edition der Oper stammte von Eugenio Paolantonio, dem Vorsitzenden der Salerner Organisation, die eine informative website zum Thema unterhält. Die Orchesterleitung der Wiederentdeckung hatte man Giovanni Battista Bergamo  anvertraut,  der  sich  in der Vergangenheit für seinen Einsatz im italienischen Musiktheater einen Namen gemacht hatte. Und die allgemeinen Bemühungen umfassten quasi den ganzen Ort, wie man den zum Teil anrührend-naiven Aufführungsfotos entnehmen kann – es war ein Werk der Liebe.

Komponist, Oper und geschichtliches Umfeld: Die Oper I Normanni a Salerno wurde zum ersten Mal am Teatro Verdi von Salerno am 11. Juni 1872 gezeigt und hatte bei Publikum und Kritik großen Erfolg. Dirigent war der Komponist selbst, der nicht zuletzt wegen dieses Erfolgs berechtigte, aber später nicht erfüllte Hoffnungen hegte, dass sein Werk auch an größeren Bühnen aufgeführt werden würde. Die Kosten für die Salerneser erwiesen sich jedoch als zu hoch, und das Vergessen senkte sich – wie es schien, für immer – über das Werk. Einen lobenswerten Rettungsversuch unternahm dann der Mediziner und Opernenthusiast Guglielmo Longo, der in den dreißiger und später noch einmal in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf den Komponisten und sein Werk lenkte.

Temistocle Marzano hat nur  wenig  über sein Leben hinterlassen. Herausragend ist sein Studium bei Mercadante. Neben seiner Oper  I Normanni  erinnert  man sich vielleicht noch an La Perseveranza (Mailand 1872). Informationen über sein Leben sind fragmentarisch. Er wurde 1820 in Procida geboren und starb 1896 in Salerno. Seine Studien vollendete er am Real Collegia di  Musca  und  am  Conservatorio  S. Pietro a Majella  in Neapel, wo er  mit Florimo (Belinis Freund) und Cesi  zusammmentraf und von  Zingarelli und Mercadante (seit 1840 Direktor des lnstitutes) unterrichtet wurde. Mercadante selbst hielt ihn für seinen besten Schüler. Nach seiner Ausbildung ging Marzano (so sein Biograf Longo) nach Civittavecchia, dann nach Salerno, wo er am Jesuitenkolleg als Maestro Concertatore angestellt war, danach als Leiter des bekannten Theaters La Flora. Von 1869 bis zu seinem Tode stand er dem Orchester und der der Scuola des Waisenhauses (Scuola Musicale dell’Orfanotrofio Umberto I.) und der eigens gegründeten Banda Municipale (1887) vor. Später wurde dann er Direktor des Teatro Verdi in Salerno; und als glühender Patriot und  Maestro di Capella Pontificio für Pius IX. verfasste er ein reiches geistliches Oeuvre (darunter ein Requiem, ein „Magnificat„ und eine Messe) neben umfangreicher Gelegenheitsmusik.      Weiter hier:   https://operalounge.de/history/die-vergessene-oper/oh-tu-salerno  

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Details: eugeniopaolantonio@gmail; 003491 406834 / Comune di Pompei Uffici eventi 003481 8576252 

Dracula-Horror

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Mit gläserner Bravour stellt sich Anthony Roth Costanzo, der als altägyptischer Echnaton an der Met bereits mit Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft vertraut wurde, als „I, Dionysos, son of Zeus“ vor. Erbost darüber, dass er aus Theben vertrieben wurde, sucht Dionysos einen neuen Ort und „a way for people to recognize me“. Roth Costanzo adelt mit seinem Kurzauftritt und den weiteren Dracula-Erscheinungen als Stranger und Wolf Prince die 140minütige Oper The Lord of Cries mit dem Untertitel A tragedy for singers and orchestra des amerikanischen Komponisten-Doyens John Corigliano. Ein Musiktheaterstück, das ungeachtet seiner bombastischen Anforderungen ohne harmonische und melodische Experimente auskommt, den großen Chor und die Sänger relativ konventionell einsetzt und sich durch ausgereifte technische und handwerkliche Meisterschaft und einen gewissen Instinkt für Bühnensituationen auszeichnet.

Er wollte es nochmals wissen. Rund 30 Jahre nach der Uraufführung von The Ghosts of Versailles an der Metropolitan Opera, an deren Erfolg das damalige Star-Ensemble nicht unwesentlichen Anteil hatte, brachte John Corigliano 2021 in New Mexico seine von der Santa Fe Opera beauftragte zweite Oper heraus. Eine stolze Leistung des damals 83jährigen, der wie bei The Ghosts of Versailles, wo er sich großzügig bei Beaumarchais, Mozart und Rossini bediente, wieder nach europäischer Kultur- und Literaturgeschichte griff. Aus der verwegenen Verbindung von Euripides‘ Drama Die Bacchantinnen und Bram Stokers Dracula -Roman entstand das Libretto zu The Lord of Cries, geschaffen von seinem Komponistenkollege und Lebenspartner Mark Adamo, was an Barbers Zusammenarbeit mit seinem Partner Menotti bei Vanessa und Anthony and Cleopatra denken lässt.

Adamo erzählt, wie er auf die Idee kam, „I remembered Bram Stoker’s Dracula, which is to The Bacchae what Nahum Tate’s King Lear is to Shakespeare’s: that is, the same story, with only a falsely happy ending distinguishing the compromised copy from the terrifying original. Euripides admitted what Stoker repressed: the monster isn’t on the mountain, or in the city, but in the mirror. …I concluded that mapping Dracula onto The Bacchae could accomplish two things. By using only what the book shared with the play, I could strip away all the unnecessary Gothic kitsch of the novel. And because Stoker’s Victorian England is more familiar to today’s listeners than Euripides’s Thebes is, the opera could use the novel to make the themes of The Bacchae clearer than even the original play could“. Das klingt sehr viel diffuser als es letztlich ist. Die Melange aus Griechischer Klassik und angelsächsischer Schauerliteratur belässt es mit dem London in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Schauplatz, wo Stokers Figuren – mit gewissen Abweichungen gegenüber dem Roman – mit einem geheimnisvollen Fremden, dem in unterschiedlicher Gestalt auftauchenden Dracula, konfrontiert werden: Lucy Westenra ist mit Jonathan Harker verheiratet, Professor Abraham Van Helsing ist der Ratgeber des Irrenarztes John Seward. Dionysos terrorisiert London und fordert von Seward die Carfax Abbey, was dieser dreimal verweigert. Lucy, derweilen zwischen ihren Gefühlen zu Seward und ihrem Gatten, dessen Geist nach Reisen zum Dracula Schloss verwirrt ist, hin- und hergerissen, verweigert sich ebenfalls Draculas Drängen. Dracula bringt Seward dazu, in Trance einem Wolf den Kopf abzuschlagen. Der Wolf verwandelt sich in Lucy, und Seward hält Lucys Haupt in Händen. Nachdem Dionysos höhnte, „Now look at what you’ve done“ und der das gesamte Geschehen kommentierende Korrespondent der Westminster Gazette vom Ende des wahnsinnig gewordenen Doctor Seward berichtet, erhebt der Chor am Ende warnend seine Stimme, „And deny him not“.

