Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Lieder meines Urgroßvaters 

.

Was für eine großartige Entdeckung: Viele Jahre lang hatten einige Lieder-Manuskripte des Schweizer Komponisten Willy Heinz Müller in den Regalen der Urenkelin, der Sängerin Mélanie Adami, Staub angesetzt. Erst während der Corona-Pandemie fand sie endlich die Zeit, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Und siehe da: Die Manuskripte entpuppten sich als wahrer Schatz! Nun hat Adami die Werke ihres Urgroßvaters auf CD bei Propero) aufgenommen (dazu unsere Rezension). Ein Herzensprojekt – und die weltweit erste Aufnahme dieser Werke. Darüber sprach sie mit Ruth Wiedwald für operalounge.de

.

Was waren die entscheidenden Momente in Ihrer Kindheit, die Sie dazu gebracht haben, Sängerin zu werden? Als Vierjährige bekam ich meinen ersten Violinunterricht bei meiner Großmutter. Ab sieben Jahren folgte der Klavierunterricht. Zuhause hatten wir nur drei Schellackplatten, und die konnte ich in- und auswendig. Eine davon war «Die Zauberflöte». Mit fünf sagte ich: «Wenn ich groß bin, werde ich die ‚Königin der Nacht‘ singen.» Nach meinem Stimmbruch – ja, Mädchen haben das auch – kam ich allerdings nicht mehr ganz so hoch hinauf, aber Sopranistin bin ich trotzdem geworden. Vor allem hat mir die Bühne gefallen. Ich hatte das Glück, in der Schule jedes Jahr ein Stück aufführen zu können, Texte auswendig zu lernen und auf der Bühne zu stehen. Mit 17 durfte ich dem Theaterchor in St. Gallen beitreten und in «Faust» von Gounod singen. Ich habe die Theaterluft förmlich aufgesogen, mir einen Klavierauszug zum Geburtstag gewünscht und die CD gekauft. Jeden Takt kannte ich in- und auswendig, und während der Aufführungen stand ich am Bühnenrand neben dem Inspizienten. Dort wurde ich von David Maze und Inva Mula gefördert, die mich ermutigten, Gesang zu studieren, und mir auch meinen ersten Gesangsunterricht gaben. Als ich bei einer Theaterführung die Gelegenheit hatte, auf einer großen Bühne zu stehen und in den leeren Saal zu schauen, habe ich in mich hineingefühlt: «Kann ich diesen Raum mit meiner Präsenz füllen, und will ich das?» Da habe ich die Entscheidung getroffen, Sängerin zu werden.

.

Wann und wie haben Sie zum ersten Mal die Kompositionen Ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller entdeckt? Es war im Frühjahr 2020, als alles stillstand und meine Konzerte gerade abgesagt wurden. Ich saß auf dem Boden meines Musikzimmers, und mein Blick fiel auf eine Kiste mit einem Stapel Noten, den ich nie genauer angeschaut hatte. Diese Noten hatte ich schon einige Jahre, nachdem ich sie von meiner verstorbenen Großmutter bekommen hatte, aber sie hatte nie etwas darüber erwähnt. Der Stapel bestand aus Liedern und Duetten, von denen die meisten gar nicht mehr verlegt werden. Darunter befanden sich auch unvollendete und fertige Arrangements für Streichorchester, alle mit der Unterschrift meines Urgroßvaters. In einem Couvert stand in Omas Handschrift: «Lieder von Willy Müller».

.

Wie sind Sie bei der Recherche und Sammlung der Werke von Willy Heinz Müller vorgegangen? Zuerst habe ich die Werke transkribieren lassen und ein Notenbuch erstellt, damit ich sie einem Pianisten vorlegen konnte, um sie richtig zu hören und zu lernen. Danach habe ich mit der Pianistin Judit Polgar die Lieder erarbeitet, und wir haben sie gemeinsam kennengelernt. Im Frühjahr 2023 konnte ich die Schweizer Musikhistorikerin Verena Naegele für das Projekt begeistern. Ihr verdanke ich die schönen Texte im Booklet und auf der Homepage. Vor allem hat sie Willys Leben und seine Liedkompositionen so sichtbar gemacht und in einen Kontext eingebettet. Die gemeinsame Recherche mit Verena in den Archiven war nicht nur spannend, sondern gibt auch ein interessantes Zeitbild ab.

.

Mélanie Adami, Äneas Humm und Judith Polgar: «Vergessene Lieder, vergessene Liebe», Lieder von Müller, Dohnányi, Ries, Hildach und Gotze bei Prospero/ Foto Peggy Meese

Was waren die schönsten Momente während der Arbeit an diesem Projekt? Eine Idee hörbar zu machen und zum Leben zu erwecken, war unglaublich. Am letzten Aufnahmetag, nach dem letzten Lied «Ich habe gegraben», sind die Emotionen über mich hereingebrochen. Es hat mich tief berührt, wie eine musikalische Idee auf Papier 100 Jahre lang warten konnte, bis sie wieder mit Leben gefüllt und hörbar wurde.

.

Haben Sie eine persönliche Lieblingskomposition auf der CD, und wenn ja, warum? «Ich habe gegraben» hat eine besondere Melancholie und wunderschöne Gesangslinien, die mich sehr berühren. Auch «Erkenntnis» liegt mir sehr am Herzen, aber eigentlich sind mir alle Lieder ans Herz gewachsen, und ich freue mich schon darauf, sie bald wieder singen zu dürfen.

.

Wie würden Sie den musikalischen Stil und die Kompositionen Ihres Urgroßvaters beschreiben? Die Kompositionen sind sehr textnah. Wenn die Sterne aufgehen, spiegelt sich das auch in der Musik wider. Der kleine Mensch, der beschrieben wird, wird sichtbar, und man erkennt, wie groß er sein möchte. Drei Takte später schwebt man schwerelos im All. Alles ist sehr einfühlsam und detailliert.

.

Wie hat dieses Projekt Ihre Sichtweise auf Ihre eigene künstlerische Arbeit und Ihren musikalischen Weg beeinflusst? Meine Herangehensweise an ein neues Stück hat sich definitiv verändert. Ich verbringe viel mehr Zeit am Klavier, um die Harmonien und die gesamte Komposition zu erfassen, anstatt nur meine Gesangslinie zu lernen. Was meinen musikalischen Weg betrifft, so kann ich das nicht genau sagen, da sich in den vier Jahren seit dem Lockdown ohnehin ein großes „Crescendo“ entwickelt hat. Ich bin musikalisch erwachsen geworden und viel selbstsicherer. Dieses Projekt hat definitiv einen großen Einfluss darauf gehabt.

.

Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, die Lieder Ihres Urgroßvaters zu interpretieren und aufzuführen? Ich wollte die Musik meines Urgroßvaters so authentisch wie möglich interpretieren, was natürlich auch einen gewissen Druck erzeugt hat. Aber mir war klar, dass ich sie in einem Jahr oder in fünf Jahren vielleicht anders singen und verstehen werde. Es ist ein dynamischer Prozess, und ich hoffe sehr, dass auch andere Musikerinnen und Musiker diese Lieder für sich entdecken und interpretieren werden. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie das geschieht.

.

Warum sind Ihnen die Lieder Ihres Urgroßvaters so wichtig, und was möchten Sie mit deren Aufführung erreichen? Da bin ich sehr pragmatisch – ich denke, diese Lieder haben mich aus einem bestimmten Grund gefunden. Sie sind nicht dazu bestimmt, im Kantonsarchiv zu verstauben oder nur gesammelt zu werden. Sie wollen wiederentdeckt werden, und ich habe diese Aufgabe angenommen. Wer weiß, vielleicht berühren sie jemanden. Vielleicht berührt die Geschichte jemanden und vielleicht bewegt es auch jemanden dazu, seinen eigenen Wurzeln nachzugehen oder noch schöner: Zeit mit den Großeltern und Eltern zu verbringen, ihnen Zeit schenken und sie einfach erzählen zu lassen.

 .

Hat die Entdeckung der Lieder Ihres Urgroßvaters Ihre Verbindung zu Ihrer Familiengeschichte verändert oder vertieft? Ja, auf jeden Fall. Wir wussten nur sehr wenig über Willy, aber jetzt hat er eine Geschichte bekommen, Gefühle, und Gründe, warum er zum Beispiel nach St. Gallen kam und dort lebte. Ohne ihn gäbe es mich gar nicht. Danke, Willy!

.

Sehen Sie musikalische oder thematische Einflüsse Ihres Urgroßvaters in Ihrer eigenen Arbeit? Ja, ich glaube schon. Das Wienerische und Ungarische spüre ich in mir, genauso wie die Liebe zur Operette – ich darf bald die «Gräfin Mariza» singen – aber auch zur ernsten Musik. Vielleicht auch die philosophische oder spirituelle Denkweise. Es wäre fantastisch gewesen, mit ihm gemeinsam Musik zu machen.

 

Inwiefern fühlen Sie sich mit den melancholischen Themen und der spätromantischen Musiksprache Ihres Urgroßvaters verbunden? Planen Sie, die Lieder Ihres Urgroßvaters regelmäßig in Ihr Repertoire aufzunehmen? Damit fühle ich mich sehr verbunden. Und ja, ich werde einige davon bestimmt in mein regelmäßiges Repertoire aufnehmen. Aber nicht alle Lieder passen in jeden Liederabend. Mit Judit Polgar und Verena Naegele haben wir ein Liederprogramm zusammengestellt, das die Lieder meines Urgroßvaters in die Musikgeschichte einbettet. Es ist ergänzt durch Werke von Mahler, Lehár, Ries und Tischhauser.

.

Wie haben Sie die Werke der Zeitgenossen ausgewählt, die auf der CD zu hören sind? Die CD erzählt auch eine Geschichte. Die Lieder von Franz Ries, die schon meine Ur-Ur-Großmutter gesungen hatte, führen uns zurück in die Zeit. Der wunderbare Bariton Äneas Humm und ich singen auch Lieder von Dohnányi, unter dem Willy Violine im Orchester spielte. Die drei Duette sind Funde aus Willys Notenarchiv – übrigens, mit Ausnahme der Lieder von Dohnányi, sind es alles Weltersteinspielungen. Es sollte eine Verbindung geben und eine Geschichte erzählen, die Willy in der Musikgeschichte verankert.

.

Wie hat Ihr Publikum auf die Lieder Ihres Urgroßvaters reagiert? Die Reaktionen waren natürlich sehr schön, aber das hat auch viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, die ebenfalls mitschwingt. Jetzt bin ich gespannt, wie das Publikum und die Hörer auf die Lieder reagieren. Das Echo in den Medien war jedenfalls sehr interessiert und positiv, was mich – und hoffentlich auch Willy – freut. Ruth Wiedwald./ Fotos Peggy Meese

Auf Abwegen

.

Was tun, wenn man als Tenor der Welt und darüber hinaus natürlich der Nachwelt seine Stimme vorstellen bzw. erhalten will? Zum hundertsten Mal La donna è mobile und Nessun dorma auf eine CD bannen? Gerade in letzter Zeit gab es eine Fülle solcher Aufnahmen, die auch auf Operalounge ihre Spuren hinterlassen haben. Da gebe es aber noch das Ausweichen auf Canzoni und Populäres aus dem spanischen und  südamerikanischen Raum, von dem die jüngste CD von Jesús Leȯn kündet. Oder aber man besinnt auch auf besonnte Kindheitserinnerungen als begeisterter Hörer und Jugenderinnerungen als Mitglied einer Band und wendet sich der Musik seiner Kindheit zu, so dokumentiert von Gregory Kunde.

Seine dritte CD nach einer mit populärer Musik, betitelt Respiro im Jahre 2012 und einer solchen mit Belcanto ebensolchen Titels im Jahre 2015 legt der Mexikaner Jesus Leon nun eine dritte mit Passione vor, auf der viele spanische bzw. südamerikanische und wenige italienische Canzonen zu finden sind. Die drei Tenöre sollen seine Vorbilder sein, und populärer als mit Besame mucho, dem absolut meistgespielten Titel in spanischer Sprache, kann man kaum beginnen, für den der Sänger ein süffig viriles Timbre einsetzt, zarte colpi di glottide kaum vermuten lässt und mit diesem ursprünglich aus einer Oper stammenden Titel einen angenehmen Einstand findet. Amaneci otra vez wird den Ohren schmeichelnd gesungen, wobei die Stimme von Orchesterwogen quasi umspült wird. Aus dem Rumbarepertoire stammt Amapola, die Mohnblume, von Nino Rota aus La Strada der folgende Titel, und verinnerlicht wird Te espero von Guzman dargeboten. Nicht zuletzt das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Toby Purser sorgt dafür, dass das unverzichtbare Granada rhythmisch straff und raffiniert dargeboten wird, ehe man zum unverzichtbaren Paolo Tosti mit A vucchella übergeht, dem Ergebnis einer Wette um das Vermögen, als aus den Abruzzi Stammender Neapolitanisches zustande zu bringen. Nicht die allseits bekannte, sondern eine von E.A. Mario stammende ist die hier zu hörende Santa Lucia, nach Argentinien zurück geht es mit Ay,Ay, Ay, über Mexikos „zweite Nationalhymne“ Cielito lindo schließlich zu Te quiero von Serrano, das Anlass für das Präsentieren einer strahlenden Höhe sein kann. Von zärtlicher Intimität ist Tostis Non t’amo più, hier im Vergleich zu italienischen Interpreten mit leichter Schärfe in der Stimme. Der italienische Teil fällt also etwas ab im Vergleich zum südamerikanischen, besonders im abschließenden Non ti scordar di me vermisst man die Dolcezza (Rubicon 1122).

.

Sollte die CD Then and now einen neuen Karriereabschnitt für den amerikanischen Tenor Gregory Kunde einläuten, dann wäre es der dritte, wenn nicht der vierte, denn nach einer glänzenden Karriere mit Rossini einschließlich dessen Otello und einer akzeptablen mit Verdi und Co einschließlich ebenfalls des Otello wendet er sich nun der Musik zu, die er als Knabe aus der Jukebox vernahm und als Heranwachsender selbst ausübte. Fotos auf der CD-Hülle zeigen einen blonden Jungen, allerdings beim Grillen, aber auch einen nunmehr Siebzigjährigen im Aufnahmestudio, wo wahrscheinlich die neueste CD unter Mitwirkung  von Piano, Bass, Saxophon Trompete, Posaune und Schlagzeug entstand.

In eine schummerige Bar, ein Glas mit Hochprozentigem in der Hand, fühlt sich der Hörer versetzt, wenn ihm zu Ohren kommt, was der kleine Gregory als Hörer, der Halbwüchsige als Ausübender im „Then“ genoss und nun im „Now“ wieder aufleben lässt. Das ist Josef Myrows You make me feel so young, das eher baritonal als tenoral klingt, Gershwins Our love is here mit vorzüglicher Diktion, geschmeidig  vorgetragen, so wie auch Millers  For once in my live unagestrengt die Stimme in die Höhe klettern lässt. Kommunikativ und wie beiläufig gesungen klingt My kind of town, Atmosphäre schaffend, Time after time profitiert vom Einsatz des Saxophons, und Where or when fordert auch einmal zur Nachdenklichkeit auf. Insgesamt erfordern die Stücke nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hörers, sondern faszinieren auch durch die Beiläufigkeit, mit der sie dargeboten werden, gestatten sich hin und wieder das Abdriften in Frivolität oder Sentimentalität wie Can’t take my eyes off you. Die Instrumente umspielen die Stimme zärtlich in How do you keep the music playing, und I left my heart in San Francisco beweist, dass Heidelberg einen ernst zu nehmenden Rivalen hat. Schmusesängergeschmeidigkeit erfordert und erhält When i fell in love von Victor Young, die populäre Funny Valentine von Rodgers gefällt durch die Vermittlung einer Leichtigkeit des Seins, die uns gerade abgeht (Delos DE 3606). Ingrid Wanja        

Spyridon Samaras: „Tigra“

.

Umfangreich und tiefgründig hat sich operalounge.de bereits mit dem griechischen Komponisten Spyridon Samaras, insbesondere mit seinem Opernschaffen, befasst. Nun ist bei Naxos noch der erste Akt seiner unvollendet gebliebenen Oper Tigra veröffentlicht worden, zusammen mit nach der Rückkehr des  Komponisten in sein durch zwei Balkankriege 1912/1913 von den Osmanen befreites Heimatland entstandenen Songs of Victory in griechischer Sprache und einem Konzertstück, einer Chitarrata.

Spyridon Samaras, Benakis Museum Athen/Samara-Archive

Das Booklet befasst sich in griechischer und englischer Sprache mit der Geschichte der unvollendeten Partitur, die es dem Dirigenten Byron Fidetzis verdankt, dass sie überhaupt zur Aufführung gelangte, in italienischer Sprache, in der das Libretto vorlag, und mit bulgarischen Kräften, abgesehen vom abschließenden  Orchesterstück, das von Schülern einer Musikschule Korfus musiziert wird.   

Die Oper heißt Tigra, ein orientalischer Frauenname, und auf dem Cover räkelt sich eine schöne Odaliske mit Wasserpfeife auf einem Diwan. Im vorhandenen ersten Akt spielt diese Tigra nur eine recht untergeordnete Rolle, ist die Gefährtin des Tenors, der sich blitzschnell in die venezianische Maria, Gespielin aus vergangenen Kindheitstagen, verliebt, so dass der erste Akt und damit das vorhandene Material mit seinem einsamen Liebesgeständnis „Testimone m’è la notte odorosa“ endet. Nun kann der erfahrene Opernfreak natürlich vermuten, dass es mit viel Eifersucht und Ränken, in denen auch ein bisher nur kurz einmal aufgekreuzter Bariton eine Rolle spielt, weitergeht, mit Konflikten zwischen Christentum und Islam, denn besagte Tigra zeigte sich bereits widerspenstig beim Abendgebet.  Vielleicht ist ihre Rolle auch gar nicht so bedeutend, wie der Titel vermuten lässt, denn der Komponist äußerte, dass die Oper eigentlich Maria heißen müsste,  diesen Namen zu gebrauchen, er sich aber scheue. 

Samaras, der zunächst unter französischem Einfluss stand, in Paris auch Anerkennung fand, so soll ihn Gounod nach der Aufführung der Chitarrata begeistert umarmt haben, wandte sich bald Italien und dem italienischen Verismo zu, wovon Tigra mit mediterraner Daueraufgeregtheit und geschmeidigem Melodienfluss Zeugnis ablegt. Byron Fidetzis hat mit dem Sofia Amadeus Orchestra einen vollmundig begleitenden Klangkörper zur Verfügung, der Sofia Metropolian Golden Voices Mixed and Children’s Choir unter Sofia Bardarska lässt die frommen Gesänge wohltuend erklingen. Ein Auftritt bulgarischer Sänger ist selten ein enttäuschender, und so kann auch der Sopran Lenia Safiropoulou mit zarter Lieblichkeit, sanft aufblühend, rein und klar, erfreuen. Mit ebenmäßig koloriertem, geschmeidigem Mezzosopran macht Marissia Papalexiou auf mehr Tigra-Auftritte neugierig, Maria Vlachopoulou ist die herb mahnende Donna Palma, Angelo Simos‘ Tenor hat für den Adoaldo eine solide Mittellage angenehmen Timbres, solide scheint der im 1. Akt kaum auftretende Dionysios Sourbis die Baritonlage zu vertreten, in der sich der Brana beweg, recht grummelig ist der Old Sailor von Dimitri Kavrakos. Sehr schön musiziert werden die beiden Interludes.

Für die heroischen Gesänge auf Texte von Georgios Drosinis hat man mit dem Mezzosopran Vavara Tsambali eine angemessen vollmundige, weich und geschmeidig ihre Stimme einsetzende Interpretin gefunden und die Chitarrata ist an mitreißendem Schwung kaum zu überbieten (Naxos 8.574358.). Ingrid Wanja 

.

.

Wie Ingrid Wanja oben anführt, haben wir uns bei operalounge.de viel um griechische Opern und namentlich um Spyros Samara gekümmert (namentlich seine Opern Rhea, La Biondinetta, La Mademoiselle de Belle-Isle/Naxos und La Martire). Er und sein Vorgänger Pavlos Carrer haben ganz entscheidend zur Installation von Oper in Griechenland beigetragen, im Zuge der Befreiung von den Osmanen zuerst auf den Inseln und dann auf dem Festland.

Niemand hat sich mehr Verdienste um die Wiederbelebung und Anerkennung von der Griechischen Oper in moderner Zeit verdient gemacht als der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis, der zahllose Opern ausgegraben, ediert, vervollständigt und aufgeführt hat. Die inzwischen leider eingegangene griechische Firma Lyra hatte viele seiner Werke herausgegeben (die weitgehend bei youtube zu hören sind), zahlreiche Konzerte und Aufführungen tragen seine Handschrift. Jüngst stellte er, wie bei youtube nachzusehen/-hören, Samaras´ Lionella vor (dazu später ein Artikel bei uns). Und als neueste Nachricht: Die Oper Medge wird demnächst nach der kürzlichen Uraufführung komplett bei youtube erscheinen.

Eines seiner Lieblingsprojekte war Samaras´ Tigra, unvollendet und zum damaligen Zeitpunkt vom Material her möglich ergänzt/ediert auf der Naxos-CD verfügbar. Fidetzis hatte bereits vorher einen Artikel zu seiner Entdeckung von Samaras´ Tigra verfasst, den wir nun (in unserer Übersetzung) nachstehend wiedergeben. Danke Maestro Fidetzis!  G. H.

.

.

Foto von Samaras mit Widmung 1913/ Samaras Archive/Lyra

Byron Fidetzis: Wege zu Samaras Tigra. In der zweiten Hälfte des Jahres 1983 gab es zwei Ereignisse, die ich als Wiederbelebung von Samaras‘ Werk bezeichnen würde.
Das erste ereignete sich irgendwann zu Beginn des Herbstes im Haus des großen griechischen Komponisten George Sicilianos in der Lykavitos-Straße 1.
Ich erinnere mich, dass Sicilianos in seinem Arbeitszimmer saß und allgemein über griechische Komponisten sprach. Als wir auf das Thema Samaras und seine verlorenen Werke kamen, zeigte Sicilianos auf die Straße, die man von seinem Fenster aus sehen konnte, und sagte: „In dem Wohnblock, den du dort drüben sehen kannst, Byron, in der Alexandros-Soutsou-Straße, lebte Samaras‘ Witwe. Dort muss auch sein Archiv aufbewahrt worden sein. Wenn Sie den Hausmeister fragen, der jetzt in einem bestimmten Alter sein sollte, kann er Ihnen sicher einige Informationen geben.“
Ich ging zu dem Haus und fand den Hausmeister. Er sagte mir, dass die Person, die den Besitz von Samaras‘ Witwe geerbt hatte, ihre Nichte war, Nena Michelaki, die in der Spefsippos-Straße 4 in Kolonaki lebte.
Das als Kolonaki bekannte Viertel in Athen hat sich historisch gesehen als eine Art „Fundgrube“ für Werke der neugriechischen Literatur erwiesen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Dort gelang es mir, Werke von Komponisten wie Riadis, Lavragas, Varvoglis, Petridis, Lialios und Skalkotas auszugraben. 1983 waren auch die Werke von Samaras hier zu finden.
Die verstorbene Nena Michelaki war eine liebenswürdige Persönlichkeit des alten Athener Bürgertums. 
Samaras‘ Archiv war ziemlich umfangreich. Nicht so sehr in Bezug auf das musikalische Material, sondern eher in Bezug auf die Informationen, die es über das Glück dieser musikalischen Werke nach dem Tod ihres Schöpfers enthielt. Unter den wenigen Musikstücken befanden sich auch die handschriftlichen Kurzpartituren der Oper mit dem Titel „Tigra“ sowie das maschinengeschriebene Libretto von „Corriere della Sera“, das in einem Umschlag steckte. Nach einem kurzen Durchblättern kam mir plötzlich der Gedanke, dass dieses Werk eines Tages orchestriert werden könnte. Abgesehen von einigen erwarteten Auslassungen und Streichungen, die ich entdeckte, schien das meiste (zumindest für ein geschultes Auge) klar genug und im Großen und Ganzen ziemlich effektiv, um die Absichten des Schöpfers zu vermitteln. Ich behielt eine Fotokopie des Manuskripts und um sicherzustellen, dass ein so wertvolles Archiv nicht verloren geht, überzeugte ich Frau Michelaki, es zusammen mit Samaras‘ Schreibtisch im Benaki-Museum zu hinterlegen. Der Schlüssel für die Schreibtischschublade wurde versehentlich verlegt, aber als ich ihn Jahre später in einem kleinen Umschlag fand, gab ich ihn Irene Geroulanou, damit sie ihn wieder an seinen Platz zurücklegte.

Das zweite Ereignis, das 1983 stattfand und die jüngste Wiederbelebung von Samaras‘ Werken markierte, war die Zustimmung, die ich für einen bestimmten Vorschlag erhielt, den ich den damaligen Verantwortlichen des Korfu-Festivals unterbreitet hatte: K. Nikolakis – Mouhas und S. Bogdano sowie dem damaligen Direktor des Kulturministeriums, Herrn N. Zoroyiannidis. Sie alle stimmten schließlich einer Konzertaufführung von „Rhea“ während des Korfu-Festivals im September 1984 zu.

Somit stellt das Jahr 1983 aus zwei Gründen einen historischen Meilenstein für Samaras und seine Werke dar. Erstens, weil wir es geschafft haben, den Ariadnefaden zu finden, dem wir später folgen würden, um an die vollständigen Partituren der größten erhaltenen Werke des Komponisten zu gelangen. Zweitens, weil wir 1983 den Grundstein dafür legten, dass diese Werke später die Ohren und (was am wichtigsten ist) das Bewusstsein ihrer natürlichen Empfänger erreichen konnten: das Publikum.

Spyridon Samaras: Terrazzo negli appartamenti di Medgè, bozzetto di Carlo Ferrario per Medgè (1887) – Archivio Storico Ricordi ICON012212/Wikipedia

Eine Weile später – etwa 1987 – wandte ich mich an einen alten Freund meines Vaters (über die Hellenic Broadcasting Corporation), um Unterstützung bei der Orchestrierung von „Tigra“ zu erhalten. Es handelte sich um George Platon (1910–1993), den brillanten Pianisten, Komponisten und Musiker, mit dem ich bereits 1984 bei der Wiederaufnahme von „Rhea“ zusammengearbeitet hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte G. Platon bereits Josef Mastrekinis (1892–1903) Oper „Eleasar“ (1889) orchestriert, deren vollständige Partituren bei einem Brand zerstört worden waren. Die Klavier- und Gesangsnoten waren jedoch zusammen mit einigen von Totis Karalivanos aufgenommenen Auszügen gerettet worden. Platon, der sich als Komponist weigerte, sich harmonisch weiter als die Form von C. Franck zu entfernen, lehnte die Orchestrierung von „Tigra“ höflich ab. Er betrachtete es dennoch als ein überwiegend „modernes“ Werk. Daher erklärte er sich zumindest bereit, „Tigra“ neu zu lesen, indem er es klar und deutlich niederschrieb und gleichzeitig seine Interpretation aller unleserlichen Stellen lieferte. Platon füllte auch die wenigen fehlenden Teile der Harmonie aus den Takten aus, die Samaras harmonisch exponiert oder in Kurzschrift geschrieben hatte. Dies gelang ihm, indem er sich auf einen vergleichbaren (in der Regel früheren) musikalischen Übergang bezog. Er führte auch eine nicht poetische, aber äußerst nützliche Übersetzung des Librettos der Oper durch.

Spyridon Samaras: Ricca sala nel castello d’Orèbro, bozzetto di Carlo Ferrario per Flora Mirabilis (1886) – Archivio Storico Ricordi ICON012152/Wikipedia

Seitdem sind viele Jahre vergangen, in denen ich die meisten der als Partitur verfügbaren Werke des Komponisten aufgeführt habe: „Rhea“ 1984, „La Martyr“ 1990, „La Biondinetta“ 1995, „Mademoiselle de Belle-Isle“ 1995, „Epinikia“ 1987 usw. Durch diese praktische Verbindung mit einigen der bedeutendsten Opern aus Samaras‘ Ära („Cavaleria“, „Pagliacci“, „Manon Lescaut“, „La bohème“, „Tosca“, „Butterfly“ usw.) gelang es mir, mich mit dem Stil dieser Zeit vertraut zu machen, zumindest was die Orchestrierung betraf. Ich weiß nicht, warum, aber im Juli 2009 hatte ich dieses unkontrollierbare Verlangen, intensiv an „Tigra“ zu arbeiten, um es zu orchestrieren. Ich erinnere mich, dass ich am 15. Juli ein Konzert im Odeon des Herodes Atticus mit dem Athener Staatsorchester gab und dann gleich am nächsten Tag in die Region Argiraiika in Pilion aufbrach, wo ich mich auf „Tigra“ konzentrierte. Trotz der unvermeidlichen kleinen Unterbrechungen arbeitete ich ziemlich intensiv und schaffte es, einige Monate später, am 20. Dezember, die vollständigen Partituren der Oper vor mir zu haben.

Ich muss übrigens auch erwähnen, dass ich um das Jahr 2000 herum die Kopie, die Platon angefertigt hatte, meinem bulgarischen Kopistenkollegen gegeben hatte, der daraus eine Klavier-Gesangsausgabe erstellte, die für jede Form der Aufführung von unschätzbarem Wert ist. Nach einer gründlichen Überprüfung und einem ständigen Vergleich mit Samaras‘ Archiv wurde diese Klavier-Gesangsausgabe zur Grundlage, auf der Solisten und der Chor die Oper einstudierten. Die Übertragung der vollständigen Partituren und Orchesterstimmen in einen Computer wurde von einem jungen Komponisten namens Antonis Anestis durchgeführt. Antonis arbeitete unglaublich hart daran, diese anspruchsvolle und komplexe Aufgabe zu bewältigen, und ich denke, dass das Endergebnis die Mühe rechtfertigt, die wir beide in dieses Projekt gesteckt haben.

Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“ hatte auch in Deutschland nach der italienischen Uraufführung 1905/Genua Verbreitung, hier ein Theaterzettel zu einer Würzburger Aufführung als „Gabrielle von Belle-Isle“ in Deutsch/ Würzburger Theaterzettel

Ich habe die Uraufführung dieses Werkes dem Orchester meiner geliebten Heimatstadt anvertraut – dem Staatlichen Symphonieorchester Thessaloniki. Die Uraufführung fand am 29. April 2010 in der Athener Konzerthalle im Rahmen des sechsten Zyklus der Griechischen Musikfeste statt. Ich möchte diese Gelegenheit ergreifen, um all den Menschen zu danken, die hart daran gearbeitet haben, Samaras‘ Meisterwerk zum Leben zu erwecken – und auch für meinen Beitrag. Sie alle haben ihr Bestes gegeben, und dafür bin ich ihnen wirklich dankbar.
Diese Studie ist dem Andenken an Christos Dimitri Labrakis (1934–2009) gewidmet, einem großen Liebhaber und Förderer der griechischen Musik.

.

Im Wesentlichen: „Tigra“ gehört als Werk zu Samaras‘ reifer Schaffensphase. Meiner Meinung nach verkörpert dieses Werk den Triumph eines großen Meisters des lyrischen Theaters und der Komposition. Dank der Recherchen von George Leotsakos können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es zwischen 1908 und 1911 geschrieben wurde. Stilistisch ist es seinem unmittelbaren Vorgänger mit dem Titel „Rhea“ (uraufgeführt 1908) sehr ähnlich. Die in diesen beiden Opern verwendete Musiksprache unterscheidet sich deutlich von der frühen Verismo-Sprache, die „Martire“ (1984) charakterisiert, und noch mehr von der typisch romantischen Sprache, die in „Flora Mirabilis“ (1886) zu finden ist. Nachdem Samaras nach und nach viele Elemente des modernen französischen lyrischen Dramas in eine einzige, sich stetig weiterentwickelnde Sprache (die sich durch einen romantischen Charakter und eine Ästhetik sowie eine Orientierung an der Verismo-Bewegung auszeichnet) integriert hatte, leitete er einen neuen Trend ein. Während er diesen neuen Trend entwickelte, assimilierte und vermischte er funktional viele griechische kirchliche und traditionelle (auch als demotisch bekannte) Teile. Dieser Trend sollte die ideologischen (wie auch technischen) Grundlagen für die Entstehung der Griechischen Nationalen Musikschule einläuten und legen. Die besondere Beziehung der Franzosen zum Orient – eine Beziehung, deren Überreste sich auch in der außergewöhnlichen Neigung zum musikalischen Orientalismus finden, der die Musik des 19. Jahrhunderts kennzeichnet – war für Samaras ein Anlass zum Nachdenken und eine Quelle intellektueller Anregungen. Ich bin sicher, dass dieser eigentümliche Orientalismus in der französischen Musik eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Samaras‘ kreativen Anfängen spielte – d. h. die Grundlagen, auf denen der Komponist sein Klanguniversum aufbaute.

Spyridon Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“: Der Bariton Antonio Paoli sang den Richelieu in der Uraufführung von 1905 in Genua/ OBA

Da seine Psyche sowohl auf der Insel Korfu während der Blütezeit der Ionischen Musikschule als auch im postrevolutionären Athen (einer Zeit, in der sich in Griechenland eine romantisch-wissenschaftliche nationale Ideologie herauszubilden begann) geprägt wurde, bewahrte Samaras die Vorstellung des „Griechischen“ als das wichtigste – und vor allem existenzielle – Element in seinem Werk. In diesem Sinne erinnert Samaras an Komponisten wie Händel oder Meyerbeer, die sich eine Reihe von Elementen aus verschiedenen europäischen Musikschulen aneigneten und diese kreativ verarbeiteten, um so allmählich ihren eigenen persönlichen Stil zu entwickeln. Für mich ist das vorherrschende französische Element in den Werken von Samaras in seiner harmonischen Sprache zu finden. Die ausgefeilte und bemerkenswert persönliche Harmonik des Komponisten ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen ihm und seinen italienischen Kollegen, mit denen er in ihrem eigenen Land konkurrierte, die er aber gleichzeitig als Basis für seine Karriere wählte. In seinen Werken finden wir eine Reihe innovativer Harmonien, selbst in denen, die er in seinen Anfängen komponierte. Doch selbst die kühnsten harmonischen Resonanzen, die wir in seinen früheren Opern finden, werden in seinen Werken eher dazu verwendet, seine harmonische Sprache „aufzupeppen“, als dass sie als Hauptbestandteil fungieren. Im Gegensatz dazu offenbart die innovative harmonische Sprache, die in „Rhea“ und „Tigra“ verwendet wird, einen Charakter, der durch verschiedene kühne Akzente bereichert wird, die dank ihrer systematischen Verwendung die funktionale Rolle der Definition von Samaras‘ reifem Stil übernehmen. Die Mischung dieser kühnen harmonischen Akzente mit einer Reihe von Kirchentonarten und einer Ganztonskala schafft oft die verführerische Atmosphäre eines umfassenderen musikalischen Orientalismus.

Auf diese Weise wird dieser orientalistische Stil nahtlos in die allgemeine Sprache integriert, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Eindruck entsteht, dass in der Harmonie ein Fremdkörper existiert. In beiden Werken, die seine kompositorische Reife ausmachen, schafft Samaras musikalisch Kontraste zwischen Ost (dem Orient) und West (dem Okzident), die alle im Namen der dramatischen Wirkung stehen. In „Rhea“ wird der Kontrast zwischen Ost und West beispielsweise auf einer oberflächlichen Ebene durch die Wahl der (typisch) griechischen Charakternamen im Gegensatz zu den westlichen Namen symbolisiert. Auf der theatralischen Ebene scheinen die Charaktere durch die Wahl ihrer Kleidung visuell kontrastiert zu werden. Die tieferen dramatischen Kontraste zwischen Wahrnehmungen oder Ideologien werden uns durch den Einsatz von Musik präsentiert. Samarastakes nutzt diese Gelegenheit voll aus und überträgt dem Publikum die Rolle, an seinen kreativen Ansätzen und innersten Gedanken zum Hauptthema seiner Epoche teilzuhaben: dem griechischen musikalischen Ausdruck. In ähnlicher Weise wird in „Tigra“ der Kontrast zwischen Ost und West auf allgemeinere Weise dargestellt, da das Herkunftsland der Heldin in der gleichnamigen Oper nie eindeutig definiert wird.

Samaras: Olympische Hymne aus „Rhea“/ Wikipedia

In diesem Fall besteht einer der tieferen Zwecke der Verwendung von Musik nicht darin, sich nur auf die musikalische Skizzierung einer bestimmten Figur zu konzentrieren, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. Vielmehr geht es darum, durch den Einsatz von Musik eine ferne und traumhafte Welt zu vermitteln: einen geliebten, aber für immer verlorenen Osten. Das rätselhafteste Element dieses undefinierbaren Ostens wird durch die Verwendung des typisch orthodoxen Hymnus mit dem Titel „Christos Anesti“ nachdrücklich hervorgehoben – wenn nicht sogar noch verstärkt. Die Verwendung dieser Hymne während des musikalischen und theatralischen Höhepunkts der Oper stellt eine morphologische Entdeckung dar, die durch ihre Positionierung im Zentrum des Aktes ein Gleichgewicht zwischen dem vorangehenden theatralisch bewegten Abschnitt voller Intensität und dem nachfolgenden statischen Abschnitt von geringerer Intensität und idyllischem Charakter, der die Oper abschließt, herstellt.

.

Ein interessantes Element, das sich durch die Entwicklung von Samaras‘ Schaffenskraft zieht, ist der Einfluss der französischen Musikschule auf die Orchestrierungsfähigkeiten des Komponisten. Seine solide, sichere und konservative Herangehensweise an das Komponieren in Kombination mit seiner Art, Instrumentalklänge zu verwenden und zu organisieren, spiegelt eine klassisch klingende Ästhetik sowie die italienisch klingenden Standards von Xindas und Stancampiano wider. Darüber hinaus können wir auch die theoretischen Konzepte griechischer Komponisten wie Matzaros und Katakouzinos in Samaras‘ Werk erkennen. Dies deutet darauf hin, dass all diese Komponisten während der Studienzeit des jungen korfiotischen Komponisten am Athener Konservatorium eine führende Position in der Theorie und Praxis innehatten. Gleichzeitig scheint die praktische Erfahrung, die Samaras als Geiger durch die Teilnahme an verschiedenen Athener Orchestern in dieser Zeit sammelte, seine instrumentale Denkweise nicht (zumindest nicht in einem definitiven Sinne) bereichert zu haben.

Die Gründe dafür sind zum einen das begrenzte Repertoire dieser Orchester und zum anderen das fragwürdige Niveau ihrer professionellen Musikstandards. Ich glaube daher, dass sein unmittelbarer Kontakt mit der Französischen Musikschule und ihrem Orchestrierungsstil ebenfalls ein Schlüsselfaktor für die endgültige Gestaltung seines persönlichen Klanguniversums war. Ich denke, dass ein Hinweis auf die Art der Beziehung, die Komponisten zu Wagner haben – und mehr noch für Opernkomponisten aus Samaras‘ Zeit –, eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des wagnerschen Einflusses auf Samaras‘ eigenes kreatives Schaffen ist. Auf allgemeiner Ebene lässt sich dieser Einfluss in dem Kontakt erkennen, den der Komponist mit den vorherrschenden postwagnerischen Musik- und Theaterkonzepten hatte, in die er sich nach und nach und auf natürliche Weise vertiefte. Ein Beweis dafür ist die Verwendung des Leitmotivs und sein allmählicher Widerstand gegen die Verwendung von Strukturformen, die als autonom und nicht voneinander abhängig definiert sind (wie Arien und verschiedene phonetische Ensembles). Auch die erweiterte Bedeutung, die der Rolle und Größe eines Orchesters beigemessen wird, ist ein Beweis dafür. Es scheint jedoch, dass Wagner-Konzepte, die bereits einer „Filterung“ durch den französischen Geist unterzogen wurden (dem sie als Konzepte auch viel verdanken), Samaras und seine Arbeit nur auf einer sekundären Ebene beeinflussten, wenn es um spezifischere Elemente ging (wie die Erweiterung des harmonischen theoretischen Denkens sowie die Art der Orchestrierung).

Samaras´ „Rhea“: Dimitria Theodossiou sang die Titelpartie in Athen 2004/filmora

Durch die Wahl des französischen musikalischen Weges macht sich der korfiotische Komponist die massive Anziehungskraft zu eigen, die in der wagnerianischen mythischen Figur der Einheit liegt, die darin besteht, klar definierte musikalische Parameter (wie Harmonie und Orchestrierung) auf die Logik eines ganzheitlichen dramatischen Konstrukts anzuwenden. In Übereinstimmung mit dem französischen Metrum ist diese Umarmung offensichtlich, aber qualitativ und niemals quantitativ. Diese metrische Umarmung beinhaltet auch eine kritische Haltung gegenüber dem Wagnerismus, zu einer Zeit, als allgemeine Reaktionen, die hauptsächlich aus Südeuropa kamen, auch neue ästhetische und künstlerische Bewegungen hervorriefen – die bekannteste davon war die Verismo-Bewegung.

Die Anziehungskraft, die von der Subtilität des französischen harmonischen theoretischen Denkens sowie von seinem delikaten Orchestrierungsstil in einer Zeit intensiver (und vielfältiger) Umwälzungen am europäischen Musikhorizont ausging, stellte für Samaras und seine hauptsächlich melodische Natur auch die „Gefahr“ dar, dass er genau diese Natur von sich ablehnen könnte. Sein Instinkt und seine italienische Erfahrung bewahrten ihn jedoch vor dieser „Gefahr“. In einem Interview, das er um 1910 einer Athener Zeitung gab (d. h. während der Kompositionsjahre von „Tigra“), stellte Samaras die Bedeutung der Melodie, wie sie von der zeitgenössischen französischen Musikschule vertreten wurde, nachdrücklich in Frage, indem er seine Ablehnung gegenüber dieser Art von ästhetischer Richtung betonte.

.

Spyridon Samaras´“Mademoiselle de Belle-Isle“/ Szene der Aufführung in Athen 1997 mit Martha Araois und Angelos Simos/ youtube

An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Orchestrierung von „Tigra“ eingehen. Ich denke, dass die oben genannten Punkte die Affinität zwischen „Rhea“ und „Tigra“ verdeutlichen. Aufgrund dieser Affinität kam ich auf die Idee, mich bei der Orchestrierung von „Tigra“ auf die Orchestrierungskonzepte zu stützen, die in „Rheas“ Partitur allgegenwärtig sind, und dann auch Werke wie „Epinikia“, „Mademoiselle de Belle-isle“, „La biondinetta“ und „Kritikopoula“ als zusätzliche Inspiration zu berücksichtigen. Die von mir angewandte Instrumentenverteilung war die, die in „Rhea“ zu finden ist. Dabei habe ich mich eng an Samaras‘ Beispiel gehalten, mit einer Ausnahme. Ich habe mich entschieden, ein Kontrafagott speziell in der Prozessionsszene einzusetzen, während ich es aus Gründen der instrumentalen Ökonomie auch durchgehend verwendet habe. Soweit ich weiß, handelt es sich dabei um ein Instrument, das Samaras nie verwendet hat. Ein weiterer subtiler Unterschied zwischen meinem und Samaras‘ instrumentellem Ansatz (den er auch mit anderen Musikern seiner Zeit, insbesondere in Italien, teilte) bestand darin, dass ich die schnellen Übergänge bei den Ventil-Posaunen vermied. Wie wir aus „Rhea“ und der in „Lionella“ verwendeten Ungarischen Rhapsodie schließen können, scheint Samaras es vorgezogen zu haben, dass die Posaune mit Klappen gespielt wird.

Der Autor: der Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Um das Schlüsselproblem im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den Gesangs- und Instrumentalstimmen anzugehen, habe ich mich wieder so eng wie möglich an Samaras‘ Ansatz gehalten. Ich habe die Gesangsstimmen daher ohne instrumentale Unterstützung für sich allein stehen lassen. Ich habe dies so gehandhabt, es sei denn, die Dichte des Stücks erforderte das Gegenteil, um die Klangbalance zu erhalten. Darüber hinaus habe ich diese Strategie sowohl für die Gesangsparts der Protagonisten als auch für den Chor befolgt. Gemäß den kurzen Partituren habe ich es bewusst vermieden, die Pause der Chorstimmen während des Höhepunkts der Oper, wenn „Christos Anesti“ einsetzt, aus zwei Hauptgründen auszufüllen. 1) Obwohl der Komponist die Zeilen der betreffenden Metren vorgibt, lässt er sie dann leer, was meiner Meinung nach keineswegs zufällig war. 2) Ich glaube, dass Samaras das Geschehen auf der Bühne musikalisch (und in gewisser Weise rätselhaft) kommentieren wollte, indem er eine bekannte Hymne verwendete, ohne jedoch einen ihrer Texte zu verwenden.

Teile in den Partituren, die ich als Fehler erachtete, wurden korrigiert und in den beigefügten Anmerkungen des Herausgebers/Orchestrators ausführlich erläutert. Diese Fehler scheinen entweder aufgrund von Eile oder sogar aufgrund einer schlechten Handschrift entstanden zu sein, die das Löschen und die umfassende Korrektur von Fehlern erforderlich machte. Es liegt an zukünftigen Lesern – Interpreten von Samaras‘ Manuskript –, meine Entscheidungen zu überprüfen und weitere notwendige Überarbeitungen vorzunehmen. Byron Fidetzis/ DeepL/G. H. (Abbildung oben: Odalisque mauresque,  Georges Bretegnier, 1863 – 1892)/ Wikipedia commons. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.)

Hochbesetzte Schlangengrube

.

Johann Adolf Hasse schrieb sein biblisches Oratorium Serpentes ignei in deserto für das berühmte Ospedale degli Incurabili in Venedig, wo es 1733 oder 35 uraufgeführt wurde. Das Werk fußt auf dem lateinischen Libretto von Bonaventura Bonomo und vermittelt die Botschaft, dass der Mensch nicht am göttlichen Wohlwollen zweifeln solle. Erzählt wird der Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten in das von Gott verheißene Land. Während der langen Durchquerung der Wüste beklagt sich das erschöpfte Volk und lehnt sich gegen Gott auf. Dieser schickt als Strafe giftige Schlangen, die vielen Menschen den Tod bringen. Moses bittet Gott um Vergebung, die gewährt wird. Eine eherne Schlange auf Moses´ Stange wird zum Symbol des Lebens und der Hoffnung.

Nach der Papierform hatte die Aufnahme das Zeug zu einer Sensation, denn nicht weniger als vier namhafte Countertenöre und ein Ausnahme-Sopranist sind in der Besetzung versammelt, ergänzt um einen gleichfalls renommierten Sopran. Sechs hohe Stimmen also und kein Tenor, kein Bass. Erato, derzeit neben Château de Versailles konkurrenzlos aktiv in der Einspielung von Werken Alter Musik, hat die Aufnahme im Juni des vergangenen Jahres in Paris produziert und eine Phalanx renommierter Interpreten des Genres verpflichtet (5021732399045). Weniger bekannt ist das Ensemble Les Accents, das unter seinem Gründer und Leiter Thibault Noally aber einen glänzenden Eindruck hinterlässt, die Musik in ihrer Bravour und belkantesken Lyrik mit frischem, unkonventionellem Zugriff interpretiert.

Der Beginn der Einspielung ist ernüchternd, denn der schwedische Counter David Hansen lässt es als Eliab in seiner vehementen Eingangsarie „Incerta vivendo“ zwar nicht an der gebotenen Virtuosität fehlen, irritiert aber mit enervierend heulenden Tönen. Die zentrale Partie des Moyses wird von Philippe Jaroussky wahrgenommen und auch er hat in seiner ersten Arie „Coelo turbido et irato“ Probleme, lässt eine unausgewogene Stimmführung hören. Besser gelingt ihm der finale Auftritt mit „Ara excelsa“, kann er doch in diesem ruhig-getragenen Stück seine Stimme unangestrengt und ausgewogen fließen lassen. Der Sopranist Bruno de Sà als Josue offeriert in „Spera, o cor“ Töne von mirakulöser Vollendung. Julia Lezhneva sorgt als Angelus für den ersten bravourösen Höhepunkt mit ihrer langen Arie „Caeli, audite“, welche zunächst und am Ende in getragenem Duktus erklingt, aber im Mittelteil ein furioses Koloraturfeuerwerk erfordert. Nicht weniger anspruchsvoll  ist die zweite Arie, „Aura beata“, mit schier endlosen Koloraturläufen, welche die Sopranistin in phänomenaler Manier absolviert und darüber hinaus mit jauchzendem Klang begeistert. Ihr fällt mit „Ecce conversus Israel“ der Exodus zu – ein Recitativo accompagnato, welches das Werk überraschend schlicht enden lassen würde, hätte der Dirigent nicht die Fugue aus der Introduzione angefügt.

Der Beginn der 2. CD markiert den Auftritt Nathanaels in Gestalt von Jakub Józef Orlinski, der die aufgewühlte Arie „Furit grando procellosa“ mit Entschlossenheit angeht, dessen larmoyantes Timbre jedoch nicht jedermanns Geschmack ist. Ihm folgt Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit der Partie des Eleazar. Er lässt zweifellos die schönste Counterstimme hören. Die Arie „Dolore pleni“ ist eine Perle der Komposition und in seiner Wiedergabe mit warmem, innigem Ton beglückend. Mit de Sà hat er ein Duett zu singen („Moesto corde“), welches zu den wunderbarsten Momenten der Aufnahme zählt, vereinen sich beide Stimmen doch in schönster Harmonie.

Das Ensemble mit seinem Dirigenten und einige der Solisten werden im Mai des kommenden Jahres das Werk in der Berliner Philharmonie aufführen – ein Fest für alle Freunde der Alten Musik. Bernd Hoppe

Die besondere Oper

.

Auch in diesem Jahr sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel (deshalb behalten wir auch nachstehend einige wichtige Aufführungen für das vergangene Jahr bei.). Eine Auflistung alle Beiträge finden sie hier

.

Sondheim an der Komischen Oper Berlin – Musical-Thriller mit Gruseleffekt. Vor genau zwanzig Jahren präsentierte die Komische Oper Stephen Sondheims Sweeney Todd und damit im Repertoire des Hauses ein neues Musical als Berliner Erstaufführung. Die Premiere trug den Stempel des Besonderen, weil die populäre Schauspielerin Dagmar Manzel erstmals in einem Opernhaus auftrat. In genau dieser Rolle, Mrs. Nellie Lovett, war sie nun wieder zu erleben, denn der frühere Hausherr Barrie Kosky war zurückgekehrt, um im Schillertheater eine Neuinszenierung des Werkes vorzustellen. Katrin Lea Tag hatte dafür die Ausstattung besorgt. Ein dekoratives Proszenium in der Manier eines viktorianischen Theaters und ein geraffter roter Samtvorhang stimmen auf eine malerische Optik ein, aber die Bühne ist eher von minimalistischem Zuschnitt mit hängenden Fototapeten, welche historische bis moderne Stadtlandschaften zeigen. Im Zentrum der Szene befindet sich die Imbissbude von Mrs. Lovett, in deren Obergeschoss Sweeney Todd seinen Friseursalon mit dem verhängnisvollen Stuhl eingerichtet hat. Nach Jahren der Verbannung, verfügt durch den Richter Turpin, war er nach London zurückgekehrt, um sich für das begangene Unrecht zu rächen. Wer auch immer auf dem Friseurstuhl Platz nimmt, endet nach einem Kehlkopfschnitt mittels einer Falltür und Rutsche im Keller, wo die erfindungsreiche Mrs. Lovett den Leichnam zu einer schmackhaften Fleischpastete verarbeitet, die ihrem Imbissunternehmen zu wachsendem Wohlstand verhilft. Jeder Mord wird akustisch von einem höllischen Aufschrei des ganzen Orchesters samt szenischem Blackout begleitet. Insgesamt aber ist Koskys Inszenierung verhalten, meidet schrille Effekte, verlässt sich ganz auf die Virtuosität seines Ensembles.

Stephen Sondheims „Sweeny Todd“ an der Komischen Oper Berlin/Szene/ Foto Jan Windszus Photography

Dieses wird dominiert von Dagmar Manzel, die nach ihrer ersten Verkörperung der Figur 2004 nun auch im originalen Englisch den Wortwitz, Hintersinn und beißende Scharfzüngigkeit der Rolle hinreißend herüber bringt. Darstellerisch ist sie im ersten Teil ein Urvieh, herrlich deftig und vulgär, immer wieder in ihr ordinäres Lachen verfallend und in Sekunden den Tonfall wechselnd. Nach dem mausgrauen Outfit zu Beginn zeigt sie sich nach der Pause wie verwandelt in strahlendem Blond und einem hübschen rosa Kleid, was ihre veränderte private Situation anzeigt. Es zeugt von ihrer Bravour, dass sie beide Facetten dieser Frau gleichermaßen überzeugend darzustellen vermag. Der geschliffene Dialog kompensiert die mittlerweile reduzierte gesangliche Leistung. Vokal ist ihr der englische Bariton Christopher Purves in der Titelrolle überlegen, auch szenisch überzeugt er als Charakter. Glänzend besetzt sind die Nebenrollen mit Alma Sadé als Sweeneys Tochter Johanna, Hubert Zapiór als ihrem Geliebten Anthony und Jens Larsen als Richter Turpin. Markante Episoden bieten Ivan Tursic als exaltierter Barbier Pirelli, dem ersten Opfer auf Sweeneys Stuhl, und Sigelit Feig als derbe Bettlerin. Herauszustellen ist der junge Tenor Tob Schimon als Tobias, der mit seiner feinen Stimme und sensiblen Darstellung den besonderen Beifall des Premierenpublikums am 17. November 2024 empfing. Er ist es auch, der am Ende begreift, dass die Pasteten unter mysteriösen Umständen entstehen, und Sweeney Todd richtet.

Wieder sind die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: David Cavelius) in ihren Auftritten präsent und klangvoll im Gesang. Sie geben das kommentierende oder mit dem Publikum an der Rampe kommunizierende Volk. James Gaffigan bringt mit dem Orchester der Komischen Oper die Musik in ihrer Vielschichtigkeit zwischen Musical-Thriller und Black operetta zu zündender Wirkung. Bernd Hoppe

.

.

Gounods Roméo et Juliette an der Berliner Staatsoper: Trotzgöre mit blauem Haar. Juliette ist eine Unangepasste. Dafür spricht schon ihre Haarfarbe – ein verwaschenes Blau, das gewiss den Unmut ihrer Eltern erregt, Roméo aber eher anzieht. Auch die Kleidung der Capulet-Tochter mit Jeans und Hoodie ist eigenwillig und vor allem nicht standesgemäß. Aber Mariame Clément kümmert sich bei ihrer Neuinszenierung von Gounods Drame lyrique in der Staatsoper nicht um historische Fakten der Vorlage von Jules Barbier und Michel Carré nach Shakespeares Tragödie. Radikal versetzt sie das Stück in die Gegenwart und hat dabei die Unterstützung der Ausstatterin Julia Hansen. Diese stellt ein hässliches Wohnhaus auf die Bühne, wo zu Beginn Julias Geburtstag gefeiert wird. Ein Happy Birthday-Schriftband und Luftballons garnieren die Szene, dazu die Gäste in schäbigen Klamotten vom Wühltisch. Wieder einmal ist die triste Optik bestürzend, gipfelnd in einer maroden Basketball-Sporthalle, wo der aggressive Streit zwischen den Montagues und Capulets stattfindet, Juliettes Mädchenzimmer mit Postern an den Wänden und Nippes im Regal, wo die Liebenden ihre Hochzeitsnacht verbringen, und einem schäbigen Pathologie-Saal, wo Juliette im weißen Totenhemd auf dem Seziertisch liegt und von Helferinnen gewaschen wird.

Gounods „Roméo et Juliette“ an der Berliner Staatsoper/Balkonszene/Foto Monika Rittershaus

An der szenischen Ödnis ändern auch die von Sébastien Dupouey erdachten Videos nichts, welche das Geschehen überblenden – surreal als Kaleidoskop mit flatternden Schmetterlingen und einem Blütenteppich oder romantisch mit nächtlichen Naturstimmungen samt Sternenhimmel. Gänzlich unmotiviert sind Ulrik Gads Lichtwechsel in den einzelnen Räumen, völlig überflüssig Mathieu Guilhaumons bizarre Choreografie mit sechs Juliette-Doubles. Was die Personenführung betrifft, so sind die Einfälle der französischen Regisseurin eher bescheiden, denn statuarisches Singen an der Rampe dominiert.

Vor allem Elsa Dreisig versucht, sich davon zu befreien. Ihre Juliette  ist lebhaft und agil, setzt sich auch stimmlich an die Spitze des Ensembles. Freilich fehlt ihrem Sopran die individuelle Farbe, das unverwechselbare Timbre. Aber er besitzt den gebührend jugendlichen Klang für die Rolle, ist klar, delikat  und leuchtend. Die Koloraturen in „Je veux vivre“ perlen vollendet, nur die grellen Spitzentöne stören. Die zweite, sogenannte „Gift“-Arie („Dieu! quel frisson“) singt sie mit Emphase und auch in den Duetten mit Roméo ist sie stets präsent. Der größte Erfolg der Premiere am 10. November 2024 gebührte ihr, denn Amitai Pati als Roméo mit blond gefärbten Haarsträhnen blieb hinter den Erwartungen zurück. Seinem Tenor fehlen Poesie, lyrischer Zauber und Schmelz. Bis zur Pause gab es auch empfindliche vokale Einbußen, so die unschön forcierten Spitzennoten in der Arie „Ah! lève-toi, soleil!“, die der Sänger auch am Ende der Duette mit Juliette hören ließ. Zudem enttäuschte sein distanziertes Spiel, dem Leidenschaft und Zuwendung fehlten. In der Kampfszene überraschte er dagegen mit potenten Tönen. Bei den Nebenrollen überzeugte vor allem Nicolas Testé als Frère Laurent, der hier als Lehrer in einer Schulklasse mit Bankreihen und Wandtafel fungiert und seltsamerweise das junge Paar trauen kann. Aber stimmlich ragt er mit seinem markigem, voluminösem Bass, dem gelegentlich ein grimmiger Unterton eigen ist, heraus. Auch Manuel Winckhier vom Opernstudio des Hauses ließ als Le Duc autoritäre Töne hören. Dagegen blieb Arttu Kataja als Capulet mit verquollenem Bass deutlich zurück, während Mariana Prudenskaya die kleine Partie der Gertrude stimmlich und darstellerisch markant profilierte. Stéphano in Gestalt von Ema Nikolovska ist hier ein Wesen von androgyner Natur, singt das Chanson „Que fais-tu, blanche tourterelle“ mit üppigem Mezzo von strengem Vibrato. Unauffällig in Stimme und Spiel blieb Johan Krogius als Tybalt.

Der Staatsopernchor (Einstudierung: Dani Juris) fungiert im Prologue als Theaterzuschauer auf der Bühne, überzeugt gesanglich vor allem im trauernden Gesang nach Tybalts Tod „O jour de deuil!“. Stefano Montanari malt mit der Staatskapelle Berlin die Lyrismen der Komposition stimmungsvoll aus, dennoch hätte man sich gelegentlich mehr Duft und größeren Farbenreichtum gewünscht. Und mehrfach nahm der Dirigent auch nicht genügend Rücksicht auf die Sänger, die dadurch zur Mobilisierung aller Kräfte gezwungen wurden. Am Ende empfing auch er Unmutsbekundungen, freilich weit weniger als das Regieteam, während vor allem Elsa Dreisig gefeiert wurde. Bernd Hoppe

.

.

Annaberg-Buchholz: Deutsche Erstaufführung von Michael William Balfes Romantischer Oper Satanella. Wer sage da noch, England sei ein „Land ohne Musik“. Aus der von einem deutschen Musikwissenschaftler publizierten Feststellung sprach um die vorvorige Jahrhundertwende eine gehörige Portion Ressentiment, das wohl auch für das englischsprachige Irland gilt. Nach der bedeutenden Aufführung von Michael William Balfes romantischer Oper Satanella, die das Eduard von Winterstein Theater in Annaberg jetzt erstmals auf einer deutschen Bühne vorstellte, muss man sich im Gegenteil fragen, wo hat sich diese „englische“ Musik eines Iren, mit der sich Sänger wie Zuhörer auf Anhieb wohlfühlen, so lange versteckt. Nun, sie wurde durchaus gespielt (und mehrfach dokumentiert). Allerdings blieb ihr Einzugsgebiet begrenzt.

Balfes „Satanella“ in Annaberg/Szene/Foto Dirk Rückschloss

Und Balfe war nur die Spitze eines Eisbergs, zu dem mehrere Kollegen gehörten, die sich an Opern in der Landessprache versuchten. Natürlich wurden seit den Zeiten Händels die italienischen Komponisten bevorzugt, doch der einheimischen Produktion wurde durchaus eine Chance gegeben, wenngleich noch bei der Uraufführung der Satanella die Kritiker über die Sprechtexte die Nase rümpften. Der Ire Balfe, geboren 1808 in Dublin, aufgewachsen in der Festspielstadt Wexford, hatte das Handwerk von der Pieke auf gelernt. Zuerst als Geiger und Sänger, dann als Komponist. Bereits 1823 spielte an Londoner Bühnen Geige, 1825 debütierte er in Webers Freischütz als Sänger, Studiert hatte der Rossini-Protegé in Italien, wo er 1827 als Figaro in Il Barbiere di Siviglia auftrat, zwischen 1829 und 1833 ein Ballett und drei Opern zur Uraufführung brachte und eine Kantate für die junge Grisi schrieb. Er sang u.a. an der Mailänder Scala und an der Pariser Opéra neben der berühmten Maria Malibran sowie am Teatro La Fenice. Heirate um 1831 die österreichische Sängerin Lina Roser kehrte 1835 nach London zurück, wo er mit The Siege of Rochelle  seinen Durchbruch als Komponist erlebte.

Unverzichtbar für Balfe-Fans – das umfassende Buch von Basil Walsh

Der Erfolg wurde mit dem auch auf dem Kontinent gespielten The Bohemian Girl übertroffen. Insgesamt schrieb Balfe rund 30 Opern zumeist in englischer, aber auch italienischer und französischer Sprache. Er starb 1870. Seine 23. Oper Satanella entstand im Auftrag der Sopranistin Louisa Pyne, die just ihre erste Opernsaison im für mehrere Winterspielzeiten angemieteten Covent Garden Theatre mit einem Werk von Balfe eröffnen wollte, nachdem sie in Rose of Castille Erfolge gefeiert hatte hatte. Das 1858 uraufgeführte Stück über den Weibsteufel Satanella ist großes romantisches sattes Theater, das zur Erbauung des puritanischen Publikums mit der Rettung des Helden Rupert und der Teufelin Satanella endet. Vorlage für die Librettisten Augustus Harris und Edmund Falconer bildete ein Roman von Jacques Carotte Le diable amoureux, der in den 1840er Jahren in Ballett-Adaptionen in Mailand und London über die Bühne gegangen war. Der Kampf des Helden mit den teuflischen Geistern oder Gegenspielern ist romantisches Gemeingut.

In Annaberg verkompliziert Christian von Götz die Geschichte nicht unwesentlich, befrachtet und überfrachtet sie bis zur Unkenntlichkeit. Herausgekommen ist ein Schauermärchen, das mit allen Bildern und Motiven der Romantik jongliert. Nicht mehr der Graf ist die Hauptfigur, sondern sein Gefolgsmann Carl, der ein schweres Trauma erlitt, als er seine Braut mit einer anderen Frau überraschte. Das ist der neue Rahmen.. Im Zustande gesteigerter Erregung, dem Wahnsinn nahe, vertraut sich der aufgelöste Carl einer Person an, die nun ihrerseits sich bald halbnackt wälzt und als Kirchenmann zum Gegenspieler der bösen Kräfte wird, bei der es sich eigentlich um den Piratenführer Braccacio handelt. Mit dem Grafen selbst hat sich Carl ein schwarzes Alter Ego geschaffen. Leicht unübersichtlich wird das dunkle Grusical, da Rupert, dessen Sänger in schwarzer Kleidung weitgehend versteckt bleibt, zusätzlich ein weibliches Ich in Gestalt einer tanzenden Doppelgängerin erhält. Und da Arimanes, der Chef, der Satanella zur Verführung des Rupert anhält, von einer Frau dargestellt wird, was allerdings ausnehmend gut gelingt, da der Sänger komplett unsichtbar bleibt und der Kampf zwischen Satanella und der Meisterin Arimanes das Kosen der beiden Frauen des Vorspiels aufnimmt, kann der Regisseur von einem „feministischen Ansatz“ sprechen.

Balfes „Satanella“/ Bühnenbild zum 3. Akt der Uraufführung/ Balfe Society/ dazu auch der Artikel in der Reihe die Vergessene Oper

Das alles muss man nicht verstehen. Alle Motive, von den schwarzen Vögeln, den Doppelgängern zuhauf, dem Spiel am Kartentisch, dem Spiel mit den Pistolen à la Russisch Roulette bis zu den verdeckten und falschen Bräuten und den lauernden, verkrümmten Mitmenschen als habe E.T.A. Hoffmann den Text geschrieben, dekliniert von Götz im Sinne einer gesteigerten Version von Carls Erzählungen durch. Die Piraten und die Küste, der Sklavenmarkt und Bazar, der Turm des bösen Ungeheuers und die Hütte des guten Mädchens, all diese pittoresken Szenen und Bilder, die das victorianische Publikum ergötzten, sind in diesem Spiel auf schwarzer Bühne mit vielen Türen nicht mehr zu finden Irgendwann hat man in diesem dream within a dream die Übersicht verloren, Hauptsache die zuvor schon als Madonna mit Strahlenkranz inthronisierte Satanella preist die Kraft wahrer Liebe und steigt irgendwann gen Himmel, There’s a power whoses way, Angel souls adore, and the lost obey, Weeping ever more. Language cannot tell, half thy power, oh, love“. Rupert und seine Braut Lelia loben die Macht des Himmels.

Die Macht der Musik packt uns an diesem Abend (23. Oktober 24) stärker. Eigentlich hat Balfes Musik alles, was es braucht. Temperament, leichte, aber doch nicht simple Eingängigkeit, ebenso leichte, aber nicht unraffinierte Gesanglichkeit, schlichte Balladen, die in jedem Mädchenpensionat gesungen werden konnten, glitzernde Bravourszenen, Romanze, Cabaletta, machtvolle Ensembles und Finali sowie Melodien, die sich festsetzen. Inspiriert eindeutig von italienischen Vorbildern, ohne dass man sie genau benennen könnte, aber auch mit einer Prise deutscher Befindlichkeit und Innerlichkeit. Es klingt, als wenn „Bellini auf Gilbert & Sullivan trifft“, meint von Götz ganz treffend. Was der Musik vielleicht fehlt, ist der große dramatische Atem, Dringlichkeit und Durchschlagskraft.  In der übermäßig verklausulierten Inszenierung verliert sich die Musik ein wenig.

Balfes „Satanella“ in Annaberg/Szene/Foto Dirk Rückschloss

Gerne hätte man den ausgezeichneten lyrischen Tenor Martin Mairinger, dessen feinem noblen Ton und keuschen sinnlichen Timbre man endlos zuhören könnte, nicht nur als Ruperts Schattengestalt erlebt. Sein Doppelgänger auf der Bühne war die zurückhaltende Martha Tam, während sich Verena Hierholzer als Arimanes die Seele aus dem Leib spielte und sich der sonore Wenzheng Tong als Stimme des Teufels absolut versteckt hielt. Als Satanella lockte Sarah Chae mal als Klosterschwester mal als Verführerin mit scharf angespitzten Koloraturen und starrer Haltung und gefälliger Mittellage. Lieblicher, aber auch unauffälliger daneben Maria Rüssel als Ruperts Braut Lelia. Die Nebenrolle des Carl wird bei Christian von Götz zur durchgehend wahnsinnigen, leidenden, sich quälenden und von Richard Glöckner mit Leidensfähigkeit gespielten Hauptfigur, deren Couplet er mit hübschem Spieltenor sang. Ebenso aufgewertet  der Braccacio von Jakob Hoffmann als Beichtvater, Vertrauter und Liebender, den Carl am Ende küsst. Jens Georg Bachmann und die Erzgebirgische Philharmonie Aue gestalteten einen großen Abend romantischer Musik und zeigten nicht zuletzt in den reichen instrumentalen Vorspielen à la Carl Maria von Weber die Kunst Balfes.. Rolf Fath

.

.

An der Semperoper: Boito-Rarität zur Saison-Eröffnung. Mit der in Deutschland selten zu sehenden Oper Mefistofele von Arrigo Boito eröffnete die Sächsische Staatsoper Dresden die neue Spielzeit. Die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr in der Ausstattung von Momme Hinrichs (Bühne & Video) und Julia Rösler (Kostüme) ist betont streng, dunkel und minimalistisch abstrakt. Ein optischer Zauber stellt sich nicht ein. Die Farbe Schwarz dominiert die Bühne mit dunklem Rundhorizont und einer drehbaren Scheibe im Zentrum, welche häufig gekippt wird. Im zweiten Teil wird die Szene von einer dreistöckigen Galerie beherrscht, die von Menschen bevölkert ist, die das Geschehen wie Zuschauer in einer Arena verfolgen. Auf einer Treppenkonstruktion mit oberem Podest sieht man Faust, der während der Aufführung fast immer im Schatten des Titelhelden steht. Diesen zeichnet die Regisseurin als biederen Büroangestellten im dreiteiligen Anzug mit Brille, Aktentasche, Krawatte und Trenchcoat, der so gar nichts Teuflisches an sich hat und eher kauzig-menschliche Züge offenbart, wenn er an der Rampe tänzelt oder auf allen Vieren kriecht.

