.
„Es gibt für ein Orchester zwei goldene Regeln: gemeinsam beginnen und gemeinsam aufhören. Das Publikum schert sich nicht darum, was dazwischen passiert.“ Dieses Bonmot wird dem britischen Dirigenten Thomas Beecham zugeschrieben. Es offenbart den scharfzüngigen Realisten zugleich aber auch den Enthusiasten, der sein ganzes langes Leben der Musik widmete – und letztlich von sich sehr überzeugt gewesen ist, alles, was sich zwischen Beginn und Ende einer musikalischen Darbietung vollzieht, richtig zu machen. Der Spruch findet sich in der Sammlung von Aussprüchen, die unter dem Titel Beecham Stories in Buchform erschienen. Beecham wurde 1879 geboren und starb 1961 in London, wo er das musikalische Leben maßgeblich geprägt hat. Er gründete das New Symphony Orchestra (1906), das London Philharmonic Orchestra (1932) und das Royal Philharmonic Orchestra (1947). Mit seiner ganzen Autorität verhalf er vielen zeitgenössischen Komponisten zum Durchbruch, darunter Frederick Delius, Ethel Smyth und Jean Sibelius. Die ersten Aufführungen der Strauss-Einakter Salome und Elektra sowie von Wagners Meistersingern in England fanden unter seiner musikalischen Leitung statt. Früh hatte er auch die Bedeutung von Hector Berlioz erkannt. Schon 1910 wollte er die Trojaner auf die Bühne bringen. Nach zwei Weltkriegen eröffnete sich schließlich erst 1947 die Möglichkeit einer BBC Studioaufführung, die im Juni und Juli jenes Jahres aufgezeichnet wurde und nun als historisch bedeutsames Fundament der Diskographie dieses Werkes ist.
Der aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammende Beecham erbte 1916 von seinem Vater den Adelstitel Baronet of Ewanville in the County of Lancaster. Seine finanzielle Unabhängigkeit eröffneten ihm große Spielräume als Dirigent und Manger. So war ihm die Übernahme der künstlerischen und wirtschaftlichen Leitung des Covent Garden nur dank der Unterstützung seiner Familie möglich. Obwohl musikalischer Autodidakt, galt er als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit. Er scheute sich nicht, für die erste Plattenaufnahme von Mozarts Zauberflöte 1937 und 1938 gleich mehrere Male in Berlin anzureisen, wo die Nationalsozilisten auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Die ohne Dialoge von Walter Legge mit den Berliner Philharmonikern produzierte Oper ist noch immer auf dem Markt und gilt als Markstein in der Geschichte der Schallplatte. Das 1995 gegründete englische Musiklabel Somm hat mit seiner vielteiligen Beecham Collection die musikhistorische Bedeutung des Dirigenten exemplarisch erfasst und auch seine Troyens auf drei CDs neu editiert veröffentlicht.
Warner hat jetzt sämtliche Stereo-Einspielungen von Thomas Beecham neu aufgelegt (5021732408914). Nur wenige Titel wie die sinfonische Dichtung Orpheus von Liszt sind noch Mono. Es kommen 35 CDs in einer Box zusammen, die außerordentlich ästhetisch aufgemacht ist und damit auch optisch dem ausgewiesenen Gentleman unter den Dirigenten Ehre macht. Beecham war dem Luxus zugetan. Auf vielen Hüllen, die den originalen Schallplatten nachempfunden sind, tritt er dem Betrachter in feinstem Zwirn entgegen, stets mit seidenen Krawatten zu schneeweißen Hemden. Er sitzt auf mondänen Terrassen an südlichen Küsten, den Strohhut in der Hand, wenn er ihn nicht auf seinem aristokratischen Edelmannskopf trägt. Sein äußerer Stil scheint sich auch in seinen musikalischen Konzepten abzubilden. Beecham agiert als Dirigent stets vornehm und kontrolliert. Auch die Auswahl der eingespielten Stücke erscheint nie banal und beliebig. Als ob er sich an die besonderen Köstlichkeiten auf einem reich gedeckten englischen Teetisch hält. Mitunter wählt er aus einem Werk nur einen Ausschnitt. Es finden sich keine zyklischen Produktionen wie alle Sinfonien von diesem oder jenem Komponisten, wie sie es auch seinerzeit schon auf dem internationalen Plattenmarkt gab.