Ein Jahr nach der Uraufführung reiste die nahezu gleichbleibende Erstbesetzung nach Worcester unweit von Boston, wo im November 2022 im prachtvollen neo-renaissance Saal der Mechanics Hall mit dem vielfach bewährten Boston Modern Orchestra Project, dem Odyssey Opera Chorus und dem ebenso bewährten und eminent vielseitigen Gil Rose die als world premiere recording angekündigte Aufnahme von The Lord of Cries entstand (2 CD Pentatone PTC 5187 008). Ebenso wie die gleichfalls bei Pentatone erschienen Ghosts unter James Conlon präsentiert die Lord of Cries-Aufnahme ein effektvolles Stück Musiktheater. The Lord of Cries ist gelegentlich ein heftiger Schocker voll extremer Kontraste, zirzensischer Instrumentalfeinheiten und greller Klangkombinationen, in dem Corigliano seine Sänger vorbildlich bedient, weniger mit Arien, wenngleich Arien und Duette Bestandteil der Partitur sind, sondern mit explosiven Szenen für Chor und Solisten und sorgfältig austarierte Ensembles. Mit seinem keuschen, kindlich reinen Countertenor überzeugt Anthony Roth Costanzo in den vielen Gestalten des Dionysos durch einen verführerischen Sphärenklang. Der markant smarte Bariton von Jarrett Ott als Seward, David Portillos gepflegter Mozarttenor als Jonathan und Matt Boehlers nobler Bass als Van Helsing sind ausgezeichnet als seine Gegenspieler, Kathryn Henry bleibt als Lucy auf dramaturgisch nicht unrechte Weise etwas farblos. Eindringlich der intensive, sing- deklamierende Tenor von William Ferguson als Zeitungskorrespondent. Rolf Fath

Ein Wort über uns

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Ein erboster Leser rügte uns kürzlich für das Wort „indogene Ureinwohner“, nannte uns rassistisch, kolonialistisch und AfD-nah. Ein anderer warf uns dieselbe Nähe zu jenen, aber auch eine zu Frau Wagenknecht vor, was natürlich absurd ist. Ein weiterer bezeichnete eine gut fundierte Kritik als „böswillig“! Das brachte uns doch zum Nachdenken darüber, wie schnell Menschen gegenwärtig sich nicht nur in der Wortwahl sondern auch im Argument vergreifen und wie dicht uns die respektlose, gemeine Sprache der sogenannten social medias gerückt ist. Sie beherrscht unseren Alltag, ob wir es wollen oder nicht. Wir haben manche beleidigende Zuschriften im Laufe der letzten Jahre bekommen, keine wirklich zum Zitieren. Beschimpft zu werden ist das Los jeder Tätigkeit in der Öffentlichkeit.

Aber wir haben uns entschlossen, uns nicht diesem Diktat der opportunistischen political correctness zu beugen. Wir gendern nicht, weil wir das absolut albern finden (der shitstorm naht) und an das schallende Gelächter unserer europäischen Nachbarn denken, deren Sprache und Mentalität gendern zum Abwinken finden (zumal sich das nicht ins Französische, Englische, Italienische oder in slawische Sprachen übersetzen lässt). Gendern macht die Sprache kaputt, Straßenumbenennungen unsere Kultur auch – ganz nebenbei gesagt. Information zur Diskussion zu liefern statt Geschichte auslöschen ist viel wichtiger. Auslöschen haben manche Regime versucht, das hat nichts gebracht. Unter der verbieterischen, politisch korrekten Oberfläche butterts weiter. Und diese Unbildung junger Polit-Kader geht einem älteren gebildeten Menschen akut auf die Nerven. Dies Wikipedia-Wissen reicht eben nicht, nicht einmal für Doktorarbeiten oder Lebensläufe (die dann auch noch geschönt sind – Sie wissen, wen ich meine).

Wir weigern uns auch in Kategorien des LGBT zu denken und zu schreiben, weil wir an die binäre Schöpfung und die wissenschaftlichen Begründungen dazu glauben und weder uns noch anderen einen sticker auf die Stirn drücken oder in eine Box einsperren lassen wollen. Wobei wirklich jeder nach seiner facon leben muss und soll, nur nicht auf Kosten des anderen. Und jeder muss für sich entscheiden können, wie er leben will. Sich ständig zum Anwalt des anderen zu machen, weil das eigene Leben nicht genügend hergibt (spricht noch jemand von Hong-Kong, das damals ein deutsches Bundesland zu sein  schien…?), ist für jenen demütigend und patronisierend.

Und wir halten an unserem Gründungs-Credo fest, unabhängig von herrschenden Dogmen und opportunen Wohlstandsblasen-Doktrinen eine fundierte, gelebte und eben individuelle Berichterstattung zu liefern. Berichten auf Grund des eigenen gelebten Hörens/Sehens. Nicht Vorgekautes weiter zu geben. Nicht dem hype aufsitzen. Eben eine eigene Meinung haben. Man muss uns ja nicht lesen. Niemand zwingt dazu. Aber wir denken, wir liefern Vorlagen für Meinungsbildung und Anregung, für Information im besten Sinn. Nicht ideologisierte Wahrnehmung. Geerd Heinsen

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Und ein PS. aus aktuellem Anlass. Ich finde diese ganze Affäre um Anna Netrebko zum Abwinken. Diese verzerrten, fanatischen Gesichter von Protestierenden, die nie in die Oper gehen und sicher vorher von der Frau noch nichts gehört haben, dafür beleidigende und inhumane Plakate hochhalten, die genau die Sprache der social media tragen … das erinnert mich sehr an die (auch meine) Tage der 68er, die aus ihrer Ideologie heraus zum Schluss buchstäblich über Leichen gingen. Sprache erzeugt Gewalt. Vorsicht! Und auch hier wäre Information besser als Kurzschlüssigkeit. G. H.

Biblisches aus der Küche

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Nach ihrer CD-Einspielung bei Erato im September 2021 verkörperte Joyce DiDonato die Rolle der Irene in Händels Theodora auch in einer szenischen Produktion des Oratoriums am Royal Opera House Covent Garden im Februar 2022. OPUS ARTE hat die Aufführung mitgeschnitten und auf einer Blu-ray Disc herausgebracht (OABD7313D). Regisseurin Katie Mitchell hat das Geschehen um die standhafte Christin Theodora im Römischen Reich ganz in die Gegenwart verlegt. Hier ist sie Angestellte in der Römischen Botschaft mit dessen Führer Valens, plant, diese zu zerstören. Schauplatz (Chloe Lamford) ist eine modern eingerichtete Küche, wo Theodora und Irene in roten Schürzen (Sussie Juhlin-Wallén) den Boden wischen und andere Arbeiten im Haushalt verrichten. Die Arbeit ist ein exemplarisches Beispiel für die zahlreichen Profanierungsversuche heutiger Regisseure. Gyula Orendt, eigentlich nicht auf Alte Musik spezialisiert, singt den Botschafter mit robuster, fast brutaler Tongebung. Während seines Airs „Racks, gibbets, sword and fire“ vergnügt er sich auf dem Tisch mit einer Angestellten – eine der vielen geschmacklosen Szenen in dieser Inszenierung. Auch bei seinem Air in Part II, „Wide spread his name“, rekeln sich leichte Mädchen in körperlichen Verrenkungen auf der langen Tafel. Stimmlich kann Jakub Józef Orlinski als Römer Didymus, der Theodora liebt, danach einen Kontrast schaffen mit seiner lieblichen Eingangsarie „The raptured soul“, auch wenn sein Counter oft einen jaulenden Beiklang aufweist. Am besten gelingt ihm das liebliche „Sweet rose and lily“ in Part II. Sein Freund, der römische Offizier Septimius, ist der Tenor Ed Lyon mit angenehm weicher Tongebung und stilistisch ganz der Tradition britischer Oratoriensänger verpflichtet. Die Titelrolleninterpretin Julia Bullock muss bis zur 3. Szene auf ihren Einsatz warten, kann dann aber bei „Fond, flattring world, adieu mit obertonreichem Sopran von schöner Fülle rundum überzeugen. Berührend ist ihr Solo „The pilgrim’s home“ im 2. Teil. Das folgende Duet mit Didymus, „To thee“,  bei dem sie ihre Kleidung tauschen, um Theodora die Flucht zu ermöglichen, und Didymus nun wie ein Transvestit im Fummel mit blonder Perücke daherkommt, lässt eine perfekte Verblendung beider Stimmen hören.