An der Semperoper Dresden: Boitos „Mefistofele“/Szene/ Foto Monika Rittershaus

Krzysztof Baczyk singt ihn mit aufgerautem, sprödem Bass und zuweilen dumpfer Tongebung. Seine Trümpfe kann er in der stabilen, klangvollen oberen Lage ausspielen. Fast wie sein Ebenbild in Kleidung und Physiognomie erscheint Faust, der in der 6. Vorstellung am 18.10, 2024 umbesetzt war und nun von dem argentinisch-amerikanischen Tenor José Simerilla Romero wahrgenommen wurde. Bei seinem Haus- und Rollendebüt konnte der Sänger mit baritonal getönter Mittellage und strahlenden Spitzentönen überzeugen. Zu besonderen vokalen Höhepunkten gerieten seine beiden Duette mit Margherita und Elena. Erstere gefiel in der anrührenden Darstellung von Marjukka Tepponen, die mit ihrem jugendlichen Sopran der Partie auch gesanglich nichts schuldig blieb und die große Arie „L´altra notte“ wirkungsvoll vortrug. Im Liebesduett mit Faust („Lontano lontano“) gelang beiden zuvor ein visionärer Traum vom gemeinsamen Glück mit zartem Beginn und wunderbarer Verblendung der beiden Stimmen. Effektvoll war der Auftritt von Clara Nadeshdin als blond gelockte Elena mit dunkel-sinnlichem Sopran. Ihre schwelgerische, sich ekstatisch steigernde Szene mit Faust („Amore! Misterio!“) gehörte zu den aufregendsten Momenten der Aufführung. Zur Illustration der arkadischen Traumwelt werden Motive vom Schmuckvorhang des Opernhauses verwendet,

Irritierend war die Idee der Regisseurin, eine Sprechrolle (genannt „Eine Frau“ und interpretiert von Martina Gedeck im grauen Hosenanzug) in den musikalischen Ablauf einzufügen, die das Geschehen stumm verfolgt oder Goethe-Texte aus beiden Teilen der Tragödie rezitiert, ohne dass dies den Abend bereichert hätte. Seltsam auch der Einfall, einen kleinen Putto mit weißen Engelsflügeln auftreten und in den Himmel entschweben zu lassen. Ob er sich gleich Ikarus zu hoch hinauf wagte, bleibt ungewiss. Aber die Flügel stürzen aus der Höhe herab und dienen nun Faust als Mittel für seine Reise in eine andere Welt.

Das Schlussbild wiederholt den Beginn der Aufführung, wenn Mitglieder des Sächsischen Staatsopernchores Dresden (Einstudierung: Jan Hoffmann) in heutiger Alltagskleidung an der Rampe sitzen. Die Sänger als himmlische Heerscharen, Volk und Elenas Gefolge wechseln mehrfach ihre Kostüme zwischen Historie und Gegenwart, sind gesanglich stets präsent und klangvoll. Dirigent Andrea Battistoni fordert sie wie auch die Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden bis zum Äußersten. Die fortissimo-Attacken des Orchesters erreichen mehrfach die Schmerzgrenze und manch orchestrale Feinheit geht dadurch auch verloren. Am Ende wurde die Aufführung anhaltend bejubelt und ist gelungener Einstand für die neue Intendanz des Hauses zu werten. Bernd Hoppe

.

.

Don Chisciotte von Manuel García am TfN Hildesheim:  Seit einigen Jahren wählt sich das Theater für Niedersachsen (TfN) in jeder Spielzeit ein spartenübergreifendes Motto; diesmal ist es der „Ritter von der traurigen Gestalt“ Don Quichote, dessen Erlebnisse sich als Oper, als Musical und als Schauspiel in einem einheitlichen Bühnenbild ereignen. Den Beginn macht mit Don Chisciotte von Manuel García eine absolute Rarität vom Anfang des 19. Jahrhunderts; im Januar und März 2025 folgen das Schauspiel von Rebekka Kricheldorf nach dem Roman von Miguel de Cervantes und das Musical Der Mann von la Mancha.

Komponist, Lehrer und Tenor Manuel Garcia (als Otello von Rossini)/OBA

Manuel García (1775-1832) ist heute nur noch als bedeutender Gesangspädagoge und als Vater der Stars der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts Maria Malibran und Pauline Viardot-García bekannt. Fast schon vergessen ist, dass er 1816 in Rom als Startenor Rossinis Almaviva in der Uraufführung des Barbiere di Siviglia war und in den 1820er-Jahren bei einer Nordamerika-Tour das Publikum mit Barbiere, Rossinis Cenerentola und Otello sowie Mozarts Don Giovanni bekannt machte.

Auch ist er mit einigen Kompositionen hervorgetreten, so mit der Oper Don Chisciotte nach Cervantes berühmtem Roman. Nicht eindeutig geklärt ist, wann die Uraufführung stattfand, wahrscheinlich 1829 in Rom. Jedenfalls ist Don Chisciotte in Hildesheim eine deutsche Erstaufführung; in neuerer Zeit ist die Oper lediglich 2006 in Sevilla auf die Bühne gelangt.

Die Oper greift eine Episode aus dem Roman heraus und verknüpft sie mit seinem Ende, wenn der Titelheld sterbend erkennt, dass seine vermeintlichen Abenteuer Illusion gewesen sind und er in seinem Wahn nicht zwischen Dichtung und Realität hat unterscheiden können. Auch der viel zitierte Kampf gegen die Windmühlen wird in einer Erzählung in die Oper mit aufgenommen. Im Zentrum steht allerdings die abenteuerliche Geschichte zweier Paare, Fernando und Dorotea sowie Cardenio und Lucinda. Cardenio und Fernando, der mit Dorotea verheiratet ist, sind beste Freunde. Als sich Fernando allerdings in Cardenios Verlobte Lucinda verliebt, entführt er sie, um sie selbst zur Frau zu nehmen. Alle treffen auf Don Chisciotte, der sich in die Auseinandersetzung der beiden jungen Paare einmischt. Sein Page Sancio Pancia erzählt ihm, dass die Königin Micomicona (später tritt Dorotea als diese auf) ihn um Hilfe gegen einen gefährlichen Riesen bitte. Gegen diesen kämpft er nun und trifft aber nur den Hut seines Pagen. Zuvor waren auch Don Chisciottes Freunde Radipelo und Ferulino im Wirtshaus des Wirts Marcello und seiner Tochter Brunirosa erschienen. Dort sind inzwischen Fernando und Lucinda eingetroffen; dieser duelliert sich mit Cardenio, was Don Chisciotte unterbricht, um den Streit zu schlichten. Die Bühne füllt sich, als ein Dorfrichter erscheint und Fernando festnehmen lässt.

Manuel Garcias „Don Chisciotte“ am TfN Hildesheim/ Szene/ Foto Christian Heidrich 

Im zweiten Teil wird es geradezu schauerlich, wenn Dorotea sich zu dem eingekerkerten Fernando begibt, um sich mit ihm zu versöhnen. Das misslingt, und sie will sich deshalb selbst töten. Der Schuss trifft versehentlich Fernando, der tot zu Boden sinkt, nicht ohne zuvor noch ein schönes Duett mit Dorotea gesungen zu haben (ob dies alles original ist, darf bezweifelt werden). Dorotea wird verhaftet und als Mörderin verbrannt, bis es dann zu einer gespenstischen „Freudenfeier“ kommt, in der eine Geisterbotin erscheint und Don Chisciotte eine bessere Zukunft voraussagt, die er richtigerweise als seinen Tod erkennt.

In Hildesheim lässt die Regisseurin Seollyeon Konwitschny-Lee, die auch eine kurze deutsche Dialogfassung erstellt hat, den Maler Francisco Goya auftreten, der in Cervantes‘ Roman gelesen hat und daraufhin wohl die insgesamt wirre Geschichte träumt. Außerdem wird der Friedensrichter, der den Streit der handelnden Personen schlichten soll, durch Napoleon ersetzt. Dies wird damit begründet, dass die Oper möglicherweise schon entstanden ist, als Spanien von 1807 bis 1814 von napoleonischen Truppen besetzt war. So wird am Schluss des ersten Teils Goyas berühmtes Gemälde Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in einer Szene nachgestellt, als der Friedensrichter alias Napoleon in die Menge schießen lässt. Ganz am Ende der Oper wird ein weiteres Bild Goyas nachgestellt, indem sich geisterhafte Erscheinungen über diesen beugen.

Für die drei Bühnenfassungen des Don Quijote hat Anna Siegrot ein Einheitsbühnenbild geschaffen, das eine meist leere Spielfläche zeigt, die von zylindrischen, verschiebbaren Wänden begrenzt wird; von Amelie Müller sind die zeitgerechten, üppigen Kostüme. Schon gleich zu Anfang soll wohl deutlich gemacht werden, dass es sich um Traumbilder handelt, wenn nämlich drei Statisten mit Eselsköpfen zur Ouvertüre den Raum öffnen. Sie führen den Maler Goya, der mit einem langen weißen Nachthemd und einer Nachtmütze bekleidet ist, auf die Bühne an einen Tisch, wo er in Cervantes‘ Roman liest. Im weiteren Verlauf tritt er nur wenige Male wieder auf. Die beiden Hauptpersonen Dorotea und Don Chisciotte werden zuerst als kleine Marionetten gezeigt. Auch in Normalgröße treten sie  zunächst als Marionetten auf, lösen sich aber allmählich von ihren Haltefäden – Aktionen, deren Sinn offen bleibt und deshalb nicht überzeugt.

Überhaupt darf bezweifelt werden, ob die Wiederentdeckung der Oper nun wirklich lohnend ist. Denn die szenische Verwirklichung ist höchst problematisch, weil man den Inhalt nicht versteht, wenn die teilweise recht langen Arien und Ensembles unkommentiert aufeinander folgen. Hier halfen weder die deutschen Obertitel noch die wenigen Worte der kurzen Dialoge weiter. In Hildesheim kommt eine erhebliche Überfrachtung hinzu wie die Rahmenhandlung des Goya, das Auftreten Napoleons und auch der die Handlung nicht weiterführende, vom Ritter gesprochene schwierige Text von Montesquieu mit seinem anschließenden Gespräch mit Napoleon. Statt dieser Überfrachtungen wäre es zum Verständnis sehr viel besser gewesen, man hätte einen neutralen Erzähler, vielleicht Goya hinzugefügt, wozu sich der Schauspieler Dirk Flindt bestens geeignet hätte, der hier allerdings kein Wort sprechen darf.

Die gelungene musikalische Verwirklichung zeigte die Solidität des Musiktheaters am TfN. Daraufhin drängte sich der Gedanke auf, dass Garcías gefällige Komposition sich bestens für konzertante Aufführungen eignen würde. In der zweiten Vorstellung  nach der Premiere holte am 8.10.2024 GMD Florian Ziemen mit klarer Übersicht und präziser Zeichengebung aus der kleinen, aber tüchtigen TfN-Philharmonie alles heraus, um die deutlich von Rossini beeinflusste Musik zum Klingen zu bringen.

Manuel Garcias „Don Chisciotte“ am TfN Hildesheim/ Szene/ Foto Christian Heidrich

Die gesanglichen Anforderungen sind für alle beachtlich; sie wurden vom Ensemble und einigen Gästen souverän erfüllt. Möglicherweise hat sich García die Titelrolle selbst auf den Leib geschrieben; ob er allerdings in seinem sechsten Lebensjahrzehnt mit den eigenen hohen Ansprüchen zurechtkam, weiß man nicht. Der Hildesheimer Haustenor Yohan Kim jedenfalls hatte damit keine Probleme, indem er seine kräftige Stimme sicher, wenn auch mit leichten Einbußen bei den Koloraturen durch alle Lagen führte. Dorotea war Sonja Isabel Reuter, die trotz angesagter Indisposition mit flinken Läufen und glasklaren Koloraturen zu begeistern wusste. Neu im Ensemble ist der Kanadier Andrey Andreychik, der die Rolle des Pagen Sancio Pancia mit munterem Spiel und markigem Bariton ausfüllte; eine auch bei ihm angesagte Indisposition wirkte sich stimmlich nicht weiter aus. Mit seinem schlanken, intonationsrein geführten Tenor gab Julian Rohde den Cardenio, während der koreanische Bariton Seunghoon Baek als Fernando gefiel. Ebenfalls als Gast trat die Spanierin Carolina Luquin Duarte auf, die als Lucinda mit feinem Sopran positiv auffiel. Der immer wieder bewährte Uwe Tobias Hieronimi war der Wirt Marcello, dessen Tochter Brunirosa beim charaktervollen Mezzosopran von Neele Kramer gut aufgehoben war, die auch noch die geheimnisvolle Geisterbotin gab. Ohne Fehl waren Eddie Mokofeng und Chun Ding Don Chisciottes Freunde Radipelo und Ferulino; Hogeun Kim ergänzte als Napoleon. Wie immer in Hildesheim zeigten Opernchor und Extrachor in der Einstudierung von Achim Falkenhausen ausgewogene Klangfülle.

Im leider schwach besuchten Haus bedankte sich das Publikum bei den Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Applaus für die guten Leistungen. Gerhard Eckels

 .

.

Von Hexen und Außenseiterinnen: Respighis Oper La Fiamma an der Deutschen Oper Berlin. Mit der Präsentation von Opern des frühen 20. Jahrhunderts (Der Schatzgräber, Das Wunder der Heliane, Francesca da Rimini) ist der Deutschen Oper Berlin eine beachtliche Erfolgsserie gelungen. Alle diese Werke hat Christof Loy inszeniert, der zu diesem Genre eine besondere Affinität besitzt. Nun hat er sich am Haus in der Bismarckstraße einer absoluten Rarität gewidmet – Ottorino Respighis La fiamma, uraufgeführt 1934 in Rom und seither nur selten gespielt (darunter 1936 an der Berliner Staatsoper als deutsche Erstaufführung).

Im Mittelpunkt der sich um Machtkämpfe und Intrigen rankenden Handlung im Ravenna des 7. Jahrhunderts steht Silvana, unglücklich mit dem Exarchen Basilio in dessen zweiter Ehe verheiratet. Seine Mutter Eudossia lehnt die Schwiegertochter ab, sein Sohn Donello jedoch beginnt mit ihr eine leidenschaftliche Affäre, was am Ende in die Katastrophe führt, wenn Silvana als Hexe angeklagt wird und auf dem Scheiterhaufen endet.

„La Fiamma“ Respighis an der Deutschen Oper Berlin/Szene/Foto Monika Rittershaus

Respighis Musik ist stilistisch vielfältig, von ausladender Üppigkeit und in ihrer Dimension bis an die Schmerzgrenze gehend. Carlo Rizzi am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin gelang es, die Sänger in ihren extrem fordernden Partien sicher zu führen und nie zu gefährden. Auch das Melos in einigen Passagen (so bei der Ankündigung von Donellos Rückkehr oder im Duett zwischen Basilio und Silvana) fand unter seine Hand gebührende Beachtung.

Eine exzellente Besetzung sicherte den Erfolg der Premiere am 29. 9. 2024. Für Ausriné Stundyté sang die russische Sopranistin Olesya Golovneva die Silvana, unangefochten in der brennenden Intensität des Vortrags, der metallischen Durchschlagskraft, der nie versiegenden Kraftreserven und einer packenden Darstellung mit totalem körperlichem Einsatz. Barbara Drosihn hat ihr durchgehend ein kleines Schwarzes verordnet, wie ihre Kostüme überhaupt recht. eintönig und einfallslos ausfielen. In Richtung dramatisches Fach hat sich Martina Serafin entwickelt, so dass ihre Eudossia sowohl von einer präsenten tiefen Lage wie charaktervoll strengen Höhe profitierte. Oft wird Respighis Oper als eine der drei Außenseiterinnen bezeichnet. Zu Silvana und Eudossia gesellt sich die alte Agnese di Cervia, die zu Beginn von der aufgebrachten Menge als Hexe verfolgt und auf den Scheiterhaufen geschleppt wird.

Doris Soffel hatte einen fulminanten Auftritt mit totaler stimmlicher wie darstellerischer Hingabe, vor allem wenn sie Eudossia, Silvana, Basilio und Donello verflucht, bevor sie (bzw. ihr Double) mit entblößter Brust von Flammen umringt aus dem Leben scheidet.

„La Fiamma“ Respighis an der Deutschen Oper Berlin/Szene mit Doris Soffel/Foto Monika Rittershaus

Bemerkenswerte stimmliche Leistungen gab es auch in kleineren Partien, so von Patrick Guetti als Exorzist mit potentem Bass oder Sua Jo als Magd Monica mit lyrischem Sopranglanz, die sich gleichfalls in Donello verliebt hat und deswegen von Silvana in ein Kloster verbannt wird. Bei den Herren fiel Georgy Vasiliev etwas ab, dessen baritonal getöntem Tenor es für den jugendlichen Liebhaber Donello an Schmelz mangelte. An darstellerischem Engagement ließ er es aber nicht fehlen, so dass das Liebesduett mit Silvana zu Ende des 2. Aktes starke optische Wirkung besaß. Seine heißblütigen Schwüre an sie im letzten Akt vermittelten sich dagegen akustisch nicht. Erprobt in diesem Repertoire ist der Bariton Ivan Inverardi, dessen Basilio autoritäre Kraft ausstrahlte und im Duett mit Silvana auch zu emotionalem Einsatz   fand.

Respighis „Fiamma“ gab es bereits 1936 an der Berliner Lindenoper in der Inszenierung von Rudolf Hartmann mit einer hochkarätigen Besetzung von Margarete Klose bis zu Marcel Wittrisch; Robert Heger war der Dirigent ; hier Eindrücke aus dem Programmheft/Privatbesitz

Einmal mehr glänzten der Chor und Extrachor des Hauses (Einstudierung: Jeremy Bines) sowie der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin (Christian Landhorst), beginnend mit aufgebrachten Gesängen aus dem Off bis zur gewaltigen Hymne an Gott am Ende.

Einen irritierenden und enttäuschenden Kontrast zur musikalischen Vielfalt bildete die nüchterne Optik der Aufführung. Herbert Murauer hatte die Bühne mit braunem Holzfurnier eingefasst, als ob die Holzvertäfelung des Zuschauerraumes sich auf der Bühne fortsetzen würde. In diesem schmucklosen Interieur bot einzig das Wiesenstück als Naturpanorama beim Öffnen einer hinteren Wand eine Abwechslung. Bernd Hoppe

.

.

Eine Opernkomponistin 1835 in Italien? Anna die Resburgo von Carolina Ucelli beim Teatro Nuovo, New York. Die Suche nach Carolina Uccelli begann mit einem historischen Druckfehler. Will Crutchfield – Maestro, Musikwissenschaftler, Musikkritiker, Gelehrter – durchforstete die Listen der Opern und Komponisten in Band IV von Francesco Florimos monumentalem Werk, das alle in Neapel in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts produzierten Opern katalogisiert, als er auf einen interessanten Eintrag für eine „Carolina Miceli“ und eine Oper namens Anna di Resburgo stieß, die laut Florimo 1835 am Teatro San Carlo nach einem Libretto von Gaetano Rossi aufgeführt wurde.

Eine Oper von einer Frau? Im Italien der 1830er Jahre? Aufgeführt an einem großen Opernhaus? Für einen Belcanto-Liebhaber und Musikhistoriker in der Tat verlockend, aber nachfolgende Recherchen ergaben nichts über „Miceli“, bis Crutchfield einen korrigierten Eintrag in Giovanni Salviolis viel späterer „Bibliography of the Italian Dramatic Theatre…“ fand, in dem vermerkt war, dass der Komponist nicht Miceli, sondern Uccelli hieß und dass das Theater der Uraufführung nicht das San Carlo Neapel war, sondern das gemeinsam verwaltete Teatro del Fondo. Bei der Suche nach der Partitur wurde das Manuskript eines Kopisten in der Bibliothek des Konservatoriums von Neapel gefunden (wo Donizetti-Zeitgenonosse und Biograph Florimo eineinhalb Jahrhunderte zuvor Archivar gewesen war). Crutchfield nannte es „Hühnerkratzer“, aber auch Beweise für „eine geborene Opernkomponistin“, und es begann die lange Aufgabe, die handschriftliche Partitur für eine Aufführung dieser völlig unbekannten Oper einer völlig unbekannten Komponistin nutzbar zu machen, die sich in die Höhen der Opernproduktion in der Stadt gewagt hatte, die die Karrieren von Rossini, Donizetti, Bellini und so vielen anderen begründet hatte.

Wer war Carolina Uccelli? Sie wurde 1810 in der Nähe von Florenz als Carolina Pazzini geboren, heiratete einen bekannten Arzt und Professor aus Pisa und gebar ihm eine Tochter, Emma. Im Alter von 17 Jahren begann Uccelli mit der Komposition von Liedern, und eine Sammlung ihrer Lieder und Arien wurde in ihrem siebzehnten Lebensjahr in Mailand veröffentlicht. Im Jahr 1830, als sie 20 Jahre alt war, wurde ihre erste Oper, Sauldas Manuskript ist verloren gegangen – am Teatro della Pergola in Florenz mit Rossinis starker Unterstützung aufgeführt. Anna di Resburgo wurde komponiert, als Uccelli in ihren frühen Zwanzigern war, und in Neapel aufgeführt, als sie 25 war. Sie erlebte einige Aufführungen im Fondo mit mehreren Mitgliedern derselben außergewöhnlichen Besetzung, die einen Monat zuvor Lucia di Lammermoor im San Carlo uraufgeführt hatte; vielleicht gab es Anfang des folgenden Jahres eine weitere Aufführung im San Carlo – und dann war es still. Vielleicht arbeitete Uccelli an einer Oper namens Eufemio da Messina, die jedoch nie produziert (oder fertiggestellt) wurde. Sie schrieb eine Kantate zu Ehren von Maria Malibran, als diese berühmte Sängerin starb, und zog sich dann in ein häusliches Leben zurück, zog ihre Tochter groß, ohne jedoch das Komponieren aufzugeben, wenn auch kleinere Salonstücke und Lieder und Arien für Diven der Epoche, Werke, die die Gesellschaft für eine talentierte Frau als „angemessen“ erachtete, entstanden. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie schließlich nach Paris und reiste mit ihrer Tochter Emma, die inzwischen erwachsen und Sängerin geworden war, auf Konzertreisen herum. Einer ihrer „Auftritte“ war bei einem der berühmten Salonkonzerte, die ihr langjähriger Freund, der pensionierte Rossini, in seiner Wohnung in der Rue d’Antan gab. Sie starb 1858,, ihre Karriere als Opernkomponistin, bevor sie 30 Jahre alt wurde, war längst vergessen, reduziert auf „Miceli“, ein falsches Kürzel in einer langen Liste ihrer Werke  von Komponiste, die außer ihr alle Männer waren.

Anna di Resburgo war 189 Jahre nach ihrer Geburt am 20. Juli 2024 im Alexander Kasser Theatre auf dem Campus der Montclair State University in Montclair, New Jersey, endlich wieder zu hören; dann folgte  eine weitere Aufführung ins Rose Theater am Columbus Circle in New York. Die halbszenische Produktion stammt vom Teatro Nuovo (TN), der Belcanto-Schmiede von Will Crutchfield. Vor der Oper gab es für das zahlreich erschienene Publikum ein Klavier- und Gesangskonzert der TN Resident and Studio Artists und eine von Will Crutchfields faszinierenden musikalischen Analysen der kommenden Oper. Die Sängerinnen und Sänger führten acht Konzertarien und Lieder von Uccelli auf, begleitet von Timothy Cheung am Klavier. Die Werke waren eine Offenbarung, zwei davon schrieb der siebzehnjährige Uccelli, das Bellini-eske „Non invan su questa sponda“ und die Arie mit Cabaletta „Frena le belle lagrime“: „Il rimprovero“, das stark an Desdemonas „Weidenlied“ aus Rossinis Otello erinnert; ein Trinklied („Orgia“), ein lebhaftes Tenorstück, „Il menestrello“ („Der Minnesänger“), ein Lied in französischer Sprache und, besonders reizvoll, ein Duett für Sopran und Mezzo („I rematori“), das Uccelli für sich und ihre Tochter Emma schrieb, um es auf ihren Konzertreisen zu singen. Die Texte stammten wahrscheinlich von Uccelli selbst. Viele der Sänger schienen das Studentenalter überschritten zu haben, darunter Jeremy Brauner (Tenor), Laura Nielsen (Sopran), Juan Hernandez (Tenor) und Robert Garner (Bariton).

Will Crutchfields Vortrag über die Oper, der durch zahlreiche Musikbeispiele veranschaulicht wurde, zeigte seine echte Begeisterung für seine Entdeckung und wies deutlich auf Uccellis „Fingerabdrücke“ hin, darunter ungewöhnliche harmonische Verläufe und experimentelle Orchestrierungen (z. B. eine Begleitung für Trommel und Flöte, zwei sehr ungewöhnliche Instrumente, die zusammen zu hören sind). Vor allem wies Crutchfield auf Uccellis angeborenes Verständnis dafür hin, wie man einen kompletten Opernabend musikalisch „aufbaut“, insbesondere den straffen zweiten Akt. Er wies darauf hin, dass wir ihr Werk vielleicht nicht im Vergleich mit den größten Opern des Jahrhunderts von den großen Komponisten – Verdi, Wagner, Rossini, Donizetti – beurteilen sollten, sondern mit der zweiten Oper dieser überragenden Persönlichkeiten. Im Vergleich zu Un giorno di regno oder Das Liebesverbot oder ähnlichem ist Uccelli der klare Sieger.

Will Crutchfield conducting at Teatro Nuovo’s predecessor, the Bel Canto program at the Caramoor Festival (Photo by Gabe Palacio)/Early America Music

Die Partitur, die von den Solisten des Teatro Nuovo mit ihrem historisch orientierten Orchester und ihren Chören dargeboten wurde, trug den ganzen Enthusiasmus in sich, den Maestro Crutchfield im Vorfeld geäußert hatte. Das Libretto von Gaetano Rossi, das 1819 für Meyerbeers Emma di Resburgo geschrieben wurde, wurde von Uccelli überarbeitet. Die Geschichte geht sogar noch weiter zurück, bis hin zu Méhuls Héléna aus dem Jahr 1803, in der die Geschichte einer abgewendeten Tragödie und der Rettung Unschuldiger in der französischen Provinz spielt. Giovanni Simone Mayr hatte die Geschichte für eine italienische Oper, Elena, mit einem Libretto von Leone Tottola, aufgegriffen, und andere folgten ihm. Rossi verlegte den Schauplatz für Meyerbeer nach Schottland (Roxburgh), das damals im Gefolge von Walter Scotts äußerst populären Romanen sehr in Mode war. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die elfjährige Uccelli Meyerbeers Oper gesehen hat, als sie 1821 in Florenz aufgeführt wurde, und die Geschichte scheint ihm im Gedächtnis geblieben zu sein.

Es ist die Geschichte einer starken Frau, einer Mutter und ihres Kindes, einer glücklichen Ehe und einer Rettung vor Ungerechtigkeit, die es der Familie ermöglicht, trotz aller Widrigkeiten wieder vereint zu sein. In gewisser Weise ging sie der Zeit gegen den Strich, mit schwachen romantischen Heldinnen und byronischen Helden, die tragische Schicksale erleiden. Bevor sich der Vorhang hebt, hat Duncalmo seinen Freund Roggero, den Herrn von Lanerk, heimtückisch ermordet und es so arrangiert, dass Roggeros Sohn Edemondo des Verbrechens beschuldigt wird. (Eine ausführliche Inhaltsangabe und weitere Informationen gibt es dann im Rahmen eines weiteren Beitrags der Reihe Die vergessene Oper, G. H.)

Die TN-Besetzung war durchweg hervorragend. Besonders wunderbar war Ricardo José Rivera als Norcesto, dessen sonorer Bass jede Belcanto-Wendung beherrscht und dennoch die Komplexität der Figur wiedergibt. Ebenso gut war der Tenor Lucas Levy als Olfredo, der in seiner ungewöhnlichen „Patter“-Arie glänzte. TN-Stammgast Santiago Ballerini (dessen Arbeit mit Crutchfield auf seine Bel Canto at Caramoor-Tage zurückgeht) erwies sich in der Hauptrolle des Edemondo als völlig zu Hause, während Elise Albian als Etelia (die die Oper mit einer pastoralen Arie eröffnet, die das glückliche Ende vorwegnimmt) sehr schön sang. Chelsea Lehnea, eine weitere TN-Stammkundin, sang die Anna sympathisch und mit behender Belcanto-Pyrotechnik, obwohl sie zu den Sopranen gehört, deren Sopran hauptsächlich aus der Kopfstimme zu kommen scheint.

Passenderweise waren die Orchesterleiter (in dem von TN praktizierten historischen Stil) beide Frauen: Elisa Citterio war Primo Violino e Capo d’Orchestra und Lucy Tucker Yates war Maestra al Cembalo. Ihr Spiel und ihre Leitung waren einfühlsam und voller Klarheit. Derrick Goff war der Chorleiter. Alle spürten offensichtlich die Bedeutung des Augenblicks und waren diesem besonderen Anlass gewachsen.

Lehnea war die einzige Sängerin, die kostümähnliche Kleidung trug – ein Bauernkleid im ersten Akt und ein weites Queen-Anne-Kleid in leuchtendem Grün im zweiten Akt, die beide im Kontrast zu ihrem kurzen blonden und sehr modernen Haarschnitt standen. Alle anderen trugen formelle Kleidung. Die Inszenierung von Marco Nisticò war jedoch szenisch, oder fast szenischt. Es gab gemalte Bühnenbildprojektionen im Stil des primo ottocento von Adam Thompson und eine effektive Beleuchtung von Devon Allen und Jason Flamos.

Carlolina Ucelli: Fanny Tachinardi Persiani sang die Titelrolle der Uraufführung/ hier auf einbem Stich zu Donizettis „Lucia di Lammermoor“/Wikipedia

Carolina Uccelli hatte das große Pech, ihre Oper nur wenige Wochen nach der Uraufführung von Donizettis Lucia di Lammermoor im selben Neapel aufzuführen. Fanny Tacchinardi-Persiani, die erste Anna, kam nämlich gerade von ihrer siebzehnten Aufführung und versetzte das Publikum mit der Wahnsinnsszene aus Lucia in helle Aufregung . Anna di Resburgo, die eine schottische Kulisse und einige Ähnlichkeiten in der Handlung mit Lucia aufweist, verfügt nicht über so unvergessliche Melodien wie „Cruda funesta smania“, das Sextett, die verrückte Szene oder die Schlussarie des Tenors. Ist es da ein Wunder, dass die arme Uccelli-Oper von dem neuen Meisterwerk, das am anderen Ende der Stadt gespielt wird, in den Schatten gestellt wurde?

Nichtsdestotrotz ist Anna di Resburgo wieder da. Will Crutchfield verspricht eine gedruckte Partitur und (so wagen wir zu hoffen) eine CD. Wir hoffen, dass Carolina Uccellis lange verschollenes Kind wieder da ist und dass das Teatro Nuovo ihm ein wirklich glückliches Ende beschert hat – endlich. Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL (alle Aufführungsfotos Steven Pisano/Teatro Nuovo; ein ausführlicher Beitrag zu dieser Ausgrabung folgt ebenfalls in unserer Serie Die vergessene Oper mit Originalbeiträgen von Dirigenten Will Crutchfield)

.

.

.An der Semperoper: Berlioz mit Bilderflut. Für seinen Abschied von der Sächsischen Staatsoper Dresden hatte Intendant Peter Theiler ein anspruchsvolles Werk gewählt: Hector Berlioz´ Opéra-comique Benvenuto Cellini. Gezeigt wurde die Weimarer Fassung, welche am dortigen Hoftheater 1852 zur Uraufführung kam. In Dresden wurde das Werk 1888 an der Königlichen Hofoper erstaufgeführt, erlebte danach 1929 noch eine Produktion, um dann gänzlich aus dem Repertoire zu verschwinden.

Fast hundert Jahre später also ein lokaler Wiederbelebungsversuch, für den die tschechisch-schweizerische Regisseurin Barbora Horáková gewonnen wurde. Gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Aida Leonor Guardia überflutet sie den Zuschauer mit einer Überfülle von Bildern und Aktionen, welche ihn an den Rand der Ratlosigkeit, ja Erschöpfung führen. Das Künstlerdrama um den berühmten Bildhauer, das an drei Tagen während des Karnevals in Rom 1532 spielt, verortet sie in der Gegenwart und stellt Cellini als Forscher für KI oder andere moderne Technologien dar. Entsprechend wird die Szene überfüllt mit technischen Videoclips (Sergio Verde), die aber auch  zeitgenössische Episoden zeigen (wenn der Pabst von Trump, Putin und Macron geküsst wird). Pausenlos zu sehen sind Projektionen auf dem Rundhorizont – durch Science-fiction-Figuren verfremdete Renaissance-Gemälde,  ein zerstörtes antikes Theater, die berühmte Perseus-Statue mit dem abgeschlagenen Haupt der Medusa, ergänzt durch kubistische Varianten und eine Metropolis-Figur. Dominant sind zwei futuristische Kopfhälften an mit Neonröhren versehenen Gerüsten links und rechts, die sich drehen können und auf ihren Rückseiten digitale Raster oder anderes technologisches Gewirr zeigen. Scheußlich sind die Kostüme von Eva Butzkies in ihrer grellen Buntheit und ans Peinliche grenzenden Geschmacklosigkeit. Zweifelhaft scheinen die Auftritte einer Tänzer-Gruppe, die in der Choreografie von Juanjo Arqués das Geschehen bevölkert –  als Breakdancer, Gaukler, die Leibgarde des Papstes, der in einem goldenen Fabergé-Ei hereingetragen wird, oder halbnackte Jünglinge, die Cellini beim Gießen seiner Perseus-Statue lasziv garnieren. Rätselhaft sind einige Personen, vor allem Cellinis Gehilfe Ascanio, der in Gestalt von Stepánka Pucálková als außerirdischer Roboter im silbernen Raumanzug mit abgehackten Bewegungen daherkommt. Das größte Fragezeichen gibt der blonde Knabe am Ende auf, der per Knopfdruck die Massen wie Marionetten zusammenfallen lässt. Sollte das die KI vermögen?

„Benvenuto Cellini“ von Hector Berlioz in Dresden/Szene/ © Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Über die musikalische Seite der Aufführung lässt sich Positiveres berichten. Mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden fächert Giampaolo Bisanti die farbenreiche Musik imponierend auf. In der Ouvertüre lässt er deren Brio und das schwelgerische Melos aufscheinen, später vor allem die lebhaften Chorszenen zu starker Wirkung kommen. Manches aber ist in der Dynamik nicht ausgewogen, zu sehr auf forte-Attacken orientiert. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: André Kellinghaus) sorgt für ausgelassene Stimmung und vokale Pracht beim Trinkgelage oder beim Auftritt als Bauarbeiter mit Schutzhelmen während Cellinis Schöpfungsakt mit der Statue. Anton Rositskiy als Titelheld verwandelt sich hier selbst in Perseus, auf einem Treppenpodest stehend und sich mit goldener Farbe anstreichend. Das Solo „Sur les monts“ singt der Tenor sehr kantabel und weich, während seine höhensichere Stimme die exponiert notierte Partie zwar souverän bewältigt, aber nicht immer angenehm klingt. Seinen Konkurrenten Fieramosca gibt Jérôme Boutillier mit zupackendem Bariton, Ante Jerkunica den päpstlichen Schatzmeister Balducci mit auftrumpfender Gebärde. Dem Papst Clemens VII verleiht Tilmann Rönnebeck seinen sonoren Bass. Makellos ist der Gesang von Tuuli Takala als Teresa. Der kraftvolle Sopran der Sängerin klingt mühelos auch bei der Bewältigung anspruchsvollster Passagen und sie überzeugt darüber hinaus mit ihrem lebhaften Spiel. Stepánka Pucálková stattet den Ascanio mit ihrem hellen, zuweilen herben Mezzosopran aus, der im Solo „Tra la la la“ im 2. Akt energisch und übermütig auftrumpft. Auch in der letzten Vorstellung der Serie am 10. Juli 2024 war das Haus gut gefüllt und das Publikum von der Aufführung sehr angetan. Bernd Hoppe

.

.

Mussorgskys Chowanschtschina an der Berliner Staatsoper: Epischer Bilderbogen. Eine Produktion von Mussorgskys Volksdrama Chowanschtschina stellt jedes Opernhaus vor große Herausforderungen – zum einen wegen der nötigen hochkarätigen Besetzung, zum anderen wegen der ereignisreichen Handlung, welche die politischen Machtverhältnisse im Russland des 17. Jahrhunderts thematisiert und für deren Umsetzung es eines erfahrenen Regisseurs bedarf.

An der Staatsoper hatte Claus Guth diese Aufgabe übernommen. Zum Team gehören seine erprobten Mitarbeiter Christian Schmidt (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme). Entstanden ist eine Aufführung mit vielfältigen künstlerischen Mitteln – darunter die im zeitgenössischen Musiktheater mittlerweile omnipräsenten Live-Kameras, deren Aufnahmen auf diverse Screens im Bühnenhintergrund übertragen werden. Zudem gibt es Filme, welche das Elend des russischen Volkes von der Vergangenheit bis in die Gegenwart zeigen, sowie abgebildete historische Gemälde. Die Personen der Handlung werden in einigen Sätzen charakterisiert, welche über ihnen an die Wand geworfen werden. Das alles ergibt eine Fülle von Informationen, die zu verfolgen vom Vortrag der Interpreten auch ablenken kann.

„Chowanschtschina“ an der Berliner Staatsoper/ Foto Rittershaus

Problematisch ist die Erfindung einer zweiten Zeitebene – die der Gegenwart mit einer Forschergruppe, deren Mitglieder die Geschichte be- und hinterfragen. In ihrer uniformen Schutzkleidung mit Handschuhen erinnern sie an medizinisches Personal. Seltsamerweise sind sie aber nicht nur Beobachter, sondern greifen nahezu permanent in die Handlung ein, fungieren als Ankleider, Requisiteure und Bühnenarbeiter,  sorgen für Nebel und transportieren Tote von der Bühne. Im letzten Akt wird das Forschungsprojekt abgebrochen, was die Mitglieder von der Bühne verbannt – sehr zum Gewinn der Aufführung, die nun stringenter abläuft und an Faszination gewinnt. Ein glänzender Einfall ist die Verwendung von tableaux vivants, die in ihrer Anschaulichkeit und Ästhetik von bestechender Wirkung sind und jegliche naturalistische Darstellung vermeiden. Da sieht man den jungen Zaren Peter, von Kindheit an ein begeisterter Anhänger des Militärs, auf einem Schlachtfeld inmitten von Zinnsoldaten oder einen Kriegsschauplatz mit einem zu Tode gestürzten Pferd und erschossenen Soldaten. Ein großer Wurf ist die Choreografie von Sommer Ulrickson, die nach dem ausgelassenen Tanz der Frauen in der Strelitzen-Vorstadt zu ihrem Höhepunkt findet im Palast des Fürsten Iwan Chowanski beim Tanz der ganz in Weiß gekleideten Männer und Frauen, die sich wie Derwische in Trance drehen. Überhaupt sind die Kostüme von Ursula Kudrna in ihrer Pracht, der aufwändigen Verarbeitung und Detailgenauigkeit ein Glanzstück der Inszenierung. Schmidts Bühnenbilder beginnen und enden in einem Arbeitszimmer Putins im Kreml mit einer Statue von Zar Peter hinter dem Schreibtisch. Danach werden die einzelnen Schauplätze skizzenhaft angedeutet, was dem Fragmentarischen des Werkes entspricht, oft mit dem Einsatz der Unterbühne.

Grandios sind die Chorszenen, beginnend im 1. Akt mit dem Klagegesang „Ach, liebes Mütterchen Russland“ bis zum kollektiven Suizid am Ende, wenn alle in schwarzen Gewändern und mit brennenden Kerzen Gott preisen und dann in der Tiefe versinken, wo sie den Flammentod finden. Lichtdesigner Olaf Freese hat dankenswerterweise auf rotes Licht und die Projektion von züngelnden Flammen verzichtet, dafür die Szene mit schwarzen Rußpartikeln überschüttet, welche in ihrer Düsternis ein beklemmendes  Bild abgeben. Der Chor und der Kinderchor der Berliner Staatsoper (Einstudierung: Dani Juris) singen mit überwältigender Präzision, mit Kraft und Fülle. Simone Young hat sich mit der Staatskapelle Berlin der Fassung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Strawinsky angenommen (erstaufgeführt 1960 in Leningrad). Ihre Lesart ist betont lyrisch, die Musik kann schroffer, kantiger und spröder klingen. Die flirrenden Orientalismen im 4. Akt erinnern gar an Borodin und Rimsky-Korsakow.

Eine glänzende Besetzung legt der Staatsoper Ehre ein, angeführt von zwei Ausnahme-Bässen, die sich ein Atem beraubendes Duell liefern. Der Finne Mika Kares als Fürst Iwan Chowanski im roten Uniformmantel der Strelitzen imponiert mit machtvoller Stimme, Taras Shtonda als Dossifei im grauen Gewand mit orgelndem Organ steht ihm nicht nach. Namiddin Mavlyanov gibt mit potentem Tenor Iwans Sohn Andrei. Prachtvoll gewandet in Samt und Spitze ist Marina Prudenskaya die Marfa, bei der Prophezeiung ganz in Schwarz und mit prophetischem Ausdruck. Evelin Novak ist eine Emma mit expressivem Sopran, Anna Samuil die Susanna mit greller Höhe.  Das Publikum der Premiere am 2. Juni 2024 feierte alle Mitwirkenden enthusiastisch. Bernd Hoppe

.

.

Grandioses in Brandenburg: Richard Strauss´ Elektra wurde am Theater Brandenburg als ein Psychodrama gegeben, das in seiner packenden Darstellung an die so genannten „Revenge-Movies“ Hollywoods erinnerte, in denen sich Frauen, die oft bereits dem Wahnsinn verfallen sind, spektakulär für erlittene Gewalt rächen. Mord, Rache und Gewalt wurden so in voller Wucht präsentiert. Die Stärke der Brandenburger Elektra liegt darin, dass das Psychogramm einsamer, verletzter und mit teils tödlicher Wut gefüllter Seelen packend entfesselt wird.

Das Bühnenbild besteht aus stehenden und hängenden Metallelementen mit unterschiedlich angeordneten Verstrebungen aus Panzertape, die einem Tarnnetz der Armee gleichen. Sie werden passend zur Szene mit faszinierenden Lichteffekten ausgeleuchtet, so dass eine Bildlandschaft mit faszinierenden Impressionen entsteht. In der Mitte der Bühne steht die Urne des toten Königs Agamemnon, über die sein Königsmantel hängt, den Elektra später überstreift.

Für die Kostüme zeichnet Hannes Ruhland verantwortlich. Gelernter Damenschneidermeister und an der Modeschule München ausgebildeter Stylist war er langjährig als freischaffender Designer und bei Escada tätig. Heute betreut er unter anderem seine eigene Kollektion „Shapes & Patterns“. Durch die luxuriöse Wahl eines derart beschlagenen Designers wartet die Brandenburger Elektra mit vollendeten, die Charaktere subtil zeichnenden Kostümen auf. Barbara Kriegern trägt ein militärisch geschnittenes Kleid mit integrierten Shorts, über das sie zeitweise den Königsmantel trägt. Geschickt werden so Weiblichkeit, gesellschaftlicher Rang und der mörderische Auftrag versinnbildlicht. Orest ist gleichfarbige uniformiert während Klytämnestra und Chrysothemis blutrot tragen. So werden schon durch Kostümschnitt und Farben die Lager der unterschiedlichen Parteien verdeutlicht Die Mägde erinnern in Gewändern an die Hexen in Macbeth. Aegisth ist ein viriler junger Krieger mit Goldpanzer.

Regisseur Alexander Busche erweist sich als Meister der Licht- und Personenführung. Zentrum des Raums ist eine metallenen Vase, die einer Urne gleicht und auch die Asche Agamemnons Bergen könnte. Die unterschiedlichen Szenen werden mit eindrucksvollen Lichteffekten untermalt. Mal schlangengleich verschlagen und mal elegant verführerisch bewegt sich Barbara Krieger gefährlich  amazonengleich aber auch verführerisch im Dialog mit Klytämnestra  durch den Raum. Orest ist ihr äußerlich in sich ruhender Gegenpol, der nur selten wütend auffährt. Hier ist das Stück entsprechend der Musik inszeniert und unterstützt die Entwicklung des Dramas

György Mészáros konnte das packend rauschhafte Musiktheater mit den Brandenburger Symphonikern packend umsetzen. Gespielt wurde die orchestral reduzierte mit etwa fünfzig Musikern, die hinter dem Bühnenbild spielten. Neben der Wucht der Emotionen gelangen auch die Zwischentöne, Kontraste und kammermusikalische Elemente. Mészáros bewältige auch die schwierige Aufgabe ohne unmittelbaren Kontakt mit den Sängerinnen und Sängern ein großes Drama zu erzeugen. Insgesamt überzeugte das Orchester durch ein differenziertes und packendes Klangbild. Den Musiker gelang eine ergreifenden Farbpalette und es wurde mit grandioser innerer Beteiligung gespielt.

„Elektra“ am Theater Brandenburg/Szene mit Barbara Krieger und Yvonne Elisabeth Frey / Foto Detlef Kurth

Barbara Kriegers Elektra war von lyrisch glühender Intensität. Mit immensem vokalem Einsatz und einer breiten Palette an Stimmfarben gelangen ihre die Momente der eigenen Verletzlichkeit aber auch der tückischen Gefahr, die von Elektra ausgeht, mit faszinierender Seelentiefe. In ihren Monologen und den Dialogen mit Orest und Klytämnestra entwickelt sie eine verzehrende Intensität und große darstellerische Präsenz. Sie war technisch unglaublich sicher und so mit der Partie verwachsen, dass sie ihre stimmlichen Qualitäten durchweg ausspielen konnte. Darstellerische Intensität, paarte sich mit atemberaubendem stimmlichen Umfang von der Tiefe bis in die höchsten Lagen. und berückendem Timbre. Die Stimme behielt stets einen sonoren Klang, blieb in der Gesangslinie und prunkte mit großer Wortdeutlichkeit. Schauspielerisch ging sie in der Rolle vollendet auf. Eine besondere Herausforderung für sie lag auch darin, dass sich Brandenburg für die ungekürzte Fassung entschieden hatte. Ein beeindruckendes Rollendebut.

Als Chrysothemis bestach Yvonne Elisabeth Frey mit hellem lyrisch-dramatischen Sopran. Mit jugendlichem Feuer goss sie ihre Träume und Sehnsüchte in blühende und raumfüllende Klänge. Einer der Glanzpunkte war auch der Dialog mit Elektra im Finale. Ihre Rolle gestaltete sie mit Verve und Intensität.

Gráinne Gillis Klytämnestra war mit dunkel volltönendem Mezzosopran und teils keifenden Höhen weniger ein starker Widerpart als eine Frau, der schon der Tod dämmerte und die darüber verzweifelte. Wut und Verletzlichkeit stellte sie mit großer Authentizität und involviertem Spiel dar.

Frederik Baldus war ein raumgreifender Orest mit lyrisch heldischem Bariton. Trotz seiner weich lyrischen Tongebung gelangen ihm dramatische Attacken, so dass er den furchteinflößenden Rächer glaubwürdig darstellte. Durch seine Rollenidentifikation machte er insbesondere die Wiedererkennungszene zu einem großen Moment der Vorstellung.

Sotiris Charalampous war ein Playboy, der die Rolle des Aegisth mit italienischem Spinto und unglaublich warmer und voluminöser baritonaler Tongebung und prächtigen hohen Tönen füllte. Eine beglückende Leistung.

Die Mägde Denise Seyhan, Oleksandra Diachenko, Anna Werle, Nataliia Ulasevych, und Natallia Baldus erinnerten an Macbeth Hexen und glänzten mit prächtigem stimmlichen Einsatz.

Grandios wurde musiziert und gesungen. Dies und die szenische Umsetzung wurde vom Publikum frenetisch gefeiert. Eine großartige Leistung, die in ihrer Wucht jedem großen Opernhaus zur Ehre gereicht hätte. Michael Stange/ 24.05.2024

.

.

Schostakowitsch an der Oper Leipzig: Ein Fabergé-Ei und andere Rätsel. Den russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch hat die Musikstadt Leipzig seit Jahrzehnten im Visier: 1965 inszenierte Joachim Herz am Opernhaus der Stadt Katerina Ismailowa als DDR-Erstaufführung. Es handelte sich um die auf Geheiß von Stalin vorgenommene Umarbeitung der Urfassung Lady Macbeth von Mzensk, uraufgeführt in Leningrad 1934, womit diese inhaltlich und in ihrer musikalischen Substanz deutlich entschärft wurde.

Die neue Version kam 1963 in Moskau heraus, wird aber heute kaum noch aufgeführt. So zeigte auch die Oper Leipzig als letzte Premiere der Saison das Original des Komponisten – quasi als Vorbereitung auf das bevorstehende Schostakowitsch-Festival Leipzig 2025.

Die Neuproduktion von Francisco Negrin ist optisch spektakulär dank des aufwändigen Bühnenbildes von Rifail Ajdarpasic und der historisierenden, aber auch symbolträchtigen Kostüme von Ariana Isabell Unfried. Der Vorhang in der Manier konstruktivistischer Malerei eines Kasimir Malevich nimmt einzelne Elemente des Bühnenaufbaus vorweg: So ist das russische Wort „Muka“ in kyrillischen Buchstaben zu lesen, was mit „Pein“, aber ebenso mit „Mehl“ zu übersetzen ist. Der Schauplatz mit seinen steilen Treppen und einer Empore zeigt dann auch eine Unzahl vom Mehlsäcken, aufgestapelt oder in der Luft hängend. Auch die Mühlräder auf dem Vorhang finden sich auf der Bühne wieder, ebenso ein Ei, das zunächst nur in seiner ovalen Form zu erkennen ist. In der Mühle aber thront es als prachtvoll verziertes Fabergé-Juwel in Blau/Gold in der Höhe und gibt das erste Rätsel der Aufführung auf. Ist es – einst Sammlerstück des russischen Zaren Alexander III. – ein heiliges Kultobjekt gleich einer Ikone, das Symbol für erträumten Reichtum oder für die ersehnte Fruchtbarkeit, welche dem Paar Katerina und Sinowij nicht vergönnt war? Katerina wird das Teil später zertrümmern und damit den Zerfall des Systems verdeutlichen, wie dieses auch im sich mehr und mehr auflösenden Bühnenaufbau gezeigt wird.

Schostakowitschs „Lady Macbeth von Msenk“ in Leipzig/Szene/Foto Kirsten Nijhof

Die Arbeiter in der Fabrik tragen Kleidung aus grobem Sackleinen mit dem Aufdruck „Muka“, laufen quasi als personifizierte Mehlsäcke herum. Drastisch karikiert mit Rüsselnasen und Schweinsohren sind die Polizisten in der Wache, die von oben herunter fährt. In ihren blauen Uniformjacken hampeln die Polizisten wie Marionetten in grotesker Überzeichnung umher. Bei der Hochzeit von Katerina und Sergej sieht man neben dem eleganten weißen Brautkleid und dem schnittigen weißen Anzug des Bräutigams Hochzeitsgäste bei der Polonaise mit schrill bunten Kopfbedeckungen. Dazu bildet der Beginn des letzten Aktes einen schmerzenden Kontrast, wenn die Gefangenen im Straflager sich in ihren grauen Lumpen  mühsam vorwärts schleppen. Am Ende sorgt der Regisseur für weitere Irritationen, wenn Sonjetka nicht von Katerina, sondern einem Unbekannten in die Tiefe des Flusses gestoßen wird und die Gefangenen gemeinsam mit der Titelheldin untergehen, statt weiterzuziehen nach Sibirien.

Grandios ist die musikalische Realisierung des anspruchsvollen Werkes. Der Chor und der Zusatzchor der Oper Leipzig (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint) singen mit überwältigender Fülle und Präzision. In der Mühle sind sie auf den Treppen und der Empore statuarisch postiert und zu Einheitsgesten mit ausgestreckten oder verschränkten Armen angehalten. Ergreifend sind ihre klagenden Gesänge am Ende. Ähnlich überzeugend ist die Leistung des Gewandhausorchesters Leipzig unter Leitung des italienischen Dirigenten Fabrizio Ventura. Er versteht es fast durchgängig, Bühne und Graben zu koordinieren, ohne die Klangmassen der Komposition zu negieren. Hämmernde, schneidende Akkorde, geschärfte Dissonanzen, schmerzende Aufschreie stehen im Kontrast zu Tönen von filigraner Zartheit oder sanft wiegendem Melos. In der Beischlaf-Musik wird das Orchester noch von Bläsern aus den beiden Seitenlogen verstärkt. Plakativ ist diese Szene der Kopulation in rotes Licht (Michael Röger) getaucht.

Ingela Brimberg profiliert die Titelrolle mit staunenswerter Kondition. Ihr strenger, wuchtig ausladender Sopran mit zuweilen greller Höhe meistert die Partie souverän und findet in den Liebesszenen auch zu blühendem Klang. Die Sehnsucht und das Verlangen der Figur vermag sie glaubhaft zu übermitteln trotz der etwas biederen Ausstrahlung mit blondem Haarkranz und nicht unbedingt attraktiven Körperlichkeit. Auch ihr Liebhaber Sergej in Gestalt von Brenden Gunnell ist optisch nicht unbedingt der Typ des unwiderstehlichen Verführers, singt aber mit potentem Tenor, während Matthias Stier als Katerinas Ehemann Sinowij matt tönt und damit dem Charakter seiner Figur entspricht. Randall Jakobsh als Katerinas Schwiegervater Boris ist mit ersticktem, verquollenem Bass ein Schwachpunkt der Besetzung.

In den Nebenrollen überzeugen Franz Xaver Schlecht als Polizeichef mit markantem Bassbariton, Nora Steuerwald als gebührend leichtfertige Sonjetka mit jugendlichem Mezzo, der Tenor Dan Karlström (Der Schäbige) mit einer Paradenummer als betrunkener Hochzeitsgast sowie mit profunden Bässen Ivo Stanchev als zwielichtiger Pope und Peter Dolinsek als menschlicher Alter Zwangsarbeiter. Das Premierenpublikum am 25. Mai 2024 honorierte die Leistungen des gesamten Ensembles herzlich und anhaltend. Bernd Hoppe

.

.

Albéric Magnars Guercoeur in Straßburg: Das also soll das Paradies sein? Ein dunkler, fast schwarzer Raum, ein Wartezimmer im Jenseits, wo die Schatten das Reich der Vérité preisen. Obwohl sich Guercoeur bereits seit zwei Jahren hier befindet, sehnt er sich nach dem Leben und seiner Frau Giselle zurück. Die Schatten einer Frau, eines jungen Mädchens und eines Dichters, die im Paradies Ruhe und Frieden gefunden haben, können ihn nicht umstimmen. Der Ritter, der sein Volk von einem Tyrannen befreite und als Konsul handelte, will sein Werk vollenden. Die Gottheiten Beauté, die Schönheit, Bonté, die Güte, und Souffrance, das Leiden, die die majestätische Vérité wie eifrige Tanten umkreisen (Kostüme: Ursula Renzenbrink), überzeugen sie, Guercoeur seinen Wunsch zu erfüllen. Albéric Magnards Guercoeur dürfte eine der wenigen Opern sein, die nach dem Tod der Titelgestalt beginnt bzw. dessen Rückkehr auf die Erde intensiv begleitet.

Magnards „Guercoeur“ in Straßburg/Foto Klara Beck

Guercoeur darf nach dem Willen seines Schöpfers Albéric Magnard in das Leben zurückkehren, um Versäumtes nachzuholen. Vielleicht lag ein solcher Stoff irgendwie in der Luft, denn kurz nach Magnards 1897-1901 entstandener Tragédie lyrique hat Franz Molnar 1909 seine Vorstadtlegende „Liliom“ geschrieben, in der er den Titelhelden für einen Tag auf die Erde zurückkehren lässt; das Musical hat das Thema („Carousel“) weitergesponnen und der Film sich seiner gerne bemächtigt. Guercoeur kehrt also auf die Erde zurück und erkennt im „Les illusions“ überschriebenen ersten Teil des zweiten Akts, dass Giselle sich mit seinem Vertrauten Heurtal zusammengetan hat. Auf Drängen Giselles vergibt Guercoeur ihr den Treuebruch. Schwerer wiegt der Verrat des einstigen Zöglings, der den Rufen des Volkes „Wir haben genug von der Freiheit“ folgt und die von Guercoeur initiierte Republik in eine Diktatur umwandeln und sich zum Diktator küren lässt. Vergebens ruft Guercoeur die Meute zur Besinnung auf, „Tötet doch mich, tötet die Freiheit“. Sie stürzen sich auf ihn. Der tödlich verwundete bittet La Verité um Verzeihung für seinen Hochmut und stirbt.

Stéphane Degout ist in jedem Moment großartig. Es gelingt ihm, den steifleinenen Zeilen und dem sperrigen Charakter mit seinem hochpräsenten, charaktervoll profunden Bariton und der durchgehend fesselnd präzisen Artikulation zum Leben zu erwecken. Nach der Dunkelheit des Paradieses zeigen Christof Loy und Bühnenbildner Johannes Leiacker die Erde als hellen Gegenentwurf zum Paradies mit einer schmalen, spitzwinkeligen Kammer zwischen heller Vorder- und dunkler Rückseite, in der man das arkadisch-paradiesische Bild „Paysage avec figures de danse“ des nach seiner lothringischen Herkunft genannten Barockmalers Claude Lorrain, eigentlich Claude Gellée, erblickt. Beim Aufruhr des Volkes steigen ein paar Männer auf die Stühle. Mehr braucht es für diesen vergessenen Dreiakter nicht, der jetzt an der Straßburger Opéra National du Rhin zu überhaupt erst dritten Mal auf einer Bühne gezeigt wurde.

Magnards „Guercoeur“ in Straßburg/ Foto Klara Beck

Das ist merkwürdig. Hatte sich doch 1988 Michel Plasson mit einer überzeugenden EMI-Einspielung für Magnard und seinen Helden mit dem aus Krieg und Herz, Guerre und Coeur, zusammengesetzten Namen stark gemacht. Doch folgenlos. Erst 30 Jahre später hatte Osnabrück 2019 die deutsche Erstaufführung gewagt, die einer sensationellen Wiederentdeckung gleichkam.

Der Komponist mit dem höchst seltenen Nibelungen Namen Albéric, also Alberich, wurde 1865 als Lucien Denis Gabriel Albéric Magnard in Paris geboren. Der einflussreiche und wohlhabende Vater Francis Magnard war ab 1879 Redakteur und später Herausgeber des Le Figaro, wo Albéric eine Plattform für seine Musikkritiken fand. Nach dem Abschluss des Jurastudiums studierte Magnard am Conservatoire bei Dubois und Massenet, später bei d’Indy und schloss eine enge Freundschaft mit Guy Ropartz. Als 21jähriger erlebte er in Bayreuth Tristan und Isolde, 1890 schrieb er anlässlich der ersten kompletten Aufführung der Troyens in Karlsruhe dies sei das Hauptwerk der französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Durch das Vermögen des Vaters war er nach dessen Tod 1894 finanziell abgesichert und unabhängig, musste keine Kompromisse eingehen, hatte jedoch Probleme, seine Werke, die er ab 1902 selbst zu drucken begann, zur Aufführung zu bringen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs schickte Magnard seine Frau und seine beiden Töchter an einen sicheren Ort, während er auf seinem Anwesen Manoir de Fontaines in Baron (Oise) einem deutschen Trupp entgegentrat und am 3. September 1914, quasi am Vorabend der Schlacht an der Marne, in den Flammen des Hauses umkam. Das Feuer vernichtete auch die zwei Akte von Guercoeur, die der treue Ropartz, der in Nancy bereits 1908 den dritten Akt aufgeführt hatte, aus dem Gedächtnis rekonstruierte. Erst 1931 erfolgte in Paris die posthume Uraufführung der gesamten Oper.

Alberic Magnard/Wikipedia

Sinn- und Erlösungssuche verbinden sich in Guercoeur zu einer spröden Bühnenaktion im Nachhall spätbarocker Allegorien und Mysterienspiele, in der Stimmungen und Gefühle in den breiten sinfonischen Teilen großen Raum einnehmen. Hinzutritt eine fast religiöse, französisch katholische Anmutung, wie sich noch bei Messiaen zu spüren ist. Der Bezug zu Parsifal scheint nicht nur durch die Anlage der beiden kontemplativen Außenakte und des dramatischen Mittelteils sowie der mystischen Chöre offenkundig, die sublime Musik- und Textausdeutung erinnert an den Berlioz der Nuits d’été und Les Troyens, man hört und spürt Chaussons theatralisch ebenso blutleeren Le roi Arthus, Debussy und Dukas, auch Bruckner, und ahnt den anbrechenden Expressionismus. Auf jeden Fall ist die Musik von großer Intensität und Überzeugungskraft und im dritten Akt, der wie ein musikalisch illustriertes Heiligenbild wirkt, von ausgewählter Schönheit. In einem weiten, melodiös magischen Hymnus feiert Vérité – bei zeitweise erhellten Zuschauerraum – Liebe und Freiheit, „“L’homme, enfin conscient de sa tâche, doit grandir dans l’amour et dans la liberté. La fusion des races, des langages, lui donnera le culte de la paix“.

Postkarte mit der Ruine des Hauses Albéric Magnards in Baron (Oise); 1914 wurde er von deutschen Soldaten angegriffen und er erschoss zwei davon; aus Rache zündeten die anderen sein Haus an, und er kam in den Flammen um/Wikipedia

In den weit und kraftvoll ausschwingenden Linien einer französischen Brünnhilde – Plasson hatte dafür Hildegard Behrens ausgesucht – entfaltet Catherine Hunold mit seidig schönem Sopran, der in den kraftvoll dramatischen Steigerungen noch Eleganz und wohlige Sanftmut bewahrt, eine paradiesische Zukunft, die auch ein wenig an die Visionen von Smetanas Libussa erinnern. An den Schlussgesang schließen sich noch das seltene Beispiel eines Quartetts der vier Frauen, die fernen Chöre und das Schlusswort „Espoir“, Hoffnung, an. Eugénie Joneau als Bonté, Gabrielle Philiponet als Beauté und vor allem die stimmlich sprühende Altistin Adriana Bignagni Lesca als Guercoeurs ständige Begleiterin Souffrance geben die Gottheiten als vornehm gekleidete Gesellschaftsdamen des frühen 20. Jahrhunderts. Antoinette Dennefeld singt die Giselle mit energiegeladenem Mezzosopran, der vielversprechende Julien Henric setzt seinen markanten, zu heldischen Steigerungen fähigen Tenor als Heurtal vorteilhaft ein. Das Paradies versinkt im gänzlichem Dunkel, über dem Loy und Leiacker einen kitschig schönen Sternenhimmel setzen.

Der Begeisterung ist kein Ende. Ingo Metzmacher, der die Partitur an sich drückt, wird für die großartige Koordination himmlischer und irdischer Personen und mystischer Chöre und die sublime Ausdeutung mit dem Orchestre philharmonique de Strasbourg zu recht gefeiert. Rolf Fath

.

.

Hans Sachs an der Musikalischen Komödie Leipzig: Er war Schuster und Poet zugleich, der Nürnberger Hans Sachs. Bei seinem Namen denkt man unweigerlich an Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, die 1868 in München uraufgeführt wurde. Es war der größte Erfolg Wagners zu Lebzeiten, nach dem „Rienzi“.  Dabei hat Albert Lortzing seine gleichnamige Komische Oper „Hans Sachs“ bereits 28 Jahre zuvor in Leipzig anlässlich des Johannes-Gutenberg-Jubiläums herausgebracht, das 1840 in Leipzig zur 400-Jahr-Feier der Erfindung der Buchdruckerkunst mit großem Aufwand gefeiert wurde.

Aber schon nach kurzem, hoff­nungsvollen Erfolg fiel das Werk der Vergessenheit anheim. Wagner kannte es natürlich, und hat ihm einige Namen (am deutlichste erkennt man in Görg des späteren David) und Motive entnommen, auch wenn er das Stück dramaturgisch völlig anders gestaltete und ihm eine gesellschafts- wie kunstuto­pische Stoßrich­tung gab, die Lortzing fremd war.  Bei Lortzing stehen Liebe, Poesie und Vaterland im Vordergrund: „Das Herz allein schafft Freud‘ und Pein“, „Lieb‘ ist die höchste Poesie“ oder „Der Liebe Glück, das Vaterland!“ sind die immer wieder besungenen Parolen des Werks, das ehemalige Reichsherrlichkeit und vorkapitalistische Idyllik beschwört.

Das Libretto von Albert Lortzing (das auf der Vorlage des gleichnamigen Schauspiels von Johann Ludwig Deinhardstein basiert), kommt reichlich bieder und nicht selten rührselig daher. Lortzing hat es zusammen mit den Bühnenautoren Philipp Reger und Philipp Jakob Düringer verfasst.

Lrtzings „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig/Szene/Foto Kirsten Nijhof

Der Unterschied zwischen Wagner und Lortzing ist eklatant: Wagner ging es um nichts weniger als die Auseinandersetzung von alter und neuer Musik, um nicht zu sagen „Zukunftsmusik“. Mit den „Meistersingern von Nürnberg“ –schrieb Wagner eine Komische Oper, in deren altnürnbergischer Renaissancedekoration er ein modernes Künstlerdrama von geradezu programmatischem Charakter versteckte. Hans Sachs ist darin die humanistisch idealisierte Integrationsfigur einer „ästhetischen Weltordnung“, wie Udo Bermbach es einmal sehr treffend ausdrückte. Mit ihr redet Wagner einer demokratischen Gesellschaft das Wort, in der Natur und Kultur, Kunst und Leben versöhnt werden. Die „Meistersinger“ enthalten darüber hinaus die (griechisch inspirierte) Utopie einer das Leben anleitenden, das Alte mit dem Neuen versöhnenden Kunst auf dem Theater.  Walther von Stolzing ist der Anwalt des Neuen in der Musik. Nichts davon in Lortzings eindimensionaler Dramaturgie, die vergleichsweise nur sehr eingeschränkt dem Geist der Revolution huldigt. Seine anderen Bühnenwerke sind in ihrer vormärzlichen Sozialkritik deutlicher und radikaler.

Bei Lortzing geht es vor allem um die durch Intrige bedrohte Liebesgeschichte des jugendlich-jungen (!) Hans Sachs. Der Schuster und Meistersänger ist verliebt in Kunigunde, die Tochter des Goldschmieds Steffen, der zugleich auch der Bürgermeister von Nürnberg ist. Doch Kunigunde ist bereits dem eitlen Augsburger Ratsherrn Eoban Hesse versprochen, den Steffen als Schwiegersohn bevorzugt. In einem Sängerwettstreit treten die Rivalen gegeneinander an. Trotz der Gunst des Volkes unterliegt Sachs und wird aus der Stadt vertrieben. Meister und die Ratsherren lieben und achten ihn (im Gegensatz zu Wagners Stück) nicht. Erst das Auftreten und Eingreifen des Kaisers als „Deus ex machina“ rehabilitiert und nobiliert Sachs als Meistersänger.  Er erhält nicht nur mit allen Ehren seine Bürgerrechte der Stadt Nürnberg zurück, sondern darf sich auch mit Kunigunde zum glücklichen Lebensbund vereinen.

Die Liebe des Schusterpoeten zur Tochter des wohlhabenden, gesellschaftlich arrivierten, Goldschmieds und Bürgermeisters trifft auf dessen und der Nürnberger Ehrbaren strikte Ablehnung. Dieser Konflikt ist Anlass für sentimentalische Ohrwurmmelodik, er wird aufgelöst durch die Enthüllung einer dreisten Intrige (Görg stiehlt Sachsens Meisterlied), und ist die Bestätigung feudal-imperialen Sozialstrukturen (die Bürgergesellschaft als Untertanenkollektiv).

Bei aller Verehrung Albert Lortzings: Sein „Hans Sachs“ bleibt – entgegen anderslautender Wertschätzungen mancher Lortzingspezialisten – weit hinter der dramaturgischen wie melodischen Originalität und raffiniert kompositorischen Musikalität von „Zar und Zimmermann“, „Wildschütz“, „Casanova“ oder „Regina“ zurück. Natürlich gelingen dem versierten Theatermann Lortzing handwerklich gediegene Arien, Terzette, Quartette, Ensembles und effektvolle Chöre. Aber die Musik zündet nicht wirklich, obwohl Tobias Engeli das Orchester der Musikalischen Komödie ordentlich anzufeuern weiß und sein Bestes gibt, der Oper interessante Klänge und Harmonien zu entlocken. Gewiss, man horcht immer wieder auf, aber verglichen mit dem „Wildschütz“, einer geradezu mozartisch angehauchten Buffa, die hand­werklich zum Besten gehört, was die Deutsche Komische Oper des 19. Jahrhunderts aufzubieten hat, die aber auch eine erotische Komödie turbulenten Überkreuz­spiels einer an Irrungen und Wirrungen reichen Handlung ist, segelt Lortzings „Hans Sachs“ recht brav im Fahrwasser biedermeierlicher Lustspiel-Betulich­keit.

Dass die – an sich erfreuliche – Leipziger Ausgrabung des Stücks langweilt, liegt weniger am Dirigenten. Auch nicht an den durchweg überzeugenden Solisten (Hans Sachs – Justus Seeger; Kunigunde – Mirjam Neururer; Görg – Adam Sánchez; Cordula – Sandra Maxheimer; Eoban Hesse – Andreas Rainer: Meister Steffen – Milko Milev und Kaiser Maximilian I. – Christian Henneberg): Es ist die Regie, die in karnevalsbunter Kinderzimmerfröhlichkeit und mit kostümlichem Durcheinandereiner von Pappzylinder-, und Zipfelmützen-Spaßigkeit (Spießigkeit) das Stück verharmlost und entortet.  Zwar wird am Beginn der etwa dreistündigen Aufführung der Schriftzug „Nürnberg“ auf die Rückwand des blauen Kastens projiziert, in dem alle drei Akte spielen. Doch es ist ein reines Lippenbekenntnis.

