Archiv für den Monat: Februar 2022

Rundherum opulent

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Die Stream-Übertragung von Riccardo Zandonais Francesca da Rimini am 14. 3. 2021 aus der Deutschen Oper Berlin bringt NAXOS nun als Blu-ray Disc heraus (NBD0142V). Nach seiner erfolgreichen Inszenierung von Korngolds Das Wunder der Heliane zwei Jahre zuvor hatte sich Christof Loy einer weiteren Rarität gewidmet – der Tragedia Francesa da Rimini, uraufgeführt 1914 in Turin. Das Libretto von Tito Ricordi nach Gabriele d’Annunzio erzählt von Francesca, die aus politischen Gründen mit Gianciotto, dem ältesten Sohn des Malatesta, vermählt werden soll. Da dieser hässlich ist, wird sein schöner Bruder Paolo vorausgeschickt, in den sich Francesca verliebt, ohne das Täuschungsmanöver zu ahnen. Die Situation eskaliert, da auch der einäugige Bruder Malatestino Francesca begehrt. Die Handlung spielt während des Bürgerkrieges in Norditalien Ende des 13. Jahrhunderts zwischen den Guelfen und Ghibellinen.

Der Regisseur verlegte das Geschehen in die Gegenwart, weshalb Klaus Bruns die Herren mit dunklen Business-Anzügen und Aktentaschen, die Hofdamen mit strengen Internatskleidern ausstattete. Francesca trägt ein schwarzes Cocktailkleid und Pumps, später einen eleganten Hosenanzug, ein schwarzes Satinkleid mit Spitze und eine luxuriöse Abendrobe. In der Personenführung gelangen Loy Momente von filmreifer Dichte. Mit geballten Aktionen und geladener Spannung sind die Kampfszenen inszeniert. Nach der Heliane entwarf Johannes Leiacker wiederum die Szene, verkleinerte geschickt das Bühnenportal durch eine Zwischenwand, welche mit einer Blumendekortapete überzogen ist. Im Hintergrund öffnet sich gelegentlich ein Segment und gibt den Blick frei auf eine Veranda mit einer idyllischen Landschaft dahinter, die einem Gemälde von Claude Lorrain nachempfunden ist.

Nach ihrer Heliane ist Sara Jakubiak auch in dieser Titelrolle ein Ereignis. Ihr gleißender, expressiver Sopran verfügt über enormes Potential und stupende Reserven, die ihr flammende Ausbrüche gestatten und die strapaziöse Partie souverän bewältigen lassen. In der großen Szene mit Paolo im 3. Akt („Paolo, date mi pace“) kann sie auch mit feinen Lyrismen aufwarten.

Jonathan Tetelmans Paolo ist ein Mann wie aus dem Bilderbuch, schon bei der ersten Begegnung ist Francesca seiner Schönheit und sinnlichen Ausstrahlung verfallen, reicht ihm eine rote Rose als erstes Liebeszeichen. Zu  seiner