Joyce DiDonato wiederholt ihre Glanzleistung als Irene auf der Erato-Aufnahme und imponiert hier noch mit einer szenischen Darstellung von faszinierender Präsenz und packender Intensität. Gelegentlich, so gleich in ihrem ersten Air, „Bane of virtue“, riskiert sie auch derbe Akzente in Verismo-Nähe. Während Irenes Nummer baut Theodora an ihrer Bombe, unterstützt von den anderen Frauen. Irenes zweites Air, das gefühlsstarke As with rosy steps the morn, welches DiDonato betörend vorträgt, wird gestört durch Botschaftsangestellte, die die Frauen mit Pistolen bedrohen und fesseln. Darunter ist auch Septimius, der im an Koloraturen reichen Dread the fruits vehement auftrumpft und den zwiespältigen Charakter der Figur deutlich umreißt. Von ihm und den Sicherheitsleuten werden Theodora und Irene in einem Nebenraum erniedrigenden körperlichen Prozeduren ausgesetzt. Im zweiten Teil, der in ein Bordell mit roten Wänden und Table dance führt, tritt Theodora im silbernen Glitzerfummel und hellblonder Perücke auf, nun zur Prostituierten degradiert. Bedrängt von Septimius und gar in ein rotes Bett gedrängt, singt sie mit fiebriger Erregung „Oh, that I on wings could rise“.

Es musiziert das Orchestra of the Royal Opera House, also kein Originalklang-Ensemble. Aber mit Harry Bicket steht immerhin ein Spezialist für Barockmusik am Pult. Schon in der Overture setzt er markante Akzente mit flüssigem, Tempo betontem Spiel. Später trägt er die Sänger mit Verständnis und großem Einfühlungsvermögen, ohne dass sein Dirigat als reine Begleitung abzustempeln wäre.

Der Royal Opera Chorus (William Spaulding) singt engagiert und klangvoll, beschließt Part I mit dem feierlichen Go, genrous, pious youth, bei dem Didymus von Irene getauft wird. Am Ende von Part II singt er den Chorus  He saw the lovely youth, welchen der Komponist selbst noch über sein „Halleluja“ stellte. Und auch die letzte Nummer fällt dem Chor zu: „O love divine“ – zur erhabenen Musik sind der Schauplatz eines Schlachthofes mit aufgehängten Schweinehälften sowie die Bilder von Blut und Pistolen herbe Kontraste. Bernd Hoppe

Frauenpower

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Sollten etwa im Fahrwasser des mehr oder weniger eindringlichen Bemühens um die Gleichberechtigung der Frauen einschließlich Genderwahnsinns auch kaum oder gar nicht gewürdigte Komponistinnen zu Wort kommen bzw. zu Gehör gebracht werden? Gerade erschienen Auszüge aus den Schriften der englischen Musikerin Ethel Smyth, nun liegt eine CD mit Liedern der französischen Komponistin Cécile Chaminade mit dem Titel Saisons d’amour vor, die der Mezzosopran Katharina Kammerloher eingespielt hat. Gängige Meinung eines Teils der Musikwissenschaftler ist es, dass es einen weiblichen Mozart oder Beethoven nicht gibt, da Frauen daran gehindert wurden, ihr Talent, ja Genie zur Entfaltung zu bringen. Cécile Chaminade wurden keine derartigen Steine in den Weg gelegt, denn der Tochter aus wohlhabendem Pariser Hause wurde zwar nicht der Besuch des Konservatoriums gestattet, wohl aber der Privatunterricht in Komposition, Harmonielehre und Klavierspiel durch einige der renomiertesten Musiklehrer ihrer Zeit. Außerdem verkehrte im Salon ihrer Eltern das musikalische Paris. Bereits mit zwanzig Jahren trat sie öffentlich als Pianistin auf, sie war Mitglied der Société national de musique, die einige ihrer Werke aufführte, ihre Ballettmusik Callirhoe oder die opéra comique La Sévillane  und andere Werke erreichten eine gewisse Bekanntheit, und warum sie sich zunehmend der kleinen Form, Klavierstücken und Lieder, widmete, lässt sich nur vermuten. Tatsache aber ist, dass ihre Stücke nicht nur im Konzertsaal, sondern besonders häufig bei Veranstaltungen mit Hausmusik aufgeführt wurden, das Booklet zur CD berichtet von L’anneau d’argent, der 200 000 Mal gedruckt wurde. Chaminade konzertierte nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, ihre Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg nicht nur unter-, sondern abgebrochen. Noch bis 1944 lebte sie zurückgezogen in Monte Carlo.

Die seit vielen Jahren an der Berliner Staatsoper fest engagierte Katharina Kammerloher tat sich bereits des öfteren mit Liederabenden und Aufnahmen von Liedern hervor, und auch bei dieser CD zeigt sich die große Sorgfalt, mit der sie ihre Programme zusammenzustellen pflegt. So ergibt die Reihenfolge quasi eine Geschichte vom Erwachen der Liebe, dem Frühling, über Reifezeit und Welken in Sommer und Herbst bis hin zum Verlust, dem Winter. Die Texte stammen von zeitgenössischen Schriftstellern.

Bereits mit dem ersten Titel, Plaintes d’amour, fällt das schöne Ebenmaß der leicht androgyn klingenden Stimme auf, macht dem Hörer aber auch dir recht verwaschene, sich von Vokal zu Vokal hangelnde Aussprache zu schaffen. Schön wiegt die Stimme sich auf der Melodie, in Avril s’éveille überzeugt sie durch Frische und Beschwingtheit. Schön phrasiert wird in Fragilité, wo der beschriebene Zustand überzeugend vermittelt wird. Wie hingetupft wirken die Töne in Absence, bruchlos steigert sich die Sängerin, was die Lautstärke betrifft, während sie sich in  Sérénade Sévillana vom Rhythmus tragen lässt. Voll jugendlicher Beschwingtheit ertönt der Mezzo in Madrigal, energischer und entschiedener und zugleich dunkler in Mon coeur chante, in L Été herrscht flirrender Übermut. Feine Melancholie überschattet Madeleine, die weiche Wehmut der Stimme wird in Chanson naive vom Piano umspielt.