Der Leipziger „Hans Sachs“ spielt irgendwo und nirgendwo auf, über, an und zwischen blauen Bänken und Tischen, Podesten und Treppchen, die von den Akteuren fleißig hin—und hergeschoben werden. Auch eine blaue Brechtgardine, die sich zum Vorhang aufbläht oder aufleuchtende Neonwölkchen und gelegentliche Auftritte aus dem Zuschauerraum machen die putzige, (handwerklich nicht ungeschickte) Inszenierung der jungen Leipziger Regisseurin Rahel Thiel nicht überzeugender. Am Gelungensten ist noch ihr (freilich etwas holzhammerhafter) Regie-Einfall, einen kleinen geflügelten Amor, der sich am liebsten Huckepack (vor allem von Hans Sachs) durch die Handlung tragen lässt, einzufügen. Doch dass sie allerhand diverse Texte und Liebeslieder auf die Bühne projiziert, ja sogar rezitieren lässt, verwässert das Stück unnötig und verbessert es nicht. Es wird so noch langatmiger.  Das eklatanteste Eigentor der Produktion ist allerdings der absurde Einfall, Sachsens Schlussansprache aus Wagners „Meistersingern“ in Wort und Ton einzufügen. Das ist denn doch eine andere musikalische Liga! Diese unfaire Konfrontation zweier grundverschiedener, ja unvergleichlicher musikalischer Welten bricht der Aufführung das Rückgrat. Das hat Lortzing nicht verdient (14. 04. 24). Dieter David Scholz

.

.

Der Schwanenritter in der Mönchskutte: Lohengrin-Debüt von Michael Spyres an der Straßburger Opéra National du Rhin. Gewiss war es eines der mit Spannung erwarteten Debüts der Saison. Michael Sypres sang seine erste Wagner-Partie, den Lohengrin, dem Schlag auf Schlag der Erik und schließlich im Sommer der Siegmund auf dem Grünen Hügel folgen sollen. Für das Lohengrin-Debüt hatte er sich das ihm durch die Berlioz-Aufnahmen unter John Nelson vertraute Straßburg ausgesucht, wo er möglicherweise hoffte, in idyllischer Abgeschiedenheit unter dem Radar der Öffentlich arbeiten zu können. Jeder wollte dabei sein. Der Erfolg war sicher.

Michael Spyres als Lohengrin in Straßburg/Foto Klara Beck

Spyres hatte mit seiner Aufnahme mit Arien von Wagner und Zeitgenossen vorbildliche Vorarbeit geleistet. Zweifellos kann Spyres seinen Schwanenritter und seine weiteren Wagner-Absichten auch auf größeren Bühnen präsentieren als im historischen, in etwa der Größe des Weimarer Hoftheaters entsprechenden historischen (1821) Gebäude der Opera national du Rhin. Es ist nicht ohne Reiz, dass der neben seinen Kollegen gedrungen wirkende Sypres in der Inszenierung des als Opernregisseur noch kaum aufgefallenen vierzigjährigen Florent Siaud nicht als strahlender Ritter erscheint, sondern als dunkler Fremder in einer Art Mönchskutte, der zögernd seine Kapuze abstreift und sie wieder überzieht, wenn er am Ende im Dunkel verschwindet. Die strahlende Silberrüstung trägt indes der junge Gottfried von Brabant, den seine Schwester Elsa – eine hübsche Idee – auf das Sternbild Cygnus aufmerksam macht, das sie während des Vorspiels gemeinsam durch das Fernrohr auf dem nächtlichen Himmel suchen. So verfällt sie, als sie in Ketten vor des Königs Gericht gebracht wird, irgendwie auf den Schwanenritter, den sie an dem Zeichen, die sie beide auf den Armen tragen, sofort als ihr Gegenstück erkennt.

Michael Sypres singt „Nun sei bedankt“ mit der ebenmäßig schönen Linie, die man bei ihm schätzt, dunkel abgetönt, sicher in den Übergängen und Höhen. Ein kleines Vibrato deutet in „Wenn ich im Kampfe für dich siege“ Emotionen und Anteilnahme aus. Dieser Lohengrin ist gleichermaßen klug aufgebaut, durchgehend kraftvoll, souverän und sicher gesungen, vielleicht ein wenig zu gleichförmig, zwar verfügt Sypres über ein zartes Piano und erzeugt auch mit halber Stimme einen festen und tragfähigen Ton, doch nicht nur in der Brautgemacht-Szene wünscht man sich in „Das süße Lied verhallt“ die erwähnte Süße, in „Atmest du nicht“ dazu eine poetische Duftigkeit und in der Gralserzählung vielleicht einen geheimnisvoll entrückteren Ton. Dagegen sind die heldischen und legatogeschmeidigen Phrasen kein Problem, wie Spyres bis auf kleine Schwächen am Ende der Gralserzählung überhaupt die heroischen und kraftvollen Passagen, „Höchstes Vertraun“, bewundernswert meistert.

Spyres sing ein fabelhaftes Deutsch, das sinnhafter klingt als bei Timo Riihonen, der in diesem Fach zuhause ist und einen vor allem höhenstarken Heinrich gibt. Tatsächlich am Ort der Uraufführung in Weimar hatte Johanni van Oostrum in den frühen Jahren ihrer Karriere bereits die Elsa gesungen. Die angekündigte Indisposition (13. März 2024) zeigte sich an den scharfen Höhen, doch ab dem zweiten Akt und vor allem im Brautgemacht sang sie mit lyrischer Innigkeit und jugendlich klarem Ausdruck. Ähnliche Wechselbäder, wie sie ihrem Mann Telramund (mit knorrigem Bariton Josef Wagner) als kühle Herrin und Macherin im Hintergrund, sinnlich lodernder Vamp und hexische Seherin, die Raben vom Himmel holt, verursacht, durchläuft Martina Serafins Ortrud stimmlich mit ungestützt entgleisender Schärfe, wüster Mittellage und dann wieder absolut siegesgewiss breitem Sopran.

Michael Spyres und Johanni van Oostrum im Straßburger „Lohengrin“/ Foto Klara Beck

Auffallend, der mit viel Kraft, doch etwas knödelig gesungene Heerrufer von Edwin Fardini. Die Chöre aus Straßburg und von der Opéra Angers Nantes drängeln sich auf der ohnehin engen Bühne, die Romain Fabre mit Stufen vollgebaut hat, und setzten handfest dramatische Akzente, während Aziz Shokhakimov, der usbekische Chef des Orchestre Philharmonique de Strasbourg, in den ersten beiden Akten auf gemäßigte Tempi und seelenvolle Innenschau achtete und – wie kürzlich bei seinem Debüt an der Bayerischen Staatsoper bei Pique Dame – wenig gestaltend eingriff, aber im dritten Akt das Drama mit ungemeiner Wucht vorandrängte. Bei Regisseur Romain Siaud begegnen sich verwandte Seelen, hellenistische Rückgriffe und große Politik in Gestalt der sich ideal ergänzenden Elsa und Lohengrin, der Tempel und Oasen im Umfeld des Lohengrin und des klotzigen Marmorsaals, in dem König Heinrich vor einer imperialen Skulptur am breiten Tisch Gericht hält. Die angekündigte politische Dimension des Stückes verschwand vor romantisch dunklem Himmel und suggestiven Videos, die nicht alle Beteiligten vorteilhaft einfangen. Rolf Fath

.

.

Pique Dame an der Deutschen Oper Berlin: Der renommierte britische Regisseur Graham Vick hatte die Grundlagen für eine Neuinszenierung von Tschaikowskijs Pique Dame an der Deutschen Oper Berlin erarbeitet, bevor er überraschend im Juli 2021 verstarb. Nun hat der Engländer Sam Brown die Arbeit nach der Konzeption seines Mentors vollendet und zur Premiere gebracht (9. März 2024). Stuart Nunn nutzt für seine Ausstattung Szenen aus Jakow Protasanows Verfilmung von Puschkins Roman aus dem Jahre 1916 in Schwarz/Weiß, der auch die Vorlage für Modest Tschaikowskys Libretto bildete. Schon auf dem Vorhang sind in einem verzierten Bilderrahmen Motive aus dem Film zu sehen: eine Spielkarte, Hermanns Gesicht mit aufgerissenen Augen, Geldscheine, eine Pistole… Mehrere hohe Wandelemente, die sich drehen und einen geschlossenen Raum ergeben können, bilden die Bühnenkonstruktion – in der ersten Szene des Sommergartens noch mit einem großen, goldverzierten Gittertor und Geländern geschmückt, was ein konventionelles, aber stimmiges Bild ergibt. In der Folge wechselt die Optik stilistisch, zeigt Räume in Ausschnitten, die von Neonröhren eingefasst werden, welche auch aufblitzen oder flackern können, was beispielsweise zur Illustration des Gewitters dient. Mehrfach kommt die Unterbühne zum Einsatz – die entstehenden Vertiefungen machen vor allem in der Szene am Newa-Kanal Sinn.

Der Regisseur erzählt die Geschichte weitgehend nach dem Libretto, wertet allerdings die alte Gräfin auf, indem er ihr mehr Auftritte zugesteht, als in der Vorlage vorgesehen. Im Sommergarten und auf dem Maskenball erscheint sie in prachtvoller barocker Robe, in Lisas Schlafzimmer im Nachthemd und Morgenmantel und nach dem Ball in einem raffinirten schwarzen Seidengewand. Darin wirkt sie durchaus verführerisch und scheint auch bereit zu sein für ein erotisches Abenteuer mit Hermann. In seiner Traumszene sieht man sie leibhaftig in der Baracke, seltsamerweise in Lisas hellblauem Ballkleid, um ihm das Geheimnis der drei Karten zu verraten. Schließlich ist sie auch im Spielsalon präsent, wieder im schwarzen Gewand. Fast inszeniert Brown eine Liebesbeziehung zwischen den beiden Figuren, die darin endet, dass Hermann nach dem tödlichen Schuss in ihren Armen stirbt.

Tschaikowskijs „Pique Dame“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Doris Soffel als Gräfin/Foto Maurcus Lieberenz

Eine solch konzeptionelle Anlage braucht eine Interpretin von Format, die nach Absage von Hanna Schwarz in Doris Soffel gefunden worden war. Mühelos avanciert die Mezzosopranistin mit ihrer mondänen Erscheinung zum Mittelpunkt des Geschehens. Herrisch weist sie ihr Personal zur Ordnung, mit leidenschaftlichem Verlangen drängt sie Herrmann auf die Couch, mit starker Aura beschwört sie in ihrem Chanson eine vergangene Welt herauf, erzeugt eine Spannung, wie sie an diesem Abend sonst kaum zu erleben war. Sehr differenziert singt sie die Verse – fahl, wehmütig, sehnsuchtsvoll, begleitet vom kunstvollen Spiel ihrer Hände, die letzten Worte in faszinierend tranceartiger Stimmung. Erschauern macht ihr höhnisches Gelächter nach der Offenbarung des Kartengeheimnisses, während sie sichtlich betroffen zu sein scheint über den tragischen Tod dieses Mannes.

Martin Muehle war das stimmliche Ereignis der Premiere mit einem Tenor von unerschöpflichen Reserven, welche ihm erlaubten, die gefürchtet strapaziöse Partie ohne Ermüdungserscheinungen durchzustehen. Die Wucht seines Gesangs, die metallische Höhe und die Emphase im Ausdruck adelten seine singuläre Interpretation, die an allergrößte Vorbilder denken lässt. Wunderbar sein Liebesbekenntnis für Lisa („Verzeih, du himmlisches Geschöpf“), fiebrig die erregte Auseinandersetzung mit ihr  am Kai („Vergessen sind die Qualen“), überwältigend die existentielle letzte Arie im Casino („Was ist unser Leben?“). Daneben enttäuschte Sondra Radvanovsky als Lisa, deren Sopran einen klirrenden Beiklang aufwies und in der Höhe viele grelle Töne hören ließ. Der Schluss der großen Arie und das nachfolgende Duett mit Hermann waren eine tour de force von schrillem, peinigendem Gesang. Vom Regisseur zu einem neurotisch verklemmten, verängstigten Geschöpf verzeichnet, ist sie anfangs auch in ihrem Sommerkleid mit Baskenmütze und Brille eine ungewohnte Erscheinung, wird erst in der hellblauen Ballrobe mit goldenen Ornamenten zu einer Person von Rang. Dass sie nach ihrem Freitod im Spielsalon im weißen Hemd aufgebahrt liegt wie auf einem Seziertisch, bedeckt mit Geldscheinen, gehört zu den Merkwürdigkeiten der Inszenierung. Diese gipfeln auf dem Ball, wo die gesamte Szene in glutrotes Licht getaucht ist. Linus Fellborn hatte schon im ersten Bild mit seinem willkürlichen Licht-Design irritiert. Beim Ball sorgt eine Diskokugel für Geflimmer, eine handfeste körperliche Attacke auf Zarin Katharina für Verwunderung, während das Opernballett der Deutschen Oper in Korsagen und Strapsen die exaltierte Choreografie von Ron Howell, dem Witwer Graham Vicks, absolvieren muss. Das Schäferspiel ist gestrichen, was Kuris Tucker als Pauline nach ihrem Duett mit Lisa und der melancholischen Romanze im 2. Bild die Möglichkeit für einen weiteren Auftritt nimmt. Thomas Lehman als Fürst Jeletzkij aber darf eine der schönsten Arien des Werkes singen („Ich liebe Sie“) und tut dies mit Empfindsamkeit und Wohllaut. Der andere Bariton, Lucio Gallo als Tomskij, kann mit der Ballade von den drei Karten („Einmal in Versailles“) und dem auftrumpfenden Lied „Wenn die lieben Mädchen“ imponieren.

Die Mitglieder des Chores der Deutschen. Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) sind szenisch und gesanglich stark gefordert. In der Eingangsszene erscheinen sie als überspannte Damen und Herren der oberen Gesellschaft mit modischen Hüten, kostbaren Pelzen und Sonnenbrillen, während uniformierte Knaben des Kinderchores (Christian Lindhorst) zu ihrem plärrenden Gesang einen Obdachlosen mit Maschinengewehren bedrohen und körperlich malträtieren. Auf dem Ball ergehen sie sich als Gäste in wollüstigem Treiben samt homoerotischen Aktionen. Alle ihre Auftritte erfüllen sie glänzend und berühren am Ende ungemein mit ihrem Trauergesang „Herr, verzeih ihm“. Erfreulich war das Wiedersehen mit Sebastian Weigle, der mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin Tschaikowskijs reiche Komposition in ihrer Vielfalt und Farbigkeit beeindruckend auffächerte. Ein zwiespältiger Abend – vom Premierenpublikum dennoch mit reichem Beifall bedacht. Bernd Hoppe

.

Szymanowsky König Roger am Anhaltinischen Theater Dessau: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich der polnische Komponist Karol Szymanowski einer tiefgreifenden Orientierungslosigkeit in einem Europa der Revolutionen, der Kriege und der kulturellen Glaubenskämpfe gegenüber. Reisen in den Mittelmeerraum wandten seinen Blick dem mediterranen Fluidum des 12. Jahrhunderts zu, das ihm Bilder rettender Ideenentwürfe entgegensetzte. Der Normannenkönig Roger wurde damals Herrscher von Sizilien und residierte in Palermo. Die Geschichte der Oper ist fiktiv, doch zentrale Personen und Motive bilden die kulturell-religiöse Gemengelage des damaligen Europa ab, ebenso wie die Cappella Palatina in Palermo – Schauplatz des ersten Aktes – die von byzantinischen, normannischen und arabischen Stilelementen geprägt ist. König Roger ist konfrontiert mit einer beunruhigend starken Bewegung im Volk, ausgelöst durch einen reisenden Propheten, den »Hirten«, der den sinnen- und rauscherfüllten Kult des Dionysos predigt. Roger und sein gelehrter arabischer Berater Edrisi halten dagegen. Rogers Lebensgefährtin Roxane läuft zum Hirten über, der sich schließlich als Gott Dionysos selbst zu erkennen gibt, umgeben von einer Schar wild tanzender Bacchanten. Nach langer Gegenwehr ist Roger bereit, dem Beispiel seiner Frau zu dem Hirten zu folgen und sich seinen Gefühlen hinzugeben. Erfüllt blickt er der aufgehenden Sonne entgegen.

Das Werk wurde erstmals am 19. Juni 1926 in Warschau uraufgeführt. Szymanowski und Iwaszkiewicz verbanden in ihrem Text Motive aus Euripides’ Bakchen mit den mittelalterlichen Erzählungen über den sizilianischen Herrscher. Szymanowskis Opernmusik indes steht einzigartig in der Musikgeschichte da. Sie changiert zwischen archaisch anmutenden ›byzantinischen‹ Chorsätzen, ausschweifender Tanzextase, fein ausgestalteter Deklamation und großer lyrischer Geste, all dies getragen vom impressio­nistisch schillernden, äußerst farbig ausgestalteten Orchesterpart. Die Musik erinnert an Skrjabin, zieht alle Register der Musik ihrer Zeit und hat doch eine eigene Handschrift.

Stefano Giannetti hat das Stück seiner Zeit und seiner geographischen Verortung enthoben, es aber auch nicht aktualisiert, sondern in ruhigem, ritualisiertem Spiel streng und doch suggestiv vorgeführt. Guido Petzold hat ihm einen schlichten großen Bühnenraum vor weißem Rundhorizont gebaut. Eine verbogene, gespaltete Stele im Mittelpunkt. Durchblicke, Schattenspiel und Desillusionierung (Herabfahren des Rundhorizonts) sind von symbolischer Klarheit, die großen Chöre und der Kinderchor werden geschickt geführt, immer wieder schöne Tableaus und wirkungsvolle Massenszenen-. Stefano Giannettis choreographische Ambitionen empfehlen sich in einer stilisierte Gebärdensprache, eigenwilliger Schreittechnik und vorwiegend illustrierend modernem Ausdruckstanz  (Sehr engagiert das Ballett des Anhaltischen Theaters).

Szymanowskys „König Roger“ in Dessau/Szene/Foto Thomas Ruttke

Was die Regie angeht: Der religiöse und machtpolitische Aspekt der Handlung wird in den Vordergrund gestellt. In der Person des Hirten wird jeder Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, auf absoluten Glauben in Frage gestellt. “ Ein Revolutionär ist ein Mensch, welcher nein sagt“ ist eine der Kernaussagen des Revolutionärs, des Führers in einen neuen Glauben. Die Frage, wer der Hauptdarsteller ist, der König oder der Hirte, ist nicht so leicht zu beantworten. Beide Figuren sind Hauptdarsteller: Protagonist ist König Roger und sein Antagonist, sein Gegenspieler ist bis zur Bekehrung Rogers der Hirte. Kostümlich (Judith Fischer) steht eindeutig der Hirte, in königlichem Gold gewandet, viel nacktes Fleisch zeigend, mit Juwelen behangen, im Zentrum. Eine erotische Erscheinung. Ansonsten eher schlichte Kostüme. König Roger wird vorgeführt als Zweifelnder, dem verwirrende Einblicke in die Abgründe der eigenen Seele offenbar werden, der sich aber nicht in dionysischem Rausch selbst auflöst, sondern sich am Ende der Sonne, dem Sonnengott Phöbus Apollon zuwendet, Die souveräne Personalführung Giannettis lässt keine Fragen offen, die Homoerotik Szymanowskis, gelegentlich mitinszeniert, bleibt weitgehen außen vor.

In der dreiaktigen Oper, eher ein Mysterienspiel, ein ekstatisches Stationendrama oder ein musikalisches Psychogramm, geht es um die Konfrontation von Christentum und Sinnlichkeit, Eros und Agape. Der Ausspruch Nietzsches kommt einem in den Sinn: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken. Er starb zwar nicht daran, aber entartet, zum Laster.“ Die Hinkehrung zu Sexualität und Blutrausch, auch rauschhafter Selbtsauslöschung sind seit der Jahrhundertwende in den Fokus des Musiktheaters gerückt, man denke nur an Penthesilea, Salome oder Elektra.  Auch König Roger fügt sich in diese „dekadente“ Linie ein: Die glitzernde, farbige Mittelalter-Oper spielt in Sizilien im 12. Jahrhundert. In seiner 1926 in Warschau uraufgeführten Oper erschuf der polnische Komponist Karol Szymanowski im Rückgriff auf eine zurückliegende, exotische Welt eine Klangwelt, die archaische Chorblöcke mittelalterlicher Strenge den dionysisch-ekstatischen Ausbrüchen des Neuen gegenüberstellt und so Kulturen und Gegensätze aufeinanderprallen lässt, in schwebend unbestimmter Harmonik, die von kühnen Dissonanzen durchsetzt sind

Elisa Gogou hat mit großer Präzision und nicht nachlassendem Elan, bei aller Sensibilität ihrer Gestaltung, Rausch, Ekstase, Klangmagie und -Farbe in den Mittelpunkt gerückt und dem außergewöhnlichen Stück zu seinem Recht verholfen, einer Musik die mit ihrer zwischen Spätromantik und Moderne angesiedelten Klanggewalt immer wieder ins Oratorische aufrauscht, aber auch mit suggestiven Chorälen und zarten Melodien betört, nicht zuletzt dank der superben Anhaltischen Philharmonie Dessau. Auch Chor und Kinderchor leisten unter Leitung von Sebastian Kennerknecht und Dorislava Kuntscheva außerordentliches.  Auch was die Gesangssolisten angeht, ist die Aufführung geradezu sensationell: die englische Sopranistin Ania Vegry singt eine lupenreine Roxane, sehr schön auch die Stimme der Jagna Rotkiewicz als Diakonissin.,

Der arabische Gelehrte Edrisi, wird vom Bariton Christian Sturm nobel gestaltet, der südkoreanische Bass Caleb Yoo singt einen eindrucksvollen Erzbischof (als Einziger im historischen Ornat), der Hirt von Alexander Geller besticht mit feinem lyrischem Tenor und der Bariton Kay Stiefermann setzt dem Ensemble die Krone auf, auch wenn er sie als Darsteller am Ende abgibt. Ein stimmlich würdevoller, König Roger und ein großer Darsteller. 

Gerade weil es still geworden ist um Karol Szymanowski in den letzten Jahren, nicht zuletzt wegen seiner Homosexualität im immer noch homophob katholisch-repressiven Polen, ist es umso verdienstvoller,  dass sich Generalintendant Johannes Weigand vehement für das Hauptwerk, König Roger wie für den Komponisten einsetzt. Man könne es gar nicht oft genug spielen, meinte er nach der Premiere am 2. März 2024. Man wird diese Aufführung nicht vergessen. Dieter David Scholz

.

.

Braunschweig: Béatrice et Bénédict von Hector Berlioz. Äußerst selten kann man hierzulande die Opéra-comique Béatrice et Bénédict von Hector Berlioz erleben, anders als dessen monumentale Opern Les Troyens oder Le damnation de Faust. Vielleicht wäre sie bekannter, wenn sich Berlioz bei seiner letzten Oper für den Titel der Shakespeareschen Vorlage Viel Lärm um nichts entschieden hätte, allerdings für ein Werk des Musiktheaters ein etwas problematischer Name. Berlioz hat das Libretto selbst verfasst und dabei die Vorlage von fünf Akten auf zwei verkürzt, indem er die ernste Handlung um Hero und Claudio – aufgeladen mit Intrigen und Betrug – zugunsten der komischen Handlung um die Titelfiguren Béatrice und Bénédict in den Hintergrund rückte. Die Oper entstand im Auftrag des Spielbankbesitzers von Baden-Baden Edouard Banouzét, der dort das neue Theater mit einem angemessenen Werk eröffnen wollte. Obwohl die vom Komponisten im Sommer 1862 dirigierte Uraufführung ein voller Erfolg war, geriet das Werk schnell in Vergessenheit. Die freundlich-harmlose Komödie handelt vom sizilianischen General Don Pedro und dessen Adjutant Claudio, der nach siegreicher Heimkehr aus der Schlacht mit der schönen Hero verheiratet werden soll. Und dann gibt es da Béatrice und Bénédict, die in ständigem Streit herzlich miteinander verbunden sind, aber eine Hochzeit strikt ablehnen. Don Pedro und die Freunde schaffen es mit einer kleinen, gutmeinenden Intrige, dass sich die beiden über ihre tiefen Gefühle zueinander dann doch klar werden und es zum guten Ende zu einer Doppelhochzeit kommt.

Für sein letztes Bühnenwerk hat Berlioz eine duftig leichte Musik geschrieben, die er in einem Brief an Peter Cornelius so beschrieben hat: „…sie ist heiter, bissig und teilweise poetisch; das lächelt mit den Augen und den Lippen“. Und diesen Grundcharakter der heiteren Musik brachte Braunschweigs scheidender 1. Kapellmeister Mino Marani mit dem gut aufgelegten Staatsorchester in bester musikantischer Manier zum Klingen, wobei manche Instrumentalisten zu einzelnen Stücken sogar auf der Bühne auftraten. Die sehr fein ausmusizierte, aber nun gerade nicht so mitreißende Ouvertüre hatte die Regisseurin Franziska Severin dadurch szenisch aufgelockert, dass sie die genannte Schlacht, die inhaltlich im Folgenden keine Rolle mehr spielt, pantomimisch darstellen ließ. Hierzu hatte sie sich zunutze gemacht, dass es so genannte Reenactment-Vereine (=Wiederaufführung) gibt, die gern historische Ereignisse rekonstruieren und eben auch aufführen. So nun im sizilianischen Messina, wo die Bewohner sich in der Darstellung einer imaginären Schlacht gefielen. Nach dem den Sieg bejubelnden Eingangschor behielten die meisten Akteure ihre bunten, fantasiereichen historisch-mittelalterlichen Kostüme an, legten sie nur stückweise ab oder traten in ihrer „normalen“ bürgerlichen Kleidung auf. Im Übrigen spielte sich das Ganze auf der praktischen Drehbühne um einen mediterranen Gasthof mit Kiosk ab (Ausstattung: Benita Roth).
Die harmlose Geschichte um die beiden „Streithähne“ und deren allmählich ernster werdenden Gefühle zueinander lief in einer reichlich überaktiven Atmosphäre ab. Hierbei wurden praktischerweise nur die musikalischen Nummern im französischen Original gesungen, während die deutschen Sprechtexte dem Verständnis des Inhalts sehr zu Gute kamen. Der überbordende Fantasiereichtum der Regisseurin in den großen Szenen, wenn der Chor zu tun hat, ist zu bewundern; wie sie hier die einzelnen Choristen agieren ließ, das hatte Format. Allerdings ging der Überaktionismus in den einzelnen Arien und Ensembles oft zu weit. Hier hatte man das Gefühl, dass die Regisseurin der Musik nicht so recht traut und deshalb geradezu zwanghaft fast immer Unnötiges hinzufügte, wie z.B. Traumbilder in der großen Arie Que viens-je d’entendre? im zweiten Akt, wenn Béatrice versucht, sich ihrer Gefühle für Bénédict klar zu werden. Auch beim Duett Hero/Ursule am Schluss des 1.Aktes, dem wunderschönen Notturno, störten die hinzugefügten Figuren wie der Tänzer im Tutu, ein Hamlet mit Totenkopf oder die Kinder. Die nächtliche, besinnliche Atmosphäre wurde erst am Schluss mit den Lichtern in den Büschen und den friedlich aufsteigenden Luftballons erreicht.

„Béatrice et Bénedict“ vo  Hector Berlioz am TfN Braunschweig/Szene/Foto Thomas M. Jauk

Musikalisch war der Premierenabend ein Genuss: Vom ausgezeichneten, mit sicherer Hand und präziser Zeichengebung des Dirigenten geführten Staatsorchester war schon die Rede. Zum großen Erfolg der Premiere trug wesentlich das durchweg spielfreudige und insgesamt stimmlich erfreuliche Ensemble bei. An erster Stelle ist eine der Braunschweiger Publikumslieblinge Milda Tubelyté als Béatrice zu nennen. Sie machte mit gestenreichem Spiel überzeugend deutlich, dass in der resoluten Frau unter der äußerlich rauen Schale doch ein weicher Kern schlummert. Dabei beeindruckte einmal mehr ihr gut durchgebildeter heller Mezzosopran, den sie höhensicher und stets bruchlos durch alle Lagen zu führen wusste. Ihr Bénédict war Matthew Pena, der seinen nicht gerade kräftigen Tenor flexibel einsetzte, wobei manche Höhen zu eng gerieten. In ihrem ersten Duett fiel positiv auf, wie perfekt sie die zungenbrecherischen Koloratur-Passagen absolvierten. Den charaktervollen Bariton von Zacchariah Kariithi in der kleineren Rolle des Claudio hätte man gern öfter gehört; seine Hero war Victoria Leshkevich anvertraut. Sie sang ihren Part angenehm auf Linie und ließ dabei ihren runden Sopran schön aufblühen. Im schon erwähnten Notturno kam die Stimme mit ausgeprägtem Mezzo-Timbre von dem spanischen Gast Anna Alàs i Jové als Kiosk-Betreiberin Ursule hinzu. Beide Stimmen verbanden sich aufs Feinste miteinander, sodass das wunderbare Duett zu einem der musikalischen Höhepunkte des Abends wurde. Einige der komischen Eckpunkte der Oper setzte Maximilian Krummen als eitler Komponist und Dirigent Somarone. Mit sonorem Bass gab Jisang Ryu den gefeierten Schlachtensieger Don Pedro, während der in Braunschweig aus mehreren Auftritten in Musicals nicht unbekannte Randy Diamond prononciert die Sprechrolle des Leonato ausfüllte; Sebastian Andreas Mulik ergänzte sicher das Ensemble als Bote und als den die Eheschließungen beurkundenden Notar. Der von Georg Menskes und Johanna Motter einstudierte gefiel erneut durch trotz turbulenten Spiels ausgewogene Klangfülle.

Mit lang anhaltendem, mit Bravos vermischtem Beifall bedankte sich das Premierenpublikum bei allen Mitwirkenden und dem Regieteam (Premiere am 17. Februar 2024). Gerhard Eckels

 .

.

An der Deutschen Oper Berlin: Erfolg mit Zeitgenössischem. Nach mittelalterlichen Quellen schrieb der Autor Martin Crimp das Libretto zu einer dreiteiligen Oper mit dem Titel Written on Skin. Erzählt wird die Geschichte eines reichen Großgrundbesitzers, Protector genannt, der einen jungen Mann, The Boy, als Illustrator für ein Buch mit seinen Werken und Wohltaten verpflichtet. Die Frau des Protectors, Agnès, beginnt aus sexuellem Verlangen ein Verhältnis mit dem Jungen, worauf der Protector ihn ermordet und dessen Herz seiner Frau als Mahlzeit serviert. Auch sie will er töten, doch sie entzieht sich ihm durch einen Sprung aus dem Fenster.

Komponiert hat der 1960 geborene britische Dirigent und Pianist George Benjamin. Seine Musik ist fast immer von großer Durchsichtigkeit, teilt jedem Protagonisten bestimmte musikalische Floskeln zu, lässt nervöse Motive, stotternden Duktus, aggressive Klangblöcke und schmerzende Schläge hören, findet aber auch zu sinnlichem Rausch. Marc Albrecht fächert mit dem Orchester der Deutschen Oper das Geflecht der Komposition sorgsam auf, findet stets die Balance zwischen Bühne und Graben, so dass die Sänger nie gefährdet sind, in ihrer stimmlichen Präsenz zu verlieren. Die Partien sind anspruchsvoll, vor allem die der Agnès, die mit ihrem Sopran stratosphärische Regionen erklimmen muss. Georgia Jarman wird diesem Anspruch souverän gerecht, auch in der Extremhöhe klingt ihre Stimme nie grell oder schrill. Zudem ist ihre szenische Präsenz bemerkenswert – insgesamt ein faszinierendes Porträt. Einen glänzenden Auftritt absolviert der Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen. Seine Stimme ist klangvoll, voluminös und jederzeit angenehm im Klang. In einer Rahmenhandlung, welche dem Stück beigegeben ist, kommentieren drei Engel das Geschehen und werden selbst zu dessen Akteuren. Der Counter verwandelt sich so vom First Angel zu The Boy und der Sängerdarsteller vermag in beiden Rollen durch seinen Gesang und die emotionale Darstellung zu berühren. Mark Stone lässt als Protector einen markigen Bariton hören, Anna Werle ergänzt mit strengem Mezzo die Besetzung als Second Angel und danach als Agnès´ Schwester Marie.

George Benjamins „Written on skin“ an der Deutschen Oper Berlin/Szene/Foto Bernd Uhlig

Die Uraufführung des Werkes 2012 beim Festival von Aix-en-Provence als Koproduktion mit den Bühnen von Amsterdam, Toulouse und London war ein Sensationserfolg, nicht zuletzt wegen der Inszenierung von Katie Mitchell. Die britische Theaterregisseurin hatte mit Ausstatterin Vicky Mortimer eine bildstarke und atmosphärisch dichte Inszenierung besorgt. Das Einheitsbühnenbild zeigt den Längsschnitt durch ein Haus, dessen Wohnräume rechts in die Vergangenheit verweisen und sogar ein Baum durch die Decke gewachsen ist, während links nüchterne Sachlichkeit der Jetztzeit mit Büroraum, Küche und Garderobe vorherrscht. Jon Clark hat die Räume in wechselnde Lichtstimmungen getaucht und damit sehr atmosphärische Wirkungen erzielt. Auch in den Kostümen sieht man eine Zweiteilung zwischen Historie und Gegenwart.

Am 27. Januar 2024 konnte sich das Publikum in der Deutschen Oper von der Qualität der Produktion überzeugen und feierte am Ende der Premiere alle Mitwirkenden sowie den anwesenden Komponisten anhaltend. Bernd Hoppe

.

.

An der Komischen Oper: Rimski-Korsakow nahe am Musical. Auch die erste Premiere der Komischen Oper im neuen Jahr ist eine Übernahme: Rimski-Korsakows Oper Solotoi petuschok (Der goldene Hahn) kommt vom Festival d’Aix-en-Provence und wurde dann an der Opéra National de Lyon und beim Adelaide Festival als Koproduktion dieser drei Bühnen gezeigt. Am 28. Januar 2024 hatte die Inszenierung von Barrie Kosky an seinem ehemaligen Stammhaus Premiere und fügte seiner langen Erfolgsliste einen weiteren hinzu. Wie zumeist waren seine erprobten Mitstreiter mit am Werk: Bühnenbildner Rufus Didwiszus erdachte eine triste Heidelandschaft mit vertrockneten Grasbüscheln in raffiniert grauen Pastelltönen, die auch als Hommage an Caspar David Friedrich gewertet werden könnte. Franck Evin hat sie diffus, aber sehr stimmungsvoll beleuchtet. Auf der rechten Seite steht ein kahler Baumstumpf mit vertrockneten Ästen, auf dem sich der Goldene Hahn, das Geschenk eines Astrologen, niedergelassen hat und von dort sein warnendes Krähen in König Dodons Reich schickt, wenn dem Land Gefahr droht. Victoria Behr hat ihm ein schillerndes exotisches Kostüm entworfen, das ihn als eine Art Faun erscheinen lässt. Auch Verbindungen zum Goldenen Idol im Ballett La Bayadère oder dem Goldenen Sklaven in Fokines Choreografie der Scheherazade sind denkbar. Gleichfalls attraktiv gewandet ist die Königin von Schemacha mit üppigem Federkopfputz und silbern glänzender oder elegant violetter Robe. Einen deprimierenden, beklagenswerten Anblick bietet dagegen der König in ergrauter Feinripp-Unterwäsche, die ihm jede Würde und herrscherliche Aura nimmt.

Rimskys Oper „Der goldene Hahn“ an der Komischen Oper Berlin/Szene/Foto Barbara Rittershaus

Leider hat auch der Regisseur die Figur arg verzeichnet, sie zum debilen Trottel degradiert. Ein weiteres Problem der Aufführung sind die Balletteinlagen von Otto Pichler, dem am Haus für seine Mitarbeit in Operetten und Musicals geschätzten Choreografen. Hier aber sind seine Ideen  stilistisch deplatziert, wenn vier Tänzer in silbern glitzernden Slips und Tutus oder Ganzkörpertrikots auftreten, sogar Can-Can tanzen und hemmungslos kreischen. Das hat man schon oft gesehen und in  Werken der leichten Muse auch goutiert, aber hier… An schräge Revuen erinnert zudem der Auftritt der Chorsolisten als Volk im 3. Akt – ein Panoptikum aus Transvestiten, Drag Queens und allerlei Paradiesvögeln mit monströsen bunten Frisuren, irrwitzigen Masken und überkandidelten Kostümen. Vor den grausamen Vorgängen der Handlung schreckt Kosky freilich nicht zurück. Schon die beiden Söhne Dodons, die Prinzen Gwidon und Afron, die sich gegenseitig aus Eifersucht um die begehrte Königin umgebracht haben, hängen kopfüber kopflos am Baum. Seinem aufsässigen General Polkan lässt Dodon auf Geheiß der Königin das Haupt abschlagen. Er selbst tötet mit mehreren Axtschlägen den Astrologen, der die Königin als Preis für den Goldenen Hahn verlangt hatte, und erscheint danach von Blut besudelt als Bild des Grauens. Er dagegen kommt durch die brutalen Schnabelhiebe des Goldenen Hahns zu Tode, was dem Stück eine bitterernste Wendung gibt und das Volk ratlos zurücklässt. Auch ist anzuerkennen, dass das Team die Handlung nicht als aktuelle Politsatire aufgeführt, sondern ihr die märchenhaft-surrealen Elemente zugestanden hat.

Musikalisch ist der Abend ohnehin pure Freude, angefangen von James Gaffigan, dem neuen Generalmusikdirektor des Hauses, der mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin die breite Farbpalette der Komposition spannungsvoll erklingen lässt – ihre schwelgerische Lyrik, die feinen instrumentalen Details, die schillernden Orientalismen und auch die grellen Einwürfe. Zuverlässig wie stets die Chorsolisten (Einstudierung: David Cavelius), die ihre Auftritte, den ersten gar mit Pferdeköpfen und Strapsen, den zweiten als wehklagende Masse, mit Klangfülle absolvieren.

Glänzend besetzt sind die Rollen, allen voran Dodon in Gestalt von Dmitry Ulyanov als pralle Figur und mit voluminös ausladendem, poltrigem Bass ausgestattet. Wenn er der verführerischen Schönheit der Königin verfällt, singt und tanzt vor ihr, womit er sich lächerlich macht und ihren Spott hervorruft. Der Sänger hat keine Scheu vor vulgären oder peinlich anmutenden Szenen, wirft sich mit totalem körperlichem Einsatz in die Herausforderungen, welche die Regie ihm abverlangt. Exponiert notiert ist die Partie der Königin von Schemacha, der Kseniia Proshina nicht nur eine attraktive Erscheinung verleiht, sondern auch mit klarem, substanzreichem Sopran sinnlich und virtuos singt und nur ganz wenige grelle Spitzentöne hören lässt. Auch die Partie des Astrologen ist eine Herausforderung wegen ihrer extremen Tessitura. James Kryshak bewältigt sie  bravourös und überzeugte auch in den verschiedenen stummen Auftritten vor dem Vorhang als zitternde, sich mühsam fortbewegende Alte im Mantel mit Pelzkragen und Handtasche oder als ächzend stöhnender alter Mann oder als Bonvivant im Gleichschritt in Frack und Zylinder. Die Titelrolle ist zweigeteilt – Julia Muzychenko singt sie mit kraftvollem, herbem Mezzo und Daniela Ojeda Yrureta spielt sie mit androgynem Geheimnis. Die Besetzung komplettieren Pavel Valuzhin als Gwidon, Hubert Zapiór als Afron, Alexander Vassilev als Polkan sowie Margerita Nekrasova als Aufseherin Amelfa mit dunklem Alt. Die Premiere endet im Jubel des Publikums und lässt die letzte Inszenierung des Werkes am Haus von Andreas Homoki endgültig in Vergessenheit geraten. Bernd Hoppe

.

.

Aalto Musiktheater Essen: Louise Bertins Fausto. Im Kerker fleht Gretchen, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hat, um Gottes Hilfe, „Dio, te solo invoco! Vieni al mio soccorso“. Bereits lange vor Boitos Mefistofele gab es einen italienischen „Faust“, also einen Fausto. Dass dieser in Paris in dem von der Aristokratie favorisierten Theater, das seine sämtlichen Aufführungen in italienischer Sprache herausbrachte, uraufgeführt wurde, gehört zu den Besonderheiten der Kunstform. In Frankreich war Louise Bertins Fausto ohne Vorbild und Vergleich; es war die erste „Faust“-Vertonung für die französische Opernbühne. Zudem war dieser 1831 am Théâtre-Italien uraufgeführte Fausto das Werk einer Komponistin, die als 20jährige im privaten Kreis, der immerhin Rossini einschloss, eine Guy-Mannering Oper nach Walter Scott präsentiert hatte, dann entsprechend  an der Opéra-Comique untergebracht hatte (1827 Le loup-garou auf ein Originallibretto von Eugène Scribe) und die einige Jahre danach mit La Esmeralda auch das dritte staatliche Opernhaus betrat, wo der Vierakter zu dem Victor Hugo eigenhändig seinen Roman Notre-Dame de Paris in ein Libretto umgeformt hatte, die erste Oper eine Komponistin an der Grand Opéra war.

Louise Bertins Oper „Fausto“ (erstmals in der Tenorfassung) in Essen/Szene/Forster

Die zweite sollte erst 1895 der gerade in Dortmund neu erprobte La Montagne Noire von Louise Holmès sein, dem sich nun der Essener Versuch mit Louise Bertins Faust-Oper, deren Partitur bis vor wenige Jahre unbemerkt in der Pariser Bibliothèque Nationale schlummerte, so geschickt anfügt. Das erwähnte „Dio, te solo invoco! Vieni al mio soccorso“ in Bertins Fausto ähnelt stark den Zeilen, die 1859 Barbier und Carré der Marguerite in Gounods Faust in den Mund legte, „Dieu juste, à toi je m’abandonne“. Hier wie dort vernimmt der Zuschauer am Ende die himmlischen Stimmen, die Margarita bzw. Marguerites Rettung verkünden: „Ell’ è salvata“ bei Bertin zu den Klängen des Ave Maria bzw. bei Gounod „Sauvée“. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass bei Gounod Faust niedersinkt und Mephisto unter dem Schwert des Erzengels niederstürzt, während bei Bertin, die darin älteren Faust-Bücher wie der Historia von D. Johann Fausten folgt, Mefistofele den Faust zu den Worten „È in mio poter“ in seine Gewalt bringt und mit sich reißt. Faust II, in dem Fausts Tod und seine gnadenreiche Erlösung mitgeteilt werden, wurde erst 1832 veröffentlicht.

Bereits zu dem Zeitpunkt, als Bertin an ihrer komischen Oper für die Opéra-Comique arbeitete, beschäftigte sie sich mit dem Thema und stellte 1826 die viertelstündige Schlussszene des Fausto („Ultima Scena di Fausto“) für Sopran, Alt und Bass mit Klavierbegleitung im Salon vor. Bis dahin kannte sie weder die Huit Scenes de Faust ihres Freundes Berlioz noch die für die französische Goethe-Rezeption so zentrale Übersetzung von Gérard de Nerval, wenngleich Faust durch verschiedene andere Quellen und Übertragungen geradezu en vogue im französischen Kulturleben war. Bereits 1827 sagte das Théâtre-Italien Bertin zu, ihre Faust-Oper 1830 herauszubringen. (Dazu auch der Artikel zur Oper in operalounge.de)

Louise Bertin (1805-77) litt an Kinderlähmung und war auf Gehhilfen angewiesen; sie wuchs in jeder Hinsicht privilegiert in einem Elternhaus auf, in dem u.a. Rossini, Victor Hugo und Berlioz verkehrten, die Eltern förderten ihre musischen Neigungen, Francois-Joseph Fétis und Anton Reicha übernahmen die musikalische Ausbildung und es war kaum von Nachteil, dass ihr Vater Louis-Francois Bertin der Herausgeber der einflussreichen Zeitung Journal des débats war. Bertin schrieb den Text ihres Fausto auf Französisch, Luigi Balocchi, der offizielle Librettist des Théâtre-Italien, übertrug ihn ins Italienische. Den Konventionen der italienischen Oper der Zeit folgend, konzipierte Bertin die Titelrolle anfangs für einen Mezzosopran, konkret die Rossini-Altistin Rosmunda Pisaroni. Als die geplante Uraufführung möglicherweise aufgrund der Juli-Unruhen von 1830 oder Problemen mit der als Margarita vorgesehenen Maria Malibran um ein Jahr verschoben werden musste, wurde die Partie dem Tenor Domenico Donzelli (ein Pollione von Rang) übertragen, der im gleichen Jahr auch den Pollione in der Norma kreierte; die Margarita sang nun Henriette Méric-Lalande. Nach drei Aufführungen verschwand Fausto von der Bühne.

Die reizvolle Besetzung mit Mezzosopran und Sopran lässt sich auf der im Vorjahr in Paris anlässlich eines Konzerts – das damit die vierte Aufführung des Werkes war – entstandenen Bru Zane-Aufnahme mit Karine Deshayes und Karina Gauvin unter Christophe Rousset erleben, dabei merkt man auch wie nahe dieser Fausto beispielsweise bei Mercadante ist – ein bisschen Francesca da Rimini – während die spätere La Esmeralda einen deutlichen Halevy-Touch hat. Fausto ist einerseits eine konventionelle und etwas altmodische italienische Oper der Romantik, andererseits ein Werk, an dem Rossini und Meyerbeer „die Originalität von Klang und Melodie und wahre dramatische Kraft“ lobten. In vier sehr überschaubaren Akten bringt Bertin viel unter.

Die schicksalsgewaltige und bei einer Aufführungsdauer von gerade mal zwei Stunden mit zehn Minuten fast überdimensionierte Ouvertüre zeigt Bertin als ambitionierte Macherin. Das klingt alles dramatisch auffahrend, ist mit solistisch heraustretenden Posaunen durchsetzt und bis zum letzten Donnerhall nach der Schlussstretta von Margarita, Fausto, Mefistofele und Chor als Wechselspiel der Gefühle von intensiven Affekten bestimmt. Andreas Spering und die Essener Philharmonie realisieren diese Klangfülle weniger elegant und wendig als zupackend und wuchtig, doch stets dem theatralischen Moment verpflichtet.

Louise Bertins Oper „Fausto“ (erstmals in der Tenorfassung) in Essen/Szene/Forster

Bertins Ausdruckswillen führt dazu, dass sie auf engem Raum mit unterschiedlichen Klanglichkeiten spielt, oft leidenschaftlich und raffiniert agiert, dann aber auch mit langweiligen Seccorezitativen erstaunlich nachlässig bleibt. Mag anfangs die schwer und dunkel lastende Don Giovanni-Atmosphäre eine Aura von Jenseitigkeit evozieren, so wirkt der Goethe getreu über den Büchern brütende Fausto in seiner Auftrittsarie zerrissen zwischen den extremen Lagen der Partie, die den für das Rare und Besondere zuständigen Mirko Roschkowski gewaltig herausfordert. Er meistert die lyrische weiche Mittellage, auch die Aufschwünge in die Höhe mit süßer voix mixte und zarter Kopfstimme, manchmal bricht die Stimme aus, aber Roschkowski hat, wie seine dramatische Arie zu Beginn des vierten Aktes zeigt, durchaus auch heldisches Format, wirkt dabei authentisch und bodenständig, doch das alles ergibt keine Figur und kein Rollenporträt, was sicher an der Komponistin und ihrer brüchigen Partitur liegt. Denn auch Margarita, die anders als bei Goethe, sich früh und aus eigenem Antrieb Faust nähert, überzeugt am ehesten im wogenwellenden „Signora amabile“-Duett mit Fausto im zweiten Akt. Das düstere Gebet, mit dem die Schwangere zur Jungfrau Maria betet, ist ebenso wie die Einwürfe nach der Ermordung ihres Bruders und die Kerkerszene effektvoll, aber etwas ungeschickt und klangmager über dem massiven Orchester angelegt. Zumindest wirkt Netta Ors Sopran in solchen Passagen in der Mittellage maulig unattraktiv, während ihr die verzierten, raschen und hoch liegenden Passagen eher liegen. Einen Vorwurf darf man ihr nicht machen, da sie kurzfristig für die vorgesehene Kollegin eingesprungen ist. Mit merklicher Lust und Hingabe übernahm Regisseurin Tatjana Gürbaca den darstellerischen Part und zeigte eine herausfordernd selbstbewusste Margarita, über der die Regisseurin Gürbaca am Ende ein goldenes Feuerwerk niederregnen lässt. Als Regisseurin hat Gürbaca souverän ihren Job gemacht. Der klinische weiße, nicht eben originelle Operationssaal von Marc Weeger, in dem Fausto an einem Probanden schnippelt und seinen Bericht in die Schreibmaschine tippt, wird später nach hinten geblendet, die Wissenschaftsabteilung von der Huren-Tragödie (den Begriff schmieren die Nachbarn Margarita auf die weiße Kittelschürze) abgelöst. Im gleichen Zug wird der Chor der Hexen, Dörfler und Nachbarn zu einer bösen und anonymen, auf langen Bänken Gericht haltenden Masse. Einfach und praktisch.

Fausto ist eine Semiseria. Für die deshalb notwendigen heiteren Momente ist fast ausnahmslos Mefistofele zuständig, das von Faust herbeigerufene und als Alter Ego geschaffene Wesen vom Operationstisch mit Ypsilon-Schnitt auf der nackten Brust. Almas Svilpa singt den Mefistofele mit mattem Streubass, der im wendig wippenden Duett mit Margaritas Nachbarin Catarina (mit präsentem Mezzo: Natalija Kukhar) und im rossinihaften Silbengeplappere Virtuosität und quecksilbrige Spielfreude entwickelt. Reinster Rossini, wie aus einer seiner frühen komischen Opern, ist Valentinos Arie „Ah, mi batte il cor nel petto“, zugleich die einzige Bravourarie der Oper, die der rumänische Tenor George Virban im Kurzauftritt als Margaritas kleiner Bruder mit geschmackvoller Geschmeidigkeit servierte. Daneben Baurzhan Anderzhanov mit seriöser Bassgewalt als Wagner und der auch in solistischen Minipartien geforderte Chor des Aaalto Theaters. Rolf Fath

.

.

Oper Dortmund: La Montagne Noire von Augusta Holmès. Der accent grave auf dem „e“ irritiert: Holmès. Augusta Mary Anne Holmes wurde 1847 als Tochter eines irischen Vaters und einer schottischen Mutter in Paris geboren, wo sie 56 Jahre später auch starb. Sie lebte zeitlebens in Frankreich und betrachte sich als Französin, weshalb sie bereits Jahre bevor sie 1879 offiziell eingebürgert wurde, den Makel des englischen Namens beseitigte und sich fortan Holmès schrieb. Schwerer wog, dass ihr wegen der fehlenden französischen Staatsbürgerschaft ein Studium am Pariser Konservatorium verwehrt blieb. Privatunterricht, darunter, zusammen mit Vincent d’Indy und Ernest Chausson, bei César Frank bot den nötigen Ausgleich für die junge Dame, die früh durch ihre Kompositionen auffiel, welche sie anfangs unter dem männlichen Pseudonym Hermann Zenta veröffentlichte. Ganz so hart, wie sie es schildert, dürfte der Kampf nicht gewesen sein, den Holmès als Komponistin und Frau zu bestehen hatte. Durch den Tod des Vaters, mit dem gemeinsam sie noch die Rheingold- UA und schließend Wagner in Tribschen besucht hatte, war sie abgesichert und wohlhabend genug, um ein unabhängiges Leben zu führen und über ihr Vermögen zu bestimmen, das im Falle einer Heirat an ihren Gatten gefallen wäre. Holmès blieb unverheiratet, was sie nicht davon abhielt, mit dem verheirateten Schriftsteller Catulle Mendès eine Beziehung einzugehen und mit ihm fünf Kinder zu haben. Sicherlich spricht aus manchen Sätzen der Türkin Yamina, die in La Montagne Noire, den montenegrinischen Krieger Mirko skrupellos manipuliert und für ihre Ziele einspannt, ganz offen die Komponistin. Zumindest in den Passagen, wo die versklavte Yamina den Bäuerinnen, die ihre Gatten ebenso verehren und ihnen gehorchen wie Christus, ihre Unfreiheit vorhält.

Augusta Holmes´“Montagne noir“ in Dortmund/ Foto Björn Hickmann

La Montagne noire ist die einzige der vier Opern von Holmès, die aufgeführt wurde und zwar als zweite Oper einer Komponistin, die jemals an der Pariser Opéra zur Uraufführung gelangte – die erste war die Esmeralda der Louise Bertin, deren Fausto in zwei Wochen in Essen neuerlich auf die Bühne gelangen wird. Beide Male, also in Dortmund wie in Essen, hat auch der Palazzetto Bruno Zane, der sich um die entsprechenden Editionen kümmert, die Hände mit im Spiel. La Montagne Noire kam im Februar 1895 heraus, dirigiert vom damaligen Chefdirigenten Paul Taffanel, die Yamina sang die dramatische Sopranistin Lucienne Bréval, die später Kundry und Brünnhilde und mehrere Partien in den Uraufführungen u.a. von Massenet, Dukas, Février sang, den Mirko übernahm der dramatische Tenor Albert Alvarez, der ein Jahr zuvor den Nicias in Thais kreiert hatte, und Marcel Renaud, der erste Bariton des Hauses, sang seinen Blutsbruder Aslar. Der Erfolg für die im 17. Jahrhundert in Montenegro spielende Oper war durchwachsen. Die Aufführung der Oper Dortmund ist die erste Produktion seit der Uraufführung vor 129 Jahren. Sie schließt sich im Sinn einer ausgesprochen phantasievollen und klugen Dramaturgie des Opernintendanten Heribert Germeshausen an die deutsche Erstaufführung von Ernest Guirauds Frédégonde sowie Spontinis Fernand Cortez an.

Zum Zeitpunkt ihrer Montagne Noire-Uraufführung war Holmès eine angesehene Komponistin, die mit ihren patriotischen Tondichtungen Irlande und Pologne Anfang der 1880er Jahre Aufmerksamkeit erregt hatte und spätestens 1889 mit den Ode triomphale en l’honneur de Centenaire de 1789, wofür sie 900 Choristen und 300 Musiker zur Erinnerung an die Revolution aufbot, eine Berühmtheit wurde. Fast jeder kennt in Frankreich, und nicht nur dort, heute noch ihren Weihnachtsschlager Trois anges sont venus ce soir. Einigermaßen verwunderlich war die Wahl des Stoffes, einer wackeligen Heldengeschichte aus Montenegro (= La Montagne Noire), das in stete Konflikte mit den Türken verwickelt 1878, kurz bevor Holmès sich dem Thema zuwandte, unabhängig geworden war. Holmès schrieb den Text selbst, was die einzige tatsächliche Wagner-Reminiszenz bei dieser Oper ist, die in die Zwickmühle zwischen Wagner-Begeisterung und politisch motoviertem Widerstand gegen diesen Wagnerisme geriet und nach 13 Aufführungen verschwand; der Holmès-Geliebte Mendès gehörte übrigens zur Vielzahl der von Wagner begeisterten Literaten.

Augusta Holmes´“Montagne noir“ in Dortmund/ Foto Björn Hickmann

Den Kern des Drame lyrique en quatre actes et cinq tableaux bildet zum einen die in einer religiösen Zeremonie sanktionierte Blutsbrüderschaft der siegreich aus dem Kampf gegen die Türken heimgekehrten Mirko und Aslar, wofür Holmès sich in der slawischen Geschichte umsah und Mirko dem Helden Marko Kraljević und den Priester, Père Sava, dem Gründer der serbisch-orthodoxen Kirche nachempfand. Zum anderen die Liebe des bereits mit Héléna verlobten Mirko zu Yamina. Es sind die Muster der Grand opera Ende des 19. Jahrhunderts. Man spürt die etwas farblose Weitschweifigkeit der frühen historischen Opern von Massenet, man erkennt Saint-Saens und seine Dalila in der Figur der Verführerin Yamina, überhaupt ist es interessant, wie negativ, brutal und herzlos die geradezu idealtypisch angelegte femme fatale durch eine Frau gezeichnet wird. Immerhin lässt ihr Holmès am Ende die Freiheit, während die beiden Kämpfer Mirko und Aslar tot sind. Durch seine Liebe zu Yamina und die gemeinsame Flucht hat Mirko seine Gemeinschaft, seine Verlobte und seinen Blutsbruder verraten. Aslar folgt den Fliehenden, kann aber den völlig verzückten Mirko nicht zur Umkehr bewegen, weshalb er ihn tötet und selbst im Gefecht mit den Türken umkommt. Die heimischen Legenden stilisieren beide zu Freiheitshelden, wie es im fünften Bild anklingt, das in Dortmund in der Originalfassung uraufgeführt wurde. In diesem Dreieck kommt Héléna zu kurz. Sie ist die stille Dulderin, die, anders als ihr Vorbild Micaela, sich im Gebet an die Madonna sogar auf den Beistand von Mirkos Mutter Dara stützen kann. Anna Sohn singt das zart zwitschernd und anmutig, während Alisa Kolosova die Dara drastisch und orgelnd als Mutterautorität gibt. Sie bleibt eine dralle Randfigur wie der mit grobmaschigem Schwarzbass singende Denis Velev als Père Sava.

Das gilt ein wenig leider auch für den Mirko, den Sergey Radchenko wie einen Bruder des übertölpelten und fremdgesteuerten Don José mit schönen heldischem, silbrigem Trompetenton und feinen Zwischentönen gibt. Doch seine langen Erzählungen, gleich zu Beginn des zweiten Aktes, geraten etwas prosaisch, was nicht unbedingt an fehlender gestalterischer Phantasie liegt, sondern an der Langatmigkeit der Holmès, der Langweiligkeit der Situationen, an der fehlenden Dramatik, am großen Bogen. Man bewundert das, doch man liebt es nicht. Zwischen diesen Polen ist die unsympathische Yamina, die alle Facetten der Verführung ausspielen kann, scheinbar die duldsame Sklavin gibt, dann wieder die doppelzüngige Schlange ist, eine gesanglich dankbare Partie und ein Puzzle aus Carmen, Dalila, Charlotte. Aude Extrémo gibt sie mit lodernder Intensität, erdiger Tiefe, gleißender Höhe, schäumender Leidenschaft und einigen Brüchen, ohne dass sich das zu einem Porträt fügt.

Augusta Holmés/Wikipedia

Eine Figur, die in ihrer geraden Aufrichtigkeit Statur gewinnt, ist Aslar, in dessen Bravourarie am Ende des zweiten Aktes Mandla Mndebele mit Wärme und schöner Höhe glänzt. Trotz der exotischen Farben, fehlt es dem Vierakter an Sinnenreiz- und Glanz, da gibt es Siegesfeiern und Trinkszenen im ersten und vierten Akt, Haremsdamen und Krieger, doch vieles wirkt blutleer, dabei hat Holmès glänzend instrumentiert und wird im dritten und vierten Akt in dieser Hinsicht noch virtuoser und ekstatischer, wobei man an Camille Saint-Saëns denken muss, der von Mademoiselle Holmès sagte, „In ihrer Musik explodieren die Blechbläser wie Feuerwerkskörper; die Töne prallen aufeinander, die Modulationen kollidieren mit einem stürmischen Lärm…alle Klangfarben des Orchesters, einer Art intensiver Kultivierung unterworfen, erzeugen maximale Effekte und die Violinen werfen Raketen ab, vor denen selbst das Klavier zurückweichen würde; die große Trommel, die Becken, die Harfe tanzen einen wilden Reigen.“

Diese zunehmende Sinnlichkeit des Gesangs und instrumentale Virtuosität reizen Motonori Kobayashi und die Dortmunder Philharmoniker, unterstützt von Chor und Extrachor, präzise und mit pompöser Klangfülle aus, wodurch der Schlussapplaus heftiger als zur Pause ausfällt. Emily Hehl hat dieses balkanesische Drame lyrique ausgesprochen überlegt und sorgfältig auf die Bühne gewuchtet und ihm durch die Gestalt einer Gusla-Spielerin, welche die in uralten Erzählungen tradierte Heldengeschichte des Marko Kraljević vorträgt, einen Rahmen gegeben. Im deftigen rezitierenden Schrei-Gesang gibt Bojana Peković einen glühenden Ton vor, den die Dorfgemeinde nur schwer aufnehmen kann. Zusammen mit den sanft stilisierten Trachten und den bildträchtigen Überwürfen für die Frauen und weißen Faltenröcken für die Männer (Kostüme: Emma Gaudiano) kreiert Hehl in der typischen grauschieferigen Frank Philipp Schlössmann-Kiste, die nach hinten spitz abknickt, sich geschickt heben und schieben lässt, eine zwischen Raum und Zeiten schwebende Geschichte, in der ein Esel ebenso seinen Platz hat wie ein Auto, die im Krieg erbeuteten türkischen Teppiche ebenso wie abnehmbare Heiligenscheine. Rolf Fath

.

.

Belcanto-Glanz an der Deutschen Oper Berlin: Seit ihrer Premiere im Dezember 1980 ist Filippo Sanjusts Inszenierung von Donizettis Lucia di Lammermoor ein beliebter Klassiker im Repertoire der Deutschen Oper Berlin, suggerierten die Kulissen aus bemalter Pappe doch eine Aufführung im Stil der Uraufführung des Werkes. Nun betrat mit Anna Bolena eine weitere Belcanto-Heldin des Komponisten die Bühne in der Bismarckstraße. Hoch waren die Erwartungen der Liebhaber dieses Genres – und zumindest musikalisch wurden sie erfüllt. Enrique Mazzola hatte sich für die kritische Edition der Fondazione Donizetti di Bergamo entschieden, was mehrere unbekannte Passagen zu Gehör brachte und die Aufführung deutlich verlängerte. Er dirigierte das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit feinem Gespür für die kantablen Lyrismen der Komposition, wusste aber auch deren dramatische Szenen (wie das 1. Finale) effektvoll auszubreiten.

Erfreulich war die durchweg kompetente Besetzung, die keinen Schwachpunkt aufwies. Die Bedenken, ob Federica Lombardi, gerühmt als Figaro-Contessa, für die Titelpartie der richtige Stimmtyp sein könnte, hatten sich schnell zerschlagen, denn die italienische Sopranistin ließ eine potente Stimme mit aparten Farben, feinen piani und leuchtenden legato-Bögen hören. Und sie besaß auch das dramatische Potential, um die entsprechenden Szenen ihrer Partie („Giudici! ad Anna!“) zu bewältigen. Nur selten (so im Rezitativ der Schluss-Szene) gerieten einzelne Spitzentöne grell, aber insgesamt ist der Sängerin eine respektable Leistung zu bescheinigen. Nach dem dramatisch pulsierenden Duett mit Percy und der fulminanten Auseinandersetzung mit ihrer Konkurrentin Giovanna krönte sie ihre Leistung mit dem souverän bewältigten Finale. Voller Innigkeit ertönte das Gebet „Cielo, a’ miei lunghi spasimi“, furchtlos ging sie den gefürchteten Schlussteil des langen Solos, „Coppia  iniquia“, an und erbrachte den Beweis, dass auch eine Sängerin von lyrischem Charakter die Partie überzeugend interpretieren kann. Für mich bot Vasilisa Berzhanskaya als Giovanna die spektakulärste Leistung der Aufführung. Ihr glutvoller Mezzo von ausladendem Volumen, durchschlagender Höhe und satter Tiefe besaß dramatischen Aplomb und lodernde Leidenschaft, was ihre Duette mit Anna und Enrico zu den akklamierten Höhepunkten der Aufführung werden ließ. In Riccardo Fassi hatte sie einen attraktiven Partner in der Partie des Königs – stattlich in der Erscheinung, von viriler Aura und mit voluminösem, kultiviertem Bass aufwartend. Mit René Barbera stellte sich in der Partie des Percy ein idiomatischer Belcanto-Tenor vor – stilistisch untadelig, von strahlendem Klang und sicher in den Extremnoten. Als Page Smeton ließ die amerikanische Mezzosopranistin Karis Tucker eine angenehme, warme Stimme hören, als Annas Bruder Rochefort komplettierte Padraic Rowan die Besetzung mit sonorem Bariton. Glänzend absolvierte der Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) seine Auftritte.

Donizettis „Anna Bolena“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Bettina Stöß

Die Produktion kommt vom Opernhaus Zürich, verantwortet hat sie David Alden in der Ausstattung von Gideon Davey. Letzterer hat die Bühne mit einer hellen, hohen Wand eingefasst, mehrfach wird in den Raum ein halbrundes Holzpaneel herabgelassen, in dessen oberen Öffnungen wie in imaginären Logen Personen postiert sind. Einzelne Versatzstücke wie der Königsthron, das Ehebett, rote Ledersofas, ein Knochenmann mit schwarzer Krone und ein Krankenbett illustrieren die Schauplätze. Unbedeutend sind die Video-Projektionen von Robi Voigt im Hintergrund in düsterem Schwarz/Weiß mit Vögeln, Hunden, Wolken, Wasserfällen und Totenköpfen.

Die Kostüme stellen eine Mixtur aus historischen Gewändern und Kleidung der 1940/50er Jahre für den Chor dar. Von gediegener Eleganz und im Stil der Zeit sind die Roben für die Königin aus feinen Stoffen und mit raffiniertem  Faltenwurf. Giovanna trägt zunächst ein modisches Kostüm mit Pelzstola, am Ende aber ein prachtvolles Gewand als die künftige Regentin. Historisch gewandet ist der König, was dessen ohnehin imposante Erscheinung noch attraktiver macht.

Aldens Inszenierung wird bestimmt von einer fast durchweg ironisierten, oft albernen Chorführung. Die Höflinge in Gehrock und Zylinder geraten in ihren Auftritten mit Masken, Regenschirmen und Aktentaschen an den Rand der Karikatur. Gelegentlich müssen sie als Gärtner den ausgerollten Kunstrasen trimmen und am Ende hüpfen sie und auch die Hofdamen übermütig herein, offenbar im Freudentaumel über die neue Königin, während von oben Konfetti herab rieselt, britische Flaggen herunter stürzen und Enrico vor Giovanna schwarze Rosen verstreut. Auch in der Personenführung gibt es eigenwillige Momente, so wenn der König in einem Anfall von Jähzorn das Ehebett zertrümmert oder die Ledersofas mit Fußtritten attackiert. In der Jagdszene bedient sich der Regisseur gar im Sado/MasoFundus und lässt Männer mit schwarzen Gesichtsmasken als Hunde hereinkriechen. Neu ist der Einfall, die kleine Elisabeth, Annas Tochter und spätere englische Königin sowie Donizettis tragische Heldin in seinem Roberto Devereux, auftreten zu lassen. Die 4. Vorstellung am 26. Dezember 2023 endete im anhaltenden Jubel des Publikums. Bernd Hoppe

.

.

Verona: Ponchiellis einaktige Buffa Il parlatore eterno und Puccinis Il tabarro im Teatro Filarmonico „Lecco 18. X. 1873“. Keiner ahnt, was damals geschah. Keine Schlacht, kein anderes historisches Ereignis, das in der Geschichte der Stadt am Comer See irgendeine Rolle spielen könnte. Allerdings darf sich Lecco rühmen, einer der Schauplätze der Promessi Sposi von Alessandro Manzoni zu sein. In Lecco wurde 1824 auch Antonio Ghislanzoni geboren, der Medizin studierte, als Sänger zur Bühne ging, aufgrund seiner Mitarbeit bei radikalen Zeitungen in den politisch unruhigen Zeiten zerrieben wurde, nach Paris floh und später in Italien mehrere Zeitungen herausgab. Am berühmtesten wurde er durch seine Libretti für Verdis Aida und La forza del destino.

Außerdem schrieb er Libretti für Carlos Gomes, Errico Petrella, darunter I promessi sposi, Antonio Cagnoni, Lauro Rossi und Amilcare Ponchielli, dem er den Auftrag für I Lituani an der Mailänder Scala vermittelte und mit dem Einakter Il parlatore eterno über eine Schaffenskrise hinweghalf. Dieser Ewige Schwätzer wurde im Oktober 1873 in Lecco aufgeführt. Im März des folgenden Jahres gab Ponchielli mit den Lituani sein erfolgreiches Debüt an der Scala, die fortan sein Stammhaus wurde. Die kann halbstündige Kurz-Buffa ist nicht mehr als eine Fußnote in Schaffen Ponchiellis, ein Scherzo comico, als welche sie in der Edizione von Angelo Rusconi firmiert. Erst 2006 wurde der Scherzo im Teatro Sociale in Lecco neuerlich gespielt, inszeniert übrigens von Stefano Trespidi, der ihn in seiner Funktion als Vice Direttore Artistico der Fondazione Arena ins Teatro Filarmonico nach Verona holte, wo er 2021 unter Corona-Einschränkungen erstmals gezeigt und nun neuerlich aufgelegt wurde.

Ponchiellis „Parlatore eterno“ in Verona 2023/Szene/Foto Ennevi per la Fondazione Arena di Verona – Teatro Filarmonico

Il parlatore eterno, bei der sich Ghislanzoni auf die gleichnamige französische Komödie aus dem Jahr 1805 stützte (Le Parleur éternel von Charles-Maurice Descombes) dürfte einzigartig sein. Die Hauptfigur ist der junge Arzt Lelio Cinguetta, der alle anderen Beteiligten totquatscht bzw. vom Anfang bis zum Ende ununterbrochen redet, so dass sie höchsten mal ein „aber“/„ma“ einwerfen können, darunter seine Geliebte Susetta, deren Eltern, sein Rivale Egidio, eine Kammerzofe und ein Gendarm, die zu Stichwortgebern im Chor der Nachbarn degradiert werden. Anders als Cimarosas Maestro di cappella oder Donizettis Pigmalione ist der Parlatore tatsächlich eine Solo-Show für einen an Rossini geschulten Baritono brillante, der im munteren Plappergesang, den Silbengirlanden und ariosen Aufschwüngen erzählt, weshalb er des Nachts ins Haus der Geliebten eindringt, sich mit seinem Rivalen schlägt und so lange auf Susettas Eltern einschwätzt, bis sie erschöpft ihre Einwilligung zur Hochzeit geben. Rossini ist die Referenz, auch andere Buffonisten der Zeit. Wenn Lelio wie Rossinis Almaviva aber zur Gitarre greift, schimmert ein eigener unverkennbarer Ponchielli-Ton zwischen den Noten auf, der auf die venezianischen Festivitäten der Gioconda, den Tanz der Stunden und die Gesänge der Matrosen, vorausweist. Dieses Changieren zwischen den Buffo-Traditionen des frühen 19. Jahrhunderts und den Forderungen nach einer modernen italienischen Oper im letzten Drittel des Jahrhunderts erfüllt Ponchielli durch eine feingliedrige Orchestersprache, die raffinierter strukturiert ist, als sie auf den ersten Moment klingen mag.