Die Pioniertaten seiner ersten Lieben hallen bis ins Alter nach. Berlioz durchzieht die Sammlung wie ein roter Faden. Eine seiner letzten Arbeiten am Pult ist die Symphonie fantastique mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise von Dezember 1959. Sie entstand im Salle Wagram in Paris, den es noch heute gibt. Er wurde unter Denkmalschutz gestellt. Der monumentale Marsch und die Königliche Jagd mit Gewittersturm aus den Trojanern mit dem Royal Philharmonic Orchestra und der Beecham Choral Society lassen für eine Viertelstunde Wehmut aufkommen, dass er sich unter Stereo-Bedingungen nicht noch einmal an das komplette Musikdrama von Berlioz gemacht hat. Ergänzt wird das Angebot aus seinem Werk mit der Le-Corsaire-Ouvertüre, dem Menuett der Irrlichter und dem Tanz der Sylphen aus La damnation de Faust. Indessen schlägt sich der lebenslange Glaube an das Können seinen komponierenden Landsmann Delius auch in der Edition nieder. Mit vierzehn Werken – komplett oder in Auszügen – ist er am häufigsten vertreten. Von Beecham selbst editiert und revidiert wurde die Florida Suite, die Delius 1887 in Leipzig komponierte. Darin verarbeitete er seine Eindrücke als Farmer auf einer Orangenplantage am St. Johns River. Erinnerungen an Filmmusik kommen auf, wenn sich die Themen üppig und schmeichlerisch verbreiten. Bei Nacht klingt diese Suite aus, die unter den Händen von Beecham zu einem grandiosen Panorama wird, das einem Naturschauspiel gleicht. Es ist zu spüren, wie nahe ihm diese Musik gegangen sein muss. Mit Sibelius, auch einem der schon genannten Hausgötter des Dirigenten, lässt Warner die Sammlung gewiss nicht ganz zufällig beginnen. Auf dem Programm steht die mit der Nummer 7 versehene letzte Sinfonie, die 1924 vollendet wurde. Sie gehört mit der ebenfalls eingespielten sinfonischen Dichtung Tapiola, durch die ein finnischer Waldgott geistert und die zwei Jahre später entstand, zu den letzten Werken von Sibelius. Suite aus der Bühnenmusik zu Pelléas et Mélisande für Orchester von 1905 ergänzen das Angebot. Beecham hatte noch andere Werke von ihm im Repertoire, darunter die populäre zweite Sinfonie, die sich leider nicht im Warner-Katalog befindet. Die in die Edition eingegangenen Produktionen genügen aber für einen tiefen Einblick, wie der Dirigent das Wesen dieser geheimnisvollen Musik offenzulegen verstand. Wenige Jahre vor seinem Tod 1957 hat Beecham den greisen Komponisten noch in seinem finnischen Waldhaus Ainola besucht. Auf dem Cover der ersten Plattenausgabe sitzen beide in jenen Möbeln beisammen, auf denen schon die Sängerin Kirsten Flagstad und viele andere legendäre Gäste Platz genommen hatten und dabei fotografiert worden waren. Sie gehören zur Einrichtung der Villa und sind dort noch immer vorhanden. Als Dirigent von Opern und Chorwerken führt Beecham in der ihm gewidmeten neuen Sammlung nahezu ein Schattendasein. Mit der rasanten Entführung aus dem Serail von 1956 wird an Mozarts frühe Platten-Zauberflöte angeknöpft. Sie fehlt wie die 1958 mit komponierten Dialogen eingespielte Carmen mit Victoria de los Angeles und Nicolai Gedda ohnehin in keiner Plattensammlung, stellt also keine Überraschung dar, wenngleich das Wiederhören zu neuem Vergnügen werden kann. Seltener sind da schon Händels Solomon und Beethovens Mass in C major, die vor zwanzig Jahren noch bei EMI auf CD gelangten.