Auch in einem langen Track wie La Fiancée du soldat kann die Spannung gehalten werden, in Roulis des gréves bleibt die Sägerin der Grundstimmung treu und variiert doch zugleich. Ein sehnsüchtiger Ruf nach verlorenem Glück ist Le beau chanteur, mütterliche Klänge werden in Avenir angestimmt, und ganz zart und liebevoll erklingt  Jadis!.Infini gewinnt durch den Einsatz der Violine (Jiyoon Lee) noch an süßer Melancholie, einen schönen Jubelton gibt es für Portrait, und der durchweg einfühlsame Begleiter Johann Blanchard am Klavier zeigt hier noch einmal seine Qualitäten.

Das Booklet ist informationsreich in drei Sprachen und hilfreich durch die Liedtexte in Französisch und Englisch (MDG 908 2288-6). Ingrid Wanja   

Revolutionäres aus München

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2015 gab Jonas Kaufmann sein Rollendebüt als Titelheld von Giordanos Revolutionsdrama Andrea Chénier an der Royal Opera in London. Opus Arte hatte diese Produktion als DVD herausgebracht. Nun legt das Label Bayerische Staatsoper Recordings nach und veröffentlicht in Koproduktion mit Unitel einen Mitschnitt aus dem Münchner Nationaltheater vom Dezember 2017 mit dem deutschen Tenor und Anja Harteros, die hier ihr Rollendebüt als Maddalena gab (BSOREC 1004). Das „Münchner Traumpaar“ war also nach längerer Pause wieder vereint, was für einen Ansturm auf das Kartenbüro sorgte und am Ende der Premiere (12. 3. 2017) für euphorischen Jubel des Publikums.

Philipp Stölzl als Regisseur und Bühnenbildner (in Zusammenarbeit mit Heike Vollmer) hat die Szene in mehrere Räume auf verschiedenen Etagen unterteilt, was die Anmutung einer Puppenstube hat. Häufig laufen in einzelnen Kammern stumme Aktionen parallel zum eigentlichen Geschehen ab, was für Verwirrung sorgt und von den Hauptaktionen auch ablenkt. Zumeist agiert das hungernde, darbende Volk in der untersten Ebene. Nur beim Tribunal gehört die gesamte Szene der Volksversammlung und der Anklage. Die Kostüme von Anke Winckler orientieren sich an der Historie und bieten speziell für Maddalena originelle Kreationen und für die Hofschranzen rund um La Contessa di Coigny (Helena Zubanovich mit üppigem Mezzo) extravagante Rokoko-Roben.

George Petan eröffnet die Auftritte der Hauptpersonen mit Carlo Gérards „Compiacente a’colloqui“ und lässt einen kraftvollen, virilen Bariton hören. Im 3. Akt hat er mit seinem Monolog „Nemico della patria“ eine Glanznummer, die er mit expressiver Gestaltung und reicher Stimmfülle gebührend auskostet, was das Publikum entsprechend honoriert. Anja Harteros als Maddalena hat ihre große Szene im 3. Akt mit „La mamma morta“. Zuvor zeigt sie in der Auseinandersetzung mit Gérard eine solche Widerstandskraft, dass er sogar von ihr ablässt.  Die Arie beginnt sie mit visionärer Erinnerung und im Ton ganz zurückgenommen, steigert sie aber dann zu flammender Leidenschaft.

Dritter ist Jonas Kaufmann in der Titelrolle, der sich mit dem Auftrittsmonolog „Un dì all’azzuro spazio“ blendend einführt mit baritonal getöntem, sinnlichem Tenor und sogleich die Aufmerksamkeit von Maddalena (und natürlich auch des Publikums im Saal) erweckt. Glanzvolle Spitzentöne lässt er am Ende seiner Arie im 2. Akt hören. Sopran und Tenor vereinen sich erstmals im schwelgerischen Duett „Ecco l’altare“, das sich nach Maddalenas anfänglicher Verlegenheit und Intonationstrübungen des Tenors zu rauschhafter Lust steigert. Sein Solo im 3. Akt, „Sì, fui soldato“, ist geprägt von trotzigem Aufbegehren und enormem stimmlichem Einsatz. Die wehmütige Abschiedsstimmung von „Come un bel dì di maggio“ fängt er plastisch ein, muss lediglich am Schluss Zuflucht ins Forcieren nehmen. Davon ist auch das Schlussduett nicht ganz frei, doch überzeugt hier beider ekstatische Inbrunst.

Im 2. Akt setzen auch Rachael Wilson als Bersi und Tim Kuypers als Mathieu, der wie Joaquin Phoenix aus dem Film Joker daherkommt, markante Akzente. Im 3. Akt ist es Larissa Diadkova als reife Madelon mit ausladender Stimme, die mit ihrem Auftritt „Son la vecchia Madelon“ Erschütterung erzeugt.

Marco Armiliato am Pult des Bayerischen Staatsorchesters sorgt für Spannung und

Verismo-Stimmung. Auch der Bayerische Staatsopernchor (Stellario Fagone) bietet atmosphärische Momente – so im 1. Akt mit dem bukolischen „Passiamo la sera allegramente!“ oder dem aufgeheizten Finale des 3. Aktes nach Chéniers Verurteilung. Bernd Hoppe

Verdienstvoller Frieder Bernius

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Wie eine Art Wiedergutmachung an Johann Adolf Hasse mutet die höchst aufwändige Ausstattung der CD von seiner Oper L’Olimpiade an, nachdem es die Aufführung selbst in der Dresdner Semperoper nur verkürzt und als Matinee auf die Bühne brachte. Ein Sprecher unterrichtete das Publikum in deutscher Sprache jeweils über den Fortgang der Handlung. Es gibt nicht etwa ein knappes, sondern gleich zwei üppige Booklets, beide reich bebildert, das eine mit dem Librettto in Italienisch und Deutsch, das zweite mit dem Personenverzeichnis, mit  vielen zeitgenössischen Abbildungen einschließlich einiger Notenblätter, der Handlung und vieler Figurinen für die Uraufführung, die ebenfalls in Dresden und zwar 1756 stattfand. Kurzbiographien machen den Leser zudem mit den Sängern und anderen Ausführenden der vorliegenden Aufnahme bekannt.

Das Libretto stammt natürlich von Pietro Metastasio und vermischt Antikes mit Barockem bis Rokokohaftem mit der Geschichte vom peloponnesischen König Clistene, der nach der Geburt eines Zwillingspaares den Sohn Licida aussetzen lässt, weil ein Orakel verkündet hatte, dieser würde ihm nach dem Leben trachten. Bei den Jahre danach stattfindenden Olympischen Spielen setzt der König seine Tochter Aristea als Preis für den Sieger aus, der zudem sein Nachfolger werden soll. Aristea aber hat sich längst in den Athener Megacle verliebt, der sie aber wegen seiner Herkunft nicht heiraten darf. Bei seiner Flucht aus Kreta fällt er unter die Räuber, aus deren Händen er durch Licida gerettet wird, der seinerseits heimlich verlobt ist mit der Kreterin Argene, die Clistene heiraten soll und den Anfeindungen ihrer Familie durch die Flucht in ein Schäferleben entflieht. Licida will an der Olympiade teilnehmen, da er aber nicht gut genug vorbereitet ist, springt sein Freund Megacle für ihn ein und gewinnt. Daraus entstehen nun viele Verwicklungen, Eifersüchteleien, Racheschwüre, Wahnsinnsausbrüche und Selbstmordversuche, Todesurteile und damit Anlässe für virtuose Arien, ehe Priester und Volk verlangen, dass alle begnadigt und die jeweils einander Liebenden auch einander angetraut werden. Der strenge Glaube an die Erfüllung düsterer antiker Prophezeiungen wird durch eine Art barocken, die Konflikte lösenden Deus ex Machina abgelöst.