Die Dirigentin Gianna Fratta braucht ein wenig, bis sie sich mit dem Orchester der Fondazione Arena di Verona warmläuft, doch dann erfasst sie den Charme von Ponchiellis einziger Buffa. Der Parlatore ist eine kleine Nichtigkeit, kein großer Wurf, aber eine Stück, das im Gegensatz zur manchmal etwas eckig heterogenen Gioconda wie aus einem Guss ist. Trespidi hat den Scherzo auf der von Filippo Tonon mit weißen Holzwänden sparsam, aber eindringlich möblierten Bühne einfachst inszeniert, die Nachbarn – der Coro der Fondazione Arena di Verona – wie Biedermeierpüppchen in den Proszeniumslogen verteilt und die Stichwortgeber locker aufgereiht. Es ist der Abend des jungen Bassbaritons Biagio Pizzuti, der den Lelio mit der gebotenen schaumschlägerischen Leichtigkeit und Singlust auf die Bühne zauberte.
Wie kann man das Scherzo comico auffüllen. Im Teatro Filarmonico gab es als herben Gegensatz den grellen Neorealismus von Puccinis Il tabarro, den das Regieteam Paolo Gavazzeni, Neffe des Dirigenten Gianandrea Gavazzeni, und Piero Maranghi auf dem von Leila Fteita über die gesamte Bühnenbreite angelegten Seinekahn in den glühende Farben des Abendrots als melodramatischen Schocker inszenierten.

Auch im Tabarro braucht Fratta ein wenig, bis sie in den Fluss der Musik eintauchte (22. November). Gevorg Hakobyan ist ein Michele von raumgreifender stimmlicher Präsenz, mit gut sitzendem und bedrohlich geschärftem Bariton, wuchtig auch der kernige tenorale Draufgänger Samuele Simoncini als Luigi. Der aparten sopranzarten Alessandra di Giorgio, die man in keiner der Partien hören will, die operabase.com für sie verzeichnet, fehlt es dagegen für die Giorgetta an sicherer Höhe, Stimmkraft und Persönlichkeit. Rolf Fath

,

,
Fast unbemerkt vom internationalen Opernbetrieb gab es im Herbst von 2023 eine kleine Sensdation im italienischen Pompeji, das ja eher durch seine antiken Stätten andernweit bekannt ist. Eine seit langem vergessene Oper, die ihre (zu kurze) Auferstehung verdiente, war bereits rund 190 Jahre nach der Geburt des Musikers und Komponisten Temistocle Marzano wiederentdeckt worden. Marzano, Lieblingsschüler von Mercadante, wurde von Salerno, seiner Adoptivstadt , damit geehrt, dass sie seine Oper I Normanni a Salerno im Januar 2006 mit Erfolg in eben dieser Stadt, Salerno, wiederaufführte. Nun gab es, nach einer weiteren Aufführung 2006 in Neapel, eine erneute konzertante Folge im stimmungsvollen Teatro Mattiello von Pompeji, wo der unermüdliche Musikfan Eugenio Palantino es wieder geschafft hatte, diese Oper zur Aufführung zu bringen. Das war am 20 Oktober 2023 in der Produzione Critica di Eugenio Paolantonio.

Marzanos „Normanni a Salerno““ in Pompeji 2023//Foto IMG

Die wirklich hervorragenden Sänger waren in den drei Hauptpartien Davide Maria Sabatino (einfach toll mit schönem Bass als Gualmaro), die bezaubernde Chiara Polese als leuchtende und Aufsehen erregende Bianca, Davide Battinielli (ausserordentlich tapfer und vor allem im zweiten Teil mit leuchtenden Spitzentönen als unglücklicher Ainulfo) sowie mit fabelhaftem Bariton Paolo Cutolo. Dazu kam der Coro filarmonico Jubilate Deo und das exzellente Orchestra Temistocle Marzano unter der federnden Leitung von Maestro Giuseppe Polese. Leider gab es nur „brani scleti“, also die Highlights der Oper, die der Dirigent per Zwischenbericht dem Publikum nahebrachte. Dottore Eugenio Palantino, als Vorsitzender der Temistocle-Marzano-Gesellschaft, trat ebenfalls vor dem eigentlichen Begin auf, bedankte sich beim Sindaco/Bürgermeister von Pompeji, Dott. Carmine Lo Sapio, für seine Unterstützung, weil ohne diesen die Aufführung nicht zustande gekommen wäre. Das Ganze ist nun, in abendliche Dunkelheit gehüllt, bei youtube zu erleben.

Diese Oper, die 1872 das Teatro Verdi von Salerno eröffnete, ist danach wegen ihrer musikalischen Komplexität nun eben nur dreimal gegeben  worden. Vier Akte, drei Stunden Musik, fünfzig Orchestermitglieder, vierzig Choristen, mehr als fünfzig Tänzer und Statisten – das erfordert einen enormen Aufwand.

Die Orchesterleitung der Wiederentdeckung in Pompeji hatte man  Giuseppe Polese anvertraut,  der  sich  in der Vergangenheit für seinen Einsatz im italienischen Musiktheater einen Namen gemacht hatte. Und die allgemeinen Bemühungen umfassten quasi den ganzen Ort, wie man den zum Teil anrührend-naiven Aufführungsfotos entnehmen kann – es war ein Werk der Liebe.

Die Geschichte spielt im 12. Jahrhundert, als die Normannen unter Wilhelm Eisenarm, Sohn von Tancredi d’Altavilla, der Stadt Salerno gegen den Ansturm der  Sarazenen zu Hilfe eilen. Die Geschichte erinnert an den Widerstand der Bevölkerung von Salerno und an die unglückliche Liebe zwischen Bianca, Tochter des Königs Guaimaro und Verlobte von Guglielmo, zu Ainulfo, Verräter am eigenen Volk und an seinem Glauben. Dieser dringt heimlich in den Palast ein, um Bianca vor ihrer Hochzeit zu entführen, womit er scheitert. Er droht, den König Guaimaro zu ermorden, und begeht schließlich Selbstmord, um der Selbstjustiz durch das Volk zu entgehen.

Die Oper I Normanni a Salerno wurde zum ersten Mal am Teatro Verdi von Salerno am 11. Juni 1872 gezeigt und hatte bei Publikum und Kritik großen Erfolg. Dirigent war der Komponist selbst, der nicht zuletzt wegen dieses Erfolgs berechtigte, aber später nicht erfüllte Hoffnungen hegte, dass sein Werk auch an größeren Bühnen aufgeführt werden würde..

Temistocle Marzano hat nur  wenig  über sein Leben hinterlassen und ist im Musikbetrieb absolut unbekannt. Herausragend ist sein Studium bei Mercadante. Neben seiner Oper  I Normanni  erinnert  man sich vielleicht noch an La Perseveranza (Mailand 1872). Informationen über sein Leben sind fragmentarisch. Er wurde 1820 in Procida geboren und starb 1896 in Salerno. Seine Studien vollendete er am Real Collegia di  Musca  und  am  Conservatorio  S. Pietro a Majella  in Neapel, wo er  mit Florimo (Belinis Freund) und Cesi  zusammmentraf und von  Zingarelli und Mercadante (seit 1840 Direktor des lnstitutes) unterrichtet wurde. Mercadante selbst hielt ihn für seinen besten Schüler. Nach seiner Ausbildung ging Marzano (so sein Biograf Longo) nach Civittavecchia, dann nach Salerno, wo er am Jesuitenkolleg als Maestro Concertatore angestellt war, danach als Leiter des bekannten Theaters La Flora. Von 1869 bis zu seinem Tode stand er dem Orchester und der der Scuola des Waisenhauses (Scuola Musicale dell’Orfanotrofio Umberto I.) und der eigens gegründeten Banda Municipale (1887) vor. Später wurde dann er Direktor des Teatro Verdi in Salerno; und als glühender Patriot und Maestro di Capella Pontificio für Pius IX. verfasste er ein reiches geistliches Oeuvre (darunter ein Requiem, ein Magnificat und eine Messe) neben umfangreicher Gelegenheitsmusik.

Marzanos „Normanni a Salerno““ in Pompeji 2023/Maria Chiara Polese und Davide Battinelli mit dem Dirigenten Giuseppe Polese /Foto IMG

Die Oper I Normanni muss  man, ohne zu  übertreiben, als eindrucksvoll  bezeichnen. Der musikalische Stil Marzanos erinnert (eben in der Folge Mercadantes) weniger die überschäumenden Einfälle einer buffa  Rossinis, als vielmehr Echos von Bellini und Donizetti sowie letzten Endes auch von Verdi. Die Einflüsse einer Lucia auf Bianca, der weiblichen Hauptrolle, sind nicht zu überhören. Die Rivalität zwischen zwei Familien und der Konflikt zwischen Vaterlands­ und persönlicher Liebe finden sich sowohl bei Bellini als auch in den Normanni.

I  Normanni a Salerno sind eine opera seria in starken Farben, deren interessante Musik einerseits  die  vielfältigen  Einflüsse des Königlichen Musikkollegs von Neapel widerspiegeln und andererseits die des zeitgenössischen(!) melodramma Verdis. Die Charakterzeichnung eines Don Carlo oder eines Ernani findet sich auch in der Psychologie einer Figur wie der des eifersüchtigen und gewalttätigen Ainulfo oder dem eher heroischen Guaimaro, der einem Bass anvertraut ist und nicht –  wie damals  üblich – einem Tenor. Die Rollen sind so beschaffen, dass sie nicht leichte, sondern kraftvoll­ heroische spinto-Stimmen für die Sopran-, Tenor- und Baritonpartie erfordern. Und in der Tat ist die Baritonrolle des Guglielmo einem Silva oder Posa nicht unähnlich.

Der Wunsch nach dem Zeitgemäß­/Modischen lässt sich auch an der Verwendung von zeitgenössisch beliebten Musikstücken erkennen: man findet Triumphmärsche, Fanfaren, brillante Walzer, romantische Melodien, volkstümliche Tarantellen, Gebete und vieles von dem, was wir auch bei Verdi hören – etwa den raschen Wechsel zwischen in sich abgeschlossenen Gesangsnummern und Rezitativen. Es fehlen durchaus nicht originelle harmonische Lösungen und ungewöhnliche Melodien. Bestimmte musikalische Themen sind einzelnen Personen zugeordnet, Leitmotiven vergleichbar, aber später auch in Verdis Aida und dann von Puccini verwendet. Der Chor ist in die Handlungen eingeflochten, wie in den Opern Verdis, und kommentiert die Aktion, drückt die Meinung des Volkes aus, vergleichbar mit der Rolle des Chores im antiken Drama. Ihm gebührt auch das Erflehen des göttlichen Eingreifens, was im Intermezzo von Cavalleria erneut der Fall ist. Die Verbindungen Mascagnis mit Salerno sind ja hinreichend bekannt: Franz Carella benannte 1925 nach dem Komponisten und Freund das historische Liceo Musicale und 1933 das Orchestra Sinfonica „Mascagni“, das dieser begründet hatte und bis zu seinem Lebensende leitete.

Unüberhörbar sind in Marzanos Oper ebenfalls die Einflüsse der später von Mascagni verwendeten Tradition, die auf dem Blasorchester, der bandavon Salerno fußt und die unüberhörbar in der Instrumentation der Normanni vorhanden ist – der Hörnerchor, die Basstuba und die Blechbläser generell. Natürlich ließ auch Verdi sich von den bande musicali Italiens beeinflussen. Und Marzano war ja eine Zeitlang Chef der regionalen banda. Das positive Urteil des kompetenten und strengen Publikums der damaligen Zeit wird von den musikalischen Fachleuten heute bestätigt und lässt keinen Zweifel aufkommen an der Qualität und damit der Bedeutung der Musik Marzanos. Bianca Lo Giudice/ Übersetzung DeepL

.

.

Marianna Bottinis Elena e Gerardo in Rugby. Marianna Bottini wurde 1802 in Lucca geboren. Im Alter von 20 Jahren schrieb sie ihre einzige Oper, Elena e Gerardo. Ein Jahr später heiratete sie, und das war das Ende ihrer musikalischen Karriere. Obwohl ihre geistliche Musik weiterhin aufgeführt wurde, lag diese Oper vergessen in einem Archiv in ihrer Heimatstadt. Erst jetzt wurde sie von Random Opera für eine einzige Aufführung im Temple Speech Room in Rugby (am 28. Oktober 23) wiederentdeckt, einer kleinen Stadt in der Mitte Englands, die für ihren Eisenbahn-Knotenpunkt und ihre Public (d. h. private) Schule bekannt ist, in der das Spiel Rugby Union geboren wurde.

Zu Bottinis „Elena e Gerardo“ in Rugby“/The Temple Room/operabase

Die Handlung erinnert an Romeo und Julia. Elena hat heimlich Gerardo geheiratet, der sich zu Beginn der Oper auf einer diplomatischen Mission im Ausland befindet. Sie ist deprimiert und ihr Vater Pietro beschließt, dass die Heirat mit dem Mann, den sie liebt, das Heilmittel sein wird. Leider denkt er, dass es sich dabei um Vittorio handelt, einen engen Freund von Elena, der in sie verliebt ist, und den besten Freund von Gerardo. In dem Glauben, dass ihr Vater sie für Gerardo bestimmt hat, willigt Elena in die Heirat ein. Doch als Gerardo zurückkehrt und sich herausstellt, dass Elena bereits verheiratet ist (auch wenn Gerardo noch keinen Namen hat), verstößt Pietro sie, Elena bricht wie tot zusammen, und wir werden mit ihrer Beerdigung konfrontiert. Obwohl Vittorio sie großmütig an Gerardo abtritt, ist Pietro so gekränkt, dass er sie vor die Wahl stellt, zwischen echter kindlicher Pflicht und ebenso echter Liebe zu ihrem Mann zu wählen. Schließlich lenkt Pietro ein und die Oper endet glücklich.

Der Flyer der Random Opera versprach: „Ein barockes Belcanto-Juwel, ein Werk voller virtuoser Koloraturen, die an ihren Zeitgenossen Rossini erinnern“. Über das Wort „barock“ mag man sich streiten, aber nach einmaligem Hören trifft der Rest dieser Beschreibung voll zu. Der Abend war praktisch ein einziges Vergnügen. Es gibt in der Tat sehr viele Rossini-Koloraturen, und diese wurden größtenteils sehr eindrucksvoll dargeboten. Herausragend war die Sopranistin Kelli-Ann Masterson als Elena, die eine schöne, ungezwungene Stimme hatte, die in Bottinis ausgefeilten Koloraturen schwelgte. Ebenfalls bewundernswert in dieser blumigen Musik waren Mezzo Katie Macdonald als Gerardo (eine Hosenrolle) und Tenor Rhydian Jenkins als Vittorio. Der Temple Speech Room ist um einiges resonanter als ideal, und dies betraf die Artikulation von Martin Lamb als Pietro, der ansonsten hervorragend war. Sián Griffiths als Laura, Elenas Vertraute oder vielleicht ihre Mutter (ich entschuldige mich für meine Verwirrung), vervollständigte die Besetzung. Es gab einen ausgezeichneten kleinen Chor, von dem fünf die Hauptrollen verkörperten, und ein sehr angemessenes Kammerorchester. Der Dirigent war Thomas Payne, ein Absolvent des Jette-Parker-Programms des Royal Opera Houses; er hielt alles zusammen, alle seine Tempi schienen genau richtig zu sein und er zeigte eine echte Affinität zur Belcanto-Oper. Der Generaldirektor der Random Opera, Richard Tegid Jones, führte Regie, und seine Darsteller überzeugten mit ihrem Spiel und ihren Bewegungen. Alle sahen auf der Bühne gut aus. Es gab kein Bühnenbild und die Requisiten beschränkten sich auf ein paar Stühle. Die Kostüme sahen für meine ungeübten Augen überzeugend nach dem frühen neunzehnten Jahrhundert aus.

Was das Musikalisache betrifft, hatte ich ein Problem. Ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht eine kleine Obsession habe, aber mir sind viele „stumpfe“ Phrasenenden aufgefallen, vor allem, aber nicht nur, in den Rezitativen. Meiner Meinung nach hätten Appoggiaturen eingefügt werden müssen. Ist es Zufall, dass Bellini und Mercadante, die ihre Appoggiaturen ausgeschrieben haben, beide in Neapel studiert haben, während Rossini, Donizetti und Bottini, deren Opern Sänger brauchen, um sie einzufügen, alle in Bologna studiert haben? Unterschiedliche Traditionen vielleicht, aber sie alle schrieben in der gleichen lingua franca.

Marianna Bottini née Motroni-Andreozzi (7 November 1802 – 25 Januar 1858)

Und was ist mit der Oper selbst? Ich zögere, nach einmaligem Hören ein verbindliches Urteil zu fällen, aber ich fand den Abend sehr aufregend. Immer wieder sind mir gelungene orchestrale Details aufgefallen, vor allem in den Holzbläsern. Ich hörte auch Dinge, die mich an den frühen Bellini und Donizetti erinnerten; in einem Moment kam mir Donizettis Chiara e Serafina in den Sinn. Manches wirkte wie ein Rückblick auf die Jahrhundertwende und die Komponisten, die in Band 1 (1800 -1810) von Opera Rara’s „A Hundred Years of Italian Opera“ vorgestellt werden. Es stimmt, dass Rossini nie zu weit weg war, wenn auch ohne die ultimative rhythmische Energie, die ihn auszeichnet – aber auch keiner seiner „Nachfolger“ erreicht sie ganz. Diejenigen, für die Belcanto-Oper nichtssagend oder oberflächlich ist, werden Elena e Gerardo nicht nach ihrem Geschmack finden. Aber diejenigen unter uns, die blumigen Gesang an sich berührend finden, werden es sicher genießen. Die Koloraturen halten zu Beginn des zweiten Aktes inne, wenn Gerardo den „Tod“ von Elena über ihrem leblosen Körper auf dem Katafalk betrauert, eine lange und bemerkenswerte Szene mit ausdrucksstarkem Arioso. Es gibt nicht viele Doppelarien, aber es gibt eine Vielzahl von Formen, von einsätzigen Arien bis zu mehrteiligen Ensembles. Die Oper ist dramaturgisch nicht perfekt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass das Libretto ein wenig nach Jugendliteratur riecht, aber Marianna war kaum aus dem Teenageralter heraus, als sie es schrieb – ja, sie schrieb sowohl Text als auch Musik. Und ja, Pietro bleibt etwas zu lange der starrköpfige Patriarch. Aber alles in allem kann ich dem Urteil von Random Opera nur zustimmen, dass Elena e Gerardo ein Werk ist, das eine Wiederbelebung und Aufführung verdient. Es ist sicherlich eine bemerkenswerte Leistung für eine Zwanzigjährige um 1820, und wir müssen bedauern, dass, wie bei vielen anderen Frauen auch, die gesellschaftlichen Konventionen ihre Karriere stoppten, bevor sie richtig begonnen hatte.

Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass es sich bei dem autographen Manuskript nicht um ein fertiges Werk handelt, sondern eher um einen ersten Entwurf mit Markierungen für orchestrale Details. Die Aufgabe, die Aufführungsausgabe zu erstellen, wurde von den Musikwissenschaftlern Ian Schofield und Matthew Smith übernommen, und Richard Jones erkennt auch den Beitrag von Professor Alessandra Fiori an, die zufällig ihre eigenen Forschungen am Istituto Boccherini in Lucca durchführte, wo die Partitur aufbewahrt wird. Unser Dank gilt ihnen allen. Und den Sängerinnen und Sängern, die ihre Partien nur für eine einzige Aufführung gelernt haben. Jetzt, da es eine Aufführungspartitur gibt, ist zu hoffen, dass andere Kompanien sie übernehmen werden. Mir wurde gesagt, dass die Aufführung gefilmt wurde und auf youtube verfügbar sein wird. Alan Jackson (mit Dank an den Autor und die Londoner Donizetti Society)

.

.

Straßburg, Opéra National du Rhin: Laurent Pellys Lakmé: Noch einmal schwirrt Koloraturgezwitscher durch den Blumenhain, klingeln Glöckchen dazu, entsagt eine Priesterin ihrer Liebe. Léo Delibes Lakmé läutet so etwas wie eine Endphase der exotischen Oper, die sich in Frankreich seit Rameau in ferne orientalische Regionen vorwagte und mit einigen Opern Massenets, die sich vom indischen Lahore bis in altägyptische und römische Gegenden träumten, nochmals einen Höhepunkt erlebte. Auch die Musik klingt bei der Wiederbegegnung auf liebeswerte Weise ein wenig angestaubt und gestrig und hat sich nicht so gut gehalten wie andere Werke, die damals an der Opéra-Comique uraufgeführt wurden, etwa Carmen oder Les contes d’Hoffmann.

In Straßburg war Lakmé beispielsweise ein Menschenalter nicht zu sehen, was wundert, da bestimmte, aus der Mode gekommene Werke, die Paris hochnäsig übersah, umso intensiver in der französischen und belgischen Provinz gepflegt wurden. Nach annähernd 70 Jahren kehrte Léo Delibes Oper nun auf die Bühne der Opera National du Rhin in einer Produktion zurück, die bereits in Nizza und an der Opéra-Comique zu sehen war, also dort, wo das Stück nach seiner Uraufführung im April 1883 mehr als unglaubliche 1600 Aufführungen erlebte. Laurent Pelly adaptierte sogar einige wenige der ursprünglichen Sprechexte, die Delibes später für die heute gebräuchliche „internationale“ Fassung durch Rezitative ersetzte.

Delibes´“Lakmé“ an der Strasburger Oper/Szene/Foto Klara Beck

Bemerkenswerter als durch den Rückgriff auf die Originalfassung ist Pellys Inszenierung jedoch durch den kompletten Verzicht auf den indischen Zierrat, die bemalten Veduten, Soffitten und Seitenschals, die Farbenpracht und den Ausstattungsluxus, die bislang als unverzichtbar galten und wie ich sie erstmals in den 1980er Jahren in Bologna erlebte in einer Inszenierung von Alberto Fassini und in der Ausstattung von Pasquale Grossi, die inklusive Luciana Serras Lakmé sogar bis nach Chicago exportiert wurden, von wo aus Grossis Kulissen weiterreisten. Erstaunlicherweise erzielt Pelly aber mit seinen reduzierten Mitteln eine zauberisch verspielte und suggestive Wirkung.

Auch Pelly und seine Ausstatterin Camille Dugas arbeiten mit Soffitten und seitlichen Kulissen, doch alles ist in zarten Elfenbeinfarben gehalten, luftig und leicht. Durch den rückwärtigen hellen Horizont geht ein Riss, Symbol für die verletzte Unschuld der Lakmé, durch den die Europäer, in diesem Fall eine Gruppe von Engländern, in den verbotenen Tempelbereich blicken, wo sich der Engländer Gérald in Lakmé, die Tochter des Brahmanen Nilakantha, verliebt.

Ein bisschen Kolonialismus und indischen Unabhängigkeitskampf haben die Autoren Gondinet und Gille der rührenden Liebesgeschichte untergemischt. Die Liebe ist unmöglich. Ein „rêve“, ein Traum, wie es immer wieder im Text heißt. Wie ein Traum wirkt auch diese federleichte wie aus Papierbahnen gemachte Szenerie, die mit Schattentheater und Gesten und Ritualen fernöstlicher Theaterkunst, etwa des No-Theates, angefüllt ist und in den letzten Momenten der Lakmé nach dem Genuss einer tödlichen Blüte auch den japanischen Butoh-Tanz aufgreift, der als Widerstand gegen westliche Einflüsse entstand. Lakmé wird wie eine Preziose in einem kostbaren Käfig gehalten und in viele Schichten durchscheinender Gazebahnen gekleidet, die Mallika während des Duetts abwickelt. Die sanfte Magie dieser einfachen Theatermittel, die selbst eine Stadtlandschaft hurtig auf die Bühne zaubern, entspricht der welken Exotik von Delibes‘ Musik, die auf gekonnte Weise Sehnsucht und Theaterhandwerk verbindet und durch die Verwendung wiederkehrender Motive ebenso banal wie verführerisch ist.

Delibes´“Lakmé“ an der Strasburger Oper/Szene/Foto Klara Beck

Man merkt, wie aufmerksam Delibes auf die Werke seiner Kollegen, etwa auf Offenbach und dessen Contes d’ Hoffmann, reagiert. Guillaume Tourniaire kostet die nostalgischen Momente dieser exotischen Spätblüte aus, stellt mit dem Orchestre symphonique de Mulhouse dieses besondere französisch elegische Flair zwischen Kaffeehaus und Großer Oper her; selbst der nicht ganz schlackenfreie Klang passt. Sabine Devieilhe, eine fragile Koloratursängerin in der Nachfolge ihrer Landsmänninnen Natalie Dessay und Patricia Petibon ist vermutlich die Lakmé unserer Tage. In der berühmten Air des clochettes „Où va la jeune Hindoue“ lässt sie nicht nur feinste Koloraturakrobatik aufleuchten, sondern wartet mit kunstvoller messa di voce und fast zerbrechlichen Nuancen auf. Ihr Sopran wirkt selbst im intimen Straßburger Haus nicht besonders groß, doch er schimmert in elegischen Farben und zielt mit zärtlichen Silben während des Liebestods mitten ins Herz der Zuhörer. Mit harscher Emission und hartem Ton gibt Julien Behr den Kolonialoffizier Gérald, der sich in „Fantaisie au devin mesonge“ mit heldisch draufgängerischem Klang freisingt. Behr ist eine sichere Wahl für diese Partie. Mit kraftvollem und prägnantem Bassbariton sang und gestalte Nicolas Courjal den wütenden Nilakantha, auffallend keck gab Guillaume Andrieux Gérards Freund Frédéric, der das reizende comiquehafte Quintett des ersten Aktes anführt, während Ambroisine Bré als Lakmés Begleiterin Mallika im Blumenduett unauffällig blieb. Ingrid Perruche war die naseweise Mistress Bentson. Nachdrücklicher Applaus (2. November) für eine verblasste Ikone der französischen Oper. Rolf Fath

.

.
Die Fondazione Arena und das Teatro Filarmonico zeigten Amleto des Veroneser Komponisten Franco Faccio nach einem Libretto von Arrigo Boito.
Die Oper wurde 1865 in Genua am Teatro Carlo Felice mit großem Erfolg uraufgeführt. Einige Jahre später wurde sie an der Mailänder Scala wiederaufgenommen, wo sie vom Publikum so schlecht aufgenommen wurde, dass Franco Faccio beschloss, die Partitur zurückzuziehen und sie in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Inszenierung des Filarmonico ist somit die erste italienische Aufführung in der Gegenwart. Eine innovative und mutige Entscheidung des Veroneser Opernhauses. Die Oper ist in der Tat aus mehreren Gründen interessant, angefangen bei dem kuriosen Libretto von Arrigo Boito, das der „scapigliatura“ gewidmet ist, einer für die damalige Zeit neuen und provokanten literarischen Strömung. Eine gute Übung also für Boitos spätere große Shakespeare-Reduktionen, die von Verdi vertont wurden.
Gewiss, Boito scheint es manchmal zu übertreiben mit Zitaten, mit Begriffen aus der Zeit Dantes, mit gewagten metrischen Mischungen. Das war damals im Mailand der Mitte des 19. Jahrhunderts in Mode: neue Kunst, prätentiös, mutig. Die Musik von Franco Faccio hat manchmal Mühe sich anzupassen, aber sie überzeugt an mehreren Stellen, vor allem in der großen Begräbnisszene des dritten Aktes. Natürlich bleiben die ‚geschlossenen Stücke‘ erhalten, aber sie werden immer mit Originalität und Experimentierfreude behandelt. Man hört die Offenheit für die europäische Sinfonik. Man spürt, dass Wagner jenseits der Alpen angekommen ist.

Faccios „Amleto“ am Teatro Filarmonico Mailand/Szene/Foto EnneviFoto

Die dramaturgische Umsetzung war prägnant, theatralisch, voller Mischungen aus Tragik und Komik: Das an Ophelia gerichtete „fatti monachella…“ (etwa: „Mach dich zum Nönnchen“) ist in diesem Sinne erhellend. Boito und Faccio sind kompromisslos und wählen keine einfachen Wege: Besonders im ersten Akt haben wir eine straffe Handlung, in der der Chor fast immer präsent ist und die Figuren zwischen den Chorpassagen theatralisch agieren müssen. Auch das abschließende Duell ist nicht ohne Action und verlangt vom Protagonisten, der sich in der Szene mit den Totengräbern mit Laerte prügeln muss, eine gewisse Körperlichkeit.
Die Inszenierung von Paolo Valerio war im Wesentlichen klassisch, effektiv vor allem in den düsteren Szenen wie die der Totengräber und der Beerdigung Ophelias, in denen es ihm gelingt, den Chor wirkungsvoll zu bewegen. In den theatralischeren Szenen hingegen fehlt es an Erfindungsgeist und man verlässt sich auf banale Tableaux vivants und theatralische Posen.
In der Scheinkomödie werden die wandernden Schauspieler, die an den Hof von Elsinore gekommen sind, durch den derv Puppenspieler Hamlet in Marionetten verwandelt, die an roten Fäden hängen. Die Idee ist interessant, die szenische Umsetzung leider weniger. Seltsamerweise übersetzt Boito sie im Libretto sehr frei als ‚Sänger‘ (Cantori) und nicht als Schauspieler, denn auch sie müssen im Stück ein Drama mit Musik spielen. Alles dreht sich also um die Oper: Boito will die Welt der Oper erneuern, und sein Hamlet soll ein Beispiel dafür sein.
Zu zahlreich und nicht immer aussagekräftig sind die Projektionen, die ständig auf mehreren Tripolinvorhängen gezeigt werden. In der emblematischen Szene von Hamlets Selbstgespräch kommt ein Spiegel zum Einsatz, der etwas zu sehr an die identische Lösung von Kenneth Branagh in der Hamlet-Verfilmung von 1996 erinnert. Die Kostüme von Silvia Bonetti sind auf der einen Seite sehr geradlinig, aber auf der anderen Seite nicht besonders originell, dafür aber sehr gut geeignet, einen illustrativen Effekt zu erzielen.
Das Fehlen einer gründlichen Theaterarbeit ist spürbar, so dass es allzu oft an Realismus mangelt. Die Inszenierung ist jedoch fair, ebenso das ehrliche Bemühen, die Komplexität der Oper theatralisch darzustellen.
Insgesamt war das Sängerensemble gut, wobei Angelo Villari die Schwierigkeiten der Hauptrolle mit einer festen, klangvollen und wohlklingenden Stimme souverän meisterte. Ihm zur Seite stand der Claudio von Damiano Salerno: eine klare Stimme, hervorragend intoniert und präzise in der Phrasierung. Marta Torbidoni überzeugte als Gertrud mit Stimme und Volumen und gab eine entschlossene und willensstarke Königin. Gilda Fiume übertreibt, indem sie die schwierige Partie der Ophelia zu zart gestaltet.
Vorsichtig, aber immer professionell der Rest der großen Besetzung: Francesco Leone, Alessandro Abis, Davide Procaccini, Saverio Fiore, Abramo Rosalen, Enrico Zara, Francesco Pittari, Marianna Mappa, Nicolò Rigano, Maurizio Pantò, Valentino Perera. Giuseppe Grazioli dirigierte mit Aufmerksamkeit und brachte besonders die pompöse Seite der Partitur zur Geltung. Raffaello Malesci (22. Oktober 2023)

.

.
Scheidungskinder im Theater Bielefeld: Leoncavallos Zazà
: Zazà ist Künstlerin. In Leoncavallos Oper, deren Text er unter Mitarbeit von Carlo Zangarini verfasste, tritt sie im Alcazar in Saint-Étienne als Varieté-Künstlerin auf. Im gleichnamigen, 1898 in Paris uraufgeführten Schauspiel von Pierre Berton und Charles Simon ist sie ei-ne Prostituierte, die sich ihren Platz im Unterhaltungsbusiness erkämpfen muss.

Bei dem Leiter des Musiktheaters des Theaters Bielefeld Michael Mund ist Zazà eine Zirkuskünstlerin (Nadja Loschky leitet seit Beginn dieser Spielzeit nicht mehr die Musiktheater-Sparte und ist – wie das Theater Bielefeld schreibt – gegenwärtig Mitintendantin und künftig Alleinintendantin.). Manuel La Casta hat anstelle des Backstage-Milieus einen schäbigen Artistenbereich hinter einem kleinen Zirkuszelt auf die Bühne gestellt. Unter den Leuchtketten und zwischen den phantasievollen Tänzer- und Akrobatenkostümen (Irina Spreckelmeyer) ist die Trostlosigkeit des Artistenalltags mit aufgetürmten Koffern, ram-schigen Utensilien und Requisiten erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Über dieser Installation zum Thema Trostlosigkeit des Artistendaseins, wozu eine Bärtige im 1900-Unterkleid und Brustkorsett noch vor Leoncavallos kurzer Introduzione über Reinheit und Nichts, Freiheit, Wahnsinn und Tod räsoniert, knallt die Musik Leoncavallos, die Bielefelds Kapellmeisterin Anne Hinrichsen gewaltig aufbäumend und exzessiv in den Artistenalltag fahren lässt und mit den Bielefelder Philharmonikern eine Intensität erzeugt, die sich über die vier Akte wölbt und Zazà zur großen Schicksalstragödie stilisiert Das Publikum ist gebannt (15. Oktober 2023). Die Tingeltangel-Diseuse Zazà benimmt sich kapriziös wie der Star eines erstklassigen Etablissements, rümpft ob des besseren Engagements, das ihr der Ex-Geliebte und Partner Cascart in Aussicht stellt, die Nase. Alles nur, weil sie sich aufgrund einer Wette mit Bussy in den Kopf gesetzt hat, den Geschäftsmann Milio Dufresne zu ver-führen. Milio lässt sich verführen, liebt Zazà irgendwie wohl auch, die sich ihrerseits heftig verliebt hat und sich an ihn krallt. Milio steht vor einer Reise nach Amerika. Zazà wird misstrauisch, reist nach Paris, erkennt, dass er verheiratet ist und eine Tochter hat und beichtet ihm das bei seinem Abschiedsbesuch in Saint-Étienne, worauf er sie als Hure beschimpft. Da ist es, das böse Wort. Zazà stellt alles richtig: Nichts hat sie erzählt. Trotzdem ist die Affäre zu Ende, „tutto è finito“. Wie sich die Kurtisane aus der „Kameliendame“ in Verdis Traviata zur selbstlos Verzichtenden adelt, wirft die Oper auch über die Künstler-Prostituierten Zazà den Mantel selbstlo-ser Hingabe.

Leoncavallos „Zaza“ in Bielefeld/Szene/ Foto Sarah Jonek

Zazà bewahrt Milios Tochter Totò vor dem Schicksal, ohne Vater aufzuwachsen. So wie sie, nachdem dieser ihre Mutter Anaide verlassen hatte, ohne Vater aufwuchs. Sie weiß, was Anaide als Alleinerziehende durchzustehen hatte und versorgt sie jetzt mit Geld, wohl wissend, dass es für Anaides Alkoholkonsum draufgeht. Mit erdig-markantem Dunkelmezzo macht Alexandra Ionis viel aus der markanten Episo-denrolle. Manuel La Casta zeichnet die Stationen der Tragödie eindrucksvoll nach. Von Zazàs sauber einfacher Unterkunft bis zum bürgerlichen Wohlstand in Milios Pariser Heim, wie ihn sich Zazá auch vorstellen könnte. Immer sind die Zimmer nur hinter Türen zu erahnen. Hier die Künstler-Absteige mit einfachen Stühlen auf dem Flur, dort das Klavier hinter der Tür, eine kunstvolle halbrunde Kommode und Sitzmöbel im Milios Entrée mit Hausdiener. Das hat viel Atmosphäre, die Loschky mit berührenden Porträts auffüllt. Anfangs natürlich die Kollegen und Freunde Zazàs, die bis auf den Liedchen-Textdichter Bussy (Todd Boyce mit leichtem, aber prägnantem Bariton) in den hurtigen Skizzen kaum greifbar werden: Andrei Skliarenko als Courtois, Yoshiaki Kimura als Duclou, Cornelie Isenbürger in der Doppelrolle als Zazà Konkurrentin Floriana und Milios Gattin, Dumitru Sandu als Augusto (Choreographie: Sarah Delterne).
Die 1900 in Mailand unter Toscanini uraufgeführte vieraktige commedia lirica behandelt einen Paris-Stoff, wie in Leoncavallos La Bohème von 1897, die bald von der bereits ein Jahr zuvor uraufgeführten Boheme des Kollegen Puccini überstrahlt wurde. Das Künstlerleben von Paris hatte Leoncavallo ab 1882 als Komponist von Chansons und Begleiter von Café-Sängern, dann als Gesangslehrer, Korrepetitor und Begleiter von Stars wie Emma Calvé und der Massenet-Muse Sybil Sanderson verinnerlicht. Das ist in den Außenakten seiner Zazà zu spüren, deren Hinterbüh-nen- und Tingeltangel Situation ein Vergnügungsetablissement in der französischen Provinz nachzeichnet. Genauer das Alcazar in Saint-Étienne, ein Café-chantant, wie es Leoncavallo genau kannte, und die Wohnung von deren Star Zazà. Wenig glanzvoll, herabgesunken. Genauso ist das Drama der Zazà ein schludriger Kameliendame-Abklatsch. Zazà beschließt ihren geliebten Milio für sei-ne Familie freizugeben. Den Ausschlag gibt beim Überraschungsbesuch in Milios Pariser Heim die Begegnung mit seiner niedlichen Tochter Totò. Und als Totò, eine Sprechrolle, am Klavier auch noch das Ave Maria von Cherubini spielt, ist Zaza endgültig von ihrer gutne Mission überzeugt. Interessant ist das Ave Maria bzw. der Klaviervortrag, weil das Mädchen durchgehend über der Musik spricht. Ähnlich wir-kungsvoll hatte bislang nur Giordano das Klavier solistisch im zweiten Akt seiner Fedora eingesetzt. Wirkungsvoll ist vieles in Zazà, auch das in der Musik immer wieder durchschimmernde Pagliacci-Idiom aus Wollust und „La commedia è finita“-Schicksalsergebenheit, Wirkungsvoll ist aber vor allem die Titelrolle, welche die aus Bosnien und Herzegowina stammende Dušica Bijelić mit müdem Funkeln in den Augen spielte, das zum Leuchtfeuer wird, und mit einem jener flirrenden, nervös vibrierenden Sopranstimmen sang, die erst in emotionalen Aufschwüngen und Ausnahmesituationen ihre wahren Dimensionen erweisen. Brav und artig daneben der kroatische Kollege Nenad Čiča, der mit schmal hellem und gut fokussiertem Tenor den Milio gibt, der in dem hübsch geträllerten Liedchen „È un riso gentile quall’alba d’aprile“ hinter der Fassade des leichtfertigen jungen Herren den skrupellosen Verführer verbirgt. Die kleine Arie ist einer der wenigen Solonummern der Oper. Bekannter freilich ist der Bariton-Schlager im vierten Akt, mit dem Cascart Zazà nach der Enttäuschung zu trösten versucht; aus „Zazà, piccola zingara“ hätte der sich ins outriert Sprechstöhnen verflüchtigende angenehme Leichtbariton Evgueniy Alexiev mehr machen müssen. Nicht vergessen werden soll Giulia Rabec als Totò. Rolf Fath

..

.Annaberg-Buchholz: Späte Uraufführung von Alberto Franchettis Komödie Don Buonaparte. Der Dorfpfarrer in Nöten: Aus Siena sind ein Advokat, ein Ritter und ein Klosterbruder bei der Nachricht, Don Geronimo werde bald als Kardinal nach Paris ziehen, herbeigeeilt, damit er sie rette. Alle drei haben sich in dubiose Machenschaften verwickelt und erwarten von dem künftigen Kirchenfürsten, dass er das Gesetz breche und ihnen helfe. Findig weisen sie ihn in die italienische Bestechungspraxis ein. Don Geronimo ist entsetzt und jagt sie aus dem Haus, „Schurken, Halunken“ und was er ihnen noch alles hinterher ruft. Hätte uns nicht bereits zuvor Don Geronimos leidenschaftliches Liebesbekenntnis zu der „von Gott geküssten“ Toskana an den bauernschlauen Gianni Schicchi erinnert, der sein Florenz in den höchsten Tönen besingt, würde uns spätestens bei den Schmeicheleien der drei Betrüger die florentinische
Bagage in Puccinis Erbschleicher-Komödie Gianni Schicchi einfallen. Beim Gedanken an Paris, wohin ihm seine Schäfchen folgen wollen, kann Don Geronimo nicht verstehen, dass jemand, der hier geboren ist und die Felder bestellt hat, bereit wäre, diesen gepriesenen Flecken Erde zu verlassen. Don Geronimo Buonaparte, Pfarrer eines kleinen Dorfes in den toskanischen Bergen, erfährt eines Tages im Jahr 1804,
dass sein Neffe Napoleon Kaiser geworden ist, ihn der Papst in Rom zum Kardinal ernennen will und er sodann mit großem Gepränge zur Krönung nach Paris reisen soll. Die Nachricht versetzt das Dorf in Aufruhr. Mit dem beschaulichen Leben ist es vorbei, da viele ihren Nutzen aus dem Aufstieg ihres Pfarrers ziehen wollen. Don Geronimo wägt die angebotene Ehre gegen sein ruhiges Leben ab und entscheidet sich für seine Dorfgemeinde.

Beide Toskana-Komödien stammen aus der Feder Giovacchino Forzanos. Die erste schrieb er – zusammen mit Suor Angelica – für Puccinis 1918 uraufgeführtes Trittico, die zweite gut zehn Jahre später als Vehikel für einen populären Schauspieler. . Während das Bühnenstück und der daraus entstandene Film Erfolge wurden, blieb die auf Forzanos Komödie basierende Oper von Alberto Franchetti unaufgeführt.

Das holte nun Annaberg-Buchholz nach, wo am 14. Oktober 2013 das Eduard-von-Winterstein- Theater in den italienischen Farben illuminiert war und sowieso alle und alles auf die musikalische Komödie „mit Ergänzungen von Helmut Krausser“ von einem „der Großen der Giovane Scuola, der jungen Schule Italiens, zu der auch solche legendäre Komponisten wie Giacomo Puccini, Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo gehören“ eingestimmt waren. Der Abend endete mit donnerndem Applaus.

Nach Asrael an der Oper Bonn scheint Franchetti einen guten Lauf zu haben. Alberto Franchettis Glanzzeit war lange vorbei, als er sich Ende der 1930er Jahre mit der komischen Oper Don Buonaparte beschäftigte. Für die erste Oper seines 1860 in Turin geborenen Sohnes hatte Albertos Vater Baron Franchetti, schwerreicher Großgrundbesitzer und Unternehmer, 1888 noch das Theater in Reggio Emilia gemietet. Dann kam Albertos Karriere von selbst ins Rollen. Verdi empfahl Franchetti für eine Cristofero Colombo-Oper, die 1892 zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas in Genua herauskam. Und schließlich dirigierte Toscanini 1902 die Uraufführung von Germania mit Caruso an der Mailänder Scala. Die überall aufgeführte Studentenoper aus dem alten Nürnberg bildet den Höhepunkt von Franchettis Karriere, die nicht nur aufgrund der Rassengesetze in Italien 1938 zum Erliegen kam: Franchetti entstammte einer jüdischen Familie. 1942 starb er in Viareggio.

Zandonais Don „Buonaparte“ in Annaberg/Szene/Foto Ronny Kuettner

Ganz am Ende seines Schaffens wollte es der 80jährige nochmals wissen. 1939 bis Januar 1941 befasste er sich mit der Opera comica Don Buonaparte. Der Text stammte von Giovacchino Forzano (1884-1970), der einige Male für ihn tätig war, sich vom Theater abgekehrt und sich im Freundeskreis um Mussolini mit Propagandafilmen für die Sache des Faschismus stark gemacht hatte. Das gleichnamige Theaterstück hatte er bereits 1931 für den populären Schauspieler Ermete Zacconi, der um die Jahrhundertwende auch Wien in Raserei versetzt hatte, maßgeschneidert, der damit große Erfolge gefeiert hatte. Man weiß nicht, wer den ersten Schritt unternahm, doch wird vermutet, dass sich Franchetti bezüglich des Librettos an den alten Weggefährten wandte, in dessen alter- tümlichen Toskana-Idylle und den prall gezeichneten Figuren er einen Gegenentwurf zu den Brüchen und Wirren der Zeit fand. Die Oper wurde nie aufgeführt. In den von Forzano als norditalienisches Gegenstück zu Cinecittà gegründeten Studios in Tirrenia, denen er 1934 als Abkürzung aus Pisa und Livorno den Namen Pisorno gab, wurde allerdings 1942 das überaus harmlose nostalgische Lustspiel Don Buonaparte als „von Anfang bis Ende“ abgefilmtes Theater produziert (leicht auf youtube zu finden). Der 84jährige Ermete Zacconi, Urvater einer Schauspieler-Dynastie, erhielt für seine Darstellung, die veristische, naturalistische und karikierende Momente verband, bei der Biennale in Venedig den Preis als bester Schauspieler.

Die Musik stammt allerdings von dem Film- und später auch Opernkomponisten Renzo Rossellini. Ausschnitte der Oper gelangten im Dezember 2022 in Reggio Emilia im Rahmen eines Projekts zum 80. Todestag von Franchetti zur Aufführung, wobei auch der alte Film gezeigt wurde.
Es liegt auf der Hand, in Don Buonaparte des 80jährigen Franchetti einen altersweisen Abschied vom Leben und von der Oper zu sehen und ihn mit dem Falstaff des fast 80jährigen Verdi zu vergleichen. Dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert, in der die italienische Buffooper durch Puccini und Wolf-Ferrari einen letzten Abgesang erlebt hatte. Ein halbes Jahrhundert liegt auch zwischen Franchettis erstem Erfolg und Don Buonaparte. Franchetti will das vergessen lassen.

Wäre Don Buonaparte vom Gackern der Hühner bis zum Ticken der Kuckucksuhr vielfach nicht so kleinteilig glänzend und sprechend instrumentiert und in der solistischen Bravour der Instrumente nicht jede Note so bedächtig gesetzt und abgestimmt, würde man diese artige Idylle, in die nur selten das Brodeln des 20. Jahrhunderts dringt, tief im 19 Jahrhundert verorten. Das Terzett der Halunken (Richard Glöckner, Jakob Hoffmann, Volker Tancke), das Terzett der Mattea mit ihren beiden Tenor-Verehrern, dem tölpelhaften Kirchendiener Maso und dem runden Korporal, das Quintett im dritten Akt sowie die Ensembles im zweiten und dritten Akt sind in bester italienischer Buffomanier entworfen und patent durchgeformt. Für die toskanische Idylle sorgen Vor- und Nachspiele, Bläserakzente für die Aufmärsche der Franzosen.

GMD Jens Georg Bachmann und die Erzgebirgische Philharmonie Aue nehmen die Herausforderungen mit höchstem Geschick an. Das Glanzstück ist Don Geronimos Monolog im zweiten Akt, das Lászlo
Varga mit schön geführtem Bass und viel Empfindung, baritonal expansiver Höhe und sauberer Kantilene mitreißend gestaltete und die menschlich anrührende Seelengröße des Pfarrers sanft streifte. Zu den guten Momenten zählen auch die schönen Verflechtungen in den Ensembles, dazu ein paar ariose Versatzstücke des mit prachtvollem Bariton auftrumpfenden Jinsei Park als General, der wie eine Schwester von Puccinis Lauretta mit blitzsauberer Höhe silbern zirpenden Sophia Keiler als
Mattea und des mit adrettem Nemorino-Charme etwas tenoral engen Corentin Backès als Maso sowie die routinierte Tenorgrandezza von Kerem Kurk als Korporal. Doch selbst den amorosen Verstrickungen fehlt es an echter Leidenschaft. Dramatische Entwicklungen darf man in dieser pastoralen Landschaft nicht erwarten; Don Geronimo ist eben kein Don Camillo. Er freut sich über volle Weinfässer und sein wiedergefundenes Huhn Bianca. Das führt im knapp 60minütig endlosen ersten Akt zu ellenlangen rezitativischen Wortwechseln zwischen der Haushälterin Agnese und Matteas Mutter Maria und arg betulichen Parlando-Erzählungen der anderen.

Zandonais Don „Buonaparte“ in Annaberg/Szene/Foto Ronny Kuettner

Und immer wieder wirkt der Dreiakter, der das 19. Jahrhundert nicht ironisch aufgreift, seltsam eckig und steif, handwerklich unausgeglichen und, wie auch Asrael, wenig kohärent, und trotz aller serenen Abgeklärtheit auch ziemlich langweilig. Lev Pugliese, Ausstatter und Regisseur aus Italien, ahnt, dass dem Stück nur mit einer unretuschierten Inszenierung beizukommen ist. In diesem Sinn vergegenwärtigt er die sen timentalen Toskana-Bilder mit alten Veduten und Gemälden wie von einem italienischen Ludwig Richter gemalt, die bereits während der Einleitung lebendig werden, mit Federvieh und Pferden und Landvolk, mit einer Pfarrhausküche mit offenem Feuer, Kupfergeschirr, Knoblauchsträngen und einem Huhn am Fenster, einem Campo im zweiten Akt, wie für Elisir d’amore, alles wunderhübsch und aus der Zeit gefallen.
Einen kleinen Annaberg-Tupfer bringt er in der Szene an, in der sich Don Geronimo am Ende des ersten Akts eine Zukunft im Kardinalspurpur erträumt und sich in die St. Annenkirche, Annabergs Wahreichen, versetzt sieht. Pugliese hat zweifellos ein Händchen für possierlich animierte Genrebilder aus dem Opern-Museum, über die man die Nase rümpfen kann. An diesem Abend passen sie. Rolf Fath

.

.

Adams Oper Wenn ich König wär´ in Hildesheim:  Das Theater für Niedersachsen (TfN) in Hildesheim macht mit einer Neuinszenierung der heute nur noch selten auf Spielplänen auftauchenden Märchenoper von Adolphe Adam erneut auf sich aufmerksam. Außer dem Postillon von Lonjumeau oder den Balletten Giselle und Le Corsaire sieht man heutzutage kaum etwas von den übrigen an die vierzig komischen Opern und Balletten von ihm. Regie und Bühnenbild lagen in der Hand von Christian von Götz, der das Ganze unter das Motto „Enrichisséz-vous!“  (Bereichert euch!) stellte, das sich vielseitig auslegen lässt. Man hatte sich für die deutsche Übersetzung mit Übertiteln von Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking in vereinfachter Sprache entschieden, was moderne Anfeuerung wie Lassen Sie die K… qualmen hervorbrachte. Ein Soziologe wurde in die Geschichte eingeführt, der das Ganze als Experiment zu „Macht macht schlecht“ gestaltete und ständig begleitete; er sprach darüber hinaus in differenzierten Mundarten die Dialogtexte aller Beteiligten, die selbst nur mimisch verdoppelnd agierten. Das hatte den Vorteil, dass ausländische Sänger nicht mit so viel Sprechtext belastet wurden, aber den großen Nachteil, dass das ständige Herumwuseln des Soziologen von einer Figur zur Anderen die Sache verzögerte und schnell langweilig wurde. Zur Vereinfachung der Bühne hatte man gestaffelt mehrere leicht mit großen Ringen verschiebbare Zwischenvorhänge angebracht, die den jeweiligen Handlungsort treffend kennzeichneten. Knallbunte phantasievolle Kostüme für den König und sein Gefolge sowie schlicht weiße Kleidung für die Fischer passten gut dazu (Amelie Müller).

Adams Comique „Wenn ich König wäre“ in Hildesheim/Szene/Foto Jochen Quast

Die musikalische Leitung hatte Hildesheims GMD Florian Ziemen, der mit klarer Zeichengebung sein frisch aufspielendes Orchester wieder zu besten Leistungen zu animieren wusste. Von den Solisten ist zunächst Yohan Kim zu nennen, der den braven Fischer Zephoris lebendig und für einen Tag als König mit solider Bodenhaftung darstellte; mit seinem strahlend auftrumpfenden Tenor fand er aber auch zu gutem lyrischen Legato . Die von ihm angebetete Prinzessin Nemea wurde von Sonja Isabel Reuter als emanzipierte Frau gespielt, die sich schließlich auch gegen die sprachliche Hilfe des Soziologen auflehnt; mit sicherer Höhe und freien Koloraturen ihres schlanken Soprans überzeugte sie rundum. Felix Mischitz bot den biegsamen, eitlen König mit kleinem, feinem Bariton, der sich auch in den Ensembles durchaus behauptete. Den um die Liebe Nemeas mit Intrigen gegen seinen Konkurrenten kämpfenden Prinz Kadoor gab Maciej Gorczyczynski passend mit finsterem Gebaren und markigem Bass. Als zweites Paar bildeten Martha Matcheko als Zelide mit lyrischem Sopran und Julian Rohde mit hellem Tenor als Pifear fast einen Ruhepol in dem ganzen Trubel. Als Kanzler war Eddie Mofokeng mit seinem wunderbar weichen Bariton diesmal schlicht unter Wert eingesetzt. Nicht zuletzt ist natürlich Uwe Tobias Hieronimi als Soziologe und Strandvogt Zizell zu nennen, der zum Amüsement des Publikums schon allein textlich eine ungeheure Gedächtnisleistung bei den zahlreichen Dialogen vollbrachte und dazu noch einen reichen Bewegungskanon zu absolvieren hatte. Daniel Chopov (Alter Fischer), Chun Ding (Höfling) und Jesper Mikkelsen (Sekretär des Königs) rundeten das Ensemble sicher ab.  Warum Natascha Flindt als Ballerina die Giselle zwischendurch über die Bühne tanzen musste, hat sich mir nicht erschlossen; offenbar sollte kein Moment der Ruhe einkehren. Es wurde pausenlos mit Armen, Beinen oder Gegenständen in der Gegend herum gezappelt. Nicht unerwähnt bleiben soll der klanglich ausgeglichene, sichere Chor, der auch im Spiel munter agierte (Einstudierung: Achim Falkenhausen).

Das Publikum bedankte sich mit begeistertem Applaus für einen musikalisch äußerst gelungenen, aber szenisch überbordenden Abend. Marion Eckels (4.10.2023)  

.

.

Donizettis Oper Les Martyrs vom Theater an der Wien: Eine sehr seltene Gelegenheit, die Neufassung des unglücklichen Poliuto (1838)  zu erleben, den Donizetti nie auf der Bühne erleben konnte und der sich als  tödlichen Schicksalsschlag für den armen Tenor Nourrit erwies, bot das Theater an der Wien, das wegen Restaurierung geschlossen ist und derzeit im nahe gelegenen Museums Quartier untergebracht ist: Ein kulturelles Ereignis von höchstem Interesse und auch ein solcher Teil-Erfolg, der leider durch eine absurde Inszenierung beschädigt wurde, die teils jubelnd und großen Teils mit orkanartigen Buhs aufgenommen wurde, um sodann, wie es immer öfter in modernen Aufführungen geschieht, vom genervten Publikum mit christlicher Resignation hingenommen wurde (aber der Märtyrer war der arme Donizetti, der dies nicht verdient hatte).

Donizettis Oper „Les Martyrs“ in Wien/Szene/ Foto Werner Kmetitsch

Natürlich ist jede Neuinszenierung ein Risiko und kann gefallen oder nicht, aber sie sollte zumindest Sinn machen und den Inhalt, den die Übertitel des Gesungen wiedergeben, zumindest annähernd vermitteln. Man ist ja inzwischen daran gewöhnt, in den meisten Neuaufführungen eine virtuelle Augenbinde zu tragen, um sich vor den schlimmsten Perversionen der Optik und Verfremdungen des Plots zu schützen. Hier nun lernten wir während der Ouvertüre, dass sich die Römertochter Paulina in Aurora Mardiganian, der Überlebenden des armenischen Völkermords von 1915 und in all die „Anderen“ aller Zeiten verwandelt hatte, und dass es sich um eine Opern-Anklage gegen die Türkei und deren Genozid an den Armenien handelte. Zur Musik von Donizetti. Zum Schluss sieht man Menschen in T-Shirts mit jeweils dem Namen eines Märtyrers darauf! Povero Gaetano.

Regisseur Cezary Tomaszewski, der in den absolut grässlichen Bühnenbildern und den hässlichen Kostümen von Aleksandra Wasilkowska diese in Blut schwimmende Polit-Doku inszeniert hatte, stolperte von einer unfreiwilligen Komik zur nächsten Peinlichkeit, man konnte ihn nicht ernst nehmen. Völkermord zu Belcanto-Musik. Dazu das Ballett von Barbara OIech in mehr als riskanten Posen und Kostümen (Tänzer sind nie sexy!). Perverser ist nicht möglich. Und langweiliger auch nicht. Alles schon gesehen.

Und das ist ebenso leichtfertig und gemein wie den Holocaust mit Walzerklängen auf die Bühne zu bringen und denunziert die fraglosen Opfer einmal mehr, nur weil ein Regisseur sich profilieren will. Niemandem ist damit gedient, Donizetti und den Armeniern am wenigsten. Aber leider wird´s wohl ein Video geben. Am Radio später hörten man sehr dünnen Beifall. Auf Wien ist doch Verlass.

Das Ganze konzertant wäre im Ergebnis respektabel gewesen. Jérémie Rohrer ist in im Heimatland, namentlich Paris, ein hoch angesehener Maestro. Er ist zwar kein Belcanto-Experte, aber in Anbetracht der schrecklichen Akustik im Museums-Saal riss er mit seinen mehr flotten Tempi das Publikum mit und machte vieles wett. Im Gegensatz zur Opera-Rara-Aufnahme war dies eine außerordentlich flotte Angelegenheit, wurden die Tempi am Pult des ORF (Radio-Symphonieorchester Wien) zum Teil abenteuerlich schnell genommen, was aber das Ganze vorantrieb und nicht einen Moment Langeweile aufkommen ließ. War schon die Ouvertüre ein Ereignis so gerieten das Ballett und die Aufmärsche zu fast bedrückenden Machtdemonstrationen der Römer, Ben-Hur-Akklamationen nahe. Da war wenig nur gefällig, vieles rabiat, werkdienlich, kontrastierend. Der wunderbare Bolero Paulines im zweiten Akt gemahnte an Verdis Vêpres und Ebolis Schleierlied und hatte durchaus etwas Politisches an sich. Im Ganzen war dies eine sehr unsentimentale, stringente Sicht auf ein Geschehen, das im kollektiven Märtyrer-Tod endet.  Kein Hollywood-Tod a la Jean Simmons und Robert Taylor. Und darin denn doch wieder den Intentionen der Inszenierung dienend. Der versierte und opernerfahrene Arnold Schoenberg Chor (Erwin Ortner), glänzte zudem mit exzellentem Französisch und nachdrücklichem Einsatz.

Callisthène macht in der Oper nur in einer Nebenrolle den fiesen Oberpriester, was schade war, denn Nicolò Donini (auf high heels mit einem wüsten weißen Las-Vegas-Federfächer – dies in 1915 Armenien?) sang seinen Part mit Elan. Patrick Kabongos Néarque blieb mir zu gaumig aber rollendienlich; David Steffens‚ Félix ließ bei beachtenswerter Stimme stimmlichen Nachdruck und vielleicht eine gewisse Sonorität im tieferen Bereich vermissen. Dazu kamen Katrin Cunningham und Carl Kachouh mehr als erfreulich in den kleinen Partien.

Donizettis Oper „Les Martyrs“ in Wien/Szene/ Foto Werner Kmetitsch

Nun ruht ja diese Oper, für Nourrit gedacht und von Duprez gesungen, auf den drei Protagonisten – trois étoiles der Pariser Oper waren gefordert (immerhin waren es 1840 Julie Dorus-Gras, Jean-Etienne-Auguste Massol, zudem auch Prosper Dérivis) – ohne die diese Opern nicht aufzuführen waren. Dass es sie nicht mehr gibt ist klar. Einen Heutigen zumindest hörte man, John Osborn. Mir ist sein Timbre generell zu weiß und die gewisse Tendenz zum Ausfransen der hervorragend geführten Tenorstimme unter Druck hörte ich bereits auf der neuen Aufnahme des Robert le Diable. Aber der Polyeucte liegt im mehr, zumal er – bis auf ein zwei Momente der obersten und etwas grellen Höhe (keine so eindrucksvolle voix mixte, wie ich finde, und eine besser platzierte Kopfnote hier und da hätte nichts geschadet) – auch viele Momente von anrührender Zärtlichkeit zeigte, sanft und liebevoll klingen konnte. Im Vergleich zum Kollegen Spyres bei Opera Rara ist er der weichere, eben lyrischere Held, und das ist ja auch eine Seite dieses Charakters. Nein, er machte einen hervorragenden Job und zeigte bestes Französisch. Dennoch ist mir Michael Spyres lieber in der Rolle (OR-CD).

Roberta Mantegna hat in Italien vor allem als Imogene in Bellinis Pirata eine gewisse Karriere gemacht, wenngleich ihr sehr heller Ton mich da schon gestört hatte, auch – wie beim Kollegen – diese gewisse Schwammigkeit am Rand der Stimme unter Druck. Die Pauline hingegen liegt ihr mehr, ließ sie jung und zerbrechlich erscheinen, profitierte von ihrer besten, beeindruckenden Koloratur und näherte sich im Timbre durchaus dem französischen Idiom an. Wenn man nur etwas hätte verstehen können. Sie sang – so schien es – das Telefonbuch von Neuilly. Mit Anhang. Aber sie ist eine attraktive Person, und das reißt ja auch vieles heraus.

Mattia Olivieri ist sicher kein Bastianini (der hatt´s ja auch nicht in Französisch gesungen), und er machte seine Sache gut, war ebenfalls sehr präsentabel optisch (soweit es die Szene zuließ) und sang den Sévère trotz einer gewissen italienischen Verdunklung der Vokale bei gutem Französisch mit großem Erfolg, bravo.

Das Fazit (1) des turbulenten Abends (am 23. 09. 23) war für mich ein schmissiges Musikerlebnis mit einer gemischt erfolgreichen Vokalbesetzung, einem rasanten Orchester und Chor und einer zum Abwinken langweiligen, opportunistischen, eitlen Inszenierung. Und auf der Opera-Rara-Aufnahme wird zwar besser im ganzen gesungen, aber Jeremny Rhorer ist eine entschiedene Wucht in Wien.

Fazit 2: Die Martyrs sind eben kein Poliuto, den man von Zeit zu Zeit in Italien (Cedolins und Kunde namentlich) und in Wien zuletzt mit Carréras gesehen hatte. Die französische (Quasi-)Erstfassung ist für mich die überzeugendere, Grand-Opéra-nahe, weniger belcantohafte denn in Richtung Meyerbeer und Verdi weisend, zukünftiger wie sein Dom Sébastien. William Ashbrook schreibt: „Les Martyrs sind grandioser als Poliuto (…). Les Martyrs hat zweifellos mehr Substanz, aber gleichzeitig auch weniger menschliches Interesse als der impulsivere Poliuto. Abgesehen von dem kostbaren Trio, das in der französischen Partitur den ersten Akt beschließt, ist die einprägsamere Musik beiden Versionen gemeinsam. Ein Anhänger der Werte des romantischen Melodrams wird Poliuto bevorzugen; ein Mystiker wird Les Martyrs mehr zu schätzen wissen.“ Herbert Schneider

.

.

Die Berliner Komische Oper unterwegs: Mindestens sechs Jahre soll der Umbau der Komischen Oper in der Behrenstraße dauern. Das Ensemble tritt in dieser Zeit an mehreren Spielorten auf – neben dem Schillertheater, das schon der Staatsoper als Ausweichquartier diente, in einem Zelt vor dem Roten Rathaus, im Kindl-Areal Neukölln und im Hangar auf dem Flughafen Tempelhof. Dort begann die Spielzeit mit einer spektakulären Aufführung von Hans Werner Henzes politischem Oratorium Das Floß der Medusa. Die Uraufführung dieses Oratorio volgare e militare 1968 in Hamburg fiel politischen Demonstrationen und Studentenunruhen zum Opfer. Erst 1972 konnte es szenisch (in Nürnberg) gezeigt werden. Noch heute ist das Werk angesichts der gegenwärtigen politischen Situation hochaktuell. Den Untergang der französischen Militärfregatte Méduse auf der Fahrt in den Senegal 1816 hatte Théodore Géricault in einem Monumentalgemälde dargestellt, welches heute im Pariser Louvre zu besichtigen ist. Während den Offizieren und reichen Passagieren Rettungsbote zur Verfügung gestellt wurden, mussten 154 auf ein selbstgebautes Floß ausweichen – nur 15 überlebten… Zwei davon berichteten über die Katastrophe, was die Vorlage für das Oratorium mit dem Libretto von Ernst Schnabel bildete.

In der Inszenierung von Tobias Kratzer sitzen die 1400 Zuschauer auf zwei gegenüber positionierten Tribünen, dazwischen befindet sich unter einem Glühlampenhimmel ein Wasserbecken, in welchem drei Solisten, Chorsänger und Statisten auf einem schwimmenden Brett agieren. Ausstatter Rainer Sellmaier hat Géricaults Bild als tableau vivant nachgestellt – von starker Wirkung, während  schrillbunte Bademoden, Gummitiere und Luftmatratzen eher für Spaß im Pool stehen und entbehrlich scheinen. Denn sonst mied der Regisseur in seiner zwischen abstraktem und surrealem Stil stehenden Inszenierung glücklicherweise die profane Aktualisierung. Kannibalistische Ausschreitungen, wie sie auf dem Floß tatsächlich passiert sind, und Blutorgien werden nur angedeutet. Packende Momente gelingen in der Führung der Massen, so wenn die Menschen in Panik und Überlebensangst auf das kleine Floß zustürzen. Berührend ist eine Szene mit zwei kleinen Schiffsjungen, die in einem ergreifenden, sich harmonisch verblendenden Gesang als erste aus der Welt scheiden. Das Floß wird mehrfach auch in Planken zerlegt, die als Stege einer Jesus-Gestalt ermöglichen, über das Wasser zu schreiten – eine starke Vision der auf Hilfe Hoffenden.

Das Werk verlangt einen riesigen Chor, der in die Lebenden und die Toten aufgeteilt ist. Erstere singen in deutscher Sprache, die anderen in Italienisch Passagen aus Dantes Divina commedia. Die Chorsolisten und der Bewegungschor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: David Cavelius) sowie der Staats- und Domchor Berlin (Kai-Uwe Jirka) singen mit phänomenaler Präzision und enormer Klangfülle. Darüber hinaus imponieren sie mit ihrem überwältigenden körperlichen Einsatz auf dem Floß und im Wasserbecken.

Im Gegensatz zum großen Choraufwand sind nur drei Solisten vorgeschrieben. Angeführt werden sie von Günter Papendell als Matrose Jean-Charles, der auf dem Floß die Rationierung von Wasser und Lebensmitteln übernimmt und mit einem roten Fahnenfetzen Rettung herbeizuwinken versucht. Unter den 15 vom Segelschiff Argus Geborgenen ist er nicht, muss wie viele andere La Mort ins Reich der Toten folgen. Der Bariton, eben erst von einer Erkrankung genesen, begann etwas verhalten, steigerte sich aber deutlich und meisterte die anspruchsvolle Partie mit ihrem weiten stimmlichen Radius bewundernswert.

Henzes „Floss der Medusa“ von der Komischen Oper Berlin/Szene/Foto Jaro Sufner

Am Beckenrand schreitet Gloria Rehm wie eine Diseuse im schwarzen Glitzerkleid als La Mort, watet auch durch das Wasser und hat darin mit Jean-Charles sogar einen verführerischen Tanz zu absolvieren. Bravourös bewältigt sie die Kantilenen in stratosphärischen Regionen. Die Erzählerfigur Charon pendelt zwischen Schauspiel und Gesang. In den gesprochenen Passagen scheint die Interpretation von Idunnu Münch recht laienhaft, erst wenn der Vortrag in den Sprechgesang mit Zwölftontechnik übergeht, gewinnt die Sängerin an Wirkung.

Das Orchester der Komischen Oper Berlin musiziert an einer Schmalseite des Beckens. Dirigent Titus Engel ist bedacht auf Präzision, Spannung und rhythmischen Drive. Aber er arbeitet auch die melodischen Inseln und sphärischen Effekte der Komposition einfühlsam heraus. Ergreifend ist der Schluss mit einer Musik von Requiem-nahen Klängen. Am Ende öffnet sich das Tor des Hangars zum Flugfeld und die Überlebenden gehen hinaus in eine ungewisse Welt.

Die Aufführung in Tempelhof macht betroffen, aber auch respektvoll staunen wegen des enormen Aufwandes, mit welchem sie realisiert wurde (30. 9. 2023). Bernd Hoppe

.

.