„Von der Aufführungspraxis her hinterließ Beecham kein Vermächtnis, das fortgeführt werden konnte, dafür waren seine Interpretationen zu eigensinnig. Doch aus eben diesem Grund ist das Vermächtnis seiner Aufnahmen bedeutend“, so der Musikwissenschaftler David Patmore im Booklet. Beecham sei eine Ausnahmeerscheinung gewesen. „Zum Beispiel war es ihm und nur ihm gegeben, eine angemessene Atmosphäre für die Darbietung des gesamten Œuvres von Delius zu schaffen. Beechams Mozart und Haydn ist weit entfernt von der heute üblichen Spielweise, aber seine Darbietung besitzt eine entwaffnende Vitalität und Eleganz.“ Seine Aufnahmen würden die musikalischen Gedanken einer einzigartigen Persönlichkeit bewahren, der man so kein zweites Mal auf der Welt begegne. Patmore: „Mit seinem Hintergrund und seinem Charakter war er in der Lage, das Potenzial der Tonaufzeichnung voll auszuschöpfen, um seine musikalischen Aktivitäten zu unterstützen, gleichzeitig hinterließ er der Nachwelt einzigartige und außergewöhnliche Interpretationen.“ Das kann in der Edition mit jeder nachempfunden werden, wenngleich der Pionier, der Entdecker und Gründer etwas in den Hintergrund tritt. Rüdiger Winter
- Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 2 & 7 (in zwei Einspielungen); Messe C-Dur op. 86; Die Ruinen von Athen op. 113 (Auszüge)
+Joseph Haydn: Symphonien Nr. 97, 99-104; Die Schöpfung
+Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail KV 384; Symphonie Nr. 41; Klarinettenkonzert KV 622; Fagottkonzert KV 191; Divertimento KV 131; Marsch D-Dur KV 249 „Haffner“; Entr’acte Nr. 2 aus Thamos, König in Ägypten KV 345
+Georg Friedrich Händel: Solomon HWV 67
+Georg Friedrich Händel / Thomas Beecham: Amaryllis-Suite (Gavotte & Scherzo); Love in Bath-Suite; Ankunft der Königin von Saba; The Gods go a’begging-Ballettsuite
+Franz Schubert: Symphonien Nr. 3, 5, 6
+Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 34; Le Corsaire-Ouvertüre op. 21; Königliche Jagd & Sturm aus Les Troyens; Ballet des Sylphes & Menuet des Folles aus La Damnation de Faust; Marche troyenne
+Johannes Brahms: Symphonie Nr. 2; Akademische Festouvertüre op. 80; Schicksalslied op. 54 (in englischer Sprache)
+Georges Bizet: Carmen; Symphonie C-Dur; Carmen-Suite Nr. 1; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2
+Cesar Franck: Symphonie d-moll
+Mily Balakireff: Symphonie Nr. 1
+Richard Strauss: Ein Heldenleben op. 40
+Alexander Borodin: Polowetzer Tänze aus Fürst Igor
+Emmanuel Chabrier: Marche joyeuse
+Claude Debussy: Cortege et Air de danse aus L’Enfant prodigue; Prelude a l’apres-midi d’un faune
+Leo Delibes: Le Roi s’amuse-Ballettmusik
+Frederick Delius
+Antonin Dvorak: Legende op. 59 Nr. 3
+Gabriel Faure: Dolly-Suite op. 113b; Pavane op. 50
+Charles Gounod: Le Sommeil de Juliette aus Romeo et Juliette
+Edvard Grieg: Im Herbst-Ouvertüre op. 11; Alte Norwegische Romanze & Variationen op. 51 (Auszüge); Peer Gynt (in deutscher Sprache); Symphonischer Tanz op. 64 Nr. 2
+Edouard Lalo: Symphonie g-moll
+Franz Liszt: Eine Faust-Symphonie; Orpheus; Psalm XIII „Herr, wie lange willst du“ für Tenor, Chor, Orchester (in englischer Sprache)
+Felix Mendelssohn: Ouvertüre aus Ein Sommernachtstraum op. 61; Die schöne Melusine-Ouvertüre op. 32
+Nikolai Rimsky-Korssakoff: Scheherazade op. 35
+Gioacchino Rossini: La Cambiale di Matrimonio-Ouvertüre; La Gazza ladra-Ouvertüre; Semiramide-Ouvertüre
+Camille Saint-Saens: Le Rouet d’Omphale op. 31; Danse des pretresses de Dagon & Bacchanale aus Samson et Dalila
+Jean Sibelius: Pelleas et Melisande op. 46; Valse triste aus Kuolema op. 44; Tapiola op. 112; Die Ozeaniden op. 73; Symphonie Nr. 7
+Franz von Suppe: Dichter und Bauer-Ouvertüre
+Peter Tschaikowsky: Walzer aus Eugen Onegin; Symphonie Nr. 4 (1. Satz)
+Englische Nationalhymne „God save the Queen“
+Bonus-Material: Proben; Stereo-Test 1934 (1. Satz aus Mozarts Symphonie Nr. 41)
- Künstler:
- Royal Philharmonic Orchestra, Orchestre National de la Radiodiffusion Francaise, Thomas Beecham (cpo)