So sehr sich die Handlung in Extremen ergeht, so sehr ist die Musik, mit einigen im Booklet aufgeführten Ausnahmen, der in der Entstehungszeit wünschenswerten Gefasstheit der Personen verpflichtet. Den Artikel über die Musik Hasses im Booklet sollte man auf jeden Fall lesen.

Nach der Unterrichtung über deren Besonderheiten  kommt der Hörer in den Genuss eines entschiedenen Zugriffs der Cappella Sagittariana Dresden und des Kammerchors Stuttgart unter ihrem Dirigenten Frieder Bernius auf den schillernden Orchesterpart und die allerdings recht knappen Chorszenen. Die einzige „tiefe“ Stimme ist die des Tenors Christoph Prégardien, der den König Clistene geschmeidig singt, allerdings die Höhen recht farblos lediglich antippt. Die Königstochter Aristea erfährt mit dem Mezzosopran von Catherine Robbin die Vorzüge eines reicheren Farbspektrums und kann mit „Tu me da me dividi“ mächtig auftrumpfen, meistert  zudem die Intervallsprünge ohne Probleme. Dorothea Röschmann ist Argene und hat für diese, wenn die Handlung es erlaubt, einen schönen Jubelton, singt variationsreich, aber immer empfindsam und dabei sehr nachdrücklich. Recht weiblich klingt der verstoßene Licida von Randall Wong, weich und biegsam ist der Sopran mit zartem Glockenton. David Cordier ist Megacle mit koloraturgewandtem Sopran, etwas scharf in der Höhe und mit gewaltigen Bögen in „Superbo de me stesso“ prunkend, empfindsam im „Se cerca, se dice“. Der Countertenor Steven Richards singt den Haushofmeister Aminta und klingt bei „Insana gioventù“ gar nicht ältlich. Nach dem Hören dieser beiden CDs versteht man, warum Hasse zu seiner Zeit so äußerst beliebt war- und er hat auch das Zeug dazu, heute auf interessierte Zuhörer zu stoßen (Hänssler 3 CD PH21053). Ingrid Wanja

Alfredo Kraus

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Zur Ehre von Alfredo Kraus, aber auch Renata Scotto. Inzwischen nicht nur als eine mehr als verdiente Hommage für den spanischen Tenor Alfredo Kraus, sondern auch als eine Würdigung der italienischen Sopranistin Renata Scotto kann die Box mit zehn Opern-Gesamtaufnahmen gelten, die alle in den Fünfzigern und Sechzigern und abgesehen von Lissabon und Edinburgh auf  italienischen Bühnen oder in italienischen Studios entstanden, wobei die Scotto häufig als Partnerin von Kraus fungierte.

Im Herbst 1999 erwartete das Berliner Publikum den Edgardo des Tenors, und man war tief erschüttert von der Todesnachricht, obwohl bekannt war, dass der Verlust seiner Gattin, die wie seine Schwester die Gastspielreisen des Stars häufig begleitet hatte, ihn 1997 schwer getroffen hatte. Vergleicht man nun heute sein Repertoire in den Sechzigern mit dem der letzten Karrierejahre, fällt auf, dass sich Stimme und damit klugerweise auch Rollenwahl im Verlauf der Jahrzehnte nicht verändert hatten, dass ein Cavaradossi und wenige Rodolfos nur „Ausrutscher“ zu Beginn der Karriere und als Beförderung derselben stattfanden. Außer italienischem Belcanto auch der opera buffa sang Kraus noch viel Französisches wie Gounod und Massenet und kann gemeinsam mit Nikolai Gedda das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, den tenore di grazia  à la Tito Schipa der Opernwelt erhalten zu haben. Die glänzen zwar nicht durch vokales Feuer, durch Süße ( die Schipa hatte) und Farbigkeit, wohl aber durch eine sichere Extremhöhe, Helligkeit und ein ausgeprägtes Stilempfinden, welches Kraus im Verlauf der Karrierejahre, als die Stimme etwas an Biegsamkeit verlor, noch verfeinern konnte.

In den Sechzigern besticht auf allen 20 CDs die Gleichzeitigkeit von vokaler Frische und ausgefeilter Technik, zudem sind die Dirigenten und die Partner durchweg hoch zu schätzende, bei den Sopranen außer der Scotto Maria Callas in der berühmten Lissaboner Traviata, Mirella Freni, Gianna D’Angelo und Teresa Stich-Randall. Interessant ist auch die Bekanntschaft mit Cherubinis wenig bekannter Oper Ali Baba.

Alfredo Kraus mit Maria Callas in der Lissabonner „Traviata“ 1957/ Foto Warner

Gleich zweimal ist Verdis Rigoletto vertreten, 1960 mit einer Studioaufnahme unter Gianandrea Gavazzeni und mit Scotto, Bastianini, Vinco und Cossotto und 1961 aus Triest unter Molinari-Pradelli und mit Aldo Protti in der Titelpartie. Bei der Studioaufnahme glänzen alle Mitwirkenden durch eine vorzügliche Diktion, der Tenor durch die helle, durchdringende Stimme, die viel Brio in „Quest`e quella“ investiert, sich rubativerliebt gibt, ironisch klingen kann und für „La donna è mobile“ viel slancio einsetzt. In der Arie verrät die Stimme nicht ihren leichten Charakter und kann doch heldisch klingen, zärtlich gibt sich das Rezitativ, energisch-elegant klingt die Cabaletta. Scottos Gilda geht alles Soubrettenhafte ab, sie ist keinen Takt lang naiv, sondern lieblich mädchenhaft und dominiert „Bella figlia d’amore“. Bastianini ist natürlich eine Wucht nicht nur in der Vendetta, Vinco hochmusikalisch und Cossotto lässt bereits das Ausnahmetimbre vernehmen.

Bereits nach wenigen Monaten Karriere war Kraus Partner der Callas in Traviata, von der man nicht weiß, ob sie die Ursache für das Fehlen der Cabaletta des Tenors war, der jedoch nur Gutes und Angenehmes über die Zusammenarbeit mit ihr zu berichten wusste. Jedenfalls scheinen beide Stars aneinander zu wachsen, sie zunächst verhalten, er bebend vor Leidenschaft, mit schönem Schwellton am Schluss der Arie. Ein Geheimnis scheint „misterioso“ zu umschweben, der Spitzenton ist spektakulär. Mario Sereni ist der Padre mit tränenumflorter Provenza.

Recht störend macht sich zunächst il maestro suggeritore bei Rossinis Il Barbiere di Siviglia aus dem Neapel von 1958 bemerkbar, in dem Aldo Protti sich als vokaler Kraftmeier gebärdet, Kraus umso aristokratischer wirkt und la Scotto verspielt-zärtlich „una voce poco fa“ feiert.

Alfredo Kraus und Renata Scotto in „Faust“ 1970 in Tokio/Legato

Es bleibt komisch mit Donizettis Don Paquale von 1963 und eine Radioaufnahme ( mit ausführlicher Ansage )aus Edinburgh unter Alberto Erede. Leuchtend, flüssig, elegant ist der Ernesto von Alfredo Kraus, sein „Sogno soave e casto“ hört sich genau so an, und pure Poesie ist „Cercherò lontana terra“. Einen lüsternen Pasquale singt Fernando Corena, von keuscher Koketterie ist die Norina von Gianna D’Angelo, und es fehlen natürlich nicht die halsbrecherischen Duette von Pasquale und Renato Capecchi als Dottore.