Tout Paris wollte das sehen, was im Februar 1835 über die Bühne der Pariser Opéra ging: Eine von Trompetern angeführte Prozession mit schreitenden Kirchenfürsten, dem Kardinal unter seinem Baldachin, dem Kaiser und seinen Beamten zu Pferde, wozu die Glocken des Doms und der anderen Kirchen läuten und Kanonenschüsse erklingen. Und das war nur eine von mehreren Szenen, die Jacques Fromental Halévys fünfaktige Grand opéra La juive bereithielt, die das Konstanz des Jahres 1414 derart verblüffend vergegenwärtigte, dass die Besucher des Opernhauses glauben mussten, sie seien durch einen Trick um vierhundert Jahre zurückversetzt worden und wohnen augenblicklich einem historischen Moment bei, zu dessen Illusion auch der Chorgesang der Gemeinde auf der Bühne „Te Deum laudamus“ zu Beginn und Ende des ersten Aktes beitrug, eine Klangsituation, die Wagner in seinen Meistersingern wiederholte. Alles war bis in die kleinesten Details täuschend echt nachgebildet, bei den Kostümen und Rüstungen wurde an nichts gespart und im dritten Akt feierte sich angesichts des Naturschauspiels mit Bodensee und Berglandschaft die mittelalterliche Ständegesellschaft von den Bauern bis zu den feudalen Herrschern. Bis sich das Jahrhundert seinem Ende zu neigte, wiederholte sich dieses Spektakel und die von Eugene Scribe erdachten Geschehen um das Konstanzer Konzil an der Pariser Opera rund 550-mal.

Als es viele Jahrzehnte später, ausgehend von John Dews Bielefelder Inszenierung 1988 zu der nicht mehr für möglich gehaltenen Wiederentdeckung der Grand opéra und ihres zentralen La juive war ein solcher Ausstattungsballast längst passe. Mit den kostbaren Applikationen und mit bunten Steinen besetzten Mitren, Helmen und Gewändern verschwanden auch die musikalischen Ausmaße. Am Teatro Regio in Turin, das vor 50 Jahren mit den von Maria Callas inszenierten Les vepres siciliennes wiedereröffnet wurde, nahm man sich zur Eröffnung der Jubiläumsspielzeit zumindest Zeit, um mit etwas mehr als dreieinhalb Stunden reiner Musik so viel Halévy als nur möglich zu bieten.

Halévys Oper „La Juive“ in Turin/Szene/Foto © Andrea Macchia / Teatro Regio Torino

Daniel Oren, der 2007 bereits die Rückkehr der Jüdin an der Pariser Opéra dirigiert hatte, zelebrierte die Musik, der anfangs noch etwas Opéra comique-Hurtigkeit eigen ist, denn breit und genüsslich, aber auch mit vielen feinen Zwischentönen, dass man bei so viel sublimer Finesse fast in Trance verfiel, was nicht verhindert, dass der Abend lang und länglich wird. Doch man ist dankbar, das Werk in dieser Fülle zu hören. Vor allem, da sich das Orchester, der sehr große Chor des Teatro Regio und die vielen Bewegungsstatisten auf der riesigen Bühne in diesem großen, üppigen und reichen und über die Jahrzehnte gegenüber anderen Bühnen auch so perfekt funktionierenden Haus so vehement für das Werk einsetzen. Alles ist groß. Auch die Inszenierung von Stefano Poda, der kürzlich das 100jährige Aida-Jubiläum in der Arena von Verona inszenierte und als Ausstatter und Regisseur mit seinen architektonisch streng empfundenen und suggestiven Bildern international Akzente setzt. Poda nutzt die Versenkungen und die Hebebühnen des Teatro Regio für ein abstraktes Welttheater mit einem strahlenden Kreuz im Hintergrund vor einer mittelalterlichen Darstellung der Höllenqualen, einer riesigen Metallkonstruktion mit ineinander sich drehenden Kreisen und der Warnung des Lukrez vor religiösem Wahn in einer Leuchtschrift über der gesamten Breite des Hintergrunds „Tantum religio potuit suadere malorum“, mit denen er von der Unterdrückung von Minderheiten erzählt. Der immer wieder angerufene Seigneur und Dieu ist als hilfloser Leidensmann bis zur Kreuzigung gegenwärtig, die gequälten Menschen, die Sünder und die Verfluchten winden sich wie in mittelalterlichen Höllenszenarien, die Toten hängen im vierten Akt von der Decke herab – alles dargestellt in klar choreographierten Aktionen der fast nackten Akteure und Begegnungen der Christen und Juden in schwarzen und weißen Wogegewändern.

Die Geschichte der Tochter des jüdischen Goldschmieds Eléazar, die gar keine Jüdin ist, sondern die von Eléazar aus den Flammen gerettete und an Kindestatt angenommene Tochter seines zum Kardinal aufgestiegenen Rivalen Brogni, erzählt Proda in klaren und übersichtlichen Aktionen. Auch Rachels heimlicher Geliebter Samuel ist nicht der, für den er sich ausgibt. Er ist kein Jude, sondern Reichsfürst Léopold, der zu allem Überfluss bereits verheiratet ist, und zwar mit Eudoxie, der Nichte des Kaisers. Eudoxie sucht sogar die mit vielen Vitrinen wie eine frisch designte Location in den Arkadenboutiquen Turins ausgestatte Werkstatt Eléazars auf, um ein Geschenk für Léopold zu wählen. Sparsam werden die Geheimnisse enthüllt, doch es gibt genügend Überraschungen, um jeden Szenenkomplex und jeden Akt mit einem Cliffhanger zu beenden. Am Ende wählt Rachel, deren Liebe zu einem Christen bestraft werden muss, statt der Rettung durch den Übertritt zum Christentum den Tod.

Halévys Oper „La Juive“ in Turin/Szene/Foto © Andrea Macchia / Teatro Regio Torino

Bevor ihr Eléazar folgt, schleudert er fies und heimtückisch Brogni entgegen, dass Rachel dessen Tochter ist. Mariangela Sicilia singt die Titelfigur mit ausgeglichenem soprano lirico und guter Höhe, sicher nicht rund und voluminös genug, um der Romanze „Il va venir“ Gewicht zu geben und sich gut gegenüber der Koloraturrolle der Eudoxie zu behaupten. Daniela Cappiello nutzte als Eudoxie die Gunst der Stunde als zweite Besetzung und bot exquisite Zierkunst, die bei Mozart und Puccini vielleicht besser aufgehoben ist, aber in der Arie zu Beginn des dritten Aktes “Tandis qu’il sommeille” und im folgenden Bolero ein wenig zu spitz blieb. Mit sehr schlankem, feinem Tenor ist Ioan Hotea der musikalisch passende Spielball der beiden Damen. Der rumänische Tenor, der den Léopold bereits im Vorjahr in Genf gegeben hatte, singt mit leichter guter und beweglicher Stimme, die man sich gut bei Rossini und Mozart vorstellen könnte. Die Hauptfigur ist aber zweifellos der in seiner Zerrissenheit tragische Eléazar, der bei seiner zentralen Arie am Ende des vierten Aktes „Rachel, quand du Seigneuer la grace tutélaire“, in der er damit ringt, ob er die Identität Rachels preisgeben soll, bereits einen sehr langen Abend hinter sich hat. Gregory Kunde bewahrt bei seinem Rollendebüt – 30 Jahre nachdem er erstmals in Turin aufgetreten war – aber auch dann noch die noble, sanfte Linie seines Gesangs, erlaubt sich keine irgendwie äußerlichen Gefühlsergüsse, sondern singt ruhig, expressiv, jede Phrase ausziseliert, jeder Ton in sich gerundet, auch im emotional gesteigerten Schlussteil ohne Schluchzer und Verfärbung. Direkt davor hatte er im Duett mit Brogni dem rauen und grobschlächtigen Riccardo Zanellato, dem es für „Si la rigueur“ an gravitätischer Bassfülle fehlt, eine Lektion in guter Prosodie erteilt. Wie kostbare Preziosen breitet Kunde seine Töne beim Passahfest zu Beginn des zweiten Aktes aus „O Dieu, Dieu de nos pères“ mit kostbarem, schier endlosem mezza voce-Gesang, sanft anhebenden und abschwellenden Tönen voll bedeutungsvoller Intensität. Durchaus auch dramatisch, wenn er die Tochter mit dem Verführer überrascht, so in dem Terzett „Je vois son front coupable“. Manche Details haben in den Momenten beschwörerischer Piano-Schwelgereien und elegischer Färbungen zweifellos etwas von der reifen Kunst erfahrener Diven im Spätherbst der Karriere. Das stört nicht. Dazu der ausgezeichnete, aus Frankfurt bekannte Bassbariton Gordon Bintner als Ruggiero sowie Daniele Terenzi (Albert) und Rocco Lia (Herold).   Rolf Fath

.

.

Französisches als Sternstunde: Hérodiade an der Deutschen Oper Berlin. Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm im Haus an der Bismarckstraße und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am 15. 6. 2023, als das Publikum Jules Massenets Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung des Werkes, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola  breitete die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheute weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kam unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) hatten mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.

Clémentine Margaine/ Foto Paula Winkler/ Deutsche Oper Berlin

Plattenreif  war die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, war sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gab der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani stand eine idiomatische Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation bewies, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch weit überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllte er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode war prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran)  gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier konnte sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigte diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien waren – kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gab den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme.

Nach dem dramatisch aufgepeitschten Finale mit Jeans Hinrichtung und Salomés Selbstmord entluden sich die angestaute Spannung und überbordende Begeisterung der Zuhörer in Beifallsorkanen. Bernd Hoppe

.

PS. Leider singt Clémentine Margaine nicht die Titelpartie in der neuen Aufnahme der Oper beim Palazzetto Bru Zane, wo sich im Mitschnitt von 2022 aus Lyon zumindest Nicole Car und Etienne Dupuis wiederfinden. Dort ist Ekatarina Semenchuk die Mutter, Jean-Francois Borras der Jean sowie Nicolas Courjal Phanuel, unter der Leitung von Daniele Rustioni am Pult der Lyoner Opern-Kräfte. Was wieder ein Kopfschütteln ob der Titelplanung des Palazzetto nach sich zieht angesichts der Verfügbarkeit anderer seriöser Aufnahmen der Oper. Ein Gespräch mit Clémentine Margaine findet sich auf der website der Deutschen Oper Berlin. G. H. 

.

.Francesca da Rimini an der Deutschen Oper Berlin: Faszination der Gewalt. Die Neuinszenierung von Zandonais Tragedia Francesca da Rimini an der Deutschen Oper hatte während der Pandemie im März 2021 ihre Premiere im Stream – nun konnte sie in einer Aufführungsserie auch dem Publikum im Opernhaus gezeigt werden. Sie zählt ohne Zweifel zu den Sternstunden des Hauses. Christof Loy, der auf Frauen mit dem Ruf einer femme fatale spezialisierte Regisseur, hat die auf Gabriele d’Annunzios Versen basierende Handlung mit psychologischem Einfühlungsvermögen, berstender Spannung und in einem Ambiente von bestechender Ästhetik inszeniert. Er verlegte das 1914 in Turin uraufgeführte Stück um Betrug, Ehebruch und Doppelmord aus der Epoche Renaissance in die Entstehungszeit, wofür Johannes Leiacker ein ungemein raffiniertes Bühnenbild in Jugendstil-Nähe erdachte. Eine hohe Wand mit Blumendekor lässt in der Mitte einen portalartigen Ausschnitt frei, hinter dem sich ein Wintergarten mit Palmen und Korbmöbeln befindet. Dessen hintere Fenster gewähren den Ausblick auf eine Landschaft in der Manier von Claude Lorrain – eine bezaubernde arkadische Idylle, welche zum brutalen Bürgerkrieg zwischen Guelfen und Ghibellinen einen krassen Kontrast bildet. Loy hat die Kämpfe und den permanenten Aufruhr in der Stadt in schonungsloser realistischer Härte dargestellt. Schauspieler jagen über die Bühne, stürzen zu Boden, überschlagen sich oder geben in korrekten schwarzen Anzügen Sicherheitsbeamte, die an Mafia-Vertreter erinnern. Meisterhaft ist die Personenführung mit Francesca im Zentrum, in die sich drei Brüder der Familie Malatesta verliebt haben. Mit dem älteren und lahmen Gianciotto soll sie verheiratet werden, der jüngere und schöne Paolo soll als Brautwerber fungieren. Francescas erste Begegnung mit ihm entscheidet über beider Schicksal.

Zandonais „Francesca da Rimini“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus

Es war eine Glücksfall der Produktion, für diese beiden Rollen ideale Vertreter gefunden zu haben. Sara Jakubiak wurde am Haus schon als Korngolds Heliane gefeiert. Nun glänzte sie auch in dieser Titelrolle mit durchschlagendem, flutendem Sopran von sinnlichem Reiz, aber auch bedrohlicher Power. Klaus Bruns hat ihr mehrere Kostüme entworfen – vom kleinen Schwarzen über einen Hosenanzug bis zum eleganten Abendkleid und seidener Unterwäsche in Abricot. Jonathan Tetelman war als Paolo der attraktive Latino-Beau, wie es die Rolle verlangt, begnadet mit einem baritonal getönten, heroischen Tenor von schier unerschöpflichen Kraftreserven und phänomenaler Wucht. Beider schwelgerisches Duett im 2. Akt voller bitterer Süße und melancholischer Wehmut steigerte sich zum Rausch und auch die letzte Szene war in ihrer Ekstase von unerhörter Spannung und mitreißender Wirkung.

Die Ausnahmeleistung der beiden Sänger in ihren gesanglich extrem fordernden Partien war umso höher einzustufen, da Ivan Repusic am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin Zandonais Komposition in ihrer Mischung aus italienischem Verismo, französischem Impressionismus und Wagner-Einflüssen nicht eben Sänger-freundlich ausbreitete. Auf den Hörer ergoss sich ein Schwall von Musik, ein Klangrausch der unerhörten Art, welcher zum Psycho-Thriller der Handlung perfekt korrespondierte. Aber man vernahm auch das nervöse Geflecht des Werkes und dessen zarte Gespinste wie die Cello-Kantilene beim ersten Auftritt von Paolo.

Zandonais „Francesca da Rimini“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus

Neben den beiden herausragenden Protagonisten gab es in der weiteren Besetzung keinen einzigen Schwachpunkt. Ivan Inverardi war in Stimme und Erscheinung ein gebührend robuster, brutaler Gianciotto, Charles Workman mit gereiftem Tenor der einäugige Malatestino dall’Occhio, der aus Eifersucht Francescas Ehebruch an ihren Gatten verrät, was einen Doppelmord zur Folge hat. Anrührend zeichnete Lexi Hutton Francescas kränkelnde Schwester Samaritana, resolut Irene Roberts ihre Vertraute Smaragdi. Volltönend und resonant sang Dean Murphy Il Giuiare, den Spielmann – in Jeans und Lederjacke eine ganz heutige Figur. Lebhaft und aufgeregt agierten Francescas Gesellschafterinnen (Meechot Marrero, Elisa Verzier, Arianna Manganello, Karis Tucker), die in ihrer Tracht wie Internatsinsassen wirkten und mit ihren Stimmen zu homogenem Gesang fanden. Die 5. Vorstellung am 29. 5. 2023 fand das enthusiastische Publikumsecho, wie es der Abend verdient hatte. Bernd Hoppe

.

.

Grosstat der Wiederbelebung in Erfurt: 112 Jahre, 11 Monate und 26 Tage sind seit der mutmasslich letzten Aufführung von Felix Weingartners Orestes im Neuen Deutschen Theater Prag (heute Staatsoper Prag) am 24. Mai 1910 vergangen. Vom Vergessen befreit hat das Stück nun das Theater Erfurt. am 27.05.2023.

Felix Weingartner, ein Jahr älter als Richard Strauss, ist hauptsächlich als Konzertdirigent bekannt. Weingartner studierte Klavier und Komposition in Graz und kam dann durch eine Empfehlung von Johannes Brahms an die Universität Leipzig und zu Franz Liszt in Weimar. Nach Engagements in Königsberg, Danzig, Hamburg, Frankfurt und Mannheim war Weingartner von 1891 bis 1898 Hofkapellmeister der königlichen Oper in Berlin und Leiter der Sinfoniekonzerte der königlichen Kapelle. Nach der Leitung des Kaim-Orchesters in München (heute Münchner Philharmoniker) übernahm Weingartner 1908 als Nachfolger Gustav Mahlers die Direktion der Wiener Hofoper (bis 1911) und die Leitung der Konzerte der Wiener Philharmoniker (1908-1927). Zum Ende seiner Wiener Zeit war er auch noch Direktor der Wiener Volksoper. Von 1927 bis 1934 war Weingartner Chefdirigent des damaligen Basler Orchesters und Direktor des Konservatoriums, bevor er 1937 endgültig in die Schweiz emigrierte. Am 7. Mai 1942 starb Weingartner in Winterthur.

Weingartners Oper „Orestes“ in Erfurt/ Szene/ Foto © Lutz Edelhoff

Den Grund für Weingartners relativ häufigen Wechsel der Positionen sieht die Überlieferung vor allem darin begründet, dass er ein «Querkopf» war, dem man es nur sehr schlecht recht machen konnte. So verschärften sich Ende 1897 die Spannungen mit der Direktion der Hofoper Berlin: Die Uraufführung seine Oper «Genesius» hatte nicht den erhofften Erfolg gehabt und in Besetzungs- und Dispositionsfragen fühlte er sich übergangen. Der Arzt, den Weingartner wegen «heftiger Nervenanfälle» aufsuchte, empfahl ihm eine Reise in den Süden. Weingartner wählte Taormina auf Sizilien: «Im griechischen Theater Taorminas, von sonniger, regenloser Zeit begünstigt, schrieb ich an den Vormittagen die Neudichtung, vom Original dort abweichend, wo der von mir bereits klar erkannte metaphysische Charakter der Musik dies nicht nur erlaubte, sondern gebot».  Das Original ist die Orestie des Aischylos und Weingartners «Orestes» die Mutter aller Antikenopern. Als Vorbild des Projekts könnte die Tetralogie «Homerische Welt» (auch: «Die Odyssee», 1896-1903, op. 30) von August Bungert (1845-1915) gedient haben. Richard Strauss hatte zur Zeit der Uraufführung des «Orestes» erst einen Mittelalterstoff vertont («Guntram», 1894) und einen altdeutschen Märchenstoff in Arbeit («Die Feuersnot»). «Salome» (1905) und «Elektra» (1909), die «Orestes» zum Verhängnis werden sollten, sollten erst noch kommen.

Der I. Teil von Weingartners Trilogie (Agamemnon) beginnt mit dem Fall Trojas. Der Wächter auf der Königsburg (Máté Sólyom-Nagy mit kräftigem Bariton) verkündet das Ende des trojanischen Kriegs und die Heimkehr von König Agamemnon (Kakhaber Shavidze mit königlich imposantem Bass und grandioser Textverständlichkeit). Agamemnons Gattin Klytaimnestra (mit voluminösem, dramatischem SopranIlia Papandreou) ist davon wenig begeistert: um ihre Tochter Iphigenie, die Agamemnon geopfert hatte, um am trojanischen Krieg teilnehmen zu können, zu rächen und ihren Geliebten Aigisthos (Siyabulela Ntlale mit hellem, ausgesprochen agilem Bariton mit fast tenoraler Attitüde) heiraten zu können, hatte Klytaimnestra Agamemnons Tod beschlossen. Ein Bote (Tristan Blanchet mit kräftigem, bestens geführtem Tenor) kündet den Einzug Agamemnons an. Kassandra (Laura Nielsen mit superben Piani, inniger Leidenschaft, intensiver Spannung und alles überragender Bühnenpräsenz), Tochter des Priamos und Seherin, die Agamemnon als Siegpreis von seine Heer geschenkt wurde, begleitet ihn. Kassandras Prophezeiung vom nahen Tod Agamemnons und ihrer selbst wird erst geglaubt, als die beiden von Klytaimnestra umgebracht wurden. Klytaimnestra erklärt ihre Morde öffentlich mit der Rache Iphigenies: Aigisthos und dessen Söldner unterbinden einen aufkeimenden Aufstand.

Mit Beginn des II. Teils (Das Totenopfer) sind einige Jahre vergangen. Noch als Kind schickte Klytaimnestra ihren Sohn Orestes (Brett Sprague mit kraftvollem Heldentenor und einem überschaubaren Repertoire an Farben) zur Erziehung (und zu seinem Schutz) ins Königreich Phokis. Nun ist er erwachsen geworden und kehrt mit seinem Freund Pylades (Cristiano Fioravanti, stumm) in die Heimat Argos zurück, um den Mord am Vater zu rächen. Am Grab des Vaters erneuert Orestes seinen Racheschwur. An der Spitze eines Trauerzuges erkennt er seine Schwester Elektra (Daniela Gerstenmeyer mit hellem, agilem Sopran) und beobachtet sie. Die von schweren Albträumen gezeichnete Klytaimnestra hat sie und die Mägde geschickt, um die Schatten der Gemordeten zu versöhnen. Elektra erfleht aber am Grab des Vaters die Heimkehr ihres Bruders, woraufhin Orestes hervortritt und sich zu erkennen gibt. Elektra enthüllt er seinen Plan, gebietet ihr Verschwiegenheit und schickt sie mit Pylades zurück nach Phokis. Klytaimnestra schildert ihren Albtraum, einen Drachen, den sie mit ihrem eigenen Blut nährte, geboren zu haben, Kilissa, der Amme des Orest (Elsa Roux Chamoux mit verführerischem Mezzo). Orestes, immer noch als Wanderer verkleidet, kann ihr Vertrauen gewinnen, so dass sie Aigisthos herbeilockt, dem er dann mitteilt, Orestes sei in Phokis gestorben. Als Aigisthos Klytaimnestra davon unterrichten will, tötet ihn Orest. Klytaimnestra und ihren Knechten gibt er sich zu erkennen. Es gelingt seiner Mutter nicht, ihren Sohn umzustimmen: sie muss ihren Frevel mit ihrem Tod büssen, kann vorher aber noch die Rachegeister auf ihn hetzen. Als Orestes dann von den Furien bedroht wird, erfasst ihn das Entsetzen über seine Tat und er macht sich auf den Weg nach Delphi, um sich dort im Tempel des Apoll zu entsühnen.

Weingartners Oper „Orestes“ in Erfurt/ Szene/ Foto © Lutz Edelhoff

Der III. Teil (Die Erinyen) beginnt mit der Ankunft des Orestes im Tempel des Apollon zu Delphi. Die Seherin des Tempels (Katja Bildt mit gepflegtem Mezzo) weist ihn an, in den Hades hinabzusteigen. Klytaimnestras Geist fordert die Erinyen auf, ihm zu folgen. Auf der Asphodeloswiese angekommen, ruft Orestes Agamemnons Schatten an, der erscheint und gleich wieder verschwindet. Als Orest zur Sühne sich selbst das Leben nehmen will, gebietet ihm der Geist Kassandras Einhalt. Sie hat im Elysium einen Olivenzweig gebrochen, der ihn vor den Erinyen schützt, und will ihn nun nach Athen führen, wo Pallas Athene den Fall beurteilen soll. Athene (Candela Gotelli mit aufgedrehtem Spiel) will aber den Fall nicht selbst beurteilen und beruft einen Rat der zwölf würdigsten Bürger ein. Das Resultat ist ein Patt, Athene spricht Orestes dann mit ihrer Stimme frei. Erzürnt verfluchen die Erinyen Stadt und Land. Orest versöhnt die Erinyen mit dem Vorschlag eines Bündnisses zwischen ihm als neuem König von Argos und Athene, dessen Einhaltung sie  überwachen sollen. Der Olivenzweig wird eingepflanzt und wird als Zeichen des neuen Bundes zu einem mächtigen Ölbaum. Die Erinyen wandeln ihren Fluch in einen Segen. Athene verkündet die Heirat von Pylades und Elektra und schickt Orestes zum Strand der Skythen, wo er seine von Artemis befreite Schwester Iphigeneia finden werde.

Weingartners Partitur ist gross besetzt und so spielen unter der musikalischen Leitung von Chefdirigent Alexander Prior das Philharmonische Orchester Erfurt und die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Mit grosser Leidenschaft und Präzision bringen die Musiker die ungemein farbenreichen, vielschichtigen Klänge zu Gehör. Und Prior setzt Spannungsbögen, die die drei Stunden wie im Fluge vergehen lassen. Der von Markus Baisch vorbereitete Opernchor des Theater Erfurt trägt mit mustergültiger Textverständlichkeit seinen Teil zum Gelingen des phänomenalen Abends bei.

Weingartner hat sein Libretto zu einer Zeit (1898), als Aufführungen antiker Tragödien noch keineswegs üblich waren, selbst in freier Anlehnung an die Orestie des Aischylos gedichtet. Als Vorbild des Projekts könnte die Tetralogie Homerische Welt (auch: Die Odyssee, 1896-1903, op. 30) von August Bungert (1845-1915) gedient haben.

Von besonderem Interesse ist hier, wie der bekennende Pazifist Weingartner den III. Teil, Die Erinyen, gestaltet hat. Pallas Athene, zu der die Seherin des Tempels zu Delphi Orestes geschickt hat, entscheidet nicht allein über Schuld oder Unschuld Orestes, sondern delegiert diese Entscheidung an einen Rat der zwölf der würdigsten Bürger Athens, die das Urteil «sine ira et studio» («ohne Zorn und Eifer») fällen sollen. Der Entscheid führt zu einem Patt, das Pallas Athene mit ihrer Stimme zugunsten Orestes Unschuld entscheidet. Orestes rettet nun die Situation, in dem er den vor Enttäuschung rasenden Erinyen die Aufgabe gibt, das Bündnis zwischen den Königreichen von Argos und Athen zu schützen.

Hier setzt auch die Inszenierung von Intendant Guy Montavon an. Montavon lässt die Geschichte in der Zeit zwischen dem Ende des ersten Weltkriegs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielen. Der I. Teil «Agamemnon» spielt in einer Art Bunker, wo die Kriegsheimkehrer erwartet werden und der Mord Klytaimnestras an Agamemnon geschieht. Der II. Teil «Das Todtenopfer» spielt an dem an Lenins Mausoleum gemahnenden Sarkophag Agamemnons. Der III. Teil «Die Erinyen» spielt zuerst in dem an eine Müllhalde erinnernden Hades und dann, die Szenen, die in Athen spielen, in einem Sitzungsaal mit UNO-Emblem. So, wie Orestes versuchte die Spirale der Gewalt, symbolisiert durch den Atridenfluch, zu durchbrechen, versuchte man nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gründung der UNO zukünftige Gewalt zu verhindern. Was daraus geworden ist, ist ja bekannt. Ausgestattet wird die tief beeindruckende Inszenierung von Hank Irwin Kittel. Mit dieser genialen Inszenierung haben das Theater Erfurt und Guy Montavon der Opernwelt ein Werk zurückgegeben, das alle Kraft hat, zu bestehen. Jan Krobot/Zürich 22.05.2023  (mit großem Dank an den Autor und an das Wiener Opern-online-Magazine Online-Merker, uns mit dieser Rezension zu einer der wichtigen Produktionen der letzten Jahre ausgeholfen zu haben!)

.

.

Polnisches Indiendrama in der Berliner Philharmonie: Sie sollte der entscheidende große Wurf sein die letzte und damit sechste Oper Paria von Stanislaw Moniuszko, die den polnischen Komponisten mit Unterbrechungen sein ganzes Leben lang beschäftigt hatte, denn bereits der Achtzehnjährige soll das Trauerspiel von Casimir Delavigen übersetzt haben , der Text ging aber wohl verloren, ehe er sich ans Komponieren machen konnte. Da hatte die gleichnamige Oper von Gaetano Donizetti Il Paria bereits das Alter von vierzig erreicht, nachdem sie mit Rubini, dem Schöpfer des Do di Petto uraufgeführt und die Musik danach bald in Anna Bolena, Torquato Tasso und Il Duca d’Alba wieder verwendet worden war.

Zwar erfüllte der Stoff das Bedürfnis des u.a. durch Weltausstellungen nach dem Orient, nach Exotischem süchtig gewordenen Publikums mit der Geschichte vom unterschiedlichen Kasten zugehörigen Liebespaar, aber außer der Handlung war ganz und gar nichts orientalisch an Paria, weit weniger noch als an auf der gleichen Orient-Schiene sich bewegenden Opern wie Lakmè, Thais oder Die Afrikanerin und Die Perlenfischer. Es kam zwar im Jahre 1868 zur Uraufführung in Warschau, wo man das Werk auch 1917 wieder erleben konnte, dann aber klafft eine große Lücke in der Aufführungstradition, ehe man Paria 1951 in Breslau, 1958 in Posen aufführte, 1991 in Havanna und 2008 entstand eine CD bei Dux Records mit den Kräften aus Stettin. Hin und wieder nahmen sich auch auf westlichen Bühnen erfolgreiche Künstler des Werks oder vielmehr von Teilen desselben an, so findet man bei You Tube eine Aufnahme der Arie der Neala mit Teresa Zylis-Gara unter Kazimir Kord.

2020 inszenierte Graham Vick die Oper „Paria“ in Posen/ Szene/ Opera Vision

2020 inszenierte kein Geringerer als Graham Vick Paria an der Moniuszko Oper in Posen , die Inszenierung erhielt den International Opera Award für ein wiederentdecktes Werk , und nun ist das Spätwerk im Rahmen eine Moniuszko-Dreierpacks (Halka 2019 und Das Gespensterschloss im September 2024 ebenfalls in Berlin) konzertant mit dem Ensemble aus Posen am 23. Mai 2023 in der Berliner Philharmonie zu hören gewesen. Dafür ist man erst einmal dankbar, denn eine Presse-DVD mit Ausschnitten aus der Inszenierung beweist, dass diese einmal mehr die übliche Abrechnung mit dem Klerus, aber da mit Heiligenschein versehen, dem christlichen, und mit dem Militär zeigt, denn auch Idamor, der Tenor, ist recht unsympathisch, mit Maschinengewehr und ordenbehängt zur Hochzeit erscheinend.

Ein ganz anderes Schicksal als Paria hatte übrigens Moniuszkos Oper Halka, in Polen als Nationaloper geliebt und nach 1945 zumindest in den „sozialistischen Bruderländern“ häufig aufgeführt. Während in diesem Werk Handlung und Musik zueinander passen und es  sich so den Ehrentitel polnische Nationaloper redlich verdient, ist Paria ein seltsames, wenn auch sehr reizvolles Gemisch aus französischer Opera Comique, deutscher Spätromantik und polnischer Folklore mit umfangreichen, gewaltigen Chorszenen, einem Ballett und teilweise ausgesprochen apart-interessanten instrumentiert. Wenn Moniuszko bekannte: “Ich bin Paria“, dann lässt das Raum für vielerlei Spekulationen.

Viele polnische Familien hatten sich neben dem üblichen Konzertpublikum in der Philharmonie eingefunden, und es musste auch mal ein schreiendes Kleinkind, das dem Ereignis wenig abgewinnen konnte, aus dem Saal getragen werden, ansonsten herrschte eine feierliche Stimmung, wenn der polnische Botschafter viele Ehrengäste (darunter der polnische Botschafter und Honoratioren aus Politik und Kunst) feierlich begrüßte, anschließend Kulturjournalist Frederik Hanssen das Publikum in das Operngeschehen einführte, nicht ohne zu erwähnen, dass Moniuszko immer auf der Seite der Armen und Entrechteten gestanden habe.

Moniuzskos Oper „Paria“ in der Berliner Philharmonie/ Iwona Sobotka sang die Neala und erinnerte im Timbre an andere berühmte polnische Sopranistinnen wie Teresa Kubiak oder Teresa Zylis-Gara/ Foto: K. Bieliński / Polish National Opera

Die Posener stellten sich mit einem der anspruchsvolle Partitur gleichermaßen mit Hingabe wie technischem Können gerecht werdendem Einsatz dem Berliner Publikum vor, das enorme Pathos, das über weite Strecken in der Musik Moniuszkos herrscht, stilvoll bändigend. Dirigent Jacek Kaspszyk wusste immer wieder Inseln der Ruhe und der akustischen Beschaulichkeit zu schaffen, wenn die Musik sich in unermüdlicher Daueraufgeregtheit zu verausgaben drohte (Wagneranklänge!). Vorzüglich war der Chor der Posener Oper, seien es Damen und Herren getrennt voneinander, so ein wunderschöner Mädchenchor im ersten Akt, oder sei es als teilnehmendes Volk.

Iwona Sobotka im rot-schillernden Glitzerfummel war eine auch akustisch attraktive Neala mit weichem, geschmeidigem, in der Höhe schön aufblühendem Sopran ohne jede Schärfe. Besonders gut gelang ihr das Wechselspiel mit dem Chor im ersten Akt. Mit dunkel getöntem, heldisch auftrumpfendem Tenor vieler Schattierungen sang Dominik Sutowicz ihren Geliebten Idamor, den Paria, der auch mit Schwelltönen prunken konnte. Einen Bass wie aus einem Guss und von schöner Farbe hatte Volodymyr Tyshkov für den Brahmanen Akebar. So beredt wie sonor versuchte Stanislav Kuflyuk mit hochpräsentem Bariton als Djares seinem Anliegen Gehör zu verschaffen. In kleineren Partien schlugen sich Piotr Friebe als Ratef und Lucyna Bialas als Priesterin wacker.

Der Abend war eine interessante Erfahrung, konnte jedoch nicht davon überzeugen, dass dem Paria auf Dauer ein Platz im Repertoire gebührt. Exotische Themen wie dieses haben es sowieso schon schwer in unserer Zeit, umso mehr, wenn die Musik dazu absolut nicht passen will und eher epigonalen Charakters ist. Ingrid Wanja    

.

PS.: Wenngleich es die Oper schon vor der Produktion in Posen reichlich zu hören gab: So bereits im polnischen und dann DDR-Rundfunk in den achtziger Jahren aus Krakau (wie ich im Archiv des DDR-Rundfunks in Potsdam entdeckte und mir besorgte), eine polnische TV-Produktion von 1993 unter Antonin Wicherek mit der wunderbaren Hanna Lisowska (davon existiert eine Kopie noch auf VHS), eine weitere TV-Produktion des Wielki Warschau 1989 erneut unter Wicherek und natürlich die schmissige und maßstäbliche Aufnahme aus Breslau bei DUX unter dem jungen Lukasz Borowicz 2019 – ein langer Artikel bei operalounge.de beschäftigt sich zudem mit dem Werk und der zuletzt genannten Aufnahme. Dem Vernehmen nach will Naxos die obige Aufführung herausbringen. G. H.

.

.

Hamlet an der Komischen Oper Berlin – ein Schloss wird zum Friedhof. Nicht gering war die Skepsis nach Bekanntgabe des Spielplanes der Komischen Oper Berlin für die Saison 2022/23, der eine Neuproduktion von Ambroise Thomas’ Hamlet vorsah. Eines der anspruchsvollsten französischen Werke zwischen Grand opéra und Drame lyrique in der Behrenstraße? Die konzertante Aufführung an der Deutschen Oper im Juni 2019 mit Florian Sempey und der rasanten Ève-Maud Hubeaux unter Yves Abels dto. begeisternder Leitung war noch in bester Erinnerung. Man war gespannt.

Die Inszenierung und musikalische Interpretation straften alle Zweifel Lügen und dürften  sogar als Berliner Opernaufführung des Jahres gewertet werden. Nadja Loschky hat das Stück spannungsreich und mit stimmiger Personenführung inszeniert, den Narren Yorick, der bei Shakespeare, aber nicht im Opernlibretto Erwähnung findet, als Figur eingeführt und damit die komisch-groteske Ebene bedient. Kjell Brutscheidt gibt ihn stark effeminiert und mit tänzerisch-exaltierter Allüre, darf zu Beginn sogar das Lied des Narren aus Shakespeares Was ihr wollt singen. Irina Spreckelmeyer hat ihn als einzige Figur der Inszenierung in einem glitzernden schwarz/silbernen Renaissance-Kostüm historisch gewandet. Für alle anderen – bis auf den Titelhelden, der einen schmucklosen, legeren grauen Anzug trägt – ist warmes Burgunderrot vorgesehen, ob in langen Schleppen für das Königspaar oder den Hotelpagenkostümen für einzelne Chorsolisten. Etienne Pluss entwarf eine atmosphärische Bühne – das Treppenhaus eines alten Schlosses mit gemusterter Tapete, das an einen britischen oder amerikanischen Film à la Hitchcock erinnert. Wenn die Lampen flackern, fühlt man sich gar in den Psychothriller Das Haus der Lady Alquist versetzt. Mit seltsamen Gestalten, die anfangs aus einer Bodenvertiefung steigen und sich im Laufe der Aufführung vermehren, führt die Regisseurin gar ein surreales Element ein. Mit Stockschirm, Aktenkoffer und Melone lassen sie an die Bildwelt von René Magritte denken. Ihre Anführer stellen sich schließlich als die beiden Totengräber heraus. Auch mehrere Doubles – für Hamlet, Ophélie, Claudius, Gertrude und den Geist des ermordeten Königs – bringen eine unwirkliche Atmosphäre ein.

Das Geschehen eskaliert am Ende des 2. Aktes, nachdem Hamlet den Tod seines Vaters als Pantomime vorführen ließ und Claudius, der Mörder und neue König, in Panik den Hof verlässt. In rasender Wut zertrümmert Hamlet mit der Spitzhacke die hintere Wand, aus der schwarze Erde herausquillt. Die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: Jean-Christophe Charron) erweisen sich in diesem dramatischen Finale mit klanggewaltigem Gesang als grandiose Architekten bei der Errichtung einer Kathedrale in Musik. Nach der Pause zeigt sich der Raum in dichten Nebelschwaden und wüster Zerstörung. Die Natur hat als hügeliges Erdreich von ihm Besitz ergriffen, der Schauplatz hat sich zu einem Friedhof gewandelt. Hier singt Hamlet mit einem Totenschädel in den Händen seinen berühmten Monolog. Der britische Bariton Huw Montague Rendall ist ein Ereignis der Aufführung. Mit seiner weichen, sensiblen Stimme, die vom gehauchten pianissimo bis zum ausladenden forte über schier unbegrenzte vokale Möglichkeiten verfügt, und einem reichen Ausdrucksspektrum der grüblerischen, jähzornigen, halluzinativen, hintergründigen, aufbrausenden Töne darf er als Idealbesetzung der Rolle gelten, zumal er als blonder, träumerischer Jüngling auch optisch die Figur perfekt zu verkörpern vermag. Die Spanne seines gesanglichen Könnens zeigt sich eindrücklich in der Verve des Trinkliedes „Ô vin, dissipe la tristesse“ und dem introvertierten Selbstgespräch „Etre ou ne pas être“. Sein Duett mit Ophélie, in welchem beide von ihrer Liebe singen, steigert sich von schwärmerischem Ausdruck zu ekstatischem Taumel. Mit äußerster Spannung vollzieht sich die erregte Auseinandersetzung mit seiner Mutter Gertrude, die Karolina Gumos mit herbem, dramatisch betontem Mezzo singt. Das Verhältnis zu ihrem Sohn pendelt zwischen inzestuöser Zuneigung und abgründigem Hass. Hamlets Beziehung zu Claudius, den Tijl Faveyts mit körnigem, reifem Bass gibt, wird bestimmt vom Geist seines getöteten Vaters (Jens Larsen mit gespenstisch-fahl tönender Stimme), der aus dem Grab steigt und ihm den Auftrag erteilt, den Mord zu rächen. Am Ende reichte er Hamlet ein Messer, mit dem dieser die Tat vollführt. Eine Glocke senkt sich herab, die Hamlet als neuer König besteigt, freilich eher eine gekreuzigte Leidensfigur abgibt denn einen triumphierenden Regenten. Das Regie-Team bedient damit das Finale der Urfassung von 1868, in welcher der dänische Prinz überlebt.

„Hamlet“ von Ambroise Tomas an der Komischen Oper Berlin/ Szene/ Foto Rittershaus

Das zweite Ereignis der Aufführung am 28. 4. 2023 war die blond gelockte Ophélie der Amerikanerin Liv Redpath, deren Sopran die horrend schwierige Partie mit geradezu mirakulöser Mühelosigkeit bewältigt. Die reiche Farbpalette mit melancholischen, verschatteten, wehmütigen, flirrenden Nuancen bot im Verein mit sensationeller technischer Bravour für die Wahnsinnsszene das perfekte Fundament. Glitzernde Koloraturen, funkelnde Spitzentöne, blitzende staccati, delikate Triller und trancehafte Vokalisen bescheren eine vokale Sternstunde. Himmlisch verklärt dann ihre letzte Szene, in der sie Hamlet erinnert, nicht an ihrer Liebe zu zweifeln.

Es ist ein Verdienst der Inszenierung, dass sie auch das Ballett – neben den großen Chortableaus unverzichtbarer Bestandteil der Grand opéra – in den Handlungsablauf integriert hat. Hier wird es in der Choreografie von Thomas Wilhelm als Ophélies Traum von der Hochzeit mit Hamlet gezeigt. Es ist ein Pas de deux, in welchem der Tänzer im Überschwang des Gefühls seine Partnerin dreht, hebt und durch die Luft wirbelt. Kompetent besetzt sind die Nebenrollen: José Simerilla Romero als Laërte mit tenoralem Strahlen und vehementer Allüre sowie Stephen Bronk als Polonius, Frederic Jost als Horatio und Johannes Dunz als Marcellus mit soliden Auftritten. Zum Abend in seiner Vollendung führt schließlich die musikalische Leitung der Dirigentin Marie Jacquot am Pult des Orchesters der Komischen Oper Berlin. Sie vereint in ihrer Interpretation pathetische grandeur, romantisches Melos, pompöse Festlichkeit, französischen Esprit und sublime Delikatesse. Zu Recht bejubelt das Publikum am Ende eine Aufführung von Ausnahmerang. Bernd Hoppe

.

.

.Szenische Erstaufführung in Braunschweig: Gäbe es nicht eine recht neue Aufnahme der Oper Dante  (2017; ein Mitschnit des Münchner Konzertes beim Palazzetto Bru Zane) wäre der der Komponist Benjamin Godard (1849-1895) fast vergessen, der früh das Violinspiel erlernte und bereits seit seinem 10. Lebensjahr am Pariser Konservatorium Komposition und bei Henri Vieuxtemps Violine studierte. Schließlich war er dort ab 1887 Lehrer einer Kammermusikklasse.  Als Verfasser von Salonmusik und mehr als einhundert Liedern war er seinerzeit durchaus populär; außerdem komponierte er fünf Sinfonien, je zwei Klavier- und zwei Violinkonzerte, Streichquartette sowie Sonaten und Etüden für Violine und Klavier. In seinen Kompositionen orientierte er sich durchgehend an der Klangsprache Gounods oder Massenets, so auch in seinen sechs Opern, denen er sich erst in den 1880er-Jahren zuwendete.

Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann

So komponierte er nach dem Libretto von Édouard Blau die ernste Oper Dante, die 1890 in der Pariser  Opéra Comique uraufgeführt wurde. Sie enthält ziemlich zusammenhanglos einzelne Szenen aus der Biographie des mittelalterlichen Dichters und Philosophen sowie als Dantes Traum Szenen aus der berühmten Göttlichen Komödie“. In der Oper gibt es mächtige Chor-Tableaus, aber auch ausdrucksstarke Arien und Ensembles, wobei die Musik fast durchgehend schwelgt oder sich dramatischen Ausbrüchen hingibt, was auf Dauer in gewisser Eintönigkeit reichlich anstrengend wirkt. Das liegt auch daran, dass es zu wenige Piano-Passagen zur Besinnung oder Kontemplation gibt.

Zuerst sieht man in der Braunschweiger Inszenierung von Philipp Himmelmann das Sterbebett der von Dante geliebten Béatrice. Von hieraus blickt der Dichter in einer Art träumerischer Rückblende in ungemein wirkungsvollen Bühnenbildern ( Paul Zoller, Mitarbeit: Loriana Casagrande) auf einzelne Szenen seines Lebens: So geht es in einen imposanten Versammlungsraum, in dem verbitterte politische Fehden zwischen kaisertreuen Ghibellinen und den Anhängern des Papstes, den Guelfen, stattfinden und Dantes Heimatstadt Florenz zu zerreißen drohen. Diese Streitenden tragen einheitliche, maskuline Kleidung des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Oper (Meentje Nielsen), während die Protagonisten der Sterbeszene am Ende der Oper mit Schlafanzug, Jeans und Polohemd moderne Kleidung tragen (Der Tod ist zeitlos!).

Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann

Dante blickt anschließend zurück auf die heftig ausgetragenen Auseinandersetzungen mit seinem Freund Simeone Bardi um die von beiden geliebte Béatrice, die sich zeitweise in einer großen, düsteren Bibliothek mit bis zur Decke reichenden Bücherregalen zuträgt. Bevor es zu den traurigen Schlussszenen kommt, erlebt man nach der Preisung des antiken Dichters Vergil durch eine Gruppe junger Menschen in Matrosenkleidung einen Traum Dantes, in dem – eine sehr eindrucksvolle Szene – Vergil in der Bibliothek aus dem Bilderrahmen tritt. Er führt Dante in die Hölle mit allerlei grässlichen Visionen – jetzt ist der gesamte Chor mit femininer Unterwäsche bekleidet – und anschließend in himmlische Gefilde, wo ihm die geliebte Béatrice erscheint. Vor dem absehbaren Ende im mit blutverschmiertem Kopfkissen und anderen Utensilien reichlich realistischen Krankenzimmer versöhnen sich die Freunde Dante und Bardi; wie von Anfang an wird Béatrice von ihrer treuen Freundin Gemma umsorgt, die deren Ende nicht verhindern kann. Ganz am Schluss nach Béatrices Tod verspricht Dante, sie in seinen Werken unsterblich zu machen, wobei offen bleibt, ob es diese Geliebte tatsächlich gegeben hat oder ob sie nicht von vornherein dichterische Fiktion war.

Trotz der konzertanten Aufführung in München 2016 darf bezweifelt werden, ob diese Oper mit ihrem doch reichlich wirren Plot und der wenig differenzierenden Musik den Weg ins Repertoire schafft. Und auch die genannte Ersteinspielung aus München hilft da trotz illustrer Besetzung sicher

Godards Oper „Dante“ bei den Ediciones Singulares/ ISBN: 978-84-697-4879-4

nicht.

Die musikalischen Leistungen waren in der Premiere herausragend, was auch an der wie immer präzisen und inspirierenden Leitung von Braunschweigs 1. Kapellmeister Mino Marani lag, der trotz aller Lautstärke und bedrängender Dramatik durchgehend sängerfreundlich dirigierte; dabei überzeugte erneut das ausgezeichnete  Staatsorchester mit hohem Niveau in allen Gruppen. Ebenso imponierte das dank kluger Personenregie an diesem Abend engagiert und glaubwürdig agierende Opernensemble, das auch stimmlich durchgängig positiven Eindruck machte. Hier ist zunächst Kwonsoo Jeon in der kräfteraubenden Titelpartie zu nennen: Er führte seinen strahlkräftigen Tenor differenzierend durch alle Lagen und sang auch die wenigen Lyrismen in seiner ersten Arie wunderbar aus. Béatrice war Béatrice Kudryavtseva, die mit abgerundeten Melodiebögen und sauberen Piano-Passagen gefiel, sich aber auch in den hochdramatischen Phasen als höhensicher erwies.

Zachariah N. Kariithi als Simeone Bardi setzte seinen  charaktervollen, sicher geführten Bariton dramatisch auftrumpfend ein. Nach wie vor höchst kultivierte Stimmführung zeichnet Milda Tubelythè aus, die als Gemma zeigte, dass sie mit ihrem deutlich voller gewordenen Mezzosopran nun auch dramatischeren Anforderungen mehr als nur genügt.

Die kleinere Partie des Schattens Vergils füllte Jisang Ryu mit sonorem Bass aus, während die junge Schottin Rowan Hellier – neu im  Ensemble – die Huldigung an Vergil mit in der Höhe leicht flackerndem Mezzo sang; Rainer Mesecke (ein Alter) und Matthew Pena (Herold aus dem Off) ergänzten. Chor und Extrachor, einstudiert von Georg Menskes und Johanna Motter, glänzten durch Klangfülle und stimmliche Ausgewogenheit.

Das Premierenpublikum war von den tollen Leistungen begeistert und bedankte sich bei allen Mitwirkenden und dem Regieteam mit starkem, lang anhaltendem Applaus. Gerhard Eckels

.                    

.

Dmitri Tcherniakov inszeniert Krieg und Frieden von Sergej Prokofjew komplex und monumental an der Bayerischen Staatsoper München: Eine monumentale Inszenierung für die Bayerische Staatsoper, die Sergej Prokofjews ‚Krieg und Frieden‘ dem erfahrenen Dirigenten Vladimir Jurowski anvertraut. Regie und Bühnenbild stammen von Dmitri Tcherniakov, die Kostüme von Elena Zaytseva.

Tcherniakov wählt einen Blickwinkel, der irgendwo zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historisierenden liegt. Er vermischt geschickt das aktuelle Geschehen mit der nahen und fernen Vergangenheit einer Nation, Russland, die heute mehr denn je im Zentrum der sozialen, politischen und kulturellen Debatte in Europa steht. Die Fragen sind zahlreich und offen, die Themen so einfach einerseits wie komplex und vielschichtig andererseits.

Der Regisseur entscheidet sich konsequent dafür, die gesamte komplexe Geschichte, die sich mit vielen Zeit- und Ortssprüngen entfaltet, an einem einzigen ikonischen Ort in Moskau anzusiedeln: dem Gewerkschaftshaus.

Ein historisches Gebäude, das das politische Leben der russischen Hauptstadt in den letzten zweihundert Jahren geprägt hat und in seiner großen Halle mit den neoklassizistischen Säulen verschiedene Momente der Geschichte beherbergt hat: von den Festlichkeiten zur Zeit der Zaren über die sowjetischen Aufmärsche bis hin zu wichtigen Ereignissen der jüngeren Zeit. In diesem Palast wurde zum Beispiel 2022 der Leichnam von Michail Gorbatschow beigesetzt.

Das Bühnenbild stellt mit einer statischen Szene diesen großen neoklassizistischen Saal dar, in dem der Regisseur sich eine flüchtende Menschheit vorstellt, die vor einem nicht näher bezeichneten Krieg oder einer Tragödie geflohen ist und sich in einem ständigen Zustand der Unsicherheit und Bedrängnis befindet.

Prokoffieffs „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper München/ Foto Hösl

Die Kostüme sind zeit-genössisch und erinnern an die Bilder, die wir oft in den Massen-Medien sehen, die Ausstattung ist realistisch, manchmal brutal. Es mangelt nicht an Hinweisen auf das Theater und die Kunst der Aufführung, mit Reihen von Theatersitzen, die hier und da verstreut sind.

Die Bühne leert sich nie, alles spielt sich in schneller Folge inmitten von Menschenmassen ab, es mangelt nie an Menschen, die auf dem Boden oder auf improvisierten Feldbetten schlafen, es ist immer eine gewisse Bewegung vorhanden, das Gedränge ist spürbar. Im ersten Akt, dem intimsten und der Friedenszeit gewidmeten Teil, wechseln sich die Szenen im Proszenium in einer im Wesentlichen traditionellen Weise ab. Im zweiten Akt, der vom Krieg beherrscht wird, nimmt der Chor die Bühne verstärkt in Anspruch und die Wirkung, sowohl stimmlich als auch szenisch, einer wütenden und müden Masse ist beeindruckend.

Es mangelt auch nicht an Andeutungen auf das Theater im Theater, fast so, als ob die ganze Geschichte von den Lagerflüchtlingen als Zeitvertreib inszeniert würde. So wirkt die Tanzparty im ersten Akt wie ein improvisiertes Theaterstück dieser vertriebenen Menschheit, die sich die Zeit vertreiben muss, während die Napoleon-Szene im zweiten Akt wie eine Farce zur Belustigung von Kindern wirkt, bei der der französische Kaiser nichts weiter als eine Karikatur der Macht ist.

Das Gleiche gilt für General Kutusow, der resigniert in einem Unterhemd erscheint und apathisch am Tee nippt. Fast das Bild einer Macht, der die leidende Menschheit gleichgültig ist.

Wenn im ersten Akt der Schwerpunkt im Wesentlichen auf der persönlichen Geschichte der Figuren liegt, gibt es im zweiten Akt eine Fülle von politischen Verweisen aus verschiedenen Epochen. Im Finale erscheint auch eine Lenin-Büste im Hintergrund und General Kutusow wird verherrlicht, indem er auf einem Katafalk voller roter Fahnen liegt, ganz im Stil des sowjetischen Zeremoniells.

Die Hinweise sind also zahlreich und komplex, oft eher politisch und symbolisch als auf die Geschichte der Charaktere bezogen. Die sorgfältig orchestrierte und präzise Regie sorgt für eine gute Organisation der Massen, während die Solopartien etwas generisch bleiben. Im Großen und Ganzen gibt es einige sehr gute Momente, aber auf Dauer ist die Menschenmasse vielleicht zu viel, was zu einem ‚Zeffirelli‘-ähnlichen Effekt führt, bei dem man Mühe hat, den Sängern zu folgen, die sich in einer übermäßigen Masse von Menschen verlieren. Auch wenn die Chöre sehr wirkungsvoll sind, die Kulisse, eine einzige für fast vier Stunden Aufführung, zeigt trotz ihrer Beeindruckung einige Grenzen auf.

Ohne Zweifel jedoch sind nur wenige andere Theater in Europa in der Lage, eine Produktion von solcher Komplexität mit vierzig Solisten auf der Bühne anzubieten, zusätzlich zu den Statisten und dem Chor.

Vladimir Jurowski dirigiert die exzellenten bayerischen Ensembles und gibt uns eine moderne und einnehmende Interpretation der Partitur, ohne jemals die Kontrolle über das Ensemble zwischen Orchestergraben und Bühne zu verlieren.

Andrei Zhilikhovskys Bolkonski sticht aus der grenzenlosen Schar von Sängern hervor, seine Stimme ist warm und weich, fähig zu überzeugenden Akzenten und schönen Nuancen. Ihm zur Seite steht die Natascha Rostowa von Olga Kulchynska, die eine selbstbewusste, aufsteigende Stimme hat und uns einen trockenen, überzeugenden Charakter präsentiert. Violeta Urmana in der kleinen, aber intensiven Rolle der Achrossimowa ist großartig, ebenso wie Sergei Leiferkus in der Rolle des Vaters Bolkonski, immer passend und stilistisch einwandfrei. Der unübertroffene Arsen Soghomonyan als Pierre Besuchow, ein sorgfältiger und engagierter Phrasierer in allen Szenen, meistert die Rolle dank einer Stimme mit einem funkelnden Tenortimbre. Erwähnenswert ist auch Tómas Tómasson, der überzeugend einen zur Karikatur gewordenen Napoleon spielte.

Alle anderen Stimmen waren hervorragend, kompakt und professionell in einer meisterhaften Ensemblearbeit, in der alle zu Protagonisten und Schöpfern des Erfolgs der Aufführung wurden: Alexandra Yangel, Kevin Conners, Alexander Fedin, Olga Guryakova, Mischa Schelomianski, Victoria Karkacheva, Bekhzod Davronov, Alexei Botnarciuc, Christian Rieger, Emily Sierra, Martin Snell, Christina Bock, Alexander Roslavets, Oksana Volkova, Elmira Karakhanova, Roman Chabaranok, Stanislav Kuflyuk, Maxim Paster, Dmitry Cheblykov, Nikita Volkov, Alexander Fedorov, Xenia Vyaznikova, Dmitry Ulyanov, Alexander Fedin, Liam Bonthrone, Csaba Sándor, Alexander Fedorov, Stanislav Kuflyuk, Bálint Szabó, Granit Musliu, Aleksey Kursanov, Thomas Mole, Alexander Vassiliev, Mawra Kusminitschina, Xenia Vyaznikova, Andrew Hamilton, Platon Karatajew, Mikhail Gubsky, Christian Rieger, Jasmin Delfs, Jessica Niles.Viel Beifall für alle im Finale. Raffaello Malesci (18 März 2023)

.

.

Oper Frankfurt: Deutsche Erstaufführung. Fast alles ist vor Beginn der Oper schon geschehen. Francesca, die Tochter des Herrn von Ravenna, wurde aus politischen Gründen mit Lanciotto, dem Sohn des Herrschers von Rimini, verheiratet. Da Lanciotto missgebildet ist, gibt man dessen Bruder Paolo als Bräutigam aus. Francesca verliebt sich auf den ersten Blick in den schönen Paolo. In der Hochzeitsnacht muss sie feststellen, dass man sie getäuscht hat. Bei der Rückkehr aus einer Schlacht, und da setzt Saverio Saverio Mercadantes Oper Francesca da Rimini ein, spürt Lanciotto Francesca Abweisung und wird misstrauisch. Bis zum Tod der beiden Liebenden benötigt Mercadante gut drei Stunden Musik. Es braucht geduldige und ausdauernde Hörer, doch die bestrickt Mercadante mit allen Finessen eines italienischen Melodramma romantico. Vor allem den ersten, fast eindreiviertel Stunden langen Akt überzieht er mit einer rossinischen Ornamentik, die die Seelenlage der drei Protagonisten auf subtile Weise auszisiliert und in der Schwebe lässt, bevor er im zweiten Akt zupackt.

Ein beliebter Topos, nicht nur für die Oper: „Paolo und Francesca“, hier nun von Anselm Feuerbach 1865/ Wikipedia

Doch Francesca entstand vor der Reformoper Il Giuramento. Nicht nur die Hosenrolle des Paolo rückt Francesca in die Nähe von Bellinis I Capuleti e i Montecchi über das andere berühmte Liebespaar Italiens. Die Oper Frankfurt brachte Mercadantes Francesca und deren hochromantischen an Rossini und Bellini geschulten Sinnestaumel jetzt in einer im Vorjahr bei den Tiroler Festspielen Erl gezeigten Produktion zur Deutschen Erstaufführung. Hans Walter Richters Inszenierung macht auf fast unmerkliche Weise alles richtig. In dem angeschnittenen Bühnenraum von Johannes Leiacker verweisen die ausgesprochenen geschmackvollen Kostüme der Raphaela Rose und die wenigen Möbelstücke auf die Entstehungszeit. Gelegentlich öffnet sich, wenn Francesca und Paolo sich wegträumen, die Rückwand und zeigt Caspar David Friedrichs Ruine einer gotischen Kirche, deren filigranes Maßwerk wie Stein gewordene Musik wirkt. Die gar nicht kunstgewerblich hingetupften Tanzdoubles von Francesca, Paolo und Lanciotto greifen das Doppelgängermotiv der Romantik geschickt auf. Auch wenn Lanciotto mal wütend Stühle schmeißt, sein Vertrauter Guelfo das böse Buch anzündet, durch dessen Lektüre der Geschichte vom ehebrecherischen Verhältnis des Lancelot und der Guinevere sich Francesca und Paolo näherkommen, und überhaupt im zweiten Teil die Landschaft wie verkohlt wirkt, dominieren die Bilder keinesfalls die von Ramón Tebar mit Geschmack ausgefalteten Formen und Formeln der italienischen Oper der 1830er Jahre und deren virtuose Ausbreitung in den nahtlos ineinanderfließenden vokalen Linien. Von diesem Sog lässt sich auch Frankfurter Opern- und Museumsorchester zunächst sperrig, doch dann durchwegs inspiriert mitreißen.

Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Er scheint einer anderen Epoche anzugehören, obgleich Saverio Mercadantes Lebensdaten (1795-1870) nahezu identisch mit jenen Rossinis (1792-1867) sind. Wie der fast gleichaltrige Giovanni Pacini (1796-1867) profitierte er von Rossinis Rückzug von der Bühne. In den Schatten gedrängt wurde beider Schaffen zeitweise durch die Werke von Donizetti (1797-1848) und Bellini (1801-35). Doch über seine lange Schaffenszeit gelang es Mercadante eine bedeutende Schanierfunktion zwischen Rossini und Verdi einzunehmen. Mercadantes erste Oper kam 1819 in Neapel heraus, wo er mehr als 45 Jahre und rund 60 Opern später sein Schaffen 1866 mit der letzten vollendeten Oper Virginia beendete. Der ebenso fleißige Pacini brachte es zwischen 1813 und 1858 auf 70 bis 80 Opern. Geboren wurde Mercadante im schönen auf einer Anhöhe etwa 45 südwestlich von Bari und nicht weit vom Weltkulturerbe Matera liegenden Städtchen Altamura. Weniger als 100 Kilometer sind es bis Martina Franca, wo das Festival della Valle d’Itria viel für die Wiederentdeckung von Mercadantes Werken tat. Dazu gehörte 2016 auch die späte Uraufführung der Francesca da Rimini.

Nachdem er in Neapel als Hauskomponist am San Carlo Rossini nachgefolgt war, hielt sich Mercadante 1827-30 in Spanien auf, wo bei seinem zweiten Besuch in Madrid 1831 die geplante Uraufführung der Francesca da Rimini, ebenso wie später in Mailand, nicht zustande kam. Francesca wirkt wie aus einer anderen Zeit. Das liegt auch an einer gewissen metastasianischen Steifheit, mit der Felice Romani die Geschichte erzählt. Mercadantes große Werke der Reifezeit folgten erst wenige Jahre später mit I Briganti für Paris, Il Giuramento und Il Bravo für die Mailänder Scala; später konzentrierten sich die Uraufführungen auf das San Carlo. Mit seinem ursprünglich 1823 für Giuseppina Strepponis Vater Feliciano entstandenen Libretto folgte Felice Romani der von Mazzini ausgerufenen Rückbesinnung auf Dante, in dessen Werk sich „passione, amor patrio, orgoglio e forza nazionale“ vereinen und der in seiner Göttlichen Komödie im 5. Gesang des Inferno die Geschichte Francescas erzählt. Insgesamt schrieb Romani elf Libretti für Mercadante, der darüber hinaus weitere sechs Textbücher verwendete, die Romani bereits für andere Komponisten verfasst hatte.

Mercadantes „Francesca da Rimini“ an der Oper Frankfurt/ Szene/ © Barbara Aumüller

Getreu alter Muster hat Mercadante den drei Protagonisten jeweils ihre Arie im ersten Akt und ihre Szene im zweiten Akt zugeteilt. Er weitet die Seelenräume durch wenige Terzette und Quartette, wo Francescas Vater Guido hinzutritt, und umklammert und durchgliedert sie mit Chören, die mehr als nur Kommentar bieten. Die schicksalhaft von der Liebe zu Lanciottos jüngerem Bruder Paolo erfasste Francesca ist bei Jessica Pratt gut aufgehoben, die lange kristalline Kantilenen über die Ensembles spannt und deren etwas weißer Sopran vor allem in der Höhe Zauber und Reiz besitzt. In ihrer von der Harfe begleiteten Cavatina singt Pratt noch etwas schwerfällig lasch und mit körperloser Tiefe, doch ihre Gefängnisszene mit Englischhorn steigert sie mit stupendem Ziergesang zu einer bravourösen Primadonnennummer. Als Lanciotto besticht Theo Lebow nicht durch das verführerischste Timbre, aber sein charaktertenoral weinerlicher Ton greift das „Herzklopfen“ des betrogenen Ehemanns passgenau auf. Trotz der gekrähten Höhe realisiert Lebow die schwere Partie mit seinen Möglichkeiten sehr gut, da er ist ein sensibler Deuter ist, der in seiner großartigen mit süßen Zwischentönen ausgeleuchteten Szene zu Beginn des zweiten Akts zeigt, welche Wucht in Mercadantes Musik liegt. Mit ihrem hellen, technisch fundierten, nicht allzu großen, aber vielfarbigen Mezzosopran zeigt Kelsey Lauritano nicht nur in ihrer Rossini-Nummer im ersten Akt lieblich unaufdringliche Koloraturkunst und in ihrer Szene im zweiten Akt gestalterische Intensität, sondern ist Francesca und Lanciotto eine stilsichere Duett-Partnerin. Ausgezeichnet der farbenreich frische Bariton von Erik van Heyningen als Francescas liebevoller Vater Guido (26.2.23).    Rolf Fath

 .

.

Les Russes: Staatstheater Meiningen: Deutsche szenische Erstaufführung von Georges Bizets fünfaktiger Grand opéra Ivan IV.  Eine Blume spielt auch hier schon eine Rolle. Sie wird nicht dem arglosen Sergeanten Don José von der Fabrikarbeiterin Carmen zugeworfen, sondern Marie von einem Fremden überreicht, der sich mit einem Begleiter in den Bergen des Kaukasus verirrt hat. Sorgfältig schält er „la fleur“ aus dem Schnee und überreicht sie dem Mädchen, das sich auf Anhieb in ihn verliebt. Bald darauf sind die von Maries Vater Temrouk angeführten Tscherkessen in heller Aufruhr: „Les Russes“. Zar Ivan IV. lässt nämlich seine Soldaten aufmarschieren und Marie entführen. Dass es im Kaukasus und im Kreml, wo Marie schließlich im Zaren ihren geheimnisvollen Fremden erkennt, sich von ihm umwerben lässt und ihn heiratet, manchmal ein bisschen wie bei den Schmugglern in der wilden spanischen Bergen klingt, Rhythmik und Modulationen mehr von Spanien als dem Kaukasus künden und die Serenade von Iwans Begleiter, dem jungen Bulgaren, einen ebenfalls spanischen Tonfall hat, kommt nicht von ungefähr. 1863, fast zehn Jahre bevor er von der Opéra Comique den Auftrag zur Carmen bekam, hatte Georges Bizet das Libretto zu Ivan IV erhalten. Charles Gounod, der den Text von François-Hippolyte Leroy und Henry Trianon bereits vertont hatte, gab seine Rechte zurück, nachdem sich die Aussicht auf eine Aufführung an der Opéra zerschlagen hatte und rettete einige Passagen; der Soldatenchor in Faust stammt aus dem Ivan IV.-Projekt. Das gleiche widerfuhr Bizet, der auf eine Aufführung seines Ivan le Terrible am Théâtre Lyrique gehofft und anschließend mit der Grand Opéra verhandelt hatte. Die Grand opéra über Iwan IV., besser bekannt unter seinem Beinamen „der Schreckliche“, dem er durch ausgesucht sadistische Folterungen und Hinrichtungen seiner Widersacher gerecht wurde, blieb unaufgeführt. Spuren der Musik finden sich in anderen Werken Bizets. Erst Ende der 1920er Jahre tauchte das Autograph wieder auf. Und gar erst 1951 erfolgte in Bordeaux die Uraufführung, allerdings in einer Bearbeitung durch Paul Henri Büsser, der sich Aufführungen in Köln, Linz und Basel anschlossen. Die konzertante Aufführung der BBC in Manchester unter Brydon Thomas mit John Noble und Jeannette Scovotti ging anlässlich Bizets 100. Todestag 1975 unter Benutzung der von Howard Williams erstellten fünfaktigen Neufassung der Oper erstmals auf das Manuskript zurück. Williams hatte zu diesem Zweck den von Bizet nicht fertig orchestrierten letzten Akt ergänzt und orchestriert. Williams stellte diese Fassung 1987 in London und 1991 in Montpellier vor, Michael Schønwandt benutzte sie 2002 für seine Pariser Konzertaufführung mit Ludovic Tézier und Inva Mula. Nachdem ihm die Kammeroper St. Petersburg im Dezember 2022 mit der szenischen Uraufführung der fünfaktigen Fassung zuvorgekommen war, präsentierte das Staatstheater Meiningen (2023) jetzt die deutsche szenische Erstaufführung der fünfaktigen Fassung von Bizets Grand opéra mit dem Zusatz „5. Akt ergänzt und orchestriert von Howard Williams“.

Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl

Den historischen Hintergrund zu Bizets Ivan IV., der auch in Tschaikowskys Opritschnik sowie in Rimsky-Korsakows Das Mädchen von Pskow und (indirekt) in Die Zarenbraut auftaucht, bildet Ivans Ehe mit Marija Temrjukowna (1511-69), der Tochter des tscherkessischen Fürsten Temrouk, welche Ivan nach dem Tod seiner ersten Gattin 1561 heiratete. Intrigen von Marias Vater Temrouk und ihrem Bruder Igor, die gemeinsame Sache mit Ivans falschem Vertrauten Yorloff machen, Attentate und Verschwörungen sowie Konflikte der Russen mit den muslimischen Bergvölkern bilden den zusammenfabulierten Hintergrund zu einer veritablen Grand operá. Das Problem bestand darin, dass die Gattung zur Zeit der Entstehung eigentlich bereits aus der Mode war, wenngleich in jenen Jahren (1865) noch Meyerbeers Africaine posthum aufgeführt wurde. Natürlich gibt es in Ivan IV. viele Schönheiten, geschmeidige Arien, wie Maries “Il me semble” oder die erwähnte Serenade des jungen Bulgaren „Ouvre ton coeur a l’amour“ – eine Hosenrolle, die in frühen Aufnahmen jedoch einem Tenor übertragen wurde – und Duette, darunter gleich anfangs das hübsch verspielte Duett der Marie mit dem jungen Bulgaren sowie das in ein Terzett der Verschwörer Yorloff/ Temrouk/ Igor mündende Duett von Vater Temrouk und Sohn Igor zu Beginn des dritten Akts  und elegante Ensembles. Insgesamt bleibt der Fünfakter doch recht steif und bemüht. Die ersten beiden Finali sind große Würfe, vor allem das Ende des zweiten Aktes steigert sich zu einem dramatischen Szenenkomplex, wie er jeder italienischen Oper der Epoche gut angestanden hätte. Doch die musikalischen Entwicklungen sind vorhersehbar und in der zweiten Hälfte scheint Bizet irgendwie die Lust verloren zu haben. Aber das kann man dem Mittzwanziger Bizet, der keinen rechten Zugang zum Meyerbeer-Genre fand, kaum vorwerfen. Auch mit Les pêcheurs de perles, La jolie fille de Perth und Djamileh begab er sich nach Ivan IV. in exotische Regionen, bevor er mit dem ihm genauso fremden Spanien der Carmen bleibenden Erfolg hatte. Alle eventuellen Vorbehalte gegenüber dem Werk fegen Philippe Bach und die Meininger Hofkapelle am Premierenabend hinweg. Zusammen mit den nicht nur bei den Hochzeitsgesängen zu Beginn des dritten Aktes exzellenten Chören des Staatstheaters Meiningen kosten sie sowohl die feinen instrumentalen Delikatessen wie die pauschale Wucht dieser Grand opéra aus.

Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl

Die Aufführung scheint mir besser gelungen als Bizets Kokettieren mit der Grand opéra. Intensive Episodenrollen liefern dazu Tamta Tarielashvili als aus dem Nonnenkloster erdig raunende Zarenschwester Olga, Andreas Kalmbach als russischer Offizier sowie Sara-Maria Saalmann als soubrettenmunterer Bulgare. Packend entworfen ist die Figur des Temrouk, dessen Hilferuf „Laissze-moi ma fille“ sich als eindringliche Melodie über dem ersten großen Ensemble wölbt. Paul Gay, der die Partie bereits 2002 in Paris unter Schønwandt gesungen hatte, bringt die Wucht seines erzenen Bassbaritons auch in Meinigen großartig zur Geltung, überragt im wahrsten Sinn des Wortes die Ensembles, singt mit eindringlicher Prägnanz und macht den mit alttestamentarischer Würde ausgestatteten Temrouk fast zur Hauptfigur; auf jeden Fall ist er der gewaltige Gegenspieler des Zaren. Vom jungen Liebhaber bis zum resignierenden, langsam im Wahn endenden Herrscher kann Tomasz Wija über die fünf Akte ein darstellerisch packendes Porträt vom körperlichen und psychischen Verfall des Zaren entwerfen und die erlittenen Blessuren mit seinem kantigen Bass nachzeichnen. Mercedes Arcuri sang die Marie mit zartem Vibrato, nicht unangenehm süß-säuerlichem Timbre und schöner Virtuosität in ihrer großen Arie im vierten Akt. Die darauf folgende Arie ihres als Selbstmordattentäter in den Palast eindringenden Bruders Igor, der von den heimatlichen Bergen, von Mutter und Schwester schwärmt, klingt wie Micaelas Gruß von der Mutter. Alex Kim singt das mit jungheldischem Willen, zu viel Überdruck und unebener Linie. Im anschließenden, zwar subtilen, aber auch länglichen Duett sind beider Stimmen nur noch erschöpft. Doch dann geht es gegen Ende des 4. Aktes auch Schlag auf Schlag. Der Kreml brennt, Ivan verfällt dem Wahnsinn, der von Shin Tamiguchi mit vornehmer Durchtriebenheit gesungene Bojar Yorloff verkündet den angeblichen Tod des Zaren. Doch Ivan kann sich aus dem Kerker befreien, schwingt sich zu alter Kraft auf, bestraft den Verräter und rettet Marie und ihren Bruder vor der drohenden Hinrichtung. Fortsetzung folgt in Boris Godunow. In schlicht einprägsamen Bildern, die manchmal suggestive Kraft entwickeln,  hatte Hinrich Horstkotte diesen Ivan IV.  wie als Vorgriff auf Mussorgskys Drama in einer Mischung aus Kultur- und Religionskrieg und persönlichen Schicksalen entworfen, von der Schüssel, in der Ivan seine Blut getränkten Hände reinigt, der langen Tafel, auf der der junge Bulgare den Übergriffen der Soldaten ausgesetzt ist, der Krönung, bei der der Zar mit Gold überschüttet wird, bis zu den stillen Bildern in der Kammer der Marie mit dem Baldachin-Bett und den Schlussbildern mit der Niederschlagung der Palastrevolution und dem riesigen weißen Tuch, das sich, gelb und blau angestrahlt, über die Massen senkt. Großer Jubel deshalb für den Regisseur, der selbst die Ausstattung besorgt hatte, noch größerer Jubel für alle Mitwirkenden (.24.2.23) Rolf Fath

.

.

Vaincre mourir:  Theater Erfurt: Rossinis französische Tragédie lyrique Le Siège de Corinth Mehr als ein One-Night-Stand. Pamyra hat sich in den Mann, der sich Almanzor nennt, verliebt. Leidenschaftlich vergnügt sie sich mit ihm im Bett. Lustvoll und elegant tastet die Kamera die Dessous und Körper ab. Es bleibt während der Ouverture noch genügend Zeit, um vom Videodesign von Mayke Hegger und Lukas Eicher zu den Schrecken einer kriegerischen Belagerung zu schwenken. Ein Mann wiegt den blutenden Körper eines Kindes auf seinen Knien, Menschen, teilweise mit Gasmasken, irren verwirrt durch die bedrohte Stadt und die Scharen der Flüchtenden – die in großer Zahl herbeigeströmte Bürgerstatisterie – kauern sich verängstigt um ihren Anführer Cléomène. Korinth wird vom türkischen Sultan Mahomet II. und seinen Truppen belagert. „Vaincre ou mourir“, „Siegen oder sterben“. Die Devise wird auf der Rückwand ausgegeben und in den Momenten der Erhebung gegen die Feinde neu entrollt, bevor sie von den Belagerern durchbrochen und ein Schmerzensmann aufgehängt wird.  Mohamet selbst erscheint. Ein Schock. Pamyra, die sich in Erinnerung an die Liebesnacht gerade noch weigerte, den jungen griechischen Krieger Néoclès zu heiraten und auf Wunsch ihres Vaters Cléomène sich lieber das Leben nehmen soll als zur Sklavin zu werden, erkennt im feindlichen Anführer ihren Geliebten Almanzor.

Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff

In Paris, wo Gioachino Rossinis Oper über die Belagerung von Korinth  im Oktober 1826 uraufgeführt wurde, war klar, für wen die Herzen der Bevölkerung schlugen. Pamyra entscheidet sich für ihr Volk, entsagt ihrer Liebe zu Mahomet und lässt sich vom Vater mit Néoclès verheiraten. Ein letztes Gebet, „Juste ciel“, dann ersticht sie sich vor den Augen Mahomets, dessen Hand sie immer noch zärtlich umfasst. Das große patriotische Gemälde, mit dem Rossini und seine Autoren quasi Tagespolitik kommentierten und Partei für die Griechen ergriffen, entfaltet auch bei seiner Aufführung am Theater Erfurt seine Wirkung. Mit Pathos und flammender Inbrunst beschwört der Priester Hiéros die Vision eines freien Griechenlands. Die Chöre strömen in den Zuschauerraum und rücken den Besuchern mit ihren patriotischen Kriegsparolen „Nous verrons dans les champs de la gloire“ dicht auf die Pelle. Dem Eindruck kann man sich nicht entziehen. Der Inszenierung von Markus Dietz fehlt es nicht an beklemmenden Kriegsszenarien, aber sie lässt im dezent und elegant ausgeleuchteten zweiten Akt während den Vorbereitungen zu Hochzeit Pamyras mit Mahomet mit den ebenso dezent und eleganten schwarz-goldenen Kostümen Raum für Sinnlichkeit und die immer noch knisternde erotische Anziehung zwischen Mahomet und Pamyra. Sachter Goldregen. Dann wieder Krieg. Mahomets Auto ist ausgebrannt, Feuer überall, auf der Drehbühne (Ines Nadler) dreht sich Pamyra bei ihrem Gebet wie im Taumel.

Mit dem Siège de Corinth hatte Rossini geschickt die Gefühle seines Publikums erkannt. „Paris“, so die Dramaturgie, „war ein aktives Zentrum der Unterstützung des griechischen Aufstands und die politische Bedeutung des Werkes war offensichtlich. Es handelte sich wahrscheinlich um eine der ersten Opern, die sich direkt mit der aktuellen Geschichte auseinandersetzte“. Zunächst ging es wahrscheinlich darum, die Tore der Académie Royal zu stürmen, wo er eine seiner bereits in Italien aufgeführten Opern zu einer französischen Tragédie-lyrique um- und neuschrieb. Als sich Rossini 1824 in Paris niederließ, um mit Ferdinando Paër das Théatre Italien zu leiten, an dem er im folgenden Jahr Charles X. und zu dessen Krönung in Reims mit Il viaggio a Reims seine Referenz erwies, streckte er rasch seine Fühler nach der Académie Royal de Musique aus. Nicht ungeschickt folgte er dem Beispiel Sacchinis, der für seinen Einstand in Paris einst zwei seiner italienischen Opern umgearbeitet hatte. Rossini wählte Maometto II. und Mosè in Egitto aus. Auf diese Weise wurde aus dem in Neapel wenig erfolgreich uraufgeführten Dramma per musica in zwei Akten Maometto II. die dreiaktige Tragédie lyrique Le siege de Corinthe. Die Handlung wurde von der unter venezianischer Herrschaft stehenden Insel Negroponte des Jahres 1470 in das Korinth des Jahres 1458 verlegt. Der Eroberer ist der gleiche: Sultan Mehmed II. bzw. Maometto II. oder Mahomet II., der nach dem Fall von Konstantinopel und dem Ende des Byzantinischen Reiches seinen Machtbereich sukzessive erweiterte. Luigi Balocchi und Alexandre Soumet übersetzten und passten das ursprüngliche Maometto-Libretto an und schufen neue Teile. Die Verlegung nach Korinth sicherte der 1826 uraufgeführten Oper zudem plötzlich politische Relevanz, war doch Lord Byron zwei Jahre zuvor im Freiheitskampf für die Griechen in der Stadt Messolongi gefallen, die sich heftig dem Osmanischen Reich entgegenstemmte. Begeisterung für das Griechentum, doch vor allem Rossinis Einbettung des Belcantos in die rezitativisch durchgliederten Großformen der Tragédie lyrique garantierten der ersten französischen Oper Rossinis, die sich nach der glänzenden Uraufführung rund zwanzig Jahre auf dem Spielplan des Hauses hielt, ihren Erfolg. Die unmittelbar anschließend auch in Deutschland aufgeführte Oper scheint jedoch hierzulande in den letzten Jahrzehnten nicht gespielt worden zu sein.

Am Theater Erfurt kam jetzt die neue wissenschaftlich-kritische Neuausgabe von Damien Colas zur Aufführung (Besuchte Aufführung am 25.2.23), deren Entstehung durch die schlechte Quellenlage erschwert wurde, da kein Autograph existiert und ab der ersten Aufführung Striche, Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen wurden. Philip Gosset nannte Siege denn auch „the impossible opera“.

Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff

Erstmals erklungen war Colas‘ Edition 2017 beim Rossini-Festival in Pesaro unter Roberto Abbado (mit Luca Pisaroni als Mahomet II. und Nino Machaidze als Pamyra). Der Eindruck war in Erfurt am Ende ein starker, was sich zu Beginn der Aufführung so nicht abzeichnete. Der Klang der weit um den Orchestergraben formierten Chöre wirkte doch etwas getrübt und gestreut, bevor sich der Chor des Theaters Erfurt zu einer mächtigen Leistung sammelte. Stärker als in anderen Aufführungen merkte man dann, dass die Belagerung vor allem eine Choroper ist. Anfangs ließ Yannis Pouspourikas den Puls der Musik zu sachte schlagen, das Philharmonischen Orchesters Erfurt spielte eckig, eher aggressiv und hart als leidenschaftlich, bevor sich spätestens im dritten Akt nach der Pause ein gerundeter, feierlich breiter Klang einstellte und die zunächst anämische Aufführung an Feuer gewann, was nicht an den Flammen in den Metallkesseln lag. Wohl eher an Rossinis Schreibweise und seiner Kunst, Szenenblöcke zu hinreißender Wirkung zu bringen und in der Szene des Priesters noch eine Melodie von ausgesuchter Schönheit zu erfinden. Mit seinem wohlig runden Bassbariton war Arturo Espinosa als Mahomet ein softer Macho, mehr Liebhaber als Kriegs-Manager, mit schöner Beweglichkeit, reicher Farbgebung und eindringlicher Phrasierung. Keine typischen Rossini-Tenöre sind Luc Robert und Brett Sprague. Der Kanadier Luc Robert sang den Cléomène mit einem Spintotenor von erstaunlicher Wandlungsfähigkeit, nicht ganz ungefährdet, aber markant. Als Feinripp-Krieger Néoclès gefiel der Amerikaner Brett Sprague mit einem schön durchgebildeten lyrischen Tenor und fein angebundenen Höhen. Beide steigerten das große Terzett mit Pamyra im 3. Akt, die Hochzeitszene, zu einem musikalischen Höhepunkt der Aufführung. Der leichte lyrische Sopran von Candela Gotelli, etwas farblos und flach, kann die Partie der Pamyra noch nicht ausschöpfen, aber die Argentinierin agierte mit Feuer und Leidenschaft. Edel und elegant der helle Bass von Emanuel Jessel als Hiéros. Die Vertrauten der Pamyra, des Cléomène und Mahomet gaben Valeria Mudra, Jörg Rathmann und Tobias Schäfer (25.2.23).    Rolf Fath

..

.Uraufführung in Ulm: „Iseut“. Dreimal flüstert Tristan den Namen der Geliebten „mit den letzten Atemzügen“. Dann stirbt er und „die in der Ferne läutenden Glocken mischen sich unter die Stimmen“, die vom Ort ewiger Liebe künden, „wo alle Schönheit aufblüht“, während sich Iseut stumm zu Tristan legt und stirbt. Kein Liebestod. Natürlich nicht. „Nach den drei ›Iseut!‹ löst sich die Seele von der Hülle und befindet sich sofort inmitten der heiteren Regionen, und dann beginnt das Konzert der Oboen…. Es ist alles in allem ein herrliches, endloses, spirituelles Fest, das ich dem Orchester mit einer Glocken-Sinfonie überantworten möchte,“ beschreibt Charles Tournemire das Ende seiner Légende de Tristan. Charles Tournemires 1925/26 komponierte und ursprünglich zur Aufführung an der Pariser Opéra bestimmte La Légende de Tristan ist ein Gegenentwurf zu Wagners Tristan und Isolde. Sublim in Ausdruck, Musik und Gestik. Keine überbordende Liebesnacht-Leidenschaft, sondern als Eingeständnis, dass die Trennung die letzte Prüfung ihrer Liebe sei, Iseuts Rückzug in die Ehe und Tristans Flucht in Einsamkeit und schließlich sein Tod. Das Theater Ulm holte mit der Uraufführung von Tournemires La Légende de Tristan jetzt ein Versäumnis nach, das auch eine französische Bühne inspirieren sollte. Der 1870 in Bordeaux geborene und im Alter von 69 Jahren in Arcachon gestorbene Charles Tournemire griff dazu auf den im Jahr 1900 erschienen Roman de Tristan et Iseut zurück, in dem der Romanist und Mittelalter-Spezialist Joseph Bédier die alten französischen und englischen Quellen neu ordnete: Irland wird von einem Drachen beherrscht. Ein Fremder taucht auf, bezwingt den Drachen und darf als Belohnung Iseut, die zu spät in ihm den Mörder ihres Onkels Morholt erkennt, zur Braut nehmen. Tristan tut das nicht für sich selbst, sondern will Iseut seinem König Marc von Cornwall als Braut zuführen. Um für eine glückliche Ehe zu sorgen, hat die Gesellschafterin Brangien einen Liebestrank vorbereitet, den Iseut und Tristan ahnungslos trinken und in Leidenschaft zu einander entbrennen. Der König bemerkt die Vertrautheit der beiden und wird durch den Zwerg Frocin in seinem Misstrauen bestärkt. Bei ihrem Stelldichein merken Iseut und Tristan, dass sie vom König und dem Zwerg belauscht werden und verhalten sich zurückhaltend, worauf Marc von der Treue Tristans überzeugt ist. Die Liebenden entfliehen. Schlafend werden sie von dem König entdeckt, der weiterhin von Tristans Treue überzeugt ist, als er Tristans trennendes Schwert zwischen den beiden erblickt. Heimlich vertauscht er Tristans Schwert mit seinem eigenen. Tristan erkennt die Botschaft und drängt Iseut, zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Tristan zieht in die Welt, wird aber von Sehnsucht nach Iseut verzehrt und kehrt in der Verkleidung eines Narren an den Hofs Marcs zurück, wo die Liebenden endgültig Abschied von einander nehmen. Im achten und letzten Bild findet Tristans Seele, wie es in der Inhaltsangabe heißt, im Jenseits ihren Frieden.

Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk

Basierend auf Tournemires Szenarium verfasste ein anderer Mediävist, der Sorbonne-Professor Albert Pauphilet, Anfang der 1920er Jahre das Libretto, das in acht Bildern Tristans Leidensweg entwirft. An dieser Zeitenwende nach dem Ersten Weltkrieg setzt auch die handfeste, manchmal überdeutliche Inszenierung des Ulmer Intendanten Kay Metzger an, der die Wiederentdeckung nachdrücklich und verdienstvollerweise betrieben hatte. In einem Salon mit üppig bestückten Bücherregalen kümmern sich Krankenschwestern um die Kriegsverletzten, schart sich die adelige Familie um einen der ihren, den toten Onkel Morholt, und versucht die Dienerschar das kriegerische Geschehen auszublenden. Ein gegnerischer Offizier stürmt herein, gewinnt sich Ansehen durch seinen tapferen Kriegseinsatz, was durch Videoeinblendungen dramatischer Kriegsbilder unterfüttert wird, und erhält die Tochter des Hauses (Ausstattung: Michael Heinrich). Im unveränderten Ambiente trifft Iseut ihre Hochzeitsvorbereitungen, während Tristan sich mit Rasiermesser und -Schaum Kriegserlebnisse aus dem Gesicht schabt. Bald ist sie eine anständige Hausfrau mit züchtiger Hochsteckfrisur, die sich im vorgeblichen Stelldichein, das von dem hinter dem Weihnachtsbaum versteckten Marc beäugt wird, zurückhaltend gibt. Erst, als Iseut und Tristan in den Wald fliehen, geben sie den Salon für ein enges „Bohème“-Dachzimmerchen auf, in dem sie an der Nähmaschine werkelt und ihm nichts anderes übrigbleibt, als auf dem Bett zu lagern. Nach ihrer Trennung kehrt Tristan als Narr verkleidet während eines Maskenfestes nochmals in den Salon zurück, um für immer Abschied von Iseut zu nehmen. Als er zuletzt sterbend auf einer Bahre hereingetragen wird, ist er für Krankenschwester Iseut nur noch eine Schimäre ihrer einstigen Liebe. Das vollzieht sich musikalisch und szenisch sehr flüssig, ruhig und in einer nachtwandlerischen Folgerichtigkeit, als seien Iseut und Tristan Kinder von Pelléas et Melisande, die Pauphilets altertümlich steifen Text Silbe für Silbe singdeklamieren, ohne Verzierung und Ausschmückung, ohne Wiederholung, fast spröde und skelettiert, wodurch der viele Text in weniger als 2 ½ Stunden untergebracht werden kann.

Die spätimpressionistischen Tonvaleurs erhitzen sich nur ganz kurz im „Liebesduett“ am Ende des zweiten Aktes, wo sich Iseut zum vollen Bekenntnis „Je t’aime“ aufschwingt und An de Ridders schöner Sopran seine üppige Mittellage entfalten kann, während Markus Franckes charaktervoll schlanker Spezialtenor vor allem den entrückten Tristan des dritten Akts, der auf dem „Schmerzenfelsen“ von den „Tränen der Wellen und des Nebels“ phantasiert oder im „Der wahnsinnige Tristan“ überschriebenen vorletzten Bild mit sarkastischen Untertönen die Geschichte rekapituliert, an starkem Ausdruck gewinnt. Noble Haltung in den langen Gesangsphrasen und der klaren Textbehandlung zeichnen Dae-Hee Shins Roi Marc aus, während der Spieltenor Joshua Spink als Zwerg Frocin zu ätzendem Sprechen und grellen Sprechgesang angehalten ist, I Chiao Shin als Brangien erdig verglühende Mezzotöne beisteuert und Chor und Extrachor eine mythisch, neoklassizistisch eindringlichen Haltung einnehmen. Für Tournemires Musik finden sich schwer Vergleiche. Oder ganz viele, nicht nur von Debussy bis Strawinsky, von Gregorianik bis Impressionismus. Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm und GMD Felix Bender reizen sowohl die kammermusikalische Intimität der Partitur aus wie die atmosphärisch bezwingende, gegen Ende rauschhaft steigernde Intensität der Zwischenspiele, das Spiel mit altertümlichen Formen und neuer Anverwandlung, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg „Les Six“ proklamierten, und den Wechsel aus herben Signalen und spielerischer Jagd-Szenerie, entrückter Klangmalerei und spröder Wort-Ton-Behandlung. Warum die Oper nicht aufgeführt wurde, ist nicht bekannt. Klingen in ihr doch nochmals der Französische Wagnérisme und die Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen und Legenden nach, wie man sie in Reyers Sigurd von 1884, Lalos Roi d’Ys von 1888, Magnards Guercoeur von 1901 (erst 1931 uraufgeführt), Chaussons Roi Arthus von 1903 und auch in Hulda und Fervaal von Tournemires Lehrern César Franck und Vincent d’Indy sowie in den symbolistischen Maeterlinck-Märchen von Debussy (Pelléas et Mélisande) und Dukas (Ariane et Barbe-bleue) findet. Tournemire soll kein liebeswürdiger Zeitgenosse gewesen sein. Das allein kann kein Grund gewesen sein.

Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk

Tournemire hatte bei Franck und D’Indy sowie Charles Widor studiert, wirkte ab 1898 bis zu seinem Tod als direkter Nachfolger von Gabriel Pierné als Organist an der Pariser Kirche Sainte Clotilde Kirche, deren Organistin auch Franck gewesen war, und lehrte ab 1919 als Professor am Conservatoire. Als Organist und Orgelimprovisator wurde er bewundert:  Eingeweihten ist er heute als Komponist gewaltiger Orgelwerke, darunter sein Hauptwerk L’Orgue Mystique, zu denen er sich in der Abgeschiedenheit auf der Insel Ouessant vor der bretonischen Küste inspirieren ließ, und acht Orchestersinfonien bekannt – zur Vorbereitung auf die bereits für Mai 2020 zum 150. Geburtstag des Komponisten geplante Uraufführung hatte des Ulmer Philharmonische Orchester 2019 seine dritte Sinfonie „Moscou 1913“ gespielt. Für die posthume Uraufführung ließ das Theater eigens von Michael Weiger eine Edition erstellen, der die Musik so zu beschreiben versucht, „Vielleicht könnte man seine Musik als frühen ›französischen Expressionismus‹ bezeichnen. Ähnlich wie z.B. Max Reger und Richard Strauss in Deutschland bildet Tournemire farbige Akkorde, die sich nicht mehr unbedingt auflösen, er verwendet mutig Dissonanzen, die uns einmal dramatisch schroff und ein andermal ›modern‹ erscheinen. Ähnlich wie diese geht er harmonische ›Wagnisse‹ ein, er experimentiert in seiner Klangsprache, ohne wirklich atonal zu komponieren. Im Gegensatz zu den weicheren idyllischen Akkordfärbungen des Impressionismus erscheinen seine Klänge eher nüchterner und trockener, er sucht nach Mitteln, um noch zu übertreffen, was romantische ›Ideale‹ erlauben, und wählt dem Zeitgeist entsprechend als sein Instrument ein hochdimensioniertes expressives Sinfonieorchester. Im Graben der Weltpremiere in Ulm findet sich ein umfangreiches Instrumentarium wie z.B. 3 Fagotte, Sarrusophon, 4 Posaunen, Tuba, 2 Harfen, Celesta, Baritonoboe, Basstrompete, Tamtam und Glocken, um nur einige hervorzuheben.“   Rolf Fath

.

.

Massenet in Lyon: Eigentlich müsste die Oper natürlich Salomé nach ihrer Hauptrolle heißen, denn Mutter Herodiade hat nicht viel Solistisches zu tun und wirkt eher in den Ensembles und Duetten. So erscheint es merkwürdig und nur aus der Genesis des Werkes erklärbar, dass Massenet sein Jerusalem-Drama nach der Mutter und nicht nach der Tochter benannte.

Die konzertante Aufführung dieser Hérodiade nun an der Opéra National de Lyon im November 2022  genussvoll erleben zu können, ohne die Augen schließen zu müssen und Angst vor den Grauenhaftigkeiten der Regie haben zu müssen, wie es kürzlich in der Bastille der Fall war, ließ den Fan nach Lyon reisen Es überrascht und Heutige einmal mehr, dass das Libretto von Paul Milliet und Henri Grémont nach der Novelle Hérodias (1877) von Gustave Flaubert genug von dem Riskanten aufweist, was bei den Aufführungen in Lyon 1885-1886 einen Skandal auslöste und dass die Oper bis 1926 von den katholischen Behörden Frankreichs auf den Index gesetzt wurde. Naja, was könnte schließlich für damalige Zuschauer unanständiger sein, als sich einen Wüstenrufer Johannes vorzustellen, der kurz vor seinem Märtyrer-Tod plötzlich von der Flamme des sinnlichen Verlangens durchdrungen wird („wet dreams“ nannten das meine amerikanischen Kollegen respektlos), wenn er sich an seine junge, exaltierte Verehrerin erinnert. Und wie ist es mit den erotischen Träumereien des Herodes, die mit einem üppig satinierten Saxophon verziert sind, und dessen „Vision fugitive“ ein einsames Solo  auf der Couch suggeriert? Im römisch besetzten Jerusalem sucht Rabenmutter Herodias Rache an ihrer Rivalin Salome, die niemand anderes ist als die Tochter, die sie nach ihrer Geburt weggegeben hat und die Herodes mit seiner Leidenschaft verfolgt. Während Salome, unter dem Zauber der Stimme des Propheten Johannes, diesem ihre reine und aufrichtige Liebe anbietet. Die er angesichts seiner göttlichen Mission ablehnen muss (und die ihm dennoch, wie Herodes, heiße Visionen bereiten). Dies ist die klassische Dynamik von Racines Andromaque, gewürzt mit einem Quentchen Inzests und mit einer verwirrten Salome, die sich selbst opfert, um Johannes in die Unsterblichkeit zu folgen.

Zurück zum Konzert: Die Diktion der Solisten in Lyon war durch die weitgehend franco-kanadische Allianz der Mitwirkenden gesichert, denn Nicole Car als Salomé (Vehikel solcher Primadonnen wie Sanderson und Sutherland)  – unbestritten als Star der Aufführung – ist Kanadierin und trug den Abend mit ihrer kompetenten, höhensicheren Deutung der Partie. Die Stimme ist merkwürdig kehlig im mittleren und tiefen Bereich bei einer stupenden Höhe, die jedoch eine ganz andere Farbe zeigt als der Rest der Stimme. Sie scheute sich nicht vor ein paar überraschenden Brusttönen und blieb für mich merkwürdig distanziert, kühl in ihrer Verehrung des Propheten. Dieser war bei Jean-François Borras in unruhiger Kehle, jung, zerquält, gut angelegt und erfreulich, mir zu wenig viril und heroisch, kein Rufer in der Wüste, sondern ein eleganter White-Colar-Vertreter seiner Kirche im schwarzen Sekten-Anzug. Als Hérode enttäuschte mich Etienne Dupuy mit recht locker werdendem und recht hellem Bariton eher nur mittlerer Größe, der Vorgänger wie Robert Massard nicht vergessen machte. Wie sein Tenorkollege war er mir zu glatt in der Aussage, zu „normal“ und zu wenig royal, wenngleich natürlich sein „Vision fugitive“ als Showpiece berechtigten und langanhaltenden Beifall nach sich zog. Als Phanuel zeigte sich der in operalounge.de kürzlich wegen seines herausragenden Robert le Diable so gelobte Nicholas Courjol bei schütterem Bass-Stimme-Zustand, namentlich in der Höhe – war´s eine Abendverfassung? Die beim Palazzetto geplante Aufnahme eben diesen events wird´s zeigen. Aber durchgehend stellte ich beim Hören im Saal eine doch störende, unangenehme Unruhe in den Stimmen fest, ein über ein gesundes Vibrato hinausgehendes, zu weites vokales Schwingen, sowohl bei der Sopranistin unter Druck wie vor allem beim Bariton und dem wirklich nicht sehr prophetisch klingen Tenor.

Die kleineren Rollen wurden von Mitgliedern des Lyoner Opernstudios gegeben (Pawel Trojak, Pete Thanapat, Robert Lewis, Giulia Scopelliti) und hinterließen beste Eindrücke.

Der dicke Schmutzfleck auf dem im ganzen ordentlichen Gemälde war die Leistung bzw. Wirkung der Titelvertreterin, Yekaterina Semyonchuk, die ihre Hérodiade mit der Schankwirtin im Boris Godunow verwechselte. Bereits als Didon in der Troyens an der Bastille fiel sie durch ihren qualligen, amorphen, brustigen und zutiefst unfranzösischen  Ton auf, und ihre Aussprache kann nicht einmal beim Goetheinstitut in Perm gelernt worden sein. Ein Totalausfall, der an Vorgängerinnen wie Elena Obraztsova (als Massenets Charlotte zum Beisipiel) erinnert, brrrrr. Was für eine Wahl für dieses Konzert und die nachfolgende Aufnahme.

Dirigent und Chef des fabelhaften Klangkörper der Opéra National de Lyon ist Daniele Rustioni, ein junger Mann aus Italien. Mir war er zu flott, zu unsinnlich, zu fetzig, vielleicht zu „modern“ – und ein Vergleich mit seinem älteren Kollegen Michel Plasson (EMI) ließ dessen Klangbehandlung, dessen Üppigkeit der Streicher und der Holzbläser überzeugender scheinen (und wo Denyce Graces als Hérodiade ihre russische Kollegin mit Verachtung hätte strafen können, auch sprachlich). Auch die ältere Aufnahme des Pariser Radios von 1974 unter David Lloyd-Jones mit der wunderbaren Nadine Denize in der Titelpartie zeigt größeren Raum für bauchtanzschwingende Sinnlichkeit. Die neue Aufnahme beim Palazzetto wird es da schwerer haben, zumal als Triblette des Bekannten. Man fragt sich eh, warum nun eine neue, wenn die EMI-Einspielung unter Michel Plasson doch eine so solide ist. Die Götter in Venedig werden´s wissen. Herbert Schneider

.

In Gießen: Asolo, unweit des Grappa-Zentrums Bassano nel Grappa mit seiner eindrucksvollen Holzbrücke nach einem Entwurf Palladios, gehört zweifellos zu den schönsten Orten Italiens. Hier residierte die ehemalige Königin von Zypern zwanzig Jahre bis zu ihrem Tod 1510 mit ihrem Hofstaat. Rang und Tittel einer Königin durfte Caterina Cornaro behalten, umgeben von Dichtern, Gelehrten und Künstlern, wurde sie damit für den Verlust ihrer Macht entschädigt: ein kostbares Exil und Leben in goldenen Käfig unter Aufsicht der Republik Venedig, die sie als Spielball in ihrem Machtspiel um Zypern eingesetzt hatte.

Wer war diese aus dem alten venezianischen Patriziat der Corner, die sich mit Palästen am Canal Grande verewigten und als Dogen in die Geschichte Venedigs einschrieben, stammende Caterina, die Gentile Bellini und Tizian malten und die zum Gegenstand von fünf Opern wurde? Am Stadttheater Gießen, das Gaetano Donizettis letzte zu seinen Lebzeiten uraufgeführte Oper Caterina Cornaro erstmals auf eine deutsche Bühne brachte, betreibt Regisseurin Anna Drescher ein bisschen Volkshochschule und lässt vor der Introduzione eine Stimme aus dem Off locker über Caterina plaudern: Sie war eine gute Partie, da ihre Familie u.a. mit dem Handel von Zucker reich geworden war. Im Alter von 14 Jahren wurde sie in Venedig in dessen Abwesenheit mit Jakob II. von Lusignan, dem König von Zypern, verheiratet. Handelsinteressen und Sicherung des Thronanspruchs gingen eine vorteilhafte Verbindung ein. Erst 1472 segelte Caterina nach Zypern, wo sie abermals mit Jakob II. verheiratet wurde. Bald starb ihr Gatte, ebenso der Thronfolger. Caterina wurde Königin von Zypern, doch bald von der Republik zur Abdankung gezwungen. Das dann eingeblendete Porträt Bellinis zeigt keine schöne Frau.

Und damit springt die Aufführung endlich in die Oper, die dort beginnt, wo andere enden, nämlich mit den Hochzeitsvorbereitungen und Freudenchören. Doch noch bevor Caterina ihre Hand dem jungen Franzosen Gerardo reichen kann, wird Vater Andrea Cornaro vom Vorhaben der Republik unterrichtet: Gerardo werde ermordet, wenn Caterina nicht Lusignano ehelicht. Die bunte Feier mit Luftballons und ausgelassenen Partygästen hatte begonnen, eine junge Frau vollführte auf der Trampolin-Tafel unentwegt Luftsprünge, was ein bisschen vom Caterina-Gerardo-Duett „Tu l’amor mio, tu l’iride“ ablenkt, das überdeutlich an Norinas und Ernestos „Tornami a dir“-Duett angelehnt ist und daran erinnert, dass Donizetti seine im Herbst 1842 begonnene Arbeit an Caterina Cornaro unterbrach, um Don Pasquale zu schreiben; zudem arbeitete er noch für Wien an Maria de Rohan und Paris an Dom Sébastien.

Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst

Die Stimmung kippt, als der wackere Tomi Wendt, der in der Basspartie des Cornaro nicht gut aufgehoben ist und schütter klingt, die Hochzeit abbläst, worauf eine heftige Tortenschlacht entsteht und er mit Küchenstücken beworfen wird. Als Sprachrohr der Republik, das durchaus eigene Interessen vertritt, ist der als schwarzer Drahtzieher mit Gothic Sidecut mephistophelisch böse durch die Szenen staksende und mit charaktervollem Bass jonglierende Kanadier Clarke Ruth als Mocenigo eine Wucht. Caterina willigt in die Ehe mit Lusignano ein und erklärt Gerardo, ihn nicht mehr zu lieben. Ende des in Venedig spielenden Prologs. Die folgenden beiden Akte spielen auf Zypern.

Nicht mal zwei Stunden braucht Donizetti für die im Januar 1844 in seiner Abwesenheit in Neapel uraufgeführte Oper, wo sie rund 130 Jahre später von Leyla Gencer wieder dem Vergessen entrissen wurde. Den Text schrieb ihm Giacomo Sacchèro, der, wie auch Lachner, Balfe und Pacini, dazu auf das Libretto von Jules-Henri Vernay de Saint-Georges für Halévys La reine de Chypre von 1841 zurückgriff. Alles geschieht bei Donizetti in größter Gedrängtheit, knapp und feurig, ohne größere Verzierungen im Gesang und in der Handlung; im Prolog lässt sich Caterina zwar noch von der Barkarole der Gondoliere verzaubern, aber ansonsten sind die Chöre von martialischer Wucht, sowohl die gedrungenen, blutbeschmierten Mörder der Serenissima („Core, e pugnale!“) wie die erschreckten Frauen im zweiten Akt („Oh ciel! Che tumulto! Che fieri lamenti!“), die damit auf das zur Verteidigung Lusignanos angestimmte und von „Guerra, guerra!“ und „Morte, Morte!“ durchsetzte Kriegsgeheul von Gerardo und seinen Soldaten reagieren. Die Arien sind relativ schmucklos, nicht ganz ohne Reiz – etwa Caterinas Cavatina und ihre Preghiera, Lusignanos Klage über die Kälte seiner Frau, in der Grga Peroš mit körnig ausladendem Edelmaß wie der ebenso frustrierte Luna klingt, oder Gerardos Cabaletta-Ruf zu den Waffen, der den Manrico vorwegzunehmen scheint, aber oft auch etwas blutleer und leidenschaftslos und wie aus der dramatischen Situation entrückt. Lusignano wehrt einen Angriff auf Gerardo ab. Beide erkennen sich als Landsleute und kommen sich, nachdem Gerardo gestanden hat, dass er sich am König für den Verlust Caterinas rächen will und Lusignano sich als ebenjener König zu erkennen gibt und über seine Ehe klagt, derart nahe, dass Drescher die Szene mit innigen Berührungen und einem Kuss enden lässt. Selbstlos und ungeachtet der Etikette lässt der König Gerardo mit Caterina allein. Keine alte Liebe brandet auf, stattdessen Entsagung, wie bei Elisabetta und Carlos.

Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst

Nach dem Prolog baut Drescher auf starke Bilder (Tatjana Ivschina), die in ihrer Düsterheit durchaus suggestive Kraft besitzen, verbannt Caterina in eine Vitrine, von wo aus sie im historischen Gewand den Ereignissen zuschaut und selten zu Beteiligten wird. Erst am Ende, nachdem Lusignano tödlich getroffen ist und von Gerardo und Caterina Abschied genommen hat, reißt sie in ihrer Schlußcabaletta „Non più affanni“ („Schluss mit den Ängsten“) die Macht an sich. Hier entlockt die uruguayische Sopranistin Julia Araújo ihrem lyrisch verschatteten Sopran Farben und dramatische Akzente, die der von Donizetti nicht überstark gezeichneten Titelgestalt Profil verleihen. Offenbar immer noch von einer Erkältung gezeichnet, die ihn spätestens in der Begegnung mit seiner einstigen Geliebten einholt, zeigte Youngggi Moses Do als Gerardo dennoch mit flüssigem Ton und elegant verblendeter Höhe einen bemerkenswert schön timbrierten Tenor von bester Donizetti-Qualität. Gießens neuer Kapellmeister Vladimir Yaskorski machte die szenische deutsche Erstaufführung der Caterina Cornaro durch seine straffe und befeuernde Leitung der orchestralen Attacken zu einem musikalischen Genuss, mit dem Gießens neue Intendantin Simone Sterr zugleich Hoffnungen auf ähnliche (Belcanto)-Entdeckungen weckt, wie sie ihrer Vorgängerin Cathérine Miville u.a. mit Werken von Pacini, Arrieta, aber auch Gomes, Giordano und anderen so überzeugend gelungen waren.   Rolf Fath

.

Festivals 2024

..

Zehn Jahre Donizetti Opera: Das Festival in Bergamo feiert mit Roberto Devereux, Zoraida di Granata und Don Pasquale. Bergamos Donizetti Festival feiert sein zehnjähriges Bestehen. Unter neuer Zeitrechnung und mit dem Titel Donizetti Opera. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man sich in Bergamo unter dem Titel Donizetti Renaissance der unbekannten Werke Donizettis annehmen, ab 1982 nannte sich ein ähnliches Unterfangen Donizetti e il suo tempo und ich kann mich gut an Raritäten wie Sancia di Castiglia und Gemma di Vergy erinnern.

Anders als alle Vorgänger versucht Donizetti Opera neben den philologisch skrupulösen Editionen von Donizettis Werken die gesellschaftliche Relevanz des Komponisten, seine Modernität und Aufgeschlossenheit zu betonen, sowie, laut des künstlerischen Leiters Francesco Micheli, „Donizettis revolutionäre Theatralik mit der Gegenwart verbinden, da wir glauben, dass kein Theater so zeitgemäß, vital und notwendig ist wie das von Donizetti“. Ob das gelungen ist oder gelingen kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall entfach das Festival ein Spektakel, das auf einer Piazza unweit des Opernhauses mit LU OpeRave beginnt, einer in Anlehnung an Lucia di Lammermoor benannten Veranstaltung, in der Donizettis Musik „meets electronics and new trends“. Dazu das obligate Vermittlungsprogramm aus Familien-, Kinder- und Jugendangebot, offenen Proben, Gesprächen und Serien. Die Karten-reservierungen übertrafen die des Vorjahres, Sponsoring und Spenden waren bedeutend. Donizetti ist in der Stadt in aller Munde. Das ist gut so.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Das Programm ist die Mischung, die sich über die letzten Jahre bewährt hat: Das Hauptinteresse liegt dabei auf dem #donizetti200-Projekt, den vor exakt 200 Jahren uraufgeführten Opern Donizettis, also der 1824 in einer zweiten, völlig umgekrempelten Fassung an Roms Teatro Argentina erstmals aufgeführten Zoraida di Granata, deren Uraufführung zwei Jahre zuvor im gleichen Theater erfolgt war. Die Eröffnung bildet der auf mirakulöse Weise wieder international ins Repertoire zurückgekehrte Roberto Devereux, das Glanzstück aus Donizettis Spätphase (Neapel 1837). Zuletzt dann Don Pasquale (Paris 1843), ein Meisterwerk der komischen Oper und Donizettis letztes Werk, das sich dauerhaft im Repertoire behaupten konnte.

.

Der Tod tanzt mit. Ein keckes Gerippe, das aus den dunklen Ecken aufraucht und die gleichen Gewänder wie die Königin trägt. Den düsteren Schlusspunkt der im 16. Jahrhundert spielenden Tudor-Kapitel, die Donizetti vom frühen Castello di Kenilworth über Anna Bolena und Maria Stuarda erzählte, bildet Roberto Devereux nach einem Libretto von Salvatore Cammarano. Das Werk entstand in düsterer Zeit, in der Donizettis dritter Sohn die Frühgeburt nur eine Stunde überlebte und seine Frau Virginia kurz darauf starb. Am Ende der Tetralogie bricht Elisabeth I., die bei allen Werken im Hintergrund immer mitgedacht werden muss, nach der Hinrichtung ihres letzten Liebhabers zusammen. Im Vorjahr hatte das Theatre de la Monnaie die Renaissance-Thriller in Anspielung an Elisabeths uneheliche Geburt unter dem Titel Bastarda üppig aufgeputzt und findig auf zwei Abend komprimiert und konzentriert – Elisabeth war die uneheliche Tochter von Heinrich VIII., ihre Mutter war die von Heinrich VIII. zum Tode verurteilte Anne Boleyn, ihre Kusine Maria Stuart. So erfolgreich das Brüsseler Verfahren offenbar war, verbietet sich eine solche Fassung für Bergamo. In Bergamo hatte man zuletzt das erste Auftreten der Elisabeth in Donizettis Schaffen 2018 mit Il Castello di Kenilworth gefeiert, nun also der entsagungsvolle Schlusspunkt mit Roberto Devereux in der kritischen Edition von Julia Lockhart.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Roberto Devereux“/Szene

Wieder ist Jessica Pratt Elisabeth I. von England, wieder steht der musikalische Leiter des Festivals Riccardo Frizza am Pult, der erklärte Roberto Devereux sei seine Lieblingsoper von Donizetti. Fürs britische Flair ist Stephen Langridge zuständig, der in dieser Zusammenarbeit mit dem Theater in Rovigo mit seiner irischen Kollegin Katie Davenport einen Hauch der elisabethanischen Ära nach Bergamo brachte. Elisabethanisch sind vor allem die steifen Halskrausen des Chores, den wackeren Choristen dell‘Acccademia Teatro alla Scala, die entsprechend ihrer wenig handlungsrelevanten Stichwort-Aufgaben hinter Holzbalustraden zum dekorativen Rahmen verkommen. Für Langridge und Davenport ist Donizettis letzte Elisabeth-Tragödie ein einziges Memento mori, ein szenisches Sinnbild für irdische Vergänglichkeit, wie sie die auf einem Tisch aufgebauten Stillleben inklusive Stundenglas und Totenschädel und die verblühten Blumensträuße an der Rampe symbolisieren. Mehr noch das tanzende Gerippe, das unschwer als Doppelgänger der Königin zu erkennen ist. Immer noch scheint es fleischlichen Gelüsten nicht abgeneigt, umgarn einen jungen Mann, wirft ihn aufs große Bett der Königin und umfasst ihn. Das tanzende Skelett ruft Ekel, Abscheu und Grauen der Königin hervor, die ihr Ende gespiegelt sieht. Es ist ein intimes Stück, das zwischen Elisabeth und ihrem halb so alten Geliebten Leicester spielt, der sich in Sara, die Gattin seines Freundes, des Herzogs von Nottingham, und die engste Vertraute der Königin verliebt hat. Düster und beklemmend ist die Atmosphäre in Westminster und in den Gemächern der Herzogin. Hinter dem Rahmen aus Leuchtröhren, die manchmal blendend aufleuchten und die Handlung einfrieren, entwickelt Frizza das Stück mit dem Orchestra Donizetti Opera akribisch und langsam, verzichtet in der kritischen Edition auf das wirkungsvolle God save the Queen-Zitat, das Donizetti erst ein Jahr nach der Uraufführung in die Sinfonia einbaute, und vertraut auf einen flüsternden, raunenden Ton. Das wirkt rasch etwas spannungslos, vor allem, da man den Eindruck gewinnt, dass die Sänger die lange Anlaufzeit des ersten Aktes zum Einsingen nutzen. Ab dem zweiten Akt gewinnt die Aufführung nach der Pause deutlich an Dramatik. Das liegt auch an Jessica Pratt, deren Sopran für diese Partie vermutlich zu leicht, zu einfarbig und ausdrucksarm ist. Dennoch entwickelt die australische Sopranistin ab dem großen Terzett im zweiten Akt mit Roberto und Nottingham das leidenschaftliche Porträt einer verletzten Frau. Das ist spannend, auch wenn manch Phrasen etwas gewollt und vulgär oder flach und quasi gesprochen geraten, doch insgesamt ist Pratts Stimme von einheitlich sanfter Qualität. Das Finale, die bedeutende „Vivi, ingrato“-Szene und die Aria finale, geraten Pratt packend, erreichen die rechte Mischung aus Atemlosigkeit, Hysterie und Verzicht. Auch John Osborn klingt als Titelheld anfangs etwas verhalten, zeigt sich in seiner großen Szene in der Gefängniszelle aber als der überlegene Stilist und technisch formidable Sänger, der „Come uno spirto angelico“ atemstockend über unendliche Piano-Phrasen langsam zu großer Dramatik steigert. Die kalabrische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci beeindruckt als Sara durch einen hellen, sopranklaren und beweglichen Mezzosopran, Simone Piazzola bringt für den Herzog von Nottingham die Qualitäten eines routinierten Verdi-Baritons mit. Auffallend der litauische Bassbariton Ignas Melnikas, der Elisabeths Vertrauten Raleigh markant bassbaritonales Profil verlieh (15. November 2024).

.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

Es war ein weiter Weg bis zu diesem musikalisch ausbalancierten und dramaturgisch mustergültigen verdichteten Seelendrama, wie wir am nächsten Abend am Beispiel der modernen Wiederaufführung der Zoraida eindringlich erleben (16. November). Allerdings sind die Dimensionen einer – inklusive Pause – fast 3 ¾ endlose Stunden dauernden Seria auch dazu angetan, den Zuschauer in einen komatösen Zustand zu versetzten. Zoraida di Granata war einer der ersten unangefochtenen Erfolge Donizettis, der sich damit auf dem Gebiet der altmodischen Opera seria profilierte. Das Libretto von Donizettis Mitschüler und späterem Scala-Direktor Bartolomeo Merelli, der Verdi zur Nabucco-Vertonung drängte, basiert auf dem Roman Golzalve de Cordoue, ou Grenade reconquise des Dichters Jean-Pierre Claris de Florian (1755-94), der sich einen Namen durch seine Fabeln machte. Luigi Romanelli (1751-1839) hatte daraus das Libretto für Giuseppe Nicolinis (1762-1842) 1805 an der Mailänder Scala uraufgeführte Abenamet e Zoraide gemacht. Zoraida di Granata beinhaltet die typischen und ermüdenden Seria-Verstrickungen, bei denen sich irgendwann niemand mehr dafür interessiert, ob noch eine Kerkerhaft oder Hinrichtung droht, ob noch ein unerkannter Ritter oder böser Tyrann naht.

Die Handlung spielt im maurisch beherrschten Granada im späten 15. Jahrhundert. Als neuer König von Granada begehrt Almuzir, der den früheren Herrscher gestürzt und getötet hat, dessen Tochter Zoraida zur Frau. Zoraida liebt bereits Abenamet, Almuzirs Generals und Überhaupt des edlen maurischen Geschlechtes der Abencerragen. Almuzir wirft Abenamet zunächst ins Gefängnis, schickt ihn dann aber auf Drängen seiner Anhänger in die Schlacht gegen die Spanier mit dem ausdrücklichen Befehl, die mitgeführte Fahne wieder zurückzubringen. Abenamet siegt, kehrt aber ohne die Fahne des Königreichs nach Granada zurück, worauf ihn Almuzir des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt. Nun kommt Zoraida ins Spiel, die einwilligt Almuzir zu heiraten, wenn er Abenamet am Leben lässt. Nach seiner Freilassung trifft Abenamet nochmals Zoraida und erkennt, welchem Opfer er sein Leben verdankt. Das Treffen wird von Almuzirs Vertrauten Ali belauscht, worauf Zoraida des Verrats beschuldigt und zum Tode verurteilt wird, es sei denn ein Ritter kämpfe im Duell für ihre Unschuld. Ein unbekannter Ritter erscheint und trägt die vermisste Fahne mit sich. Er verwundet Ali, der auf Befehl Almuzirs die Fahne ins spanische Lager schmuggelte, um Abenamet zu beschuldigen. Der Fremde ist kein anderer als Abenamet. Das Volk fordert Rache für die Missetat des Königs, doch Abenamet kennt kein süßeres Vergnügen als die Verzeihung und vergibt ihm großmütig, worauf der von dieser noblen Haltung überwältige Almuzir auf Zoraida verzichtet und sich die Freunde versöhnen. Wie stets werden alle Verwicklungen am Ende ganz rasch geklärt und Abenamet kann im finalen Rondo jubilieren, „Da un eccesso di tormento“.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Zoraida di Granata“/Szene

In der zweiten Fassung versuchte Rossinis Aschenputtel-Librettist Jacopo Ferretti eine Verbesserung des Textes, denn auf Wunsch des Impresarios Giovanni Paterni revidierte Donizetti zwei Jahre später die Oper und erweiterte vor allem die Partie des Abenamet, die von der bedeutenden Rossini-Altistin Rosmunda Pisaroni übernommen wurde. In dieser musikalisch weitgehend neu gefassten Fassung vom 7. Januar 1824 wurde Zoraida di Granata jetzt im Teatro Sociale in Bergamo erstmals wiederaufgeführt. Im Gegensatz dazu hatte das Wexford Festival, mit dem die Koproduktion von Bruno Ravellas Inszenierung zustande kam, die erste Fassung aufgeführt; aus Wexford stammt auch der Almuzir des südkoreanischen Tenors Konu Kim, der 2019 in Bergamo den Leone di Casaldi in L’ange de Nisida. Für beide Fassungen wird die kritische Ausgabe von Edoardo Cavalli benutzt. Stärker noch als in Donizettis frühen komischen Opern drücken die Schablonen der Zeit, ersticken geradezu jeden individuellen Zugriff. Der Ton ist, wenn auch nicht wirklich unverkennbar, schon typisch Donizetti, statt des klassizistischen Ebenmaß eines Rossini, dessen Vorbild einen übermächtigen Schatten wirft, vernimmt man in der orchestralen Verdichtung und Verfeinerung den Klang der Romantik, beispielsweise in Zoraidas süßlich sentimentaler Romanze im zweiten Akt „Rose, che un di spiegaste“, während die Cavatine im ersten Akt kaum über formelhafte Figuren hinausreicht. Dagegen ist der finale Rondo-Jubel des Ritters Abenamet wie eine Fortsetzung von Angelinas „Nacqui all’affanno“. Vermutlich hätten sich Cecilia Molinari und ihr kleiner leichter Mezzosopran in den Cenerentola-Regionen auch wohler gefühlt als in der Rüstung des Ritters, die eine ganz andere vokale Statur und letztlich auch darstellerische Präsenz verlangt. Zusana Markova sang mit sauberem Sopran und stabiler Höhe eine lyrisch verinnerlichte Zoraida, Kanu Kim war mit grell gellendem, fast charaktertenoralem Tenor, dem er Höhen abzwang, mit denen er Maries Tonio Konkurrenz machen könnte, ein finster wütender Almuzir. Der sehr junge Valerio Morelli überraschte in der Bravourarie des Ali zu Beginn des 2. Aktes mit einem gravitätischen Koloraturbass von Format, auf die Arie für die Nebenfigur Ines (Lilla Takács) hätte man gut verzichten können. Alberto Zenardi versuchte mit dem auf Originalinstrumenten spielenden Orchestra Gli Originale einen wachen Klang zu erzeugen, wurde aber von den langen Seccorezitativen ausgebremst. Es sängen die Herren des Coro dell’Accademia Teatro alla Scala. Regisseur Bruno Ravella hat das kriegerische Stück um die muslimischen Mauren in das muslimisch geprägte Sarajewo zur Zeit des Bosnienkrieges verlegt. Genauer in die Vijećnica, in der 1992 während der Belagerung zwei Millionen Bände und Dokumente der Geschichte Bosniens verbrannten. Die Bilder des in diesen Ruinen Cello spielenden Musikers gingen um die Welt. Den im neogotischen, pseudo-maurischen Stil errichteten Bibliotheksraum hat Gary McCann für die zwei Akte der Zoraida di Granata nachempfunden und Daniele Naldi manchmal so interessant beleuchtet, dass die über mehrere Etagen reichenden Säulenreihen und Kreuzgewölbe im Schattenspiel wie von Piranesi entworfen wirkten. Ravella hat das langweilige Geschehen entsprechend langweilig und schmucklos und ohne Bezug zum dekorativen Raum arrangiert. Am Ende – die Vijećnica wurde 2014 wieder rekonstruiert – senkt sich das Glasdach mit den wiederhergestellten bunten Ornamenten über den versöhnten Kriegern herab. Der Applaus für das Melodramma eroico war freundlich.

.

Bergamo Donizetti Festival 2024/Foto Gianfranco Rota/“Don Pasquale“/Szene

Nichts schiefgehen kann bei der letzten Produktion. Don Pasquale ist eine sichere Nummer (17. November). Amélie Niermeyer hat die Tragödie des alternden Mannes 2022 in Dijon, mit dessen Opéra das Dramma buffo koproduziert wurde, geschickt ins Heute geholt und ist den Figuren mit viel Gespür für menschliche Faiblesse auf den Leib gerückt. Die drei Akte spielen vor, neben und hinter Don Pasquales Flachbungalow von Maria-Alice Bahria, wo Pasquale auf der Terrasse vor der großzügig bestückten Bar und zwischen der weitläufigen Sitzlandschaft sportlicher und meditativer Selbstertüchtigung nachgeht und die drei Bediensteten Grünpflanzen abstauben und Getränke servieren. Der unwillige Neffe Ernesto wird aus diesem Paradies vertrieben und kampiert mit seinen Rollkoffern neben den Mülleimern auf der Rückseite des Hauses, wo im Dunkel auch eine Gestalt hockt, die das Trompetensolo zu seiner Arie spielen wird. Auf der anderen Seite hat es sich Norina in der Hoffnung, Ernesto werde seinen Onkel dazu bringen, die Einwilligung zu einer Heirat mit ihr zu geben, in ihrem kleinen roten Auto komfortabel und abrufbereit eingerichtet. In dieser Aufführung ist Norina die Drahtzieherin. Mit ihr und ihren kreischend bunten Freunden stürmen nach der Eheschließung mit Don Pasquale halluzinogene Farben in die saubere Villa der Lego- „Friends“-Welt –. „L‘amore è libero“, „L’amore non ha età“ sowie „L’amore non ha confini“ steht auf ihren Plakaten, womit Donizetti zur Freunde des künstlerischen Leiters einmal mehr seine gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellt. Und mitten drin ein pinker Elefant; man frage nicht, wieso und warum. Nichts wird Norina am Ende aufhalten, sich wieder hinters Steuer zu setzen, auf den gesicherten sozialen Aufstieg zu pfeifen und eine noch bessere Zukunft zu suchen. Niermeyer hat den Freiheitssinn der in grelle und enge Klamotten gewurstelten jungen Frau mit dem großen Herzen schön ausformuliert. Die junge Giulia Mazzola, die bereits in der Arena von Verona die Gilda gesungen hat, ist die rechte Interpretin für das vom benachteiligten Gör zur Ballprinzessin aufgestiegene Aschenputtel mit einem knackigen, reschen Sopran, ausgesprochen quecksilbriger Beweglichkeit, elegant aufblühenden Phrasen und gesanglichem Know-how und Timing, das die Komödie voran- und die Männer vor sich hertreibt. Dieser Sinn für Tempo und Szene fehlt noch dem Mexikaner Iván López-Reynoso, der sich als akkurater Sachwalter schwertat, das Orchestra Donizetti Opera und den Chor der Accademia della Scala zusammenzuhalten. Roberto de Candia ist ein gemütlicher, in sich ruhender Pasquale, der die große Attitüde wie den prägnanten Plappergesang souverän aus dem Ärmel schüttelt. Der Malatesta des Dario Sogos ist ein guter Typ, ein junger Arzt wie aus der Vorabendserie, der vor allem darstellerisch punktet und sich gesanglich noch einiges von dem Alten abschauen kann. Neu übrigens ist in der kritischen Ausgabe von Roger Parker und Gabriele Dotto, deren offizielle Veröffentlichung für 2026 geplant ist, eine erstmals seit 1843 gehörte Passage des Duetts Pasquale/ Malatesta. Den Ernesto singt Javier Camarena noch immer mit sämigem Ton, dessen Goldglanz in der Höhe etwas an Strahl eingebüßt und in der Tiefe an Glanz verloren hat, aber in der Serenata und dem anschließenden Notturno-Duett „Tornami a dir“ hinreichend sinnlichen Pianozauber verströmt. Rolf Fath

.

.

Teatro Regio di Parma: Festival Verdi 2024 mit dem französischen Macbeth sowie La Battaglia di Legnano sowie Un ballo in maschera in Busseto. Hier in Parma können Freunde von CDs und DVDs noch schwelgen. Das Angebot im Foyer des Teatro Regio ist überwältigend. Konzentriert selbstverständlich auf Verdi. Zum Auftakt des diesjährigen Festival Verdi stechen aus heimischer Produktion Macbeth mit Renato Bruson und Ghena Dimitrova ins Auge sowie mit Ludovic Tézier und Silvia Della Benetta. Letzterer als (so annonciert)  World Premiere oft the original 1865 Version for Paris.

Im Pandemie-Jahr 2020 konnten die Aufführungen nur konzertant im Parco Ducale stattfinden, zum Auftakt des diesjährigen Festivals wird der französische Macbeth in szenischer Version nicht einfach nur nachgeholt, sondern erstmals szenisch präsentiert; der italienische Macbeth in der Fassung von 1847 stand zuletzt 2018 auf dem Programm. Wie 2020 dirigiert wieder Roberto Abbado, es spielen und singen die Filarmonia Arturo Toscanini und der Chor des Teatro Regio di Parma. Die Besetzung ist jedoch eine andere. Schön, dass der künstlerische Leiter Alessio Vlad, der im Vorjahr Anna-Maria Meo nachfolgte, die dem Festival zu hohem Aufmerksamkeit verholfen hatte, die französische Rarität nachholt, die sich gut an den französischen Le Trouvère in der Inszenierung von Robert Wilson anfügt. Der fand 2018 im spektakulären Ambiente des Teatro Farnese im Komplex des Palazzo Ducale statt. Auf eine derart einzigartige Lokalität kann Vlad nicht hoffen. Erneut weicht er für konzertante Aufführungen des Attila in das 2022 erstmals vom Festival genutzte Teatro Magnani nach Fidenza aus und selbstverständlich bespielt er mit Un ballo in maschera das Teatro Verdi in Verdis Wohnort Busseto.

Die größte Aufmerksamkeit richtet sich bei so viel braver Hausarbeit auf La Battaglia di Legnano, die in Parma zuletzt 2012 gegeben wurde, doch weltweit eine absolute Rarität geblieben ist. Während die Rarität mit geschicktem Kalkül wieder Valentina Carrasco anvertraut wurde, die vor zwei Jahren mit dem auf den Genueser Schlachthof verlegten Ur-Boccanegra von 1857 aufs Heftigste die Gemüter der Besucher erregt hatte, ging man mit Pierre Audi für Macbeth auf Nummer sicher. Wie die Senioren Pier Luigi Pizzi und Yannis Kokkos, die zuletzt die Eröffnungen betreuten oder die kaum jüngeren Hugo de Ana und Cesare Lievi zuvor, repräsentiert Audi einen zweckdienlichen, altmodischen Theaterstil.

Zum 24-mal findet das Festival Verdi statt, doch erst seit 2007 in der bei Touristen immer noch sehr beliebten Zeit von Mitte September bis Mitte Oktober, in die Verdis Geburtstag am 10. Oktober so praktisch fällt. Dann wird das Teatro Regio zum Zentrum der Stadt. Wobei das Festival seit Jahren weit in die Stadt und die Region reicht und mit einer karnevalsumzugsmäßigen Verdi Street Parade die Sammlung von hunderten Verdi Off-Veranstaltungen und Konzerten eröffnet. Nach den jungen Leuten und den obligaten Tanznummern ist es dann endlich so weit.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Macbeth bedeutete ein Wendepunkt in Verdis Schaffen. Hast und Atemlosigkeit, die das Werk durchdringen, strapazierten auch Verdis Gesundheit. Aufgrund eines extremen Erschöpfungs-Zustandes wurde ihm 1846 eine sechsmonatige Erholungspause verordnet, und im Macbeth-Jahr hatte er noch London mit den Masnadieri und Paris mit den zu Jérusalem umgearbeiteten Lombardi zu versorgen, doch dann ging er achtsamer vor. Es ist bekannt, wie intensiv sich Verdi ein Leben lang mit Shakespeare beschäftigte, den er für den Größten hielt, wie unzufrieden er im Hinblick auf Macbeth mit den Versen von Francesco Maria Piave war, wie intensiv er die Auswahl der Sänger betrieb, wie eingehend er an Details der Inszenierung feilte und mit den beiden Protagonisten arbeitete. Immer noch ein wenig unzufrieden mit dem bei der Uraufführung Erreichten, war das Angebot, das ihm Léon Carvalho im März 1864 aus Paris unterbreitete, nicht unwillkommen. Zu den Veränderungen und Modifikationen, welche die französische Bühne ebenso wie die neue Zeit erforderten, gehörten im Wesentlichen im zweiten Akt der Ersatz der altmodisch effektvollen Cabaletta „Trionfai“ der Lady durch ihren Monolog „La luce langue“ sowie am Ende des dritten Aktes der Ersatz der Macbeth-Cabaletta „Vada in fiamma“ durch das Macbeth-Lady-Duett „Ora di morte“. Dazu gehörten auch die Szene der Erscheinungen und das obligate Ballett im dritten Akt, der Anfang des vierten Aktes sowie auf Carvalhos Wunsch ein Schlusschor anstelle der Sterbearie „Mal per me che m’appressai“ des Macbeth, dessen Tod hinter die Bühne verbannt wird. Sicherlich eine Aufwertung der Lady, deren Schlafwandelszene zu den aufregendsten Momenten der ursprünglichen Fassung gehört und deshalb auch unangetastet blieb. Insgesamt ein Werk, das „wenn nicht zur Hälfte, so doch zu einem guten Drittel neu ist“, wie Verdi Tito Ricordi mitteilte. Die neuen Textpassagen verfasste Piave, wobei auch Strepponi und Verdi tätig wurden. Für Paris wurde alles von Charles Nuitter und Alexandre Beaumont ins Französische übertragen. 1874 gelangte diese Fassung an der Scala erstmals in italienischer Sprache zur Aufführung. Sie hat sich seither durchgesetzt.

Der französische „Macbeth“ in Parma 2024/Szene mit Ernesto Petti und Lidia Fridman/Foto Roberto Ricci

Bei den Verdi Festspielen in Parma wurde dieVersione francese, Paris 1865“ jetzt erstmals szenisch gespielt – konzertant, wie erwähnt, zuvor bereits 2020. Pierre Audis Inszenierung ist eine Verlegenheit, wie ich finde, wie es „Theater auf dem Theater“ immer ist, ein eleganter Trick. Natürlich erinnert das Phantastische, Übersinnliche, Geister- und Zauberhafte, das Verdi an Macbeth faszinierte, an Zutaten des französischen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie sie Meyerbeer einsetzte, und die tanzenden Sylphen an die Pariser Opéra, doch Audi bleibt mit seiner Inszenierung in Parma, stellt das  Logenrund des Teatro Regio auf die Bühne, dessen Seitenwände wie im Barocktheater im Handumdrehen Verwandlungen erlauben, so dass die Lady bereits auf die Bühne kommen kann, kaum dass die Hexen ihr Werk verrichtet haben und sich der Theaterraum schnell in eine rote Einheitsszene verwandelt, was die Rastlosigkeit der Handlung betont. Das ist alles richtig, aber auch ein bisschen arm. Alle Akteure sind in schwarzen strengen Kostümen der Zeit gekleidet, die Herren tragen Zylinder (Kostüme: Robby Duiveman). Dann kommt der Bruch mit dem dritten Akt, ab dem, wie wir gesehen haben, Verdi den Großteil seiner Ergänzungen und Änderungen anbrachte. Audi springt ins moderne Musiktheater. Er sprengt das historische Ambiente, bricht es mit irgendwie „modern“ anmutenden Linien. und Gitterwerk auf  (Bühne: Michele Taborelli) und wirft Lady und Macbeth in moderne Gewänder über. Er macht aber dabei so, wie wenn der Macbeth erst ab der Hälfte der große Wurf wäre, der er eigentlich von Anfang an ist, wie Roberto Abbado in seiner peniblen und genauen Leseart darzulegen versucht. Er entwickelt die Story ganz vorsichtig, so als erzähle er sie Unkundigen zum ersten Mal. Tatsächlich klingt vieles sehr neu und frisch, auch stimmungsvoll, wobei Roberto nie die atemstockend nachtschwarze Intensität wie einst Onkel Claudio erreicht. Die Filarmonia Arturo Toscanini scheint nicht ganz mit der gewohnten Klangbreite zu spielen, während der Chor des Teatro Regio nicht nur wegen der betörenden Pianogesängen der Flüchtlinge gefeiert wurde. Lidia Fridmans Lady ist das lebendig gewordene Denkmal einer von Hass und Machtgier zerfressenen Frau, königlich, selbstbewusst und elegant. Mit dem opaken, in der Tiefe dunkel gewichtigen, in den engen Höhen scharfkantigen Sopran übernimmt sie sofort das Zepter, wobei Audi ihrem ersten Auftritt und der Cavatine „L’heure est prochaine“ viel ihrer Wucht nimmt, indem er Macbeth selbst den Brief lesen lässt, in dem die Lady von den Weissagungen erfährt, was in etwa so effektvoll ist, wie wenn Giorgio Gérmont selbst Violetta seinen Brief vorlesen würde und sie somit um das effektvolle Declamato bringen würde. Fridman macht alles sehr überzeugend und gut, doch nicht fesselnd, am besten sicherlich das Brindisi „Par toi, vin généreux“, dessen Feuer sie mit lodernder Brillanz und Kühle erfasst. Der Schlafwandelszene, die Fridman bis zum knappen D gut singt, nimmt Audi wieder viel von ihrer Eindruckskraft, indem er das lange Vorspiel und die Worte zwischen dem Doktor und der Comtesse vor den Vorhang legt und die gesamte Szene viel von ihrer atmosphärischen Magie einbüßt. Es fehlt mir bei der 28jährigen Fridman die Furor und Kraft dieser Figur, auch das stimmliche Durchhaltevermögen. Obwohl diese Fassung alles unternimmt, um die Lady ins Zentrum zu rücken, ist Macbeth die eindringlichste Figur. Ernesto Petti, der mich zuletzt in Stuttgart als Luna nicht wirklich überzeugenden konnte, agiert in Parma viel behutsamer und nachdrücklicher, er singt hier mit leisen und vor allem Zwischentönen und auffallend guter französischer Diktion, gestaltet bezwingende Steigerungen. Die Stimme des 38jährigen Baritons aus Salerno scheint nicht besonders riesig, aber sie packt durch Schönheit und Wärme, sie wird suggestiv eingesetzt, beispielsweise in der Szene mit den Hexen und Erscheinungen im dritten Akt, und obwohl Pettis Macbeths vorerst eine philosophische Dimension noch abzugehen scheint, ist in seinem Monolog im letzten Akt, „Honneurs, respect, tendresse“ großartig. Mit schütterem Bass, aber nobler Linie gab Michele Pertusi den Banquo, Luciano Ganci, dessen grelles Timbre man mögen muss, ist offenbar ein Publikumsliebling und wurde als Macduff nachdrücklich gefeiert. David Astorga, der Tenor aus Costa Rica, war als Macduff ein Gewinn und Rocco Cavalluzzi machte als Médecin nachdrücklich auf sich aufmerksam (26. September 2024).

.

„La battaglia di Legnano“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

In keiner Oper hat Verdi sich so dezidiert für die Ideale des Risorgimento stark gemacht wie in La Battaglia in Legnano. Wie setzt man den patriotischen Impetus heute in Szene. Da kapituliert auch die findige Valentina Carrasco. Nach der langen Ouvertüre lässt sie zwischen Rauchwolken in kurzen Videosequenzen in die Augen von Rössern schauen und zeigt durch Matsch stampfende Soldatenbein. Im ersten Akt, mit „Er lebt“, überschrieben, erinnern die Mailänder Bürger und Soldaten des 12. Jahrhunderts stark an die Auseinandersetzungen mit den Habsburgern sechshundert Jahre später. Zu den Opfern der Schlachten und Kriege gehören auch Pferde, die ihren Herren arglos bis in den Tod folgen. Die unwissende Treue der Tiere rührt. Über der Leiche eines Schimmels schwören die Mailänder dem feindlichen Eroberer Rache. Der abgerissene Kopf des Pferdes, den Barbarossa den Stadtvätern von Como entgegenhält und der bis zum Ende der Aufführung auf dem Schlachtfeld liegenbleibt, wird zum Symbol für das zerrissene Land. Entworfen hat die Pferde, von denen zehn als Herde oder nebeneinander aufgereiht die Eyecatcher der Aufführung darstellen, die u.a. als Ronconi-Mitarbeiterin berühmte Margherita Palli. Die Pferde werden gestriegelt, versorgt und gefüttert. Hinter einem Maschendraht schwenkt Carrasco in der Mitte der Aufführung unmerklich aus dem Pseudo-Mittelalter in die Zeit des Ersten Weltkriegs mit den entsprechenden Helmen für die Soldaten und Gasmasken zum Schutz der Pferde.