Zweimal ist Vincenzo Bellini vertreten, einmal mit La Sonnambula mit Scotto und Vinco in Venedig 1961 unter Nello Santi, wo zunächst das Publikum präsenter ist als die Musik. Aussetzen könnte man auch, dass Kraus, obwohl dies kein Problem für ihn gewesen wäre, nicht die Originalfassung singt, aber trotzdem begeistert er durch eine feine vokale Linie, durch ein souveränes Spiel mit der unendlichen Melodie von „Prendi..“, hochpoetisch und durchaus dem Publikum mit ausgehaltenen Spitzentönen Zucker gebend. Sanft geflutet wird der Sopran von Renata Scotto, entrückt wirkt sie in der Schlafwandlerszene, ihre Pianissimi sind anbetungswürdig. Von schönem dunklem Ebenmaß ist der Bass von Ivo Vinco, der einige Jahrzehnte später mit seinem Neffen Marco Vinco die Partie für das Teatro Sociale di Mantova, wo Alberto Zedda dirigiert, einstudiert.

Renata Scotto und Alfredo Kraus in „La Sonnambula“ in Florenz 1963/ Foto RTM

Einer der ganz wenigen Tenöre, die einen wirklich hochklassigen Arturo in Bellinis I Puritani singen konnten, war sicherlich Alfredo Kraus, der außer mit Mirella Freni wie hier auch mit Christina Deutekom und Montserrat Caballé die Partie einspielte. Die Aufnahme von 1962 stammt aus der Heimatstadt des Soprans, Modena. Ihre Elvira fasziniert durch kindlich hingetupfte Koloraturen, eine unterhörte Reinheit des Klangs und ist hochpoetisch. Sie leuchtet über den Ensembles. Kraus stellt die unerhörten Acuti seiner Partie so wirkungs- wie geschmackvoll aus, die scheinbare Mühelosigkeit seines Singens übt eine nie wieder erlebte Faszination aus. Etwas altmodisch, wenn auch hochpräsent wirkt der Bass von Raffaele Arie, eine sichere Bank war natürlich Attilio D‘Orazi als Rivale des Tenors. Das Orchester aus Modena klingt unter Nino Verchi zunächst wie eine schlecht gestimmte banda musicale, gewinnt aber zunehmend an Format.

Die letzte und von Anfang bis Ende ihres Entstehens mit Pech verfolgte Oper Luigi Cherubinis war Ali Baba, die zunächst einen chinesischen Mandarin zum Helden haben sollte, deren Libretto mehrfach umgeschrieben wurde und die eigentlich nur zwei  Arien, die des Tenors im 1. und die des Soprans im 3. Akt enthält. Ali Baba ist hier der Vater des verliebten Soprans, die Kraus-Rolle die ihres Liebhabers. Teresa Stich-Randall singt zart, innig und rein mit schönem Triller, Kraus textverständlich und unnachahmlich raffiniert-elegant. Seine Spitzentöne werden vom Publikum in  Mailand angemessen honoriert. Dort entstand auch 1961 eine italienische Aufnahme der Perlenfischer mit Pia Malgarini und Giuseppe Taddei.

Es begann mit Lucia di Lammermoor, für die Alfredo Kraus im September 1999    in Berlin vergeblich erwartet wurde, es endet mit Lucia di Lammermoor, die er 1963 in Florenz unter Bruno Rigacci sang, mit Renata Scotto, Sesto Bruscantini und Paolo Washington.  Von Anfang an tragisch umflort klingt die Lucia der Scotto, hochvirtuos ihre Wahnsinnsarie; hell, straff, elegant, vollkommen unangestrengt präsentiert Kraus beispielhaften canto elegiaco und macht die Kassette mit 20 CDs zum erwünschten Begleiter auf die einsame Insel (Pan Classics 10449). Ingrid Wanja

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Alfredo Kraus im Kostüm des Werther/ Publicity Foto Warner/EMI

Dazu fand sich in unserem Archiv ein historisches Interview, das Ingrid Wanja 1995 mit dem Tenor in Wiesbaden machte:

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Eines der großen Wunder der Gattung Oper ist für mich die Glaubwürdigkeit einer sechzigjährigen Butterfly, eines eben- so alten Romeo. Gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen? Es ist das Wunder, das sich dank der Phantasie des Zuschauers vollzieht. Es ist das Wunder des konventionellen Thea­ters, bei dem ja die Kulissen bemalte Pappe sind; d. h., schon die Szene ist nicht Realität, sondern braucht die Phanta­sie des Zuschauers, um zum Leben zu erwachen. Der Film konnte etwas Gleichartiges nie erreichen, denn er gibt die Wirklichkeit wieder und lässt den Zuschauer passiv bleiben. Im Theater hingegen muss der Zuschauer selbst kreativ sein. Der Zauber der Sängerstimme hilf ihm dabei, dass sich das Wunder des Theaters, die Imagination, vollziehen kann.

Fast alle Tenöre haben früher oder später Probleme mit der Höhe. Wie gelingt es Ihnen, sich die sicheren Spitzentone zu erhalten? Ich glaube, dass ich mir die sichere Höhe durch zweierlei bewahrt habe: Einmal ist es natürlich ein physiologischer Aspekt; dazu kommt das Wissen um die richtige Technik. Es reicht nicht, dass ein Sänger seine Stimme entdeckt und entwickelt, sie muss ihm seine ganze Karriere hindurch quasi als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bewusst  sein. Er muss auf jeden Entwicklungsschritt reagieren, ja ihre Entwicklung bestimmen. Ich glaube, ich habe beides, die angeborene Leichtigkeit der Höhe und das Wissen darum, wie ich sie mir bewahren kann.

Heutzutage hört man von den sogenannten großen Tenoren „Che gelida manina“ fast nur noch transponiert, was denkt ein Tenor, der die letzte Szene des Edgardo stets in Es-Dur singt, über diese Kollegen? Ein Sänger sollte nie eine Rolle singen, die er nicht durchgehend in tono bewältigt. Erreicht er die Extremhöhe einer Partie nicht, dann ist es die falsche Rolle fur ihn. Wer das hohe C nicht hat, sollte den Rodolfo nicht singen.

Und die vieler Orts zu hoch gestimmten Orchester sind keine Entschuldigung? Nein, die Differenz ist minimal, nur wenige Frequenzen, und rechtfertigt kein Transponieren. Besser ware es fur den Sänger, sich das Repertoire zu suchen, bei dem keine Manipulationen notwendig sind.

Finden Sie es richtig, vom Komponisten nicht geschriebene, aber traditionell gesungene Höhen zu eliminieren? Damit bin ich nicht einverstanden. Die sogenannte traditionelle Aufführungspraxis ist im Verlauf der Zeit zur Norm geworden. Ein „La donna è mobile“ ohne Spitzenton ist dem Publikum heute nicht zuzumuten. Diese zusätzlichen hohen Töne sind sehr kurz nach der Entstehungszeit der Werke schon hinzugefügt und von den Komponisten oft schon bei den Proben, die sie selbst geleitet haben, toleriert worden. Wenn eine Arie auf ein effektvolles Finale hin komponiert ist, mit einem Crescendo im Orchester, dann ist der Spitzenton für die menschliche Stimme etwas so Natürliches wie das tutti für das Orchester. Die Komponisten haben ihn gern geduldet, wenn ein Sänger dazu in der Lage war.