Von den Opern der Galeerenjahre gehört La Battaglia di Legnano mit der Alzira und dem Oberto vermutlich zu den am selten aufgeführten und unbekanntesten Werken. Immerhin hat es nach 2000, als Domingo an Covent Garden in einer konzertanten Aufführung den Arrigo sang, einige wenige Produktionen in der italienischen Provinz, in Catania, Triest und Piacenza, gegeben; ich erinnere mich an eine von Pizzi hoch pathetisch in Szene gesetzte Produktion mit Mara Zampieri 1983 in Rom, wo die Oper im Januar 1849 auch erstmals über die Bühne gegangen war. Die Battaglia di Legnano ist Ehe- und Dreiecksdrama und patriotisches Gemälde, das den Geist der Aufstände, die seit Januar 1848 von Neapel aus über ganz Italien peitschten und in Mailand die Konfrontation mit den von Radetzky geführten Habsburgern suchten, in der mittelalterlichen Schlacht von Legnano spiegelt, in der Kaiser Barbarossa 1178 der von den lombardischen Städten gebildeten Liga unterlag. Diesem politischen Geist und den Rufen nach einer nationalen Einigung wollte Verdi, der die Ereignisse von Paris aus verfolgte, Rechnung tragen. Seltsam, dass er sich bei der Wahl des Librettos auf Salvatore Cammarano verließ, der ihm seine Inka-Oper Alzira verfasst hatte, die Verdi als „proprio brutta“ abgetan hatte. Cammarano hielt Verdi von einem Rienzi ab und stieß ihn auf die zu napoleonischer Zeit spielende Schlacht von Toulouse des gefälligen Joseph Méry, die er nach Legnano verlegen wollte. Legnano war inzwischen zum nationalen Symbol geworden, das sogar in Geoffredo Mamelis 1847 flugs geschriebenen Fratelli d’Italia Erwähnung gefunden hatte. Also letztlich die richtige Wahl. Am Puls der Zeit. Die Geschichte von dem Mailänder Heerführer Rolando, der im Veroneser Krieger Arrigo seinen totgeglaubten Freund erkennt, der in Gefangenschaft geraten war, und Arrigos einstiger Verlobten Lida, die mittlerweile Rolandos Frau ist, ist als Ehedrama relativ harmlos. Über Lidas Treuebruch ist Arrigo verletzt und schließt sich den Todesrittern an. Lida erfährt davon, bittet ihn um eine letzte Aussprache, die an Rolando verraten wird. Dieser schließt Arrigo im Turmzimmer ein, wodurch der Krieger nicht an der entscheidenden Schlacht teilnehmen kann. Arrigo erträgt diese Schmach nicht und stürzt sich mit dem Schrei „Viva Italia“ aus dem Fenster – Mit „Viva Italia. Ein heiliger Bund vereinigt alle Söhne des Landes“ hatte übrigens bereits der Auftrittschor begonnen. Arrigo überlebt, besiegt Barbarossa, wird aber tödlich verwundet. Diese letzte Begegnung des Arrigo mit seiner einstigen Geliebten findet bei Carrasco im Pferdestall statt, wo Arrigo von dem wütenden Rolando läppischerweise in eine Pferdebox gesperrt wird, aus der er im Handumdrehen entkommt. Der Rest ist ein pathetisches Tableau.

La Battaglia di Legnano hatte einen enormen Erfolg – anfangs musste der letzte Akt bei jeder Aufführung wiederholt werden – doch als Zeugnis einer konkreten Situation schwand ihre Bedeutung und Verbreitung nach 1870, um erst wieder zum 100. Jahrestag der Einigung Italiens 1961 an der Mailänder Scala ausgegraben zu werden. Mir erscheint Battaglia di Legnano wie eine Mischung aus dem Ehedrama Stiffelio und den patriotischen Choropern mit Prozession und Schwurszene („Giuriam d’Italia“) à la Lombardi, Ernani. Jede der drei Hauptfiguren ist bestens versorgt mit Cavatine und Romanze und wechselnden Duetten und Terzetten, die vor allem dem dritten Akt „L’infamia“/ „Die Schande“ eine dichte Struktur geben und nach der Preghiera der Lida in der Gran Scena „Vittoria! Vittoria!“ und dem Hymnus „Per la salvata Italia“/ „Bei der Rettung Italiens“ des sehr kurzen vierten Aktes (mit der Überschrift „Morire per la patria“) gipfeln. Der erst 28jährige Diego Ceretta geht das papierene Werk zu zögerlich an. Da fehlt trotz vieler instrumentaler Details der federnde Sound des frühen Verdi und ein wenig auch der mitreißende Elan seiner Chöre. Vielleicht fühlen sich Chor und Orchester des Teatro Comunale di Bologna auch nicht richtig wohl in Parma. Marina Rebeka war, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als Lida der Mittelpunkt der Aufführung. Etwas kühl, doch mit technisch formidabel geführten Sopran und schönen silbernen Kern sang sie die Stretta ihrer Auftrittsarie mit Strahlkraft, gab den sprunghaften Linien der Lida eine Form und war bewegend in dem Gebet. Antonio Poli gab den Arrigo mit jungmännlichem Draufgängertum, schraubt die Stimme in der ersten Szene mit schmetternder Emphase und fein gehämmerter Diktion in die Höhe, dabei nicht unsensibel im zarten Flirt mit Lida. Zuverlässig, wie stets, zeigte sich Vladimir Stoyanov auch mit reduzierten Mitteln als großer Stilist und sang den Rolando mit weich geschmeidigem Bariton. Neben der prägnanten Arlene Miatto Albeldas als Imelda blieben Riccardo Fassi als Barbarossa, Alessio Verna als Intrigant Marcovaldo, Emil Abdullaiev und Bo Yang als Konsuln von Mailand unauffällig. Verlegener großer Beifall (29. September).

.

„Un ballo in maschera“ in Parma 2024/Szene/Foto Roberto Ricci

Verdi war froh, dass sein Ballo in maschera ebenfalls in Rom herauskommen sollte, nachdem ihm die Zensur in Neapel, für das die Oper ursprünglich geschrieben war, so viel Ärger bereitet hatte. Der Erfolg war groß und blieb dem Werk im gesamten 19. Jahrhundert treu und machte es zu einem der beliebtesten in Verdis Werkkanon. Als Fabio Biondi jetzt (27. September) die Aufführung im Teatro Verdi in Busseto dirigierte, war der immense Reichtum dieser Musik zu spüren, ihre Originalität, ihre Tiefe, mit der sie Figuren beschreibt und Situationen einfängt, der Wechsel zwischen Komik und Tragik, nicht zuletzt die Überfülle der Melodien. Der junge Mann neben mir wolle unbedingt wissen, welche mir die liebste aller Verdi Opern sei und bestand darauf, dass der Ballo die bei weitem Schönste sei. Biondi und das Orchestra Giovanile italiana legten mit Schärfe und Präzision die Nerven der Figuren bloß, zeigten die Mechanik der von Scribe ursprünglich eingefädelten Handlung und ihre gnadenlose Stringenz und entfesselten gleichzeitig ein Gesangstheater, das Sänger und Zuhörer im Lauf des Abends mehr und mehr mitriss. Die jungen Sänger, meist so um die 30, brauchten die stimulierende Geste des Dirigenten. Giovanni Sala, der Sänger mit der größten Bühenerfahrung, ist vermutlich kein Verdi-Tenor, dazu fehlt es an Squillo, doch wahrscheinlich ein sehr guter Mozart-Tenor. Die verzierten Passagen des Riccardo lagen ihm sehr schön, er gewann zunehmend auch an dramatischer Überzeugungskraft, an Elan und dunkler Färbung und gestalte die Partie locker tändelnd und packend. In einem größeren Haus würde das nicht so gut funktionieren. Lodovico Filippo Ravizza ist ein Stimmbesitzer, der das Publikum als Renato mit seiner selbstverständlichen Klangfülle im Sturm eroberte, Caterina Marchesini, die sich als Kammerfrau der Lady in Frankfurt demnächst erstmals auf eine deutsche Bühne vortastet und  bereits Liu, Donna Anna und Mimi gesungen hat, ist eine helle energische, etwas unausgewogene Amelia mit schlanker und sehr sicher sitzender Höhe, Licia Piermatteo ein koloraturfeuriger Oscar und Danbi Lee eine dunkel orgelnde Ulrica von Format. Als Opernregisseur ist Daniele Menghini ein Zögling des Festivals, wo er seine ersten Schritte im Rahmen des Verdi Off-Programms machte und Assistent von Graham Vick und Jacopo Spirei war. Für den Tagträumer Riccardo haben Menghini und sein Ausstattet Davide Signorini eine Phantasielandschaft in seiner Bostoner Residenz erschaffen, in der alle Höflinge und Freunde das Spiel des Conte di Warwick und Gouverneurs mitmachen und nur der Richter, Tom und Samuel und sein ihn liebevoll schützender Freund Renato in offizieller Kleidung erscheinen. Das Leben ist ein Fest. Der Gouverneur schlüpft in Verkleidungen, trägt anfangs und am Schluss eine Robe wie eine Tudorkönigin und wirft sich für den Besuch bei der Wahrsagerin behände die Klamotten eines Fischers über. Entsprechend locker und ausschweifend geht es in der Residenz des Gouverneurs mit lasziven Jünglingen und lockenden Gestalten zu, der Thron wird zum Sarg und zum Schädelberg. In diese Mischung aus Grusel- und Horrorkabinett, Geisterbahn und Gothic-Party bringt der abschließende Ballo keinen zusätzlichen Kitzel. Menghinis Inszenierung, die im kommenden Jahr auch nach Bologna zieht, ist eine schwülstig überladene Zustandsbeschreibung, der es an Feinzeichnung fehlt. Rolf Fath

.

.

 35. Musikfest Bremen 2024: Musikalische Sternstunden. Zu den gastierenden Künstlern, die zur Hansestadt eine enge Beziehung haben und seit 30 Jahren immer wieder zurückkommen, um im stimmungsvollen Konzertsaal Die Glocke aufzutreten, gehört Marc Minkowski, Träger des Musikfest-Preises Bremen von 2005. 2018 hatte er mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre Offenbachs Opéra fantastique Les Contes d’Hoffmann zu einem aufregenden Musiktheaterabend gestaltet. In diesem Jahr widmete er sich Johann Strauß und dessen Hauptwerk Die Fledermaus, die vor 150 Jahren in Wien ihre Uraufführung erlebt hatte. Nach seinem irritierenden Hoffmann bei den diesjährigen Salzburger Festspielen erlebte man hier Minkowski at his best. Denn in Bremen stand er nicht vor den Wiener Philharmonikern, sondern vor seinem Orchester, das er 1982 gegründet hatte – den Musiciens du Louvre. Schon die Ouvertüre hatte Schmiss, Walzerseligkeit und eine rasante Steigerung am Schluss, war ein hinreißender Auftakt dieses Abends, der immer wieder Begeisterungsstürme beim Publikum entfachte. Die konzertante Aufführung hatte Witz, Spannung und Tempo – dank einer illustren Besetzung, die mit szenischen Aktionen und mimischen Gesten eine Bühnenatmosphäre zu suggerieren vermochte. Minkowski wartete nach dem schwelgerisch ausgebreiteten Ensemble „Brüderlein und Schwesterlein“ mit einer veritablen Überraschung auf, dirigierte als Einlage die „Russische Marsch-Fantasie“ von Strauß – eine Komposition von straffem Duktus und geballter Energie Und danach ließ er es sich natürlich nicht nehmen, auch die Polka „Unter Donner und Blitz“ zu bringen und dabei ein Feuerwerk an zündenden Klängen zu entfachen.

In Bremen: „Die „Fledermaus“/ Marc Minkowski,_Alina Wunderlin, Rachel Willis-Sørensen, Christoph Filler/ Foto ©Patric Leo

In der Besetzung gab es gesanglich keinen Schwachpunkt, lediglich die Wortverständlichkeit bei den gesprochenen Dialogen müsste bei einigen Interpreten verbessert werden. Dominierend war Rachel Willis-Sørensen als Rosalinde mit einem prunkenden Sopran von betörendem Timbre und satter Fülle. Hinreißend ihr Auftritt im 2. Akt mit einer silbern glitzernden, wie auf den Leib gegossenen Robe – das perfekte Outfit für ihre Darbietung des Csárdás, der vor Temperament sprühte und mit seiner Sinnlichkeit Aufsehen erregte. Sie leitete mit ihrem dominierenden Sopran auch das Schluss-Ensemble „Champagner hat´s verschuldet“ ein, dem der euphorische Beifall des Publikums folgte, was mit einem Da capo der Polka belohnt wurde. Ein stimmiger Kontrast zu ihr war Alina Wunderlin als quirlige Adele, die für ihre Couplets gefeiert wurde, die sie munter und koloraturgewandt servierte und mit Extremtönen schmückte. Glänzend der österreichische Bariton Christoph Filler als Eisenstein mit substanzreicher Stimme und einnehmender szenischer Präsenz. Ein Versprechen für die Zukunft gab der junge deutsche Tenor Magnus Dietrich ab. Sein Alfred strahlte in der Höhe, gefiel mit lebendigem Spiel und hatte auch keine Probleme, aus seiner Gefängniszelle Passagen des Lohengrin und Cavaradossi zu schmettern. Für Marina Viotti, die wegen eines Unfalls absagen musste, übernahm Annelie Sophie Müller den Orlofsky. Der strenge, androgyne Mezzo mit ordinären tiefen Tönen gab der Rolle en travestie glaubhaftes Profil. Dominic Sedgwick mit schmeichelndem Bariton als Dr. Falke, Michael Kraus mit autoritärem Bariton als Gefängnisdirektor Frank und der Wiener Manfred Schwaiger als Frosch ergänzten hochrangig die Besetzung (6. 9. 2024).

.

In Bremen: „Missa Solemnis“/René Jacobs, B’Rock Orchestra, Zürcher Sing-Akademie/ Foto (c) Joshua Krüger

Auch in diesem Jahr war das Musikfest wieder zu Gast in Orten der Umgebung, bespielte Kirchen, Schlösser und Museen, so am 5. 9. 2024 den prachtvollen Dom zu Verden an der Aller. Unter Leitung von René Jacobs erklang Beethovens Spätwerk Missa solemnis D-Dur op. 123. Der Dirigent, ist mit dem Werk, das er 2021 für harmonia mundi auch einspielte, eng vertraut, bot mit dem B´Rock Orchestra eine Interpretation von erhabener Größe, die sich bereits bei den ersten Takten des Kyrie ankündigte. Jacobs reizte die dynamischen Kontraste der Komposition bis zum Äußersten aus, betonte die Modernität der Musik, ihre avantgardistische Kühnheit. Der Einbruch des Chaos am Ende des Agnus Dei, wenn donnernde Fanfaren und Pauken eine kriegerische Atmosphäre suggerieren, war  dafür ein treffliches Beispiel. Links und rechts neben dem Orchester war der geteilte Chor der Zürcher Sing-Akademie aufgestellt, womit eine enorme Klangfülle erzielt wurde. Machtvoll ertönte der Jubel im Gloria, gewaltig das Credo – eine Chorvereinigung der Sonderklasse.

Exzellent das Solistenquartett, angeführt von der Norwegerin Birgitte Christensen mit leuchtendem, auch in der Extremhöhe unangefochtenem Sopran. Mit herbem, doch potentem Mezzo kontrastierte Sophie Harmsen, obertonreich klang der Tenor von Thomas Walker und beschwörend der Bariton von Johannes Weisser in seinem Solo zu Beginn des Agnus Dei. Mit der „Bitte um innern und äussern Frieden“ (Beethoven) endete‚ das Werk. Nach gebührender Ergriffenheit des Publikums gab es Ovationen für alle Mitwirkenden, besonders für René Jacobs, der nach dem Konzert im Domherrenhaus zu Verden den Musikfest-Preis Bremen 2024 empfing. Bernd Hoppe

.

.

Salzburger Festspiele 2024: Morde aller Arten. Es ist eine lieb gewordene Tradition bei den Salzburger Festspielen, dass eine Produktion der Pfingstfestspiele in das Sommerprogramm übernommen wird. Cecilia Bartoli kann dadurch ihre Interpretation beim Pfingstfestival im Sommer wiederholen und vielleicht vertiefen. In diesem Jahr gab sie im Haus für Mozart ihr szenisches Debüt als Sesto in Mozarts La Clemenza di Tito – ein wenig spät, möchte man meinen, doch die Aufführung am 13. August 2024 bewies, dass ihre szenische Präsenz und das darstellerische Engagement noch immer genügend stark sind, um eine Figur glaubhaft zu vermitteln.

Daniel Behle sang den Tito in Salzburg 2024/Foto Marco Borelli

Dabei muss sie in dieser Inszenierung von Robert Carsen gar keinen pubertierenden Jüngling abgeben, denn der Regisseur behauptet in einem Einführungstext im Programmbuch, dass man in einer Zeit der Gendervielfalt Sesto und Annio nicht mehr als Hosenrollen behandeln könne. Beide sind nun als Frauen geführt, was zu zwei Paaren mit homoerotischen Neigungen führt. Ausstatter Gideon Davey freilich kleidet sie in Anzüge, was doch optisch dem klassischen Modell der Hosenrollen entspricht. Das Rezitativ vor „Parto, parto“ gestaltete Bartoli mit expressivem Furor, die große Aria selbst mit dunklem, gutturalem Ton und leidenschaftlicher Empathie. Noch immer funktionieren die Koloraturläufe perfekt, wie auch im Rondò „Deh, per questo istante solo“ zu vernehmen war. Dessen Schlussteil formulierte sie in höchster Erregung zu einem packenden Moment der Aufführung.

Die Inszenierung siedelt Carsen ganz im Heute an, was zum einem im Bühnenbild sichtbar wird, das einen grauen Sitzungssaal mit Schreibtischen, Fernsehmonitoren und Fahnen zeigt, von ihm und Peter Van Praet kalt ausgeleuchtet. Politiker im Business-Look mit Laptops und Smartphonen agieren geschäftig bis hektisch. Nach dem Brandanschlag auf das römische Kapitol zeigt die Szene ein Bild der Verwüstung. Unnötigerweise blendet Thomas Achitz noch aktuelle Videoaufnahmen vom Sturm auf das Gebäude in Washington ein. Schließlich verweist auch die Darstellung der Vitellia als Ebenbild von Giorgia Meloni auf heutiges Zeitgeschehen. Die französische Sopranistin Alexandra Marcellier singt sie mit Entschlossenheit und Nachdruck, steigert sich in ihrem Rondò „Non più di fiori“ zu großer Form mit durchschlagenden Spitzentönen und gefährlich-hintergründigem Ausdruck. Da der Regisseur das lieto fine des Werkes nicht umsetzen wollte, ist sie am Ende die Gewinnerin. Nach dem infamen Mord an Tito sitzt sie siegesbewusst auf dem Regierungssessel.

„La Clemenza di Tito“ in Salzburg 2024/Szene/Foto Marco Borelli

Glaubhaft und sympathisch besetzt ist das junge Paar mit Anna Tetruashvili als Annio und Melissa Petit als Servilia. Die israelische Mezzosopranistin lässt eine jugendliche Stimme von schöner Substanz und reizvollem Timbre hören. Die französische Sopranistin kann mit leuchtenden Tönen in ihrer Aria „S`altro che lagrime“ gegen Ende ds 2. Aktes gefallen. Prachtvolle tiefe Klänge mit imponierender Autorität bringt Ildebrando D´Arcangelo als Publio ein. Mit jedem noch so kurzen rezitativischen Einwurf zog er alle Aufmerksamkeit auf sich.

Die Aufführung adelte Daniel Behle als Titelheld mit idiomatischem, makellos geführtem Tenor. Die in ihrer Prägung sehr unterschiedlichen Arien absolvierte er souverän – „Del più sublime soglio“ mit bestechender Kultur, „Ah, se fosse intorno al trono“ mit viriler Attacke und glanzvollen eingelegten Spitzennoten, „Se all´impero“ mit beherztem Entschluss und perfekter Koloratur. Der Chor Il Canto di Orfeo (Einstudierung: Jacopo Facchini) sang klangvoll und engagiert. Das Orchester Les Musiciens du Prince – Monaco musizierte unter Gianluca Capuano mit Verve und Dramatik – von der martialischen Aggressivität in der Ouverture über die kühnen Dissonanzen beim Anschlag auf den kaiserlichen Palast bis zum furiosen Finale – eine Interpretation voller Sturm und Drang, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.

.

Traditionell gibt es in jedem Jahr auch konzertante Opernaufführungen, welche sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen wegen der oft selten zu hörenden Werke und der stets hochkarätigen Besetzungen. Eine solche war am 19. August 2024 in der Felsenreitschule bei Ambroise Thomas´ Oper Hamlet zu erleben. In der Titelrolle bewies der französische Bariton Stéphane Degout seinen Ausnahmerang in diesem Repertoire Sein Prinz war gezeichnet von grüblerischer Neurotik, meditativem Nachsinnen, existentieller Zerrissenheit und vehementen Ausbrüchen bis zur Raserei. Sein eloquenter, absolut idiomatischer Gesang mit einer prachtvollen, prägnant artikulierenden Stimme gipfelte im schwungvollen Trinklied („Ô vin, dissipe la tristesse“), der packenden Schilderung des Mordes und im Monolog „Être ou ne pas être“. Neben ihm glänzte die Amerikanerin Lisette Oropesa in der Bravourpartie der Ophélie. Längst kein Geheimtipp mehr, ist sie heute Star auf den Bühnen der Welt. Ihr melancholisch getönter Sopran mit flutenden hohen Tönen und herrlichen Steigerungen sorgte in der berühmten Wahnsinnsszene für eine mirakulöse Sternstunde. Barfuß mit entrücktem Blick und tieftraurigem Ausdruck ließ sie keinen Moment die Szene vermissen. Ihr makelloser Gesang mit perfekten Trillern und staccati, mit sicheren Tönen bis in die Extremlage endete in Verklärung, im Saal mit Jubelstürmen.

Ève-Maud Hubeaux sang die Königin Gertrude im „Hamlet“ in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Ein differenziertes Porträt von Hamlets Mutter Gertrude gab Ève-Maud Hubeaux. In herrscherlicher Attitüde der Königin, aber auch zerrissen als Mitschuldige am Tod ihres Gatten,  faszinierte sie mit expressivem Vortrag ihres streng vibrierenden Mezzos. Spannend gestaltete sich die erregte Auseinandersetzung mit ihrem Sohn, in der sie mit dramatischer Vehemenz aufwartete. Jean Teitgen als König Claudius und Jerzy Butryn sorgten für profunde Basstöne, die von Clive Bayley als Spectre aus den Arkaden klangen gebührend fahl. Unbedingt erwähnenswert der französische Tenor Julien Henric als Laerte wegen seiner potenten Stimme und dem nachdrücklichen Vortrag.

Stéphane Degout sang den Hamlet in Salzburg 2024/ Foto Marco Borelli

Der Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh) imponierte schon  im machtvollen Eingangschor, dann im großen Ensemble am Ende des 2. Aktes und im ergreifenden Finale der Oper. Bertrand de Billy ist ein Spezialist in diesem Genre, was er mit dem Mozarteum Orchester Salzburg einmal mehr bewies. Die Verve der Eingangsszene, das schwermütige Motiv bei Hamlets erstem Auftritt, die düsteren Stimmungen in der Szene mit dem Geist von Hamlets Vater, die festlichen Rhythmen beim abendlichen Fest – den ganzen Reichtum der Musik brachte der Dirigent zum Klingen. Im diesjährigen Gesamtkonzept der Festspiele überraschte diese Werkwahl zwar, doch erwies sie sich – gemessen an den langen stehenden Ovationen des Publikums – als ein Geschenk.

.

Morde aller Arten (2): Eine der zentralen Neuproduktionen des Festspielsommers war die Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Oper Der Idiot in der Regie von Krzysztof Warlikowski in der Felsenreitschule. Der Pole, Stammgast in Salzburg, sorgte in der Vergangenheit für diverse Eindrücke an der Salzach. Mit dieser Arbeit gelang ihm ein durchschlagender Erfolg, weil er sich mit manieristischen Eigenwilligkeiten zurücknahm, sich ganz auf die Titelfigur, Fürst Myschkin, konzentrierte, der sich wegen seines naiven Charakters, seines Glaubens an das Gute im Menschen in der verlogenen Gesellschaft von St. Petersburg fremd fühlt. Der polnische Komponist vertonte 1986/87 das Libretto von Alexander Medwedew nach Fjodor Dostojewskis Roman, 1991 wurde das Werk in einer Kammerversion in Moskau uraufgeführt. Erst 2013 folgte die erste szenische Realisierung der kompletten Fassung in Mannheim, die der 1996 verstorbene Komponist nicht mehr erlebte.

Szene aus Weinbergs „Idiot“/ Foto Bernd Uhlig

Ausstatterin Malgorzata Szczesniak, regelmäßige Mitstreiterin des Regisseurs, verwandelte die archaische Felsenreitschule in einen holzgetäfelten Raum mit einer roten Sitzgruppe auf der rechten Seite, die als Zugabteil fungiert, wo Myschkin auf der Heimreise aus einem Sanatorium in der Schweiz Ragoschin und Lebedjew kennenlernt. Ersterer erzählt ihm von seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu der unter schlechtem Ruf stehenden Nastassja, Letzterer entpuppt sich in Folge als Kommentator der Geschichte. Ragoschins und Nastassjas Welt ist in einer kleinen Kammer zur Linken angesiedelt, die mit Ikonen und Folklore-Stickerei geschmückt und von einem Schleiervorhang verschlossen ist. In der Mitte befinden sich eine Projektionsfläche und eine Wandtafel, auf der vorüberziehende Landschaften (während Myschkins Zugreise) sowie Formeln von Einstein und Newton zu sehen sind. Der Regisseur deutet den Titelhelden auch als Wissenschaftler von vergeistigter, zarter Natur und Bogdan Volkov gelingt eine ideale Verkörperung dieser Figur. Er zeichnet einen Träumer, einen Idealisten, der nicht an das Böse im Menschen glaubt – der Regisseur sieht in ihm gar eine Christus-Figur. Beklemmend ist die Darstellung des epileptischen Anfalls im 3. Akt mit schonungsloser naturalistischer Deutlichkeit. Sein lyrischer Tenor mit potenter hoher Lage hält allen Anforderungen des groß besetzten Orchesters stand – insgesamt eine festspielwürdige Leistung. Myschkin steht emotional zwischen zwei Frauen – Ragoschins Geliebte Nastassia, die er glaubt retten zu müssen, und Aglaja, eine der drei unverheirateten Töchter der verwandten Familie Jepantschin. In ersterer Partie errang Ausrine Stundyte nach ihrer gefeierten Salzburger Elektra einen weiteren großen Erfolg. Der durchschlagende dramatische Sopran der litauischen Sängerin meistert die hohen vokalen Anforderungen staunenswert und darstellerisch zeichnet sie die Figur plastisch im Konflikt zwischen ihrer seelischen Verletzlichkeit und der leidenschaftlichen Natur. Szczesniak hat sie mondän gewandet bis zu einem rosa Ensemble aus Seide, Federn und Pelz. Die australische Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas gibt die Aglaja mit hellem Mezzo als emanzipierte junge Frau. Entsprechend vehement gestaltete sich ihre Konfrontation mit Myschkin im 3. Akt nach ihrem eher schlichten Lied vom „Armen Ritter“. Am Ende tötet Ragoschin Nasstassja und legt sich gemeinsam mit Myschkin auf ihr Totenbett – eine intime Szene der besonderen Art. Vladislav Sulimsky singt ihn mit markigem Bariton und zeichnet ihn als düstere, hintergründige Figur. Auch die mittleren Rollen  sind glänzend besetzt – mit dem ukrainischen Bariton Iurii Samoilov als skurrilem Lebedjew, dem Tenor Pavol Breslik als Ganja und  Margarita Nekrasova mit sattem Alt als Jepantschina.

Die litauische Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla, erfahren mit Weinbergs Musik durch die Leitung der Passagierin am Teatro Real Madrid und die Einspielung von Werken des Komponisten, dirigiert die Wiener Philharmoniker mit großem Gespür für die reichen Facetten der Musik – ihre schneidenden Akzente, die nervösen Passagen und die zarten Lyrismen. Die Aufführung am 15. August 2024 wurde mit Ovationen bedacht – ungewöhnlich bei einem so unbekannten Werk, aber ein deutliches Zeichen für die Qualität der Aufführung.

.

Mit Spannung erwartet wurde die letzte szenische Neuproduktion der diesjährigen Festspiele – Offenbachs Les Contes d´Hoffmann im Großen Festspielhaus, hatte es bei den Festspielen doch schon gefeierte Inszenierungen mit Plácido Domingo und Neil Shicoff gegeben. Der neue Titelheld Benjamin Bernheim ist ein exemplarischer Interpret im französischen Repertoire mit feinem, kultiviertem Tenor und idiomatischem Gebrauch der voix mixte. Die lyrische Stimme wirkt freilich in der Mittellage etwas schmal und kommt im Giulietta-Akt, besonders im Duett mit der Kurtisane, deutlich an ihre Grenzen. Als Ärgernis hat die französische Regisseurin Mariame Clément den Dichter zu einem Filmproduzenten gemacht, der seine drei Liebesgeschichten verfilmt. Nervend sind seine permanenten Anweisungen für die Akteure, seine genervten Reaktionen auf deren Unvermögen, seine Ideen umzusetzen. Ausstatterin Julia Hansen hat auf die Bühne ein Filmstudio mit Gerüsten und einer hohen schäbigen Wand gestellt. Hoffmann in Jeans und Blouson liegt alkoholisiert unter einem Einkaufswagen, in dem sich Filmrollen und Kameras befinden. Aus einer Mülltonne steigt die Muse, die Hoffmann als Nicklausse begleitet und ihn am Ende aus seiner Depression befreit. Kate Lindsey singt die Doppelrolle mit schmalem Mezzo von unsinnlichem, jaulendem Klang. Erst das Chanson „C´est l´ amour“ erklingt in schönem Fluss.

Salzburger Festspiele 2024/ Jacques Offenbach /“Les Contes d‘ Hoffmann“/Foto Monika Rittershaus

Hoffmanns erster Film kreist um die Puppe Olympia, die als Barbarella mit blonden Zöpfen und Schulranzen im Schottenröckchen dargestellt ist. Unter ihrer Bluse verbirgt sich ein Bustier von silbernem Metall, was der Figur einen Sciene-Fiction-Anstrich gibt. Die amerikanische Sopranistin Kathryn Lewek brilliert in dieser Partie vor allem mit virtuosen staccati und Tönen bis in die Extremhöhe.

Als Antonia in einem Biedermeier-Salon mit Treppenaufgang und Damenporträts an der tapezierten Wand überrascht sie mit zarter Lyrik und innigem Ausdruck.  Im Duett mit ihr wechselt Hoffmann vom Regisseur zum Darsteller des Liebhabers. In dieser Doppelfunktion ist er immer wieder zu sehen, was die Grundidee der Regisseurin in Frage stellt. Überraschend lässt sie am Ende des Antonia-Aktes nicht die Sängerin sterben, sondern Hoffmann nahe einem Herzinfarkt in den Armen von Nicklausse zusammenbrechen. Stimmig inszeniert ist der Gesang von Antonias Mutter, den spontan eine Regie-Assistentin (Géraldine Chauvet) übernimmt. während ihr Gemälde an der Wand aufleuchtet. Marc Mauillon in den vier Charakterpartien tönt hier als tuntiger Frantz nach pointiertem Beginn penetrant.

Nichts von venezianischer Pracht ist im Giulietta-Akt zu sehen, stattdessen die Rückseite der hohen Wand, versehen mit Neonröhren. Korrespondierend unerotisch klingt die Barcarolle zwischen Nicklausse und Giulietta. Dabei sorgt Lewek mit dem später voller Raffinement und vokaler Brillanz vorgetragenen Chanson „L´amour lui dit“ aus der Fassung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck für ein musikalisches Glanzlicht. In diesem Akt bringen herum geisternde Statisten mit Riesenaugen einen surrealistischen Effekt ein, während Christian Van Horn, der alle vier Bösewichte gibt, als Dr. Miracle und Dapertutto mit Hörnern und Schwanz ein konventionelles Mephisto-Klischee abgeben muss. Der amerikanische Bassbariton singt eine andere Fassung der „Diamanten“-Arie, seiner Stimme fehlen die dämonische Färbung und die Wandelbarkeit für die verschiedenen Charaktere. Im Duell tötet Hoffmann Schlemil (Philippe-Nicolas Martin) und trifft statt Giulietta, von der er sich betrogen sieht, noch ihren Vertrauten Pitichinaccio. Zuletzt sieht man ihn wieder an seinem Einkaufswagen, aber zum Glück sorgt die Muse für keinen so tristen Ausgang der Geschichte.

Wie Mariame Clément enttäuscht auch Marc Minkowski, dem es mit den Wiener Philharmonikern nicht gelingt, den Esprit der Musik einzufangen und eigene Akzente zu setzen. Mit seinen Musiciens du Louvre und in einem kleineren Haus hätte er wohl ganz anderer Klänge hören lassen. Ein großes Ensemble („Nur die Liebe macht uns groß“) beschließt die Inszenierung, die bei der Premiere noch umstritten war, am 21. August 2024 aber begeistert aufgenommen wurde. Bernd Hoppe

.

.

Fanbo und Pesaro. Il Bel Canto Ritrovato 2024 (über das wir in operalounge anlässlich der Gründung berichteten): Highlights von Lauro Rossi und Nicola Vaccaj. Das Opernfestival Il Bel Canto Ritrovato (IBR), das nun schon zum dritten Mal stattfindet, folgte auch in diesem Jahr dem Rossini Opera Festival in Pesaro und Umgebung. Das ROF schloss seine Pforten mit einer konzertanten Aufführung von Il viaggio a Reims am 23. August, und das IBR wurde am nächsten Abend im nahe gelegenen Fano mit Lauro Rossis Oper La casa disabitata eröffnet . In diesem Jahr stehen zwei Komponisten aus den Marken auf dem Programm, die beide eine enge Beziehung zu Pesaro haben: Lauro Rossi, der im nahe gelegenen Macerata geboren wurde, und Nicolai Vaccaj, der in Tolentino geboren wurde, aber lange Zeit in Pesaro lebte, wo sein Haus noch immer steht, nur einen Häuserblock von der Casa Rossini entfernt. Das Festival umfasste zwei Hauptveranstaltungen: eine szenische Aufführung von Rossis Oper im Teatro della Fortuna in Fano am 24. August und ein Vokalkonzert mit Orchester mit Auszügen aus längst vergessenen Vaccaj-Opern im Teatro Rossini in Pesaro am 25. August.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Auch andere Veranstaltungen standen auf dem Programm: „Il Buffo all’Opera“, ein interessantes Konzert mit komischen Stücken aus Opern von Rossi, Ricci und anderen aus dieser Zeit, das in Urbino und später in Pesaro aufgeführt wurde, und „I Marchigiani alla Scala“ mit Auszügen aus Opern von märkischen Komponisten (Federico, Vaccaj, Rossi, Nini, Rossini und Salieri) in der Scala. Kurze Konzerte auf den Balkonen der Casa Rossini und der Casa Vaccaj sowie wissenschaftliche Vorträge über die Komponisten waren ebenfalls Teil des Festivals.

Zu seiner Zeit galt La casa disabitata als das Meisterwerk von Lauro Rossi. Der in Macerata geborene Rossi (1810-1885) hatte 1829 kurz nach Abschluss seines Studiums in Neapel debütiert und bereits zehn Opern komponiert, als La casa disabitata am 16. August 1834 nach einem Libretto von Jacopo Ferretti an der Scala uraufgeführt wurde. Es war ein großer Erfolg und Rossi überarbeitete es etwa zehn Jahre später unter dem Titel I falsi monetari für Aufführungen in Turin. Die Oper war viele Jahre lang weit verbreitet, bis nach Spanien und sogar nach Mexiko, wo sie von einer von Rossi selbst geleiteten Truppe aufgeführt wurde. Es war die von Damiano Cerutti herausgegebene Fassung von 1844, die zum ersten Mal in der Neuzeit in Fano wiederaufgeführt wurde, obwohl man sich für den ursprünglichen Titel La casa disabitata „ ( Das unbewohnte Haus“) entschied, da dieser Begriff für die Handlung zentraler ist als der andere Titel Die Fälscher“.

Lauro Rossis Oper „La casa disabitata“ beim IBR 2024 in Fano/ Foto IBR

Ferrettis Handlung für La casa disabitata geht weit zurück, bis hin zu Plautus‘ altrömischer Komödie Mostellaria, in der der schlaue Sklave Tranio den Besitzer eines Hauses davon überzeugt, dass es in dem Gebäude spukt, damit Tranios Herr darin ungestört eine Affäre mit seiner Freundin haben kann. In Ferettis Libretto, das direkt auf einem Theaterstück von Giovanni Giraud (Rom, 1808) basiert, geht es um einen wohlhabenden Spanier, Don Raimondo Lopez, der sechs Jahre zuvor sein Haus auf der Suche nach seiner Geliebten Annetta verlassen hat, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Während er auf der Suche nach ihr war, wurde das Haus von einer Bande von Fälschern übernommen, die von Don Isidoro angeführt wird, der auch Raimondos wichtigster Domo ist. Isidoro hat Annetta entführt und hält sie im Haus gefangen, um sie dazu zu bringen, ihn zu lieben, da er sich in sie verliebt hat. Um die Neugierigen fernzuhalten, haben Isidoro und seine Männer verbreitet, dass es in dem Haus spukt. Raimondo kehrt von seiner Suche zurück und findet Don Eutichio und seine Frau Sinforosa auf dem Marktplatz neben dem Haus. Eutichio ist ein verarmter Dichter/Librettist, der gerade zusammen mit Sinforosa aus seiner Wohnung geworfen wurde, weil er die Miete nicht zahlen kann. Raimondo bietet sein Haus mietfrei für jeden an, der dort wohnen kann. Eutichio beschließt, das Angebot anzunehmen, trotz des schaurigen Rufs und obwohl seine eifersüchtige (und ältere) Frau vermutet, dass er das Haus für eine Affäre mit einem Mädchen nutzen will.

Im 2. Akt befindet sich Eutichio im Haus, als Mitternacht naht. Die als Gespenster und Dämonen verkleideten Fälscher quälen ihn, bis er schließlich vor Angst zusammenbricht. Annetta, der es endlich gelungen ist, aus ihrem Gefängnis zu entkommen, betritt das Zimmer und weckt versehentlich Eutichio, der sie für ein Gespenst hält. Sie hat ihn gerade davon überzeugt, dass sie aus Fleisch und Blut ist, als Sinforosa hereinplatzt; sie glaubt, dass Eutichio und Annetta eine Affäre haben, und es kommt zu einem Zickenkrieg zwischen den beiden Frauen. Isidoro kommt als Geist verkleidet herein und wird von Eutichio erschossen. Raimondo, der schon die ganze Zeit ruchlose Machenschaften vermutet hat, trifft ein und sieht seine geliebte Annetta. Am Ende wird alles gut: Die „Geister“ werden entlarvt, Annetta und Raimondo werden vereint und Eutichio und Sinforosa versöhnen sich.

Die Musik ist ein wahrer Strom von eingängigen, italienischen Melodien. Isodoro und Annetta singen in der Eröffnungsszene beide Romanzen, er sanft („Amo sprezzato, ed ardo“), sie trotzig („Aprirò fra voi la scuola“). In der nächsten Szene ist ein Marktchor mitreißend und Raimondo hat eine brillante Arie mit Cabaletta. Eutichio und Sinforosa stellen sich in einem komischen Duett vor, gefolgt von einem Quartett. Annetta singt in ihrem Gefängnis eine unwiderstehliche „Canzone alla spagnola“, gefolgt von einem lebhaften Duett mit Isidoro, bevor das große Concertato-Finale des 1. Im 2. Akt gibt es ein großartiges Duett zwischen dem misstrauischen Raimondo und dem verräterischen Isidoro, gefolgt von einer langen, lustigen Szene und Arie für Eutichio, der versucht, sein Libretto für einen neuen Don Giovanni nach „modernem“ Geschmack zu überarbeiten und dabei von den „Geistern“ gequält wird. Ein lustiges Duett mit der entflohenen Annetta wird zum Trio, als Sinforosa auftaucht, voller Eifersucht und Bosheit, und alles endet mit dem fröhlichen Finaletto. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses fröhliche Finale aus der Partitur von 1834 oder aus der Revision von 1844 stammt, aber es klingt sehr nach dem Finale von Don Pasquale (1843). Zufall? Eine Reminiszenz?

Der Chor hat in dieser Oper viel zu tun und die verschiedenen Ensembles sind noch köstlicher als die Soli, die Orchestrierung ist solide und interessant. Klingt es nach jemand anderem? Nicht wie Rossini, gelegentlich wie Donizetti, aber es ist wahrscheinlich sicherer zu sagen, dass Rossi und Donizetti in diesem Stadium ihrer Karriere wie der jeweils andere klingen. Rossi hat jedoch seine eigene Stimme, die eher der neapolitanischen Popoloresco-Seite Donizettis ähnelt, als seiner eher formalen Stimme. Diejenigen, die die CD-Aufnahme von Rossis Il domino nero gehört haben, werden wissen, was ich meine. Rossis Musik hat sich sicherlich mit der Zeit entwickelt, wie Aufführungen seiner späten Cleopatra (1876) in dem nach ihm benannten Theater in Macerata vor einigen Jahren gezeigt haben. Aber es ist sein Hang zur Komödie und zur eingängigen Melodie, den wir hier haben, und wahrscheinlich auch in einigen anderen komischen Opern dieser Zeit wie Dottor Bobolo, o la fiera (1847) – eine Oper, die ich gerne aufgeführt sehen würde.

Die IBR-Produktion in Fano war aus musikalischer Sicht erstaunlich gut. Enrico Lombardi leitete das Orchestra Sinfonica G. Rossini mit absoluter Klarheit und Prägnanz in einer völlig unbekannten Partitur, für die das Orchester (und der Chor), die im Rahmen des Rossini-Festivals intensiv an Opern gearbeitet hatten, nur wenig Zeit zum Einstudieren hatten. Mirca Rosciani, die Chordirektorin, verdient ein ebenso großes Lob, denn diese Oper enthält viel Chormusik. Obwohl spezielle Fernsehmonitore aufgestellt wurden, um dem überlasteten Chor zu helfen, sich an seinen Text zu erinnern, schienen sie dies nicht zu brauchen und spielten und sangen als Dorfbewohner, Fälscher, „Geister“ und „Dämonen“.

Pressevorstellung des Festivals IBR 2024/IBR

Auch die Hauptsängerinnen und -sänger leisteten Außergewöhnliches bei der Aufführung dieser unbekannten Musik. Tamar Ugrekhelidze zeigte einen attraktiven Mezzosopran, besonders in den spanischen Rhythmen ihrer „Canzone alla Spagnolo“ im ersten Akt, und Vittoriana De Amicis hatte einen präzisen und brillanten Koloratursopran für die Sinforosa, obwohl sie Jahrzehnte jünger aussah (und ist), als die Sinforosa eigentlich sein sollte. Jennifer Turri war eine kecke Ines, mehr oder weniger die Leadsängerin des Chores. Antonio Mandrillos solider Tenor war in seiner Arie mit Cabaletta und in den vielen Ensemblestücken ein starker Trumpf. Das Gleiche gilt für Matteo Mancini als mürrischer Isidoro. Vielleicht am besten von allen war Giuseppe Toia als Don Eutichio, der mittellose Dichter. Er schauspielerte gut, besser als die anderen, und sang hervorragend in der Buffo-Rolle. Martin Csölley als Alberto rundete die Besetzung ab. Tatsächlich gab es unter den Sängern kein schwaches Glied, wie es bei fortgeschrittenen Schülern oft der Fall ist. Wie das Orchester und der Chor hatten sie nur wenig Zeit zum Proben, und die Oper enthält mehrere wirklich komplexe Ensemble-Nummern. Bravissimi an sie alle.

Die einfache Inszenierung stammt von Cristina Pietrantonio. Es gab Hintergrundprojektionen in Schwarz und Weiß, die von den Studenten der Sezione Audiovisivi e Multimedia des Liceo Artistico Mengaroni in Pesaro entworfen wurden. Die Kostüme waren eine Mischung aus historischer und zeitgenössischer Kleidung, und die Fälscher verwandelten sich mit Hilfe von dunklen Schleiern über ihren Gesichtern in Geister. In einer Szene brachten sie große Luftballons mit aufgemalten Augen an Stöcken hervor. Titelkarten, wie sie für Stummfilme verwendet wurden, wiesen auf die Szenen hin. Es war einfach, aber wirkungsvoll. Die Sängerinnen und Sänger haben meist nicht viel gespielt. Ich glaube, sie hatten ihre Augen oft auf den Dirigenten gerichtet, was auf die Unbekanntheit der Musik und den Mangel an Probenzeit zurückzuführen ist. Toia’s Eutichio und manchmal De Amicis‘ Sinforosa waren die Ausnahmen. Ferretti, der auch die Libretti für Rossinis Cenerentola und Mathilde di Shabran schrieb, hat hier ein sehr lustiges Libretto verfasst, und die Inszenierung nutzte das komödiantische Potenzial nicht immer aus. Mit mehr Probenzeit oder erfahreneren Sängern, oder beidem, wäre La casa disabitata ein sehr komisches Werk. Die brillante musikalische Leistung wird jedoch zu gegebener Zeit zu einer CD (von Bongiovanni) führen, die für alle Belcanto-Liebhaber ein Muss ist. (Die CD der letztjährigen Bel Canto Ritrovato-Oper, Riccis Il birraio di Preston, wurde gerade veröffentlicht und ist ebenfalls ein Muss für Belcanto-Liebhaber).

********

Der Komponist Nicola Vaccaj/ Wikipedia

Der andere Schwerpunkt des diesjährigen Festivals war das Werk von Nicola Vaccaj, und die Aufführung, mit der Vaccaj gefeiert wurde, war ein Konzert mit sehr seltenen Auszügen aus seinen Opern, dargeboten von einer Phalanx feiner Sänger und wiederum dem Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Daniele Agiman, der auch der künstlerische Leiter des Festivals ist. Beim Betreten des Konzertsaals, des Teatro Rossini in Pesaro, fielen dem Publikum die beiden gemalten Medaillons auf dem Bühnenvorhang auf, die von Angelo Monticelli anlässlich der Eröffnung des Hauses im Jahr 1818 (mit Rossinis La gazza ladra unter der Leitung des Komponisten selbst) gemalt worden waren. Die gemalten Medaillons zeigen Rossini in einer Ecke und Vaccaj in der anderen. Vaccaj (1790-1848) war zwei Jahre älter als Rossini; ihre Eltern waren befreundet und die Jungen wuchsen zusammen auf. Zu der Zeit, als das wieder aufgebaute Opernhaus eingeweiht wurde, galten beide als wichtige Söhne der Stadt. Heute ist das Porträt Vaccajs verblasst und verschwommen – auf dem Vorhang wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Das Konzert am 25. August stand unter dem Titel „Nicola Vaccaj, Profilo d’Autore“. Es gab großzügige Ausschnitte aus sieben von Vaccajs achtzehn Opern, die einen Zeitraum von 1816 bis 1838 umfassen: Malvina (1816), La Pastorella feudataria (1824), Zadig ed Astartea (1825), Giovanna d’Arco (1827), Giovanna Gray (1827), Saladino e Clotilde (1828) und Marco Visconti (1838).

Vaccajs Portrait rechts unten auf dem historischen Abschluss-Vorhang im Teatro Rossini Pesaro/Wikipedia

Seine berühmteste Oper, Giulietta e Romeo, war nicht unter den ausgewählten Werken, vielleicht weil sie in der Neuzeit (in Jesi) aufgeführt und aufgenommen wurde. Die Musik hat eine klassische Zurückhaltung mit Anklängen an Bellini. Es ist erstaunlich, dass die meisten dieser Werke beim Publikum durchfielen. Dies gilt nicht für das Duett Presso un ruscello limpido“ aus Pastorella feudataria, das in der Tat eine schöne, klare Melodie mit Harfeneinleitung und -begleitung aufweist. Die Buffo-Arie aus Malvina war wie viele solcher Arien aus Rossinis frühen, für Venedig komponierten Farcen , und diese Oper (die scheiterte) war Vaccajs Versuch, auf dem venezianischen Markt Fuß zu fassen. Alle Stücke zeigen die volle Beherrschung der Techniken der damaligen Zeit, sowohl für die Sänger als auch für das Orchester. Nicht weniger konnte man vom Autor des „Metodo Pratico di Canto Italiano“ erwarten, das Vaccaj während seines Aufenthalts in England schrieb, wo er auf Opernaufträge gehofft hatte, die nicht zustande kamen. Dieses didaktische Werk, das noch heute von Sängern verwendet wird, ist wahrscheinlich Vaccajs wichtigster Beitrag zur Oper.

Il Bel Canto Ritrovato hatte vier hervorragende Sängerinnen und Sänger, um dieses Material zu untersuchen: Laila Alamanova (Sopran), Marta Pluda (Mezzosopran), Brayan Avila Martinez (Tenor) und der berühmte Bruno De Simone (Bariton). De Simone, ein Veteran vieler Komödien des Rossini-Festivals, verankerte die jungen Sänger, die alle außergewöhnlich stark und gut vorbereitet waren. Pluda hat einen ansprechenden Mezzo, reichhaltig und mit makelloser Technik ausgestattet; Alamanovas Sopran ist solide und volltönend von oben bis unten, und auch sie ist eine Meisterin der feinen Koloraturtechnik. Martinez war ebenfalls gut, und natürlich ist De Simone in jeder Hinsicht ein Profi.
Es war ein Genuss, und der Applaus des großen Publikums war lang und anerkennend. Bongiovanni hat das Konzert aufgezeichnet, und es wird eine CD davon geben, ebenso wie von der Rossi-Oper.
.
Il Bel Canto Ritrovato bezeichnet sich selbst als „Festival Nazionale“, aber es ist ein zunehmend internationales Festival, das sich sowohl an ein lokales als auch an ein internationales Publikum richtet. Es basiert auf der Prämisse, dass italienische Komponisten etwa zwischen 1790 und 1850 eine enorme Anzahl lyrischer Werke schufen, um ein gefräßiges Publikum anzusprechen. Das Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses riesige und vergessene Repertoire zu erforschen und jedes Jahr ein oder zwei ehemals populäre Werke ans Tageslicht zu bringen oder ein neues Licht auf Komponisten zu werfen, die im Vergleich zu Verdi oder Rossini „unbedeutend“ sein mögen, aber reizvolle Werke komponiert haben, die es nicht verdienen, in Archivregalen zu verstauben. Dies ist eine praktisch unerforschte Schatztruhe des mächtigen italienischen künstlerischen Erbes, die nicht ignoriert werden sollte, und dank des IBR wird der Deckel dieser Truhe nun angehoben. Charles Jernigan/ Übersetzung DeepL

.

.

Giacomelli Giulio Cesare beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024: Opernstoffe aus der römischen Geschichte sowie „exotische“ Schauplätze waren im 18. Jahrhundert vor allem in der Handels­republik Venedig – deren Kaufleute ständig mit fremden Kulturen in Kontakt kamen – äußerst beliebt, wobei sich das ägyptische Sujet als außerordentlich populär erwies. Die Liebesgeschichte zwischen Julius Caesar und Kleopatra (die aus Makedonien stammte und somit Griechin aus dem früheren Imperium Alexanders des Großen war) wurde bereits in den Schriften der antiken Historiker Plutarch und Sueton erwähnt und war dem venezianischen Publikum bereits gut bekannt. Sie wurde unzählige Male von Librettisten bearbeitet und von Komponisten vertont, unter anderem auch von Geminiano Giacomelli.

Geminiano Giacomelli/ Wikipedia

Der heute fast vergessene Komponist (geboren am 28. Mai 1692 in Piacenza, gestorben am 25. Januar 1740 in Loreto) hat etwa 10 Jahre nach Georg Friedrich Händels „Masterpiece“ seinen „Cesare in Egitto“ herausgebracht. Giacomelli schuf ungefähr zwanzig Opern, Pasticci, Arien und Intermezzi für verschiedene italienische Städte.

Bis vor einiger Zeit war Geminiano Giacomelli nur wenigen Kennern der Barockoper ein Begriff. Doch in den letzten Jahren hat die Musik dieses zu Lebzeiten hochgeschätzten Komponisten, der regelmäßig für die größten Häuser Italiens und die bedeutendsten Gesangsvirtuosen seiner Generation schrieb, eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, sowohl auf der Konzertbühne als auch in Gesangsrezitals und Einspielungen.

Zu seiner Biografie: 1727 wurde Giacomelli auf ausdrücklichen Wunsch des Herzogs Francesco Farnese auf Lebenszeit zum Kapellmeister von San Giovanni in Piacenza ernannt. Dazu erhielt er das Vorrecht, nach Belieben abwesend zu sein, sofern er für eine Vertretung sorgte und Kompositionen lieferte. Außerdem war er Kapellmeister am Hofe von Parma, ausserdem an der dortigen Kirche San Giovanni della Steccata sowie später Kapellmeister an der Kirche Santa Casa in Loreto, wo er auch starb.

Uraufgeführt wurde Giacomellis „Cesare“ 1735 als Karnevalsoper im Teatro Regio Ducale in Mailand, dann wurde die Oper schon im November desselben Jahres im Teatro San Giovanni Crisostomo in Venedig, nachgespielt. Es folgten Florenz, Graz und Verona.

Die Vorstellungen der Oper am venezianischen Teatro San Giovanni Crisostomos schienen besonders erfolgreich gewesen zu sein. Schon in zeitgenössischen biografischen Artikeln zu Giacomelli wird „Ce­sare in Egitto“ als eines der Meisterwerke des Komponisten hervorg­ehoben. Von Venedig verbreitete sich das Werk in ganz Europa.

Giacomellis wachsender Ruhm als Opernkomponist ermöglichte Giacomelli zahlrei­che Reisen und Tätigkeiten auch nördlich der Alpen. So war er 1737 Theaterdirektor in Graz, wo er unter anderem Aufführungen seines schon damals recht populären “Cesare“ aufführte.

Auch wenn Domenico Lalli offiziell als Librettist des „Cesare“ gilt, darf vermutet werden, dass verantwortlich für viele textliche Details und Arientexte, kein anderer als der junge, aufstrebende Carlo Goldoni war. Am Teatro San Giovanni Crisostomo war Goldoni Lallis Assistent, daher wurde Goldonis Arbeit an den Textbüchern nicht einmal mit einer eigenen Signatur gewürdigt. „Cesare in Egitto“ ist mit dem Namen Domenico Lalli unterzeichnet, ohne Erwähnung Goldonis. Dieser scheint jedoch damit völlig einverstanden gewesen zu sein.

Unter dem Motto „Wohin kommen wir? Wohin gehen wir“ steht vom 21. Juli bis 30. August 2024 die Wiederaufführung der Oper „Cesare“ von Geminiano Giacomelli auf dem Programm des diesjährigen Festivals Alter Musik in Innsbruck, dessen finanzielle Verhältnisse erfreuli­cherweise als stabil gelten dürfen. Ottavio Dantone hat Giacomellis Oper für seine erste szenische Produktion als neuer Musikalischer Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik auserkoren. Eine an sich begrüßenswerte Ausgrabung eines vergessenen Werks.

Man spielt allerdings nicht die Kritische Ausgabe von Holger-Schmitt Hallen­berg., der gleichwohl einen gelehrten Essay im Programmheft beisteuert, sondern eine Kritische Ausgabe von Bernardo Ticci und Ottavio Dantone nach der Uraufführungsversion von Venedig 1735. Als Librettisten werden ausdrücklich Carlo Goldoni und Domenico Lalli genannt. Dantone nennt das dreiaktige „dramma per musica“ schlicht „Oper“.

Er wolle „die Emotionen der damaligen Zeit ins Heute übersetzen“, so erklärte der Italiener seine künstlerische Programmatik. Dass sei eben etwa durch die Reduzierung der Spieldauer möglich. Damit gelinge „eine Anpassung an die heutigen Gegebenheiten.“ Tatsächlich dauert die Aufführung „nur“ drei Stunden, doch die werden lang! Dantone erklärte vorab: „Unser Ziel ist es, dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen.“

Die Inszenierung von Leo Muscato, der sein Debut in Innsbruck gibt, löst dieses Versprechen nur bedingt ein. Er verlegt die Handlung in das augenscheinlich schon muslimisch besetzte Ägypten, die Herren Ägypter tragen den klassisch arabisch-türkischen Fez (in blau) zu sandfarbenen Uniformen. Die Leibgarde des ägyptischen Hofes trägt moderne rote Kampfanzüge und Helme, die Kalasch­nikows stets im Anschlag. Die Herren fuchteln in Machopose mit Pistolen herum, oder sie rennen von einem Raum der aus altägyptischen Tempelruinen bestehenden Drehbühne in den nächsten.

Im Hintergrund fünf römische rote Krieger mit geschlossenen Helmen als Kolossalstatuen. Während der Ouvertüre stehen sie an der Rampe.

Bei den vielen Arien verharren die Sänger meistens in theatralischer Starre. Die Kostüme (Giovanna Fiorentini) sind zeitlos modern, vor allem die der Damen. Cesare, der von einer Frau gesungen wird, was die erotische „Sache“ nicht sehr glaubwürdiger macht, trägt einen roten Kampfanzug, Cleopatra indifferente Damengewandung mit Turban. Alle altägyptischen Erwartungen in Kostümierung (wie Dekoration) werden Lügen gestraft.

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Ob die nicht wirklich einsichtige Aktualisierung geeignet ist, eine „Anpassung an die heutigen Gegebenheiten“ zu vermitteln oder gar „dem Publikum die stärksten Emp­findungen erlebbar zu machen, die Wahr­nehmung von Raum und Zeit aufzuheben und sie in eine ferne und dennoch gegenwärtige Ära mitzunehmen,“ sei dahingestellt. Gewiss zeigt das bewegte, leicht variierte Bühnenbild von Andrea Belli immer wieder schöne Momente, zumal in stimmungsvoller Beleuchtung von Alessandro Verazzi, aber die Aufführung ist weitgehend statisch, spannungslos, um nicht zu sagen langweilig. Die Personenführung ist weitgehend konventionell, von Personen­psychologie kann kaum geredet werden, allerdings enthält das (deutsch übertitelte) Libretto auch wenig individuelle Charaktere, verbleibt weitgehend stereotyp und reichlich pathetisch. Worthülsen statt Emotionen. Eine gefühllose Staatsaktion. Wie überwältigend anders kommt Händels (und seines Librettisten Nicola Francesco Hayms) „Giulio Cesare“ daher. Und selbst Carl Heinrich Grauns “Cesare e Cleopatra“ ist um Vieles lebendiger, überzeugender, weniger klischeehaft, gefühlsechter und auch – last not least – musikalisch interessanter, ja faszinierender.

Von seinen Zeitgenossen wurde Giacomelli sowohl als Opernkom­ponist als auch als Gesangslehrer hochgeschätzt. Es gelang ihm, wie Benedetto Marcello im siebten Brief seines „Estro poetico-armonico rühmte, „seine Werke optimal an die Fähigkeiten der jeweiligen Sänger anzupassen. Gleichzeitig hatte er ein starkes Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und eine schlichte traditionelle Tonsprache, durch die er große Popularität erlangte. Seine Melodien wirken weich, spontan und kantabel. Sie sind dem Zeitgeschmack entsprechend mit Vokalisen und Koloraturen Gespür für die Bedürfnisse des Theaters und Modulationen belebt.“ Das mag schon sein, aber die Bedürfnisse des Theaters wie des Publikums, die Hörgewohnheiten und die Erwartungen an die Oper. waren zu Giacomellis Zeiten eben andere als heute.

Giacomellis Vertonung des „Cäsar“-Stoffs hält dem uns vertrauten Händelschen Vorbild jedenfalls nicht stand.  Er erreicht das psycholo­gische Einfühlungsvermögen Händels nicht, auch wenn er sich bemüht, einen präzisen Blick auf die Seelenzustände seiner Protagonisten in Töne zu setzen. Doch die Arien seiner Protagonisten sind eher hochvir­tuos als persönlichen oder gar gefühlvoll. Man kann sie bewundern, aber man wird von ihnen nicht berührt.

Giacomellis schon zu seinen Lebzeiten sowohl in der Gesangslinie als auch im genau durchgearbeiteten Orchestersatz als anspruchsvoll geltende Musik, akzentuiert die Persönlichkeitszüge häufig mit großen Intervallsprüngen, expressiven Dissonanzen, synkopierten Akzenten und einer oft imitierenden, selbständigen zweiten Violinstimme. Anspruchsvoll kann man seine Musik wohl nennen, (uns heute affizierende) Gefühlstiefe ist ihr fremd.

Ottavio Dantone und seine Accademia Bizantina bemühen sich redlich, nach Maßgabe der historisch informierten Aufführungspraxis die Reize der Musik Giacomellis, das ihr Eigene und Besondere zu Gehör zu bringen. In der dreiteiligen, recht rasant genommenen Ouvertüre hörte sich das noch vielversprechend an, doch im weiteren Verlauf des Abends machte die Musik einen immer drögeren Eindruck, gar nicht zu. Nicht zu reden von den vielen, langen Rezitativen

Geminiano Giacomellis“Giulio Cesare“ beim Festival für Alte Musik Innsbruck 2024/ Foto Birgit Gufler

Vor allem das (bei Händel) so Flirrende, das erotisch Bezaubernde Cleopatras vermisst man. Sie wird im Libretto als eiskalte, ehrgeizige Machtpolitikerin gezeichnet, die nur Eines im Sinne hat: Das römische Imperium an sich zu reißen. Ihre Liebe zu Cäsar ist lediglich strategisch und berechnend. Wenn überhaupt, ist die Rolle der Cornelia „sympathisch“ gezeichnet, obwohl auch sie eine selbstsüchtige Politikerin ist, die ihre Rolle im rücksichtslosen und grausamen Machtpoker des Stücks spielt, in dem die Frauen die dominanten Persönlichkeiten sind und Cäsar eher eine „milde“, weshalb das Stück auch mit einem „lieto fine“ endet.

Die sängerische Besetzung der Aufführung ist – zumal auf weiblicher Seite – vorzüglich, bei den männlichen Partien gab es hingegen Licht und Schatten: Die Sopranistin Arianna Vendittelli singt einen anständigen, wenn auch (naturgemäß) wenig „männlichen“ Giulio Cesare. Die Mezzosopranistin Emöke Baráth singt eine hochvirtuose, aber keineswegs einschmeichelnde oder gar betörende Cleopatra, Königin von Ägypten und Schwester des Tolomeo. Die sängerischen Höhepunkte des Abends sind der Altistin Margherita Maria Sala zu verdanken, die eine beeindruckende Cornelia, Witwe des Pompeo singt.  Der Tenor Valerio Contaldo leiht Tolomeo, König von Ägypten seine Stimme. Der Sopranist Federico Fiorio singt den römischen Senator Lepido, Liebhaber der Cornelia, den Achilla, General des Tolomeo der Countertenor Filippo Mineccia. Alles in allem eine respektable, aber nicht gerade mitreißende Reanimierung. Dieter David Scholz

.

.

Familienangelegenheit: Luigi Riccis Chi dura vince in Neuburg an der Donau. Die Neuburger Kammeroper in Neuburg an der Donau, einem malerischen Städtchen an der Donau, ist vielleicht nicht über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt, aber sie spielt jeden Sommer für ein paar Wochenenden in dem exquisiten, winzigen Stadttheater aus dem Jahr 1869. Es werden eine zweiaktige Oper oder manchmal zwei einaktige Opern aufgeführt, die immer komisch sind. Sie werden auch immer auf Deutsch aufgeführt, unabhängig von der Originalsprache, und mit gesprochenen Dialogen. Außerdem handelt es sich immer um sehr ungewöhnliche Werke aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die man sonst nirgendwo zu hören bekommt. Im Jahr 2019 haben Peggy und ich zwei Einakter von Ferdinand Hérold gesehen, L’Auteur Mort et Vivant und Le muletier. In diesem Jahr war die Oper von Luigi Ricci, eine italienische Komödie in zwei Akten, die im Original Chi Dura Vince heißt, oder Eine Rosskur in der modernen deutschen Übersetzung von Annette und Horst Vlader. Es handelte sich um die 56. Aufführung des Festivals, das 1969 begann.

Luigi Ricci: „Eine Rosskur“ in Neuburg an der Donau/Szene/Foto Kammeroper Neuburg

Chi Dura Vince bedeutet „Wer ausharrt, gewinnt“, und der deutsche Titel lautet wörtlich „Eine Rosskur“, was eine drastische Heilung bedeutet, ein Ein-Wort-Ausdruck der englischen Idee „it will make you well if it doesn’t kill you first“. Das Libretto von Jacopo Ferretti ist eine Version der Geschichte, die Shakespeare in Der Widerspenstigen Zähmung “ verwendet hat , mit einigen Buffo-Bässen, die die Geschichte über eine zänkische Ehefrau, die sich der Pferdekur“ unterzieht, auflockern. Der Graf Sanviti hat eine junge, aber verarmte Adelige namens Fiorina geheiratet, die er als hochmütig, kapriziös und geradezu gemein empfindet. Er hat sie während der Flitterwochen im Stich gelassen, um seinen Plan für eine „Heilung“ zu verfolgen, indem er sich zunächst als Bauer verkleidet, der eine Stelle auf einem Schloss bekommt, das er selbst gerade gekauft hat. Das Schlossgut wird von zwei Taugenichtsen verwaltet, Gennaro, dem Aufseher, und Giovanni, der auf dem Gut eine Hutmacherei betreibt (in unserer Produktion ein Weingut). Als Fiorina eintrifft und sich über alle Einheimischen hinwegsetzt (auch über Biagio, den Chef der örtlichen Polizeibrigade), ist sie schockiert, als sie erfährt, dass sie keinen Grafen geheiratet hat, sondern jemanden, der auf den Ländereien des Grafen arbeitet. Wut und Abscheu verwandeln sich im zweiten Akt in Entsetzen und Eifersucht, als sie glaubt, ihr Mann wolle sie zugunsten einer neuen Liebe verlassen, nämlich der Baronin Galeotti (die in Wirklichkeit die Schwester des Grafen Sanviti ist). Die Eifersucht lässt sie erkennen, dass sie ihren Mann wirklich liebt, der sich praktischerweise als der echte Graf entpuppt, und die Geschichte endet mit einem fröhlichen Walzerlied.

Der meiste Spaß in der Oper entsteht nicht durch die Geschichte der Verwechslungen und Missverständnisse, sondern durch die Possen von Gennaro und Giovanni und ihre Begegnungen mit der Gräfin Fiorina. Sie überwinden bald ihr Erstaunen über ihre hochmütige Behandlung und geben so viel zurück, wie sie bekommen. Eine der besten Nummern der Partitur ist das Buffo-Duett „Ser Gennaro…Ser Giovanni/Quante pene, quanti affanni“ im zweiten Akt. Ein Genuss ist auch Gennaros eröffnende Buffo-Nummer „Ehi plebe! Volgo! Sudditi!“, in der er sich über die Bauern lustig macht, während diese ihn verspotten. Die Baronin, die zum ersten Mal im zweiten Akt auftaucht, ist auch mit von der Partie, aber sie ist die „seconda donna“, und als solche hat sie in der Originalpartitur keine eigene Arie. Also haben die Neuburger zur Bereicherung ihrer Rolle Musik interpoliert, und zwar aus (wie man mir sagte) Riccis Il birraio di Preston, das letztes Jahr beim Festival Il Bel Canto Ritrovato in Pesaro aufgeführt wurde.

Federico und Luigi Ricci /Wikipedia

Luigi Ricci hatte zusammen mit seinem Bruder Federico am Konservatorium von Neapel studiert, und zwar unter der Leitung von Vincenzo Bellini, der als Seniorstudent eine Art Assistent des Absolventen war. Auch Luigi begann seine Karriere dort mit L’impresario in angustie (1823), der ersten von etwa dreißig Opern, die er schreiben sollte, einige davon in Zusammenarbeit mit seinem Bruder. Seine erfolgreichsten Werke scheinen komisch gewesen zu sein. Acht von ihnen entstanden in Zusammenarbeit mit Jacopo Ferretti, einem römischen Geschäftsmann aus der Tabakindustrie, der nebenbei Libretti schrieb, darunter das für Rossinis La Cenerentola. Ferretti hatte eine klassische Ausbildung genossen und kannte die Möglichkeiten von Missverständnissen und Verwechslungen aus den Farcen des Plautus. Dieses Wissen nutzte er in Chi Dura Vince, dessen Untertitel La Luna di Miele – Die Flitterwochen lautet, was sicherlich ironisch gemeint ist, denn die Flitterwochen der Sanvitis sind alles andere als das.

Chi Dura Vince wurde 1834 in Rom uraufgeführt. Es erlebte eine rege Aufführungsgeschichte und wurde lange nach Luigis Tod (1859) von Luigi Riccis Bruder Federico überarbeitet und 1876 in Paris als La petite comtesse wiederaufgeführt. Die Musik ist immer melodiös und voluminös und manchmal unvergesslich. Je mehr wir von den Brüdern Ricci (und vor allem von Luigi) hören, desto mehr verstehen wir, dass ihr Werk eine Brücke zur leichten Oper und zur Operette des späteren neunzehnten Jahrhunderts bildet. Die leichte Orchestrierung hat Operettenqualität, und die meisten Rollen sind technisch nicht so schwierig wie die Opernrollen der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Die Brüder Ricci wirken wie ein Bindeglied zu Franz von Suppé und zu den Strauss-Brüdern. Die abschließende Walzernummer „Ah! Che al brillar dell’iride“ ist nicht nur fröhlich und einprägsam, sie ersetzt auch das kunstvolle Cabaletta- oder Rondo-Finale, das früher diesen Ehrenplatz einnahm.

Diese Opern waren dafür gemacht, in kleinen und Provinztheatern und gelegentlich auch in großen Häusern gespielt zu werden. Sie eignet sich perfekt für die intimen Räumlichkeiten des Neuburger Stadttheaters und das Gemeinschaftsgefühl der Aufführungen, bei denen Bürgerinnen und Bürger aus der Umgebung im Chor singen, die Bühnenbilder bauen, die Kostüme nähen oder sogar einige der Hauptrollen übernehmen – oder die Regie übernehmen. Das ganze Unterfangen hat etwas Familiäres: Chormitglieder in Kostümen mischen sich unter das Publikum und verkaufen vor der Aufführung Programme, und die Darsteller mischen sich in der Pause unter das Publikum. Viele von ihnen sind Nachbarn, die ihre Nachbarn unterhalten.

Selbst die Hauptsopranistin, die Gräfin Fiorina (im italienischen Original Elisa genannt), Da-yung Cho, ist in Wien geboren und aufgewachsen, obwohl die Familie aus Korea stammt. Ihr heller Sopran wäre sowohl für die Operette als auch für die Oper geeignet, und ihre Technik war sicher. In dem kleinen Saal funktionierte alles perfekt, und ihr Schauspiel war perfekt. Frau Da-yung Cho hat schon früher in Neuburg gearbeitet und ist Teil der Familie. Patrick Ruyters war ebenfalls ein Volltreffer und ein fähiger Farceur als Gennaro. Seine Baritonstimme ergänzte den Giovanni von Michael Hoffmann, der seit vielen Jahren an der Neuburger Kammeroper engagiert ist. Horst Vlader (Biagio) ist einer der Gründungsväter des Neuburger Ensembles und trägt seit Jahrzehnten mit seinen vielen Talenten zum Erfolg des Ensembles bei, auch als Comprimario. Der polnische Tenor Karol Bettley spielte die Rolle des Grafen. Seine Stimme würde vielleicht besser zur musikalischen Komödie oder Operette passen, aber egal, er war großartig auf der Bühne. Das Gleiche gilt für Martha Harreiter als Baronin; ihr Charme auf der Bühne übertraf ihre kleine Stimme.

Alois Rottenaicher leitete das 28-köpfige Orchester, Horst Vlader führte mit sicherer Hand Regie und Michele Lorenzini entwarf einfache, funktionelle Bühnenbilder.

Kurzum, man könnte die Aufführung oder die Sänger kritisieren, aber warum? Es ist am besten, wenn man die Mitglieder der Familie nicht kritisiert. Außerdem sind Opernhäuser, die Werke von Luigi Ricci aufführen, selten, und Werke, die so ungetrübtes Vergnügen bereiten, sind viel lohnender als eine weitere Regieversion von Tosca. Die Neuburger Kammeroper folgt dem Libretto und es gibt kein Konzept, das nichts mit dem Werk zu tun hat. Die Brüder Ricci gehörten zu einer großen Gruppe von Komponisten, Librettisten und Interpreten, die das Publikum in einer Zeit unterhielten, in der die Oper eine der wichtigsten Formen der Unterhaltung war. Das ausverkaufte Publikum im Jahr 2024, das größtenteils aus der Region stammte, verließ das Haus glücklich und gut unterhalten, mit dem letzten Walzerlied im Kopf, genau wie 1834 in Rom. Was ist daran falsch? Charles Jernigan, 27./28. Juli, 2024/Übersetzung DeepL

.

.

Kammeroper Schloss Rheinsberg – in stimmungsvoller Kulisse. Der Komponist Niccolò Piccinni war Italiener, lebte und starb jedoch in Paris. Dort gab es den berühmten Komponistenstreit zwischen ihm und dem Reformer der Oper Christoph Willibald Gluck, ausgefochten zwischen den Anhängern der beiden. Sonst aber ist der italienische Meister heute so gut wie vergessen. Umso verdienstvoller das Bemühen der Kammeroper Rheinsberg, ihn nach 222 Jahren erneut aufzuführen, denn in Rheinsberg war das Werk zuletzt 1802 im Schlosstheater zu hören. Das Festival ist bekannt dafür, sich vergessener Werke anzunehmen – ein Verdienst des Künstlerischen Leiters Georg Quander, der auch zu interessanten Kombinationen in den Programmen findet. In diesem Jahr stellte er unter dem Motto „Der Schatten Trojas“ Glucks Iphigenie in Aulis Piccinis Didon gegenüber. Viele Komponisten haben den Stoff vertont, man denke nur an Purcell, Hasse und Berlioz. Piccinnis Librettist Jean-François Marmontel fokussiert die Handlung auf die wenigen Tage, in denen sich Énée entscheidet, Didon zu verlassen, um in Italien Rom zu gründen.

Zu Piccinnis „Didon“: der bezaubernde Spiwelort, der Innenhof des Schlosses Rheinsberg/Kammeroper Rheinsberg

Piccinnis Musik ist voller Esprit, reich an melodischen Eingebungen und delikat instrumentierten  Zwischenspielen, wird bestimmt von tänzerischem Duktus, der die französischen Konventionen befolgt, nach denen große Chor- und Tanztableaus obligatorisch waren. Der Klang der Akademie für Alte Musik Berlin unter Bernhard Forck entfaltete sich im Schlosshof Rheinsberg, wo das Werk in französischer Sprache halbszenisch aufgeführt wurde (Regie: Andreea Geletu), zauberhaft und wunderbar transparent. Preisträger des Internationalen Gesangswettbewerbes der Kammeroper übernahmen die Partien und legten durchweg Ehre ein, angeführt von Noemi Bousquet in der Titelrolle, die mit größtem Einsatz und leidenschaftlicher Darstellung das Schicksal der Königin packend verkörperte. Ihr farbiger, substanzreicher Sopran ließ schon bei „Venez, enfant des Dieux“ im 1. Akt durch lyrische Delikatesse aufhorchen. Selbstbewusst und mit flammenden Tönen lehnt sie das Werben des feindlichen Königs Yarbe ab, empfindsam und mit leuchtenden Obertönen singt sie „Ah! Que je fus bien inspirée“ im 2. Akt. Herzzerreißend versucht sie mit „Vous la savez“ Énée in seinem Plan, sie zu verlassen,  umzustimmen. Emotional völlig aufgewühlt formt sie das erregte „Non, ce n´est plus pour moi“ zu Beginn des 3. Aktes, ergreifend das „Prend pitié de ma faiblesse“. Am Ende wechselt ihr Gefühlszustand in Raserei, mit „Je veux mourir“ nimmt sie Didons Szene in Berlioz` Tragédie vorweg.

Chen Li lässt als Énée einen hellen, durchschlagenden Tenor hören und bewältigt die. exponierte Partie souverän. Spannend schildert er in „Au noir chagrin“ seinen Konflikt zwischen der Liebe zu Didon und dem Auftrag der Götter. Mit Didon hat er mehrere Duette, die von resolutem Zuschnitt sind und von den beiden Sängern eindringlich geformt werden.

Piccinnis „Didon“ in Rheinsberg 2024/Szene/Foto Uwe Hauth

Der Bariton Yiwei Mao als Yarbe gestaltet sowohl die noblen als auch die vehementen Soli beeindruckend. Das Vokalsystem Berlin absolviert in Konzertkleidung (Leitung: Johannes Wolf) seine Auftritte markant, so das energische „Aux armes“ am Ende des 2. oder lärmende „Victoire!“ zu Beginn des 3. Aktes, wenn die Karthager siegreich aus dem Krieg gegen Yarbe und die Numidier zurückkehren. Grandios die Schilderung der Naturgewalten („Les éléments troublé“) und erschütternd das Finale („O Ciel!“), wenn die Karthager die tote Didon betrauern und mit Hass und Aggressivität den Trojanern ewige Rache schwören. Das Publikum in der zauberhaften Kulisse des Schlosshofs feierte auch in dieser 3. Aufführung am 28. 7. 2024 alle Interpreten begeistert. Bernd Hoppe (ein ausführlicher Artikel zur Oper selbst findet sich als Beitrag in unserer Serie Die vergessene Oper.)

.

.

Rossini in Wildbad 2024: Während in zwei Wochen auf und an der Seine bereits die Eröffnung der Olympischen Spiele stattfindet, wehte im Juli ein Hauch von Paris durch den Nordschwarzwald. Ganz punktgenau hat es Jochen Schönleber nicht hinbekommen, doch die beiden erweiterten Wochenenden, auf die er das Belcanto Opera Festival „Rossini in Wildbad“ reduziert und konzentriert hat, fallen fast genau zwischen Fußball-Euphorie und Olympische Spiele.  (…)

Rossini selbst, Wildbads berühmter Kurgast, ließ sich für seine Bäderbehandlung 1856 mehrere Wochen Zeit. Ein Sportsmann war er sicherlich nicht. Bewegungen vermied er tunlichst. Wenn er sich regelmäßig zu Ausflüge im Bois de Boulogne mit Michele Carafa traf, ritt der neapolitanischen Adelige und Offizier auf seinem Pferd, während es sich Rossini in seiner Kutsche bequem machte. Sie waren gut befreundet, seit sie in Neapel das seinerzeit beste Opernhaus der Welt erobern wollten. Beide verschlug es in den 1820er Jahren nach Paris. Der perfekt französisch sprechende Bonapartist Carafa, der auch die französische Staatsbürgerschaft annahm, konnte an der Opéra-Comique, die fortan sozusagen seine künstlerische Heimstatt blieb, sofort mit französischen loslegen, während Rossini zögernd mit französischen Umarbeitungen früherer Werke und einer Festkantate begann, aus der er dann seine erste originale französische Oper Le Comte Ory filterte.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene/Patrick Pfeiffer

Dieser Graf Ory steht zusammen mit Carafas Masaniello im Zentrum der 35. Festspiele 2024. In zehn Tagen geht es hurtig Schlag auf Schlag und atemlos wie im Crescendo einer Rossinischen Ouvertüre, denn hinzu kommen im Königlichen Kurtheater Aufführungen der Italienerin in Algier unter José Miguel Pérez-Sierra, ganz kommod auch vormittags, was geballte Rossini-Besuche erlaubt, dazu Cenrentola für Kinder, instruktive Arienkonzerte, wobei sich beispielsweise Mert Süngü des Tenors Duprez annimmt, und zum Abschluss ein Waldkonzert hoch oben auf dem Berg.

Singen ist Hochleistungssport. Das bewiesen Nathanael Tavernier und Camilla Carol Farias, die am 20.7. nach dem Masaniello wieder ran mussten, um Patrick Kabongos Grafen Ory zur Seite zu stehen. Wobei sie als Erzieher und Pförtnerin des Schlosses kaum das Treiben des Erotomanen gutheißen können, der in wechselnder Verkleidungen Sophia Mchedlishvilis sehr kapriziöser Gräfin an die Wäsche will, im Dunkeln aber an seinen Pagen Isolier gerät. Das alles spielt einer alten Legende zufolge um 1200 in der Tourraine, wo die Frauen während der kreuzzugsbedingten Abwesenheit ihrer Männer Enthaltsamkeit geschworen haben. Diese gilt es zu erschüttern. Rossini hat einen gewichtigen Teil seiner Il viaggio a Reims-Musik in seine erste originale französische Oper gerettet, die dezidiert nicht als opéra comique, sondern als „Opera“ ausgewiesen wurde. Denn schon Philip Gossett wies einst darauf hin, „Während die Instrumentierung einer damaligen opéra comique relativ durchsichtig ausfällt, ist Rossinis Orchesterapparat in Le Comte Ory riesig und durchaus vergleichbar dem, den er in Guillaume Tell verwendete“.

Rossinis „Comte Ory“ beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad 2024/Szene mit Patrick Kabongo/Patrick Pfeiffer

Witz, Geist und Esprit verströmt in reichem Maß die Leitung Antonino Foglianis, der sich einmal mehr als profunder Rossini-Kenner erwies, bei dem Timing, Phrasen und Nuancen wie selbstverständlich sitzen, wie sich im präzisen Agieren des Krakauer Orchesters und Chors zeigte. Patrick Kabongo gab den liebestollen Ory mit ansprechender Geschmeidigkeit und federleichter Verblendung von Mittellage und Höhe und die ihm übergestülpten Kostüme mit Nonchalance. Bemerkenswert die virtuose, in der Mittellage etwas verkniffene Gräfin der georgischen Sopranistin Sophia Mchedlishvili, die eher dem Pagen des Grafen geneigt ist. Diana Haller singt den Isolier als handele es sich um Verdis Amneris, mit bolleriger Mittellage, viel Kraft, mühelos strömend, guter Höhe, aber auch etwas wackelnd. Tavernier blieb als Erzieher bei reicher Tiefe etwas gleichförmig, Fabio Capitanucci machte als Raimbaud wenig aus seiner Arie, Camilla Carol Farias war die resche Ragonde, Yo Otahara die süße Alice. Jochen Schönleber und seine Kostümbildnerin Olesja Maurer haben dazu einen Flower-Power-Mix angezettelt, der ein bisschen mit kultureller Aneignung und genderfluiden Stereotypen kokettiert. Ekstatische Begeisterung. Rolf Fath (der auch den erstmalig Masaniello Michele Carafas als moderne Erstaufführung erlebte, seine Rezension findet sich zum Artikel in der Reihe Die vergessene Oper.)

.

.

Bei der styriarte Graz: Vivaldis Le quattro stagioni als Soap-Opera. Kaiserin Maria Theresia hat sich in Graz angesagt und die Vorbereitungen auf den hohen Besuch sind in vollem Gange. Ein reiches Programm soll die Monarchin unterhalten.  Schon am Vortag der Ankunft Ihrer Majestät herrscht reges Treiben im Palais des Grafen Attems, wo die Putzdirndln und -burschen in historischen Kostümen (der HIB.art.chor) das goldene Besteck polieren und dazu steirische Balladen aus dem 18. Jahrhundert und „Deutsche Volkslieder aus Steiermark“ singen.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

So beginnt der 1. Teil der Attems-Saga, die Thomas Höft erdacht und Adrian Schvarzstein in Szene gesetzt hat. Grundlage ist der historisch verbürgte Besuch der Kaiserin Maria Theresia in der steirischen Hauptstadt am 4. Juli 1750 samt der Bemühungen des Grafen Ignaz Maria Attems, der Herrscherin mit einer neuen Oper zu imponieren. Leider hatte die Kaiserin die Stadt nach nur wenigen Stunden wieder verlassen…

Nun soll mit einem großen Spektakel an diese historische Episode erinnert werden. Sänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker wirken mit. Beim Gang durch die prachtvollen Räume des Palais unter Führung des Haushofmeisters Hippolyt (gebührend aufgeregt: Matthias Ohner) wird man auch Zeuge einer Affäre von Marianne Gräfin Attems (exaltiert: Maria Köstlinger) mit ihrem Geliebten Monsieur de la Tour (Georg Kroneis virtuos an der Viola da Gamba). Schließlich geht es zu Fuß in die ehrwürdige Aula der Alten Universität mit ihren wunderbaren floralen Deckenmalereien, wo ein Vorsingen stattfindet für die Aufführung von Vivaldis „Jahreszeiten“-Oper am nächsten Abend. Große Chancen haben zwei Damen – die Primadonna Daniela Papagallo (die Italienerin Carlotta Colombo mit substanzreichem Sopran) und die Nichte des Basteischließers Mizzi Huber (Anna Manske mit angenehmem, hellem Mezzo). Zweifelhaft ist der Auftritt des dänischen Tenors Svend-Poul Hjorth-Stromqvist (wirklich aus Dänemark: der Tenor Valdemar Villadsen mit schmaler Stimme).

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Tags darauf begegnet man diesen drei Sängern im Schauspielhaus bei der Aufführung von Le quattro stagioni stiriane wieder. Der 2. Teil der Attems-Saga ist ein Pasticcio aus den vier Concerti von Vivaldis Le quattro stagioni und einer Auswahl seiner berühmtesten Arien. Am Pult der Palais Attems Hofkapelle steht Michael Hofstetter im Kostüm eines bettelnden Straßenmusikanten (Bettina Dreißiger). Erfahren  in der historischen Barock-Praxis, findet er die Balance zwischen delikaten Passagen mit filigranen Instrumentalsoli und furios auftrumpfenden oder eisig klirrenden Episoden.

Die Spanierin Lina Tur Bonet als Konzertmeisterin des Ensembles brilliert in den zahlreichen Soli der Komposition mit musikantischer Verve und stupender Technik.

Auf die Bühne hat Christina Bergner ein drehbares Modell gestellt, welches bunte Landschaften, Blumen-Arrangements und winterliche Gletscher-Massive zeigt. Zum Amüsement des Publikums werden die über den Abend verteilten Sätze aus Vivaldis Concerti mit pantomimischen Szenen garniert (Choreografie: Mareike Franz) – ein Schäfer mit Hund, Blumenmädchen, ein Jongleur, Eisbären…

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Immer wieder wird auch die Ankunft der Kaiserin verkündet, das Publikum aufgefordert, sich zu erheben und den Begrüßungschor anzustimmen, ein aus Dorilla in Tempe stammendes und eigens für diesen Anlass mit neuem Text versehenes Stück. Doch jedesmal erweist sich die Ansage .als Irrtum, was die Künstler nicht von der Fortsetzung des Programms abhält. Im Falle der Primadonna Daniela Papagallo alias Carlotta Colombo ist man darüber besonders erfreut, denn die Sopranistin glänzt in „Ombre vane“ aus Griselda mit Klangfülle und starkem Aplomb im rasanten Mittelteil. Das „Addio caro“ aus La verità in cimento im zweiten Teil geriet dagegen etwas beiläufig, während die Aria „In furore iustissimae irae“ wahrhaft mit Furor vorgetragen, im Da capo angemessen verziert und mit Spitzentönen geschmückt war. Die Mezzosopranistin Anna Manske als Mizzi Huber imponierte bei „Gelido in ogni vena“ aus Farnace durch starke Expressivität, während es ihr für die Cantata in Scena con Viola all´inglese (Georg Kroneis) an Pathos fehlte. Mit der Sopranistin fand sie im Duetto „Placa l´alma“ aus Händels Alessandro zu ausgewogenem, harmonischem Zusammenklang. Gegenüber den Sängerinnen blieb der Tenor Valdemar Villadsen im Schatten, doch gelangen ihm in „Care pupille“ aus Tigrane immerhin feine Kopftöne. Dagegen blieb der auftrumpfende Nachdruck in „Alle minacce di fiera belva“ aus Farnace unterbelichtet.

Mit dem Finalsatz Allegro. Lento aus „L´Inverno“ endet die Aufführung, aber es wird natürlich noch einmal der Begrüßungschor angestimmt – auch wenn die Kaiserin bis zum Schluss nicht erschien (was ein wenig an Rossinis Reise nach Reims  erinnert). Die Begeisterung im Publikum bewies, dass darüber niemand enttäuscht war.

Styriarte 2024: Vivaldis „Quattro stagioni“/Szene/Foto Nicola Milatovic

Am nächsten Vormittag waren alle eingeladen, im prachtvollen Planetensaal von Schloss Eggenberg dem Spiel Königlicher Bläser zu lauschen. Die fünf Musiker, Virtuosen auf ihren Instrumenten, gehören zur Compagnia di Punto, benannt nach dem größten Hornisten der Mozart-Zeit Wenzel Stich alias Giovanni Punto. In Telemann Ouvertüre in F zu Beginn wechselten Jagdsignale mit einem lieblichen Menuet, einer feierlichen Sarabande und einer munter beschwingten Loure. In drei Stücken kam noch einmal Händel zu Wort. und mit einer Triosonate in g wurde an Vivaldi erinnert. Nach diesen Kompositionen für kleinere Besetzungen vereinten sich alle fünf Mitglieder des Ensembles am Ende beim Quintett in F von Telemann, das mit einer festlichen Fanfare ausklingt. Danach konnten alle Freunde von Natur und Musik im Park bei einem PicknickKonzert Hornkonzerte von Punto mit David Fliri und Christian Binde, dem Leiter der Compagnia, hören, was das originelle und innovative Wochenendprogramm der styriarte (28., 29. und 30. 6. 2024) stimmungsvoll beendete.. Bernd Hoppe

.

Musikfestspiele Potsdam Sanssouci: Der Kaiser auf dem Koffer. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci zeichnen sich seit Jahren durch originelle Programmkonzeptionen aus. In diesem Jahr war „Tanz“ das Motto, was eine Fülle von attraktiven Aufführungen versprach. Im Schlosstheater des Neuen Palais gab es Grauns Oper Adriano in Siria, welche erstmals 1746 an der Königlichen Oper in Berlin erklang, seither aber nicht mehr gespielt wurde. Wie die berühmten opéra-ballets im Frankreich des 17. Jahrhunderts erfreute sich diese Kunstform auch in Preußen großer Beliebtheit. Friedrich II. engagierte ab 1744 für den Potsdamer Hof eine Tanzkompagnie, an deren Spitze die italienische Startänzerin Barbara Campanini („La Barberina“) für Furore sorgte und natürlich bei der Uraufführung des Adriano mitwirkte.

Die legendäre Künstlerin hatte auch in der aktuellen Inszenierung von Deda Cristina Colonna einen Platz gefunden. Die Regisseurin arrangierte die Handlung um den römischen Kaiser Hadrian, der den syrischen König Osroa besiegt und dessen Tochter Emirena entführt hat, vor einer hohen dekorativen Wand (Ausstattung: Domenico Franchi), welche mit Kunstobjekten sowie Details aus dem Palastinterieur und dem Garten geschmückt ist. Unnötigerweise wurde eine Vielzahl von Jalousien installiert, die von den Akteuren unmotiviert fast pausenlos bedient werden müssen. Attraktiv und kostbar sind die Kostüme in ihrer historischen Orientierung, entbehrlich einige modische Zutaten wie ein Reisekoffer, der für den Kaiser als Sockel dient, ein Einkaufstrolley und ein Fahrrad. Für die Auftritte der Barberina an den Aktschlüssen hatte Graun Divertissements komponiert, wofür nun eine moderne Lösung gefunden wurde. Als Auftragswerk der Musikfestspiele schuf der 1965 in Rom geborene Italiener Massimiliano Toni eine „Barberina Suite“, bestehend aus drei Intermezzi, die von der Spezialistin für Barocktanz Valerie Lauer mit Grazie und Geheimnis interpretiert werden. Ihre orientalische Gewandung und das golden geschminkte Gesicht sind von fremdartigem Reiz, passend zur Musik mit ihren exotischen Instrumenten Nay, Clavictherium, mediterranem Perkussioninstrumentarium und  von Dorothee Oberlinger selbst gespielter Flöte.

Mit ihrem Ensemble 1700 sorgte die Dirigentin schon in der dreiteiligen Ouvertüre für einen lebhaften Einstieg mit rhythmischer Prägnanz und großem Farbenreichtum. Die Musik ist beschwingt und galant, oft auch elegisch und wehmütig. All diese Stimmungen bringt Oberlinger wirkungsvoll zur Geltung, setzt auch starke Akzente durch prägnant platzierte Affekte.

Szene aus Grauns Oper „Adriano in Siria“ in Potsdam 2024/Foto Sebastian Gloede

Ein erlesenes Solistenensemble meistert die anspruchsvollen Partien in staunenswerter Manier, angeführt von Valer Sabadus in der Titelrolle. Der Counter war in der 4. und letzten Aufführung der Serie am 13. 6. 2024 in blendender Form. Die Stimme klang resonant und ausgeglichen, ohne Schärfen in der Höhe und auch in der tiefen Lage präsent, wie die furiose Arie „Wenn ein wilder Löwe“ im 2. Teil zeigte. Beeindruckend war auch die emotionale Gestaltung seiner Soli, während das Spiel bei diesem Sänger immer recht verhalten bleibt. Spektakulär war der Auftritt des Sopranisten Bruno de Sá als Partherfürst Farnaspe. Nicht nur die stupende Beherrschung der Extremhöhe mit topsicheren Spitzentönen überwältigte, auch die makellose Demonstration des virtuosen Zierwerks mit Koloraturen, Trillern und Fiorituren war von schier mirakulösem Zuschnitt. Als seine Verlobte Emirena war Roberta Mameli zu erleben. Die italienische Sopranistin ist in Potsdam regelmäßig zu Gast und noch immer ein Garant für hochkarätigen Barockgesang. Zu rühmen sind neben ihrer individuellen Stimme die intensive Darstellung und das expressive Gebärdenspiel. Nach ihrer Arie „Als verlassene Gefangene“ mit resolutem Nachdruck sorgt sie gemeinsam mit de Sà im Duett „Meine Seele soll übergehen“ für einen überwältigenden Moment, in dem die Zeit still zu stehen schien – zwei Sopranstimmen, die sich zu einem harmonischen Zusammenklang umschlingen und ihre Individualität aufgeben zugunsten einer wundersamen Symbiose. Auch die zweite Sopranistin, Keri Fuge als Sabina, Verlobte des Kaisers Adriano, die in dessen Affinität zu Emirena eine Rivalin wittert, bot eine exzellente Leistung.  Die substanzreiche, technisch blendend geführte Stimme der Britin war der Mameli ebenbürtig, und auch sie überzeugte durch die engagierte Darstellung. Zu den Trümpfen der Besetzung zählte auch der französische Haute-contre David Tricou als besiegter Partherkönig Osroa. Von stattlicher Erscheinung und herrscherlicher Aura zog er bei jedem seiner Auftritte die Blicke auf sich. Auftrumpfend und furios sein Gesang, furchtlos sein Ausdruck, würdevoll seine Haltung. Der junge italienische Sopranist Federico Fiorio komplettiert das Personal als Adrianos Adjudant Aquilio mit knabenhafter, buffonesk-leichter Stimme. Reizend und mit großer Spielfreude trägt er seine Arien „Ein alter Krieger“ und „Der vorsichtige Schnitt des Winzers“ vor. Am Ende vereinen sich alle Mitwirkenden zum jubelnden Schlusschor „Möge dein Name, großer Kaiser“ und fröhlich-ausgelassenen Tanz, denn Adriano hat Osroa die Freiheit und Farnaspe seine Emirena geschenkt. Nach diesem lieto fine gibt es auch im Saal anhaltende Begeisterung. Bernd Hoppe

Ersteinspielung

.

Zwischen 65 und 70 Opern hat Gaetano Donizetti in nur einmal fünfzig Lebensjahren komponiert, so dass es dem in jedem Herbst stattfindenden Festival in seiner Heimatstadt Bergamo immer wieder gelingt, ein noch völlig unbekanntes Werk vor dem erstaunten Publikum zu präsentieren, so auch 2022, genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung an der Mailänder Scala, die Semiseria Chiara e Serafina, die allerdings  einer der schlimmsten Misserfolge für das Opernhaus wie für den Komponisten war und somit für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwand (s. den Bericht von Rolf Fath zur Aufführung in Bergamo 2022). Schuld daran trug der für seine Langsamkeit berüchtigte Librettist Felice Romano, der so säumig war, dass der Komponist nur elf Tage zum Komponieren hatte, nur wenige Proben stattfinden  und die Sänger Änderungswünsche nicht mehr durchsetzen konnten, entsprechend lustlos bei der Sache waren. Erst 1830 gab es wieder Donizetti in Mailand, Anna Bolena, allerdings im Teatro Carcano, und 1833 öffnete die Scala wieder ihre Pforten für den Komponisten für dessen Lucrezia Borgia.

Chiara e Serafina ist nicht etwa die erste eindeutige Lesbenoper, sondern es geht um zwei Schwestern auf Maiorca, die Jahre lang voneinander getrennt leben, weil Chiara mit dem Vater von Seeräubern entführt wurde, während Serafina vom Todfeind ihres Vaters zur Ehe gezwungen werden soll, obwohl sie einen anderen, Rosario, liebt. Entscheidend für den Sieg des Guten und der Guten ist die Wandlung im Charakter des Seeräubers Picaro zum Retter in höchster Not und mit viel Handlung in den unterirdischen Gängen zwischen Meeresstrand und Burg, und auch der männliche Part des niederen Paars, Don Meschino, ist einer der Strippenzieher, die für das happy end verantwortlich sind.

Abgesehen von dieser Partie, die dem gestandenen Bariton Pietro Spagnoli anvertraut ist, sind sämtliche Rollen mit Mitgliedern der Accademia Teatro alla Scala besetzt, auch der Chor entstammt der verdienstvollen Institution, während das Orchester Gli Originali sind, deren Namen verrät, dass unter Sesto Quatrini auf Originalinstrumenten aus der Entstehungszeit gespielt wird.

Weniger durch einprägsame Arien und Duette als durch mitreißende Ensembleszenen und rasante Finali überzeugt das Frühwerk (Donizetti komponierte es als Fünfundzwanziger ), aber es braucht auf jeden Fall auch gestandene Solosänger, die in dem bewährten Belcantobariton Spagnoli natürlich einen wichtigen Bezugspunkt fanden, der den Insiemi viel Halt verleiht. International geht es wie überall sonst auch an der Accademia zu, mit zwar auch italienischen, aber dazu drei asiatischen Solisten und einer Sängerin aus dem slawischen Sprachraum.

Der Bass Matias Moncada singt mit samtweicher Stimme den Don Alvaro, Vater der Schwestern, dazu noch die kurze Partie des Bösen, Don Fernando. Schon recht üppiges Material hat Sung-Hwan Damien Park für den Picaro, ihn könnte man sich auch als Malatesta vorstellen. Einen geschmeidigen Tenor leichter Emission setzt Hyun-Seo Davide Park für den von Serafina geliebten Don Ramiro ein, dessen  empfindsame Seite erfolgreich herauskehrend. Serafina ist Fan Zhou mit pikant-frischem Sopran, der auch einmal kindlich wirken kann. Die Schwester Chiara wird von Greta Doveri mit klarer, Zärtlichkeit verströmender Sopranstimme gesungen, wozu im Vergleich die Lisetta von Valentina Pluzhnikova typische Mezzoqualitäten aufweist.

Im ersten Augenblick bedauert man beim Erhalt der beiden CDs, dass man nicht die auch verfügbare DVD in Händen hält, ist aber, wenn man Fotos aus der Produktion angeschaut hat, dankbar dafür, dass man die  melodienselige Oper ohne die karikierende Optik genießen kann. Für das Publikum war das sicherlich eine vergnügliche Vorstellung und für die jungen Solisten eine wertvolle Erfahrung (Naxos 8.660552-53). Ingrid Wanja 

Heiter bis stürmisch

.

Die Tragédie en musique Les Boréades ist Jean-Philippe Rameaus letzte Oper und eine seiner bedeutendsten. Nicht umsonst haben renommierte Alte-Musik-Dirigenten wie John Eliot Gardiner und William Christie das Werk in ihrer künstlerischen Arbeit favorisiert. Nun legt Erato (2173237273) eine Neuaufnahme mit dem ungarischen Orfeo Orchestra unter seinem Leiter György Vashegyi und dem Purcell Choir vor, die im September 2023 in Budapest entstand. Es ist die Premiere für den Klangkörper bei diesem Label und eine exquisite Besetzung soll der Einspielung zum Erfolg verhelfen. Angeführt wird sie von der französischen Star-Sopranistin Sabine Devieilhe in der Partie der Alphise, Königin von Baktrien, die sich mit ihrem Geliebten Abaris dem Nordwindgott Borée und dessen Söhnen widersetzt. Ihr erstes, ausgedehntes Air, „Un horizon serein“, ist von introvertiertem Duktus, verlangt dennoch hohe stimmliche Kunstfertigkeit.

Wie ein Vogel jubiliert Devieilhe, lässt feinste  Schwingungen und raffinierte Modulationen hören. Abaris ist der Haute-contre Reinoud Van Mechelen – ein Spezialist für dieses Fach. Er tritt zu Beginn des 2. Aktes mit  dem Air „Charmes trop dangereux“ auf und besticht mit seiner exemplarischen Artikulation und individuellen Stimme. Heldischen Anstrich hat seine Air „Fuyez, reprenez vos  chaînes“ im 4. Akt. Mit Alphise hat er Ende des 3. Aktes das dramatische Duo „Borée en fureur“ zu singen, bei dem Donnerblech und Windmaschine eine furiose Gewitterstimmung heraufbeschwören. Diese nimmt die Suite des vents zu Beginn des 4. Aktes auf – ein hinreißendes Tongemälde von plastischer Imagination. Einen zweiten Tenor gibt es mit Benedikt Krist Jánsson in der Partie des boreadischen Prinzen Calisis, den Alphise auf Geheiß von Borée ehelichen soll. Ihm fällt das erste Air des Werkes zu, „Cette troupe amable“, das der isländische Sänger kultiviert vorträgt. Herrlich sein Air „Écoutez l´Amour“, in welchem der Purcell Choir prächtig assistiert. Die sich fast überschlagenden Koloraturen in Jouissons de nos beaux ans geraten dagegen etwas angestrengt. Mit dem Bariton Tassis Christoyannis als Hoheprieser Adamas ist die erste tiefe Stimme zu hören – in reifer, etwas grober Verfassung. Er gibt auch den Apollon und kann in dessen Air „Délices des mortels“ mit weicheren Tönen aufwarten.

Ein zweiter Bariton ist Philippe Estéphe als Borilée, der in seinem Air „Nos peuples“ mit gepflegtem Gesang erfreut. Das Bariton-Trio komplettiert Thomas Dolié als Borée, der in seinem kurzen Air „Venez punir son injustice“ im 5. Akt grimmige Töne hören lässt. Die Besetzung komplettiert Gwendoline Blondeel als Alphises Vertraute Sémire, Une Nymphe, L´Amour und Polymnie mit einem Sopran, der im Niveau der Devieilhe nicht nachsteht.

Vashegyi breitet die Komposition in ihrem Reichtum und der Vielfarbigkeit hinreißend aus, findet perfekt die Balance zwischen den lieblichen Divertissements und bedrohlichen Gewitterszenen. Prächtigen Umriss empfängt die Ouverture in ihrem Bläserglanz. Man höre, wie fein ziseliert das zauberhafte Motiv in der Contredanse pour la Suite de Borilée et de Calisis am Ende des 1. Aktes ist, wie delikat die Première et deuxième Gavotte pour les Nymphes ertönt, wie jauchzend sich das Rigaudon im 2. Akt aufschwingt. Zauberhafte Tänze pour l´Amour et le Plaisir beenden die Tragédie in heiterer Stimmung. Bernd Hoppe

Schöne Tradition

.

Alles andere als politisch oder sonst wie korrekt ist Ermanno Wolf-Ferraris Einakter Il Segreto di Susanna, den er selbst als Intermezzo bezeichnete, der aber nun von Oehms als Komische Oper auf den Marktgebracht wurde und zwar als Mitschnitt eines Opernabends vor zwei Jahren, als daneben noch Mascagnis Zanetto als Kontrastprogramm von der Berliner Operngruppe aufgeführt wurde. Einiges Empörungspotential hat das Stück, da am Ende nicht die Gräfin Susanna vom Laster des Rauchens befreit wird, sondern ganz im Gegenteil ihr Gatte, der Graf Gil, ihm ebenfalls verfällt und das Ganze mit einem an Verdis Falstaff erinnernden  „Tutto è fumo“ gefeiert wird, nachdem schon zuvor Beethovens Fünfte und Debussys Siesta haltender Faun zitiert wurden. Ein stummer Diener geistert neben dem Ehepaar durch das Stück, der aber natürlich auf der CD keine Spur hinterlässt. Das Operchen wurde 1909 in München in deutscher Sprache uraufgeführt und verschwand nie völlig von den Spielplänen.

Seit zwölf Jahren erfreut die Berliner Operngruppe unter ihrem Dirigenten Felix Krieger das Berliner Publikum mit der Aufführung noch nie oder selten erlebten italienischen Opern, so Verdis I Masnadieri oder Stiffelio, Puccinis La Villi und Edgar, Bellinis Beatrice di Tenda, Donizettis Dalinda oder Mascagnis Iris, und von den beiden letzteren gibt es, ebenfalls von Oehms, CDs.

Kontinuierlich an Quantität, d.h. Zahl der Mitwirkenden, wie an Qualität gewachsen ist der Klangkörper, weil inzwischen fast ausschließlich aus Berufsmusikern bestehend, die es als eine Ehre ansehen, an den einmal im Jahr und einmalig stattfindenden Aufführungen teilzunehmen. Auch der Chor, der allerdings in diesem Werk nichts zu tun hat, hat eine ähnliche Entwicklung durchlaufen.

Das Orchester beginnt rasant und hat im Verlauf der knappen Stunde viele intensiv  genutzte Möglichkeiten, zahlreiche Facetten von Übermut,  Charme, Ironie,  Duftigkeit und Rasanz der Partitur auszuloten. Nie hat der Hörer wie sonst so oft den Eindruck, Leichtigkeit sei ein schwer zu vollbringendes Werk, sondern unter Felix Krieger, gewinnen die Musiker die Fähigkeit, sie als selbstverständlich erscheinen zu lassen. Sinfonia und Interludio erweisen sich als  kleine Kostbarkeiten. Auch die Gesangssolisten sind höchst erfreulich. Der italienische Tenor Omar Montanari, an Rossini und Donizetti geschult, verfügt über recht dunkle, gar nicht anämisch wirkende Stimmfarben, die Stimme hält auch dem Wutausbruch über den vermeidlichen Ehebruch stand, und die Diktion ist beispielhaft, was man leider von der der russischen Sopranistin Lidia Fridman nicht behaupten kann, die aber  mit einer frischen, in der Höhe aufblühenden Stimme, in der sich der Charme der optischen Erscheinung zu spiegeln scheint, den Ohren schmeicheln kann.

Man kann nur hoffen, dass es auch 2025 wieder eine Aufführung der Berliner Operngruppe und danach eine daran erinnernde CD geben wird (Oehms Classics 0C992). Ingrid Wanja         

Giuseppe Morino

.

Der italienische Tenor Giuseppe Morino starb am 28. 10. 2024 im Alter von 74 Jahren.  Morino wurde am 18. August 1950 geboren und gab 1981 sein Debüt in Gounods „Faust“ beim Festival des Deux Mondes in Spoleto. Sechs Jahre später debütierte der Tenor beim Rossini Opera Festival als Pilade in „Ermione“. Er wurde für seine Arbeit im Belcanto-Repertoire anerkannt und trat an vielen der großen italienischen Häuser auf, darunter am Teatro alla Scala, am Teatro Regio di Torino und an der Arena di Verona.

Morino widmete sich der Aufführung selten gespielter Werke wie „La Favorita“, „Il Giuramento“, „Gianni di Parigi“, „La Cecchina“, „Maria di Rohan“ und „Lakmé“. Er sang auch bekanntere Werke wie „Il Pirata“, „Lucrezia Borgia“, „Lucia di Lammermoor“, „I Capuleti e i Montecchi“, „Alceste“ und „La Clemenza di Tito“.

Er hinterließ mehrere Aufnahmen, darunter eine Solo-Studioaufnahme mit dem Titel „The King of Bel Canto“.

.

.

Das englische Gramophone schrieb zu seiner CD-Aufnahme mit dem etwas präpotenten Titel „King of Belcanto“ die nachstehenden interessanten Beobachtungen zu Morinos Stimme: Ich mag den Titel dieser Aufnahme, „King Of Belcanto“, nicht, aber ich mag Giuseppe Morino (mit einigen Einschränkungen). In dieser späten Renaissance der Praxis im Stil des frühen 19. Jahrhunderts gab es mehrere bemerkenswerte Tenöre, die jüngsten darunter Chris Merritt, Rockwell Blake und Raul Gimenez. Von diesen finde ich, dass die Bewunderung für die Technik der ersten beiden (obwohl sie in Italien sehr erfolgreich sind) nicht zu einer Vorliebe für ihre Stimmen oder einer positiven Reaktion auf ihren Stil führt; Gimenez, mit einem wärmeren und selteneren Klang, hat eine persönlichere Ausstrahlung, auch wenn er objektiv weniger brillant ist als die anderen. Morino scheint das zu haben, was wir uns schon immer gewünscht haben: die Stimme eines italienischen lyrischen Tenors, die sich über den besonders anspruchsvollen oberen Tonumfang dieses Repertoires erstreckt und dabei immer noch süß und ungezwungen klingt.

Sein erster Vorzug ist die wohlklingende Qualität seines Tons, sein zweiter sein außergewöhnlicher Erfolg bei den hohen Tönen, C und höher. Es gibt hier zahlreiche Beispiele, wobei das hohe C von „Salut, demeure“ und das Cis von „A te, o cara“ nur die Vorbereitung für die stratosphärischen Höhen von Il pirata und Semiramide sind. Mit dieser Oper feierte Morino 1986 beim Valle d’Itria Festival seinen ersten großen Erfolg in Italien. Die Wiederherstellung von „Ah, dov’e il cimento“ im ersten Akt, das äußerst schwierig ist und normalerweise ausgelassen wird, war eine der Besonderheiten dieser Oper. Er überzeugte die erfahrensten italienischen Kritiker sowohl bei dieser Aufführung als auch bei der Wiederaufnahme von Donizettis Maria di Rohan im Jahr 1988 davon, dass es sich hier um einen Tenor handelte, der sich in der Geschichte der Vokalkunst auskannte und in der Lage war, den Klang und wahrscheinlich auch den Stil der ursprünglichen Sänger authentisch wiederzugeben. Nicht, dass sein Stil besonders dekorativ wäre oder dem modernen Geschmack als übermäßig selbstgefällig gelten könnte: Seine „Una furtiva lagrima“ zum Beispiel ist viel „direkter“ als die von Caruso aus dem Jahr 1904, und obwohl er die Arie aus Pecheurs de perles mit dem diskreditierten hohen Zusatz beendet, tut er dies unauffällig und erzielt eine so schöne Wirkung, wie ich sie je gehört habe. Wie so viele seiner Landsleute aspiriert er seine Läufe viel zu oft (in meinen Augen unerträglich in der Semiramide), und ein weiterer Fehler ist, dass seine „e“-Laute (wie in „vedo“) dazu neigen, nach hinten in den Rachen zu wandern. Quelle Gramophone/DeepL

 

 

Glucks „Iphigénie en Aulide“

.

Es war damals ein Paukenschlag. Ausdruck von künstlerischem Selbstbewusstsein. Eine Wegmarke. Von jetzt an sollte alles etwas anders auf der Musikbühne zugehen. Christoph Willibald Gluck hatte mit der Pariser Operndirektion einen Vertrag über sechs Opern abgeschlossen. Den Auftakt machte Iphigénie en Aulide. Francois-Louis Gand Le Blanc du Roullet hatte dazu die seit hundert Jahren auf der französischen Bühne bewunderten Alexandriner der Iphigénie von Racine, der seinerseits von Euripides inspiriert wurde, in ein Libretto gefasst. Da die Sänger trotz sechsmonatiger Probenzeit ungenügend vorbereitet schienen, ließ Gluck sogar die Generalprobe verschieben und König und Königin samt Hof ausladen. Doch als die Oper am 19. April 1774 endlich über die die Bühne ging und das Publikum erlebte, wie der Text durch die Musik unterstützt wurde, wie Worte und Gesten und Akzente im Sinn der „Tragédie-Opéra“ Gewicht erhielten und Klytämnestra, Agamemnon, Kalchas und Iphigenie in ihren menschlichen Leidenschaften und ihrer Maßlosigkeit gezeigt wurden, war die Bewunderung groß. Auch wenn er sich vom Vorbild Rameaus verabschiedete, hatte der 60jährige Gluck durch virtuose Arien und Ballette dem französischen Geschmack Tribut gezollt.

Die Alpha Classics-Aufnahme (2 CD 1073) des ohnehin selten eingespielten Werkes – die première mondiale legte Gardiner erst 1990 vor – verdient besondere Beachtung durch die Wahl des Orchesters, dessen Geschichte fast so alt wie die von Glucks Oper ist. 1784 gründete der Offizier und Musikliebhaber Claude-François-Marie Rigoley, Comte d’Ogny, das Orchester Le Concert de la Loge, für das er beispielsweise Haydns Pariser Sinfonien in Auftrag gab. 2015 ließ der Geiger Julien Chauvin Le Concert de la Loge wiederaufleben, ohne sich speziell der Musik des Barock zu verschreiben.

Die im Oktober 2022 im nordfranzösischen Soissons entstandene Aufnahme zeigt im durchsichtigen und leichten Klang, in den sprechenden Tempi, im fein abgestimmten Spiel der Streicher und Holzbläser die besondere Affinität zur Musik der Reformzeit. Der in der Ouverture angeschlagene Ton des knapp 40köpigen Orchesters schmiegt sich dem Text geschmeidig an, so dass der hier auffallend leicht, doch etwas rau und später in seiner Szene am Ende des 2. Aktes hinreichend schmerzgebeugt wirkende Bariton Tassis Christoyannis die Vorgeschichte vom Gebot der Diana, wonach Iphigenie als Preis für die ruhmreiche Heimkehr der Griechen geopfert werden müsse, als Agamemnon tatsächlich „erzählen“ kann. Der anschließende Dialog mit Kalchas, der davor warnt, den Zorn der Göttin herauszufordern, gerät in der Abfolge kurzer Arien, Rezitative und eines Duetts zu einem erregten Disput zweier klugen Männer, wobei der Bariton Jean Sébastian Bou fast ein wenig zu elegant für den Seher wirkt.  Die Choreinwürfe der knapp zwei Dutzend Sänger von Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles sind demzufolge Kommentare zufällig anwesender Zuschauer.

Ähnlich empfinde ich auch Iphigénie und ihre Mutter Clytemnestre, die wie Schwestern klingen. Die Clytemnestre der Stéphanie d’Oustrac wirkt, möglicherweise auch ein wenig ungünstig aufgenommen, wie hinter Nebelschwaden, gräulich uninteressant, bleibt zwar verquollen, gewinnt aber in den leidenschaftlichen Einwürfen an Farbe und Gewicht, während Judith van Wanroijs recht reife Iphigénie der Anlage der Partie entsprechend nobel verhalten und blässlich bleibt, aber im dritten Akt mit großer Sensibilität gesungen wird.

Immer aufregend und ein herausragender Sänger: Cyrill Dubois, der auf der neuen Aufnahme von „Iphigénie en Aulide“ den Achille singt/©Jean-Baptiste-Millot/Alpha

Mir gefällt der gesteigerte Konversationston der Aufnahme, das sinnstiftende Pathos, manchmal etwas steif, aber größtenteils mit ausdrucksvoller, plastischer und sinnerfüllender Diktion, etwa der immer am Rande der Erschöpfung agierende Cyrill Dubois, der als jugendlicher, ungestümer, sich vor Aufregung stimmlich fast verhaspelnder Achille zu Iphigénie stürmt und seine kleine Air „Cruelle, non, jamais votre insensible coeur“ mit viel Zärtlichkeit und Empfindung singgestaltet. Auf jeden Fall erreicht Julien Chauvin einen durchgehend dramatischen Fluss. Er entspricht auch ansonsten Glucks Anmerkungen, die verlangen „schnelle Tempi und einen einheitlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Unterbrechungen Effekte und nicht die Norm sind. Die vorliegende Aufnahme hat versucht, dem Geist und so weit möglich dem Buchstaben der von Gluck erdachten stilistischen Revolution in der französischen Oper treu zu bleiben“. Die Aufnahme verzichtet übrigens auf den erst im Jahr nach der Uraufführung hinzugefügten Deus ex machina-Auftritt der Diana und überlässt die Zeilen der Göttin „Votre zèle des Dieux a fléchi la colère“ dem Kalchas.  Rolf Fath

.

.

Dazu ein kleiner Überblick über Vohandenes angesichts dieser für mich (wegen Chauvin aber malgré der Damen) doch bedeutenden Neuerscheinung bei Alpha. Die Aulidische Iphigenie tritt ja gerne – für mich zu absolutem Unrecht – hinter ihrer Tauridischen Schwester zurück, auch im Bereich der Dokumentationen. Wenngleich sie öfter gespielt wird als angenommen, namentlich in deutschen Gauen. In Erinnerung bleibt da die gruseligen deutschprachige Bearbeitung (!) in Salzburg 1962 mit der bizarren Verwirrung der Partien, als Inge Borkh und Christa Ludwig die jeweils falschen Partien sangen (zuletzt nun orfeo). Da rettet auch Karl Böhm nichts. Der Berliner Rias gab die Oper mit Martha Musial und Johanna Blatter unter Arthur Heger und dem ganz jungen Fidi 1951 (Walhall und andere). 1992 brachte die Berliner Staatsoper eine Produktion auf die Bühne, die man bei youtube nachhören kann (Schreier; Hajóssyová, Lang, Vogel, Büchner) und die ich optisch recht gruselig, aber natürlich repertoiremäßig verdienstvoll in Erinnerung habe.

Gundula Janowitz sang dier Clytemnèstre in Wien 1987/Foto Michaael Poehn/Wiener Staatsoper

Deutsch ist auch die straffdirigierte Wagnersche Version, die es bei Oehms unter Christoph Spering mit einer phlegmatischen Camilla Nylund auf die CD brachte (wir hatten dazu einen Artikel in operalounge.de). Vergessen möchte ich die vorausgehende trübe Aufnahme bei Ariola mit einer bizarren  Anna Moffo neben einer uninspirierten Trudeliese Schmidt unter Kurt Eichhorn (die Ariola hatte wirklich fatale Casting-Vorstellungen, wenngleich die Moffo die Partie bereits bei der RAI in den frühen Sechzigern gesungen hatte, sie musste nur umlernen).  In München rettet nur Arleen Auger als Diana das Niveau. 2009 spielte die Römische Oper die Wagner-Fassung in Französisch (?) noch einmal (Ekaterina Gubanova machte keinen Splash als Mutter neben Krassimira Stoyanovas sehr reifer, recht anämischer Iphigenie, alles unter Ricardo Mutis schwerer Hand/Radio).

Maßgeblich war lange Jahre die Gardiner-Erst-Einspielung des Originals bei Erato (1990, damals ein Wagnis im Rahmen der vielen französischen Ersteinspielungen der Firma), mit einer nachdrucklosen Anne Sophie von Otter als Mama und Lynn Dawson frisch und jung als Iphigenie, alles nicht unrecht, aber doch eher allgemein. Und langweilig-höflich. Aber es blieb bis zur gegenwärtig besprochenen Rousset-Aufnahme auf dem Platten-Markt dabei.

Unter Sammlern kursiert ein bemerkenswertes Dokument von Gundula Janowitz als außerordentlich engagierte Clytemnèstre, die ich damit noch 1987 in Wien an der Staatsoper erlebt habe – stehplatz-stehend, staunend und bewegt. Die Janowitz hatte man so rasend, so temperamentvoll noch nie erlebt, und nach schlechten Erfahrungen mit dem Wien Publikum ihrer letzten Jahre traute sie dem frenetischen Beifall erst nicht. Mit Joanna Borowska und Bernd Weikl unter einem rasanten Charles Mackerras war dies ein fulminanter Abend.

Véronique Gens singt in der radio-dokumentierten Aufnahme aus Aix 2011 eine solide Iphigenie, Frau Otter hatte wohl das Monopol auf die Mutter, Mark Minkowski macht einen flotten Job, damals galt die Aufführung als maßstäblich. Aix gab in diesem Jahr (2024) die Oper erneut, Emmanuelle Haïms Leitung hielt die Musik durchsichtig und schwungvoll, Véronique Gens ist inzwischen ins Mutterfach umgestiegen und hätte einen Schluck Pastis (oder zwei) mehr vertragen können, Corinna Winters als ihre Tochter ist angenehm, aber nicht aufregend. Vorher hatte Mark Minkowski sich in Amsterdam 2012 für das Werk stark gemacht (Radio), immerhin mit Mireille Delunsch und Yann Beurron als Liebespaar sehr gut besetzt. La Gens war 2009 in der jugendlichen Rolle 2009 in Brüssel zu hören, damals unter Christoph Rousset (Radio).

Die unvergleichliche, einmalige und sensationelle Jane Rhodes/Publicityfoto/Hei

Und Ricardo Muti hatte die Oper schon 2002 in Rom mit der damals entzückenden Genia Kühmeier neben der viril-robusten Daniella Barcellona gegeben (Radio). 2002 dirigierte Kenneth Montgomery sehr gewinnbringend die Aulidische in Amsterdam mit der hoffnungsvollen Robin Redmon in der Titelpartie (Radio). Paris erlebte die Oper zuletzt 2022 unter Julien Chauvin mit Judith Wanroij, Stéphanie D´Oustrac, Cyrill Dubois und Tassis Christoyannis (das klingt doch vertraut, nicht wahr?). Auch damals waren die Meinungen über die Damen schmallippig

Aber nicht vergessen sollte man die eigentliche Pioniertat, in Aix 1963, nicht, diese sogar televisionär in strengem, ruckelndem Schwarz-Weiss festgehalten: Jane Rhodes als energische, recht notenfreie Iphigenie, dazu alles was in Frankreich damals opernmäßige Füße hatte, von Gabriel Bacquier über Michel Sénéchal zu Christiane Gayrod, alles unter Pierre Dervaux, und der konnte Drama! Allein schon die Rhodes ist das Reinhören wert, selbst wenn Puristen sich sicher mit Schauder abwenden. Ich mag mich irren, aber ich denke, dies war die erste Aufführung der Oper in Frankreich nach dem Krieg, zumindest urteilten die überraschten Kritiker so  13. 11. 24). G. H.

Vielseitig

.

Tenor-Recitals mit Arien aus italienischen Opern beginnen oder enden meistens mit Nessun dorma. Die neue CD von Saimir Pirgu gehört zu den letzteren und bietet davor auf seiner neuen CD, die sehr anspruchsvoll Saimir betitelt ist,  einen bunten Strauß nicht nur der gängigsten und beliebtesten Arien von Puccini, sondern, schließlich sind nicht weniger als sechs Sprachen vertreten, auch Französisches, Russisches, Spanisches, Deutsches und wohl auch Albanisches. Auf seiner ersten CD vor einigen Jahren hatte der Sänger sich noch auf Belcanto und Verdis Duca und Alfredo beschränkt und dabei dem Hörer eine schöne lyrische Stimme präsentiert, jetzt streift er mit Des Grieux und Andrea Chenier bereits den tenore eroico, vor allem in seiner Auffassung von deren Arien, die in einem kraftvollen, stellenweise aber auch leicht angestrengt wirkenden Gesangsstil, mit bemerkenswertem Squillo und hörbar schwächer ausgeprägter tiefer Lage den Hörer zwischen Faszination und Irritation schwanken lassen. Des Grieux Arie aus dem dritten Akt wird mit einer fürchterlichen Lache verunziert, das Bestreben, den Hörer zu überwältigen, ist allzu hörbar. Die Figur  begegnet dem Hörer auch später noch, so wie auch Cavaradossi, Kalaf und Andrea Chénier je zwei über die CD verstreute Auftritte haben. Des Sängers Des Grieux lässt in Donna non vidi mai zwar nicht vokale Kraft, aber jeden Anflug von Melancholie, die Tenorstimmen und nicht nur diesen so gut ansteht, vermissen, Cavaradossis E lucevan le stelle erfreut wohl durch ein dunkelgefärbtes Timbre, hat aber nicht die erwünschte Zartheit für die belle forme, mit äußerst stählernem Ton wird la vita beschworen, und bereits in Recondita armonia scheint der Tenor unter Dauerdruck zu stehen, quasi a squarciagola zu singen.

Aus Andrea Chénier gibt es Un di all’azzuro spazio, für das man sich anstelle der Daueraufgeregtheit mehr Nuancen wünscht, wo auch wieder die Höhe frappiert, und auch die letzte Arie, Come un bel di, wünscht man sich verinnerlichter. Natürlich darf Giordanos Amor ti vieta nicht fehlen und profitiert von den reichen Stimmfarben. Von Puccini sind noch der Roberto aus Le Villi mit zu viel Bewusstsein für das Ausstellen vor Kraft, der Luigi,  der mit Hai ben ragione dem Sänger gut in der Stimme  liegt, der Pinkerton mit zu lautem Fiorito asil und natürlich Kalaf mit einem Non piangere, das die arme Liù in dieser Lautstärke eher verängstigen als trösten dürfte, vertreten. Da hätte man sich mehr Zartheit und Zärtlichkeit gewünscht.

Für Maurizios L’anima ho stanca nimmt der Tenor die Angebote zu einer feinen Agogik an, kann die Höhe schön decken, lässt aber in der Tiefe die Stimme an Qualität verlieren, verdienstreich ist die Vorstellung von Leoncavallos Chatterton, die ein schönes Plädoyer für diese zu Unrecht vergessene Oper ist.

Aus dem französischen Repertoire stammt die Blumenarie des Don José mit zwar gelungener Fermate auf dem Spitzenton, aber insgeamt doch zu hart, zu kantig dargeboten, Berlioz‘ Fausts Nature immense gibt sich als gelungener Kraftakt, und Wagners Lohengrin ergeht sich zwar bei abrupten Übergängen auch in lobenswerten Pianissimi, die jedoch eher fahl, weniger ätherisch klingen, dem Lenski ist die Stimme mittlerweile entwachsen.

Seine Vorzüge ausspielen kann der Tenor im Zarzuela-Stück No puede ser, wohl eine albanische Oper ist Skenderbeu und damit ein Stück Heimat für den Sänger, der vom Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Antonino Fogliani kompetent begleitet wird (Opus arte  CD9052D). Ingrid Wanja           

Rundum gelungen

.

Das winzige Quäntchen Unzufriedenheit, das das vollkommene, hundertprozentige Opernglück trübt, ist die Tatsache, dass Don Ottavios zweite Arie, Il mio tesoro intanto, zwar im viersprachigen (!) Libretto des Booklets, aber weder auf der Chateau de Versailles-DVD noch der -BLu-ray von Mozarts Don Giovanni zu finden ist . Nicht das Palais Garnier, schon gar nicht die Opéra Bastille oder die Opéra Comique bescheren ansonsten eine makellose Aufführung des drama giocoso im Schloss von Versailles, sondern die dort ansässige Opéra Royal mit dem dazu gehörigen Orchester, dem Chor und dem Ballett. Das Theater wurde unter Louis XV. in einem Seitenflügel des Schlosses eingerichtet und führt regelmäßig in einem im Wesentlichen gleich bleibendem Bühnenbild, nicht unähnlich dem Palladio-Opernhaus in Vicenza, vor allem Werke auf, die nicht nach der Einweihung  des Saals entstanden sind.

Was als erstes nicht nur überzeugt, sondern gerade entzückt ist die Optik, insbesondere die Kostüme von Christian Lacroix, höchst geschmackvoll, vielleicht ein wenig zu prächtig bunt für das Landvolk, aber ganz sicherlich in ihrer stilsicheren Eleganz den Sängern die Gewissheit verschaffend, durchgehend bella figura zu machen, was sich nicht selten auch auf eine optimale gesangliche Leistung auswirken kann. Die Regie von Marshall Pynkoski beschränkt sich auf sinnvolle Arrangements im Stil der commedia dell‘arte, wobei die Mitwirkung der Choreographin Jeanette Lajeunesse Zingg auch die tumultartigen Szenen wie den Schluss des ersten Akts zu choreographischen Kunstwerken werden lässt, was auch für das Auftischen des Mahls oder für die Prügelszene gilt. Dabei führt das Einhalten einer Etikette der Eleganz keineswegs dazu, den Zuschauer weniger am Schicksal der Figuren teilnehmen zu lassen, im Gegenteil, was auch das Herein- und Hinaustragen von Requisiten bei offenem Vorhang nicht tut, ein angenehmer Schwebezustand zwischen Realität und Illusion bleibt stets erhalten. Am Schluss dröhnt eine mächtige Lache Don Giovannis, der gerade zuvor in wild geschwenkten roten Tüchern den Flammentod erlitten hatte, durch den Saal, das gerade verklungene Sextett Lügen strafend.

Wie die optische, so ist auch die akustische Seite der Aufführung  (fast) ausnahmslos Freude spendend.  Gaétan Jarry kann bereits mit der Sinfonia eine nie nachlassende Spannung und Gespanntheit aufbauen, stilsicher ist Steve Bergeron als pianiste accompagnateur,  zu einer quirligen Einheit schmelzen Chorsänger und Balletttänzer  zusammen.

Nicht wie ein spanischer Grande in der Blüte seiner Jahre, sondern eher wie ein Cowboy mittleren Alters mit Rauschebart wirkt leider Robert Gleadow, eigentlich ein erfahrener Mozartsänger und doch hier auch akustisch recht grobschlächtig wirkend und als Einziger nicht ideal den Vorstellungen von der Partie entsprechend,  an einen Ruggero Raimondi darf man gar nicht denken, auch wenn das Wissen um die Bedeutung der Rezitative imponiert. Das ist aber der einzige Fast-Ausfall.  Überaus gewandt in Spiel wie Gesang zeigt sich Riccardo Novaro als Leporello, der die Registerarie nicht nur singt, sondern auch nicht nur bei „porta la gonella“ spielt. Angsteinjagend ist Nicolas Certenais als Komtur mit tatsächlich Grabesstimme. Elegant und geschmeidig in jeder Hinsicht ist Jean-Gabriel Saint Martin als ungewöhnlich charmanter Masetto. Zum Glück nicht als blässlichen Schwächling stellt Enguerrand de Hys den Don Ottavio dar, der auch akustisch gar nicht anämisch trocken, sondern in Dalla sua pace variationsverliebt und höhensicher ist.  Durchweg optisch höchst attraktiv, wobei die Kostüme hilfreich sind, zeigen sich die drei Damen. Die Donna Anna von Florie Valiquette macht viel aus den Rezitativen, erreicht jede Höhe mit Leichtigkeit und ist sicher in den Koloraturen. Ab und zu eine leichte Schärfe wirkt nicht wie ein Makel, sondern ist der intensiven Interpretation geschuldet. Etwas runder und wärmer klingt der Sopran von Arianna Vendittelli in schlanker Farbigkeit. Die Zerlina von Éléonore Pancrazi singt ihre zweite Arie mit schönen Verzierungen, ist mehr als eine Soubrette, ohne auf deren Charme zu verzichten, wozu allerdings nicht gehört, dass sie Geld von Don Giovanni nimmt.  Aber irgendwie muss sich die Regie schließlich profilieren.

Es gibt nicht nur das umfangreiche Booklet mit vielen Informationen und Fotos, sondern auch gleich außer der Blu ray eine DVD, so dass man sich davon überzeugen kann, ob die neuere Technik tatsächlich Vorteile bringt (CVS 115/ 13. 11. 24). Ingrid Wanja

Sportliches

.

Wieder einmal hat das Label Château de Versailles sein angestammtes (französisches) Repertoire verlassen und sich einem italienischen Komponisten gewidmet. Gegenstand ist die Opera seria L´Olimpiade von Domenico Cimarosa. Kein Geringerer als der Barockspezialist Christophe Rousset steht an der Spitze seines Orchesters Les Talens Lyriques. Das Ergebnis ist nicht weniger als sensationell zu nennen. Der Klang evoziert rasante Sprints und mirakulöse Sprünge bei der Olympiade, wie man es zuletzt in Paris erlebt hatte. Schon die Sinfonia fegt wie ein Sturmwind vorüber und bis zum Schluss erlebt man spannungsreiches, farbiges Musizieren von eminentem Drive und überschäumender Verve.

Metastasios verworrenes, mehr als fünfzigmal vertontes  Libretto erzählt vom Brauch der antiken Olympiade, nach dem der Sieger der Wettkämpfe die Tochter des amtierenden Herrschers heiraten darf. Hier ist es der Athener Megacle, der Aristea, Tochter des  Clistene, König von Sikyon, liebt. Megacles Freund Licida liebt die Kreterin Argene, verliebt sich jedoch gleichfalls in den Siegerpreis Aristea. Nach vielen Verwirrungen wird am Ende mit einem Chor des Volkes das lieto fine gefeiert.

Die Besetzung ist exzeptionell und weist keine Schwachstellen auf. Vielleicht ist die Sopranistin Rocío Pérez an die Spitze zu setzen, die die halsbrecherische Partie der Aristea mit Bravour meistert. Bereits der Auftritt „Tu di saper procura“ erfordert geradezu artistische Koloraturläufe und ausgedehnte Töne in höchsten Regionen. Auch die in „Mi sento, oh Dio!“ geforderte Bravour ist enorm. Die Sängerin lässt hier die staccati in extremer Tessitura glitzern. Ihre Landsfrau Maite Beaumont ist dagegen eine gestandene Größe im barocken und Belcanto-Repertoire. Mit der Interpretation des Megacle beweist sie ihren noch immer unangefochtenen Ausnahmerang. Sogleich ihr Entree, „Superbo di me stesso“, lässt in seinem vehementen Zugriff aufmerken. Mit nobler Kultur wartet sie am Ende der Oper in der Arie „Nel lascarti“ auf. Im kantablen Duett mit Aristea „Ne´ giorni tuoi felici“ harmonieren die Stimmen beider Sängerinnen perfekt. Auch die Schweizer Sopranistin Marie Lys hat bereits einen Namen in der Opernwelt, ihre Argene nimmt schon in ihrer getragenen Eingangskavatine „O care selve“ mit delikaten Tönen und feiner Linie für sich ein. In der erregten Arie des 2. Aktes „Spiegar non posso“ zeichnet sie mit vehementer Tongebung plastisch eine dramatische Situation. Die französische Mezzosopranistin Mathilde Ortscheidt gibt dem Licida prägnante Kontur, berührt in ihrer Eingangskavatine Mentre dorrmimit innig warmer Tongebung. In der Arie des 2. Aktes „Torbida il ciel“ wird dagegen flexible Stimmführung gefordert, womit die Interpretin keine Probleme hat.

Zwei Tenöre komplettieren die Besetzung – der Kanadier Josh Lovell als König Clistene und der Brite Alex Banfield als Licidas Erzieher Aminta. Ihm fällt mit „Siam navi all´onde algenti“ die erste Arie des Werkes zu, die er in ihrem stürmischen Duktus mit entschlossener Attacke angeht und damit für einen gelungenen vokalen Auftakt sorgt. Auch „In un cor“ zu Beginn des 2. Aktes gelingt ihm vorzüglich. Ersterer führt sich mit der energischen Arie „Del destin non vi lagnate“ ein, die er nachdrücklich vorträgt. Mit sublimen lyrischen Valeurs wartet er bei „Non so donde viene“ im 2. Akt auf. In der Scène dernière vereinen sich alle sechs Interpreten zu einem stürmischen Abgesang und demonstrieren noch einmal den hohen Rang dieser Aufnahme, die im Dezember 2023 in Paris entstand und auf zwei CDs veröffentlicht wurde (CVS143/ 12. 11. 24). Bernd Hoppe

Uraufführung

.

Mit gleich zwei Uraufführungen eigener Werke beschenkte der von 2008 bis 2022 in Freiburg wirkende Dirigent und Komponist Fabrice Bollon das dortige Publikum, inzwischen ist er seit 2022 Generalmusikdirektor der Staatskapelle Halle ist. Nach Oskar und die Dame in Rosa, der Geschichte eines krebskranken Jungen,  folgte 2021 The Folly, eine Oper, in deren Mittelpunkt der Reformator Erasmus von Rotterdam und seine Auseinandersetzungen mit Martin Luther und Ulrich von Hutten stehen, dazu kommt eine allegorische Figur, Stutitia, die Verkörperung der Torheit, die immer mal wieder triumphieren kann.  Im Zentrum des fünfaktigen Stücks steht im dritten Akt die Auseinandersetzung zwischen dem jede Art von Gewalt ablehnenden, zögerlichen Erasmus mit dem entschlosseneren Martin Luther, die in deutscher Sprache geführt wird, während neben dem Lateinischen für die drei unterschiedlichen Päpste, dem Baseldütsch für die Auseinandersetzung mit der Haushälterin Margarethe Büsslin, auch die englische und die niederländische Sprache Einzug in das Libretto von Clemens Bechtel gehalten haben.

Ebenso vielfältig ist die Instrumentierung mit einem klassischen Orchester und dazu Elektro-Violine, ebensolchem  Cello, Keyboard, das Einbauen von U-Musik und elektronischen Klängen. Die Erzdiözese Freiburg förderte übrigens das Projekt.

The Folly gibt es als Doppel-CD, aber viel mehr hätte man von einer DVD gehabt, denn egal ob Niederländisch oder Basler Deutsch, man kann dem Geschehen nur mit Mühe einigermaßen folgen, wird allerdings von einer sehr ausführlichen Inhaltsangabe  im Bemühen darum unterstützt und von einer Trackliste, mit deren Hilfe man erst einmal überhaupt die einzelnen Figuren identifizieren kann. Auch die vielen Fotos von der Uraufführung in Freiburg sind eine Hilfe beim Erfassen des Werks.  

Für ein relativ kleines Dreispartentheater wie Freiburg ist die Besetzung geradezu erstaunlich gut und auch das Philharmonische Orchester Freiburg, Chor und Extra- sowie Kinderchor unter der Leitung des Komponisten leisten Erstaunliches an, Präzision, Klangfülle und Straffheit. Den Erasmus singt Michael Borth mit so geschmeidigem wie sonorem Bariton,  Roberto Gionfriddo ist mit kraftvoll eiferndem Tenor Martin Luther, Ulrich von Hutten ist dem mit Nachdruck differenzierendem Mezzosopran von Inga Schäfer anvertraut und muss sich nur, was Kraft betrifft, gegenüber dem Erasmus geschlagen geben. Ihr „Deutschland muss frei  sein“ bleibt in Erinnerung. Vollmundig nimmt sich Anja Jung der Haushälterin Büsslin an, während John Carpenter einen würdig klingenden Petrus singt. Zvi Emanuel-Marials Countertenor wird desto präsenter, je höher er steigen darf. Einen feinen Sopran hat Agostina Migoni für die Mother, Stavros-Christos Nikolaou ist der sonore Priest, auch alle anderen enttäuschen keineswegs und legen Zeugnis ab für die hohe Qualität, die an einem Provinztheater erreicht werden kann (Naxos 8.660545-46). Ingrid Wanja