Haben Ihrer Meinung nach die Cabaletten, zum Beispiel in Rigoletto und Traviata, einen Sinn im musikalischen und szenischen Kontext? Einige haben einen Sinn, andere wurden nur geschrieben, weil es der musikalischen Tradition entsprach. Ich finde, dass die Cabaletta des Duca nach „Parmi veder le lacrime“ dem Gesamtbild von der Figur nichts hinzufügt. Sie macht die Gestalt nicht komplexer, erklärt dem Publikum nichts. Außerdem ist sie im Vergleich zur Arie musikalisch nicht so wertvoll. Hingegen finde ich, daft die Cabaletta des Tenors in Traviata bedeutender ist, weil sie eine neue, sehr wichtige Seite des Alfredo zeigt. Er wird sich seiner und Violettas Situation bewusst, und er macht in  der Cabaletta dieses Reifen der Persönlichkeit deutlich. Vom Psychologischen, aber auch vom Musikalischen her ist diese Cabaletta also durchaus gerechtfertigt.

Meistens macht die Stimme eines Tenors eine Entwicklung durch, die vom Rodolfo zum Manrico oder gar Otello, von Donizetti zu Verdi führt. Ihre Stimme ist über Jahrzehnte die gleiche geblieben. Liegt das in der Natur lhrer Stimme, oder haben Sie bewusst daran gearbeitet? Eine Entwicklung macht wohl jede Stimme durch, aber häufig verlieren sich damit wichtige Vorzüge wie etwa die leichte, selbstverständlich erscheinende Höhe zugunsten der Ausbildung des mittleren Registers. Häufig geht Entwicklung auf Kosten des Timbres. Ich für meinen Teil denke, dass  Volumen nicht Qualität, nicht das berühmte „Metall“ bedeutet. Ich habe es vorgezogen, die Qualität meiner Stimme zu konservieren, statt Volumen zu gewinnen. Volumen bedeutet fur sich genommen überhaupt nichts. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, in meinem Repertoire zu bleiben und alle Partien zu meiden, die eine gewisse Anstrengung fur die Stimme erfordert hatten, denn das hätte zwangsläufig eine Einbuße an Qualität und den Verlust der Höhe zur Folge gehabt. Ich kann mit Stolz behaupten, dass ich ein Repertoire gewählt habe, in dem ich so gut wie einzigartig bin. Ein Sänger sollte ein Zeugnis für die Zukunft hinterlassen. Ich hinterlasse es in diesem Repertoire, in dem ich mich fast perfekt fühle. Absolute Perfektion existiert natürlich nicht, aber wenn man von Rossini bis Puccini alles singen will, kommt man ihr nicht einmal nahe. Ich ziehe es vor, die Nummer Eins auf einem beschränkten Gebiet zu sein.

Ist es Ihrer Meinung nach heute (1995) noch möglich, eine Karriere nach dem Muster der Ihrigen zu machen? Es ist sicherlich schwieriger, denn wir wurden noch bessergeleitet. Es gab noch wirkliche Operndirigenten, die die jungen Sanger betreuten und ihre Entwicklung förderten, die sie davor zurückhielten, ungeeignete Partien zu singen. Während der Proben vermittelten sie den Sängern, wie man ein Rezitativ singt, wie man im richtigen Stil singt, gaben viele wichtige Ratschläge in Bezug auf Technik, aber auch auf Interpretation. Die heutigen Dirigenten sind reine Orchesterdirigenten. So sind die jungen Sänger auf sich selbst gestellt, und das macht natürlich alles viel schwieriger.

Alfredo Kraus und Mirella Freni in „Manon“ an der Scala 1970/ Archivio storico Teatro alla Scala

Man musste früher unbedingt in der Provinz beginnen, an kleinen Theatern, mit weniger anspruchsvollen Partien. Man musste sich zwischen einzelnen Auftritten ausruhen. Aber die Sänger lassen sich heute keine Zeit, sie haben es eilig, Karriere zu machen, sofort viel Geld zu verdienen, berühmt zu werden. Aber um eine solide Basis für eine Karriere zu haben, muB man langsam vorangehen, sonst ist man schnell physisch und psychisch am Ende.

Gibt es eine einzige richtige Art zu singen, eine alleinseligmachende Art, Gesang zu studieren? Für mich persönlich: Ja. Ich betrachte meine Stimme als Instrument, das ich nur in perfekter Art und Weise benutzen will. Dafür gibt es nur eine einzige angemessene Technik des Singens. Die richtige Gesangstechnik wiederum ist eine durchaus exakte Wissenschaft mit eindeutigen Methoden.

Die Autorin: Ingrid Wanja/ I. W.

Das ist das Problem, denn viele Lehrer verstehen nichts von ihrem Metier. Sie richten sich nach ihrer Intuition, und das ist absolut unwissenschaftlich. Sicherlich haben die Sänger alle mehr oder weniger eine Stimme und eine gewisse Gesangstechnik. Auch ein Sänger mit falscher Technik kann  – und nicht nur fur wenige Jahre – Karriere machen, wenn die Stimme robust genug ist. Wenn einer eine schöne Stimme hat, kann er so ohne weiteres berühmt werden. Ein Instrument von einem so großen Zauber wie die menschliche Stimme kann auch ohne eine perfekte Technik fur eine gewisse Zeit die Menschen in ihren Bann schlagen.

Was bedeutet fur Sie Perfektion? Ja, was ist Perfektion? Etwas, das es nicht gibt. Es existiert nur das Streben nach Perfektion. Es ist das Streben in uns, immer besser zu werden, das Bewusstsein, dass das Beste von heute schon das nicht mehr Akzeptierbare von morgen ist. Es ist das Ziel, das wir nie ganz, aber immerhin teilweise erreichen werden. Und das gibt schon eine große Genugtuung und den Ansporn, sich weiter zu vervollkommnen. Ingrid Wanja (1995; Dank auch an Wolfgang Denker für die Archiv-Arbeit)

Loy allerorten

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Das kann er. Gesellschaftsszenen inszenieren. Bis in die Nebenfiguren raffinert ausgeleuchtet mit Augenaufschlag und Fingerschnippen, erotische Annäherungen abseits des Hauptgeschehens. Das hatte Christof Loy im strahlend hellen Einheitsraum für Salome gerade in Helsinki demonstriert, als er die Szene anschließend im Mai 2022 im marmorschweren dunklen, selbstverständlich von Johannes Leiacker entworfenen Jahrhundertwend- und Art Deco-Ambiente für Schrekers Schatzgräber in Berlin als Abendgesellschaft abwandelte. Loy ist ein Schatzfinder, wo manchmal nur Tand verborgen ist. Das ist meist vorhersehbar brillant, so in dieser Aufführung an der Deutschen Oper, wo Loy u.a. Schrekers ebenso erfolgreichen und ebenso lange vergessenen Kollegen Korngold mit dem Wunder der Heliane gehuldigt hatte – ebenfalls bei Naxos auf DVD verfügbar wie die Berliner Francesca da Rimini von Zandonai. Korngold und Schreker hatten mit Die tote Stadt bzw. Der Schatzgräber die größten Opernerfolge des Jahres 1920 geliefert. Zeitgleich mit dem Schatzgräber (Blu-ray Naxos NBDO173V) kam ebenfalls bei Naxos die bereits Ende 2018 am Theater an der Wien erarbeitete Euryanthe heraus (DVD 2.110656). Im Gegensatz zum Schreker, den ich in Straßburg gesehen hatte, wohin er noch im Herbst 2022 als französische Schatzgräber-Erstaufführung wanderte, blieb die Euryanthe auf Wien beschränkt. Das rätselhafte Märchen vom fahrenden Spielmann Elis, dem „Schatzgräber“, der mit seiner Wünschelrute den Schmuck der über den Verlust depressiv gewordenen, dekorativ drapierten Königin wiederbeschaffen soll, wird von Loy in seinem psychologisch verästelten Salonstück elegant umschifft. Den Schmuck hat die junge Els, eine manipulative Frau und Mordanstifterin, deren Verführungskunst die Männer fast reihenweise zum Opfer fallen und die am Ende nur der Narr vor dem Schafott retten kann. Elis, der eine wunderhafte Liebesnacht mit ihr erlebt und sich von ihr abgewendet hatte, singt sie in den Tod. Dreh- und Angelpunkt ist Schrekers rauschhafte Musik, die Marc Albrecht mit dem Orchester der Deutschen Oper großräumig und süffig, doch nie entfesselt erklingen lässt. Als bodenständige Servierkraft kann Elisabet Strid als Els kühle Ekstasen entwickeln, wohingegen ihr die Zartheit des Schlafliedes schon ein wenig Mühe bereitet, überzeugender ist ihr schwedischer Landsmann, der große Daniel Johansson in der nicht minder strapziösen Titelpartie als Elis. Das große Ensemble nutzt seine Möglichkeiten sich in der Abendgesellschaft zu profilieren, wobei sich alle lauernd umschleichen, elegant posieren, smart im Smalltalk zuneigen, anzügliche Nähe aufbauen: darunter Clemens Bieber als Kanzler, Gideon Poppe als Schreiber, Patrick Cook als Albi, Michael Adams als Graf, Thomas Johannes Mayer als Vogt, Tuomas Pursio als König. Loy verliert keinen aus dem Blick, auffallend gleich zu Beginn Seth Caricos mindestens so locker spielender wie singender Junker. Ausgezeichnet Michael Laurenz als sympathischer rührender Narr, dem die Herzen zufliegen.

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Bemerkenswert rund, saftig in den Holzbläsern und weich in den Streichern erklingt bereits die Ouvertüre zur Euryanthe, wobei Constantin Trinks mit den ORF Symphonie-Orchester den warmherzigen Ton beibehält, der sich offenbar im nicht allzu großen Theater an der Wien so vorteilhaft entfaltet. Wie auch die vielen markanten Chöre mit dem Arnold Schönberg Chor. Ähnlich groß war das nur wenig jüngere Kärntnertortheater, wo im Oktober 1823 die Uraufführung der Großen romantischen Oper Euryanthe stattgefunden hatte. Man muss sich nicht erneut über Helmina von Chézys Librettos auslassen, das im Übrigen, da hat Christof Loy vollkommen recht, nicht übler als viele andere ist. Staunen darf man jedes Mal erneut, wenn man, selten genug, diese Oper hört, die man unwillkürlich in einen Zusammenhang mit dem Lohengrin setzt. Aber, auch da hat Loy recht, „man wird dem Stück nicht gerecht, wenn man ihm nur in einen musikhistorischen Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zukommen lassen will. Eine Wertschätzung muss doch auch möglich sein, ohne auf das voraus zu blicken, was dann noch kommt“. Mit seinem ziemlich guten Ensemble ließ Trinks im Dezember 2018 die Musik wirken, während Loy in dem außerordentlich tiefen weißen Raum von Johannes Leiacker mit vier tiefen raumhohen Fenstern auf der einen Seite, einem Flügel in der Mitte und einem Eisenbett auf der anderen Seite, fern von französischem Mittelalter des 12. Jahrhunderts schöne Bilder zu den mal mehr oder weniger eingetrübten Seelenlandschaften kreiert. Die Damen in 50er-Jahre Ensembles, die Herren kommen in feschen Anzügen und Stiefeln, zur Jagd-Saison im dritten Akt mit Janker und kurzen Lederhosen, die böse Eglantine im langen roten Kleid. Erlesen. Geschmackvoll. Die Nachkriegssituation, „Ein langer Krieg ist zu Ende“, wird szenisch nicht aufgegriffen. Lysiart begehrt Euryanthe, die ihrerseits Adolar liebt, von dem sie wiedergeliebt wird. Adolar wird von Eglantine begehrt. Ein schiefes Liebesquartett im bürgerlichen Salon. Das fiese und gemeine daran ist, dass die finsteren Lysiart und Eglantine ihre Lüste und Wünsche perfide ausspielen und die arglose Euryanthe der Untreue beschuldigen. Unverschuldet wird Euryanthe mit einem Makel versehen. Die Intrige wirkt besonders perfide, da bei Loy die Protagonisten im Raum anwesend sind, wenn von ihnen gesprochen wird. Der weite weiße Rock und das schwarze Oberteil der Titelheldin könnten etwas trutschig wirken, wozu auch der Text von Euryanthes Cavatina „Glöcklein im Tale“ passt, aber Jacquelyn Wagner macht aus der damenhaft distanzierten Tugendstatue mit der Perlenkette eine moderne junge Frau, deren Geliebter verändert aus dem Krieg zurückkehrt, die plötzlich den grabschenden Händen der Männer ausgesetzt ist und dann noch die Kraft für das reichlich weichgezeichnete Happyend („Hin, nimmt die Seele mein“) findet. Wagner vermittelt das fast glaubwürdigt, ist mit ihrer unermüdlich strahlenden Jubel-Stimme und dem ausgezeichneten, vielversprechenden jugendlich-dramatischen Sopran geradezu ideal. Ganz Ausdruck und Emphase ist Theresa Kronthaler, sie singt die barfüßige Eglantine mit rundem, höhenstarkem Mezzosopran, aber auch harschen Ausdruckstönen, vielfach mit einer Spur Überforderung und Hysterie. Beider großes Duett im ersten Akt bleibt langweiliger als es sein müsste. Norman Reinhardt hat in den Partien, die er zu Beginn seiner Karriere sang, eine gewisse Beweglichkeit gezeigt, doch sein weißer Tenor wirkt in der Höhe nicht frei, wobei Adolars Romanze „Unter blühnden Mandelbäumen“ auch kein dankbarer Auftritt ist, singt sich dann aber bis zum Hochzeitsfest frei. Andrew Foster-Williams ist stets ein lockender Singdarsteller, der sich zunehmend das dramatische Bösewichtfach erobert, auch wenn es ihm nicht wirklich liegt, und der sich nicht scheut nackt über die Bühne zu laufen, was er dann auch als Jochanaan in der erwähnten Salome als Lustobjekt der Gesellschaft ausgiebig machte. Foster-Williams macht Lysiart zur faszinierendsten Figur der Oper und fesselt vom ersten Auftritt an, als Verführer, heimlich Liebender, der sich in seiner Szene zu Beginn des 2. Akts nackt der schlafenden Euryanthe nähert, und letztlich als Retter der Beschuldigten; das ist das reiche Psychogram eines schutzlos Liebenden, gezeichnet mit vibrierend expansivem Bariton, der seine Schwärze aus der scharfen Artikulation erhält. Rolf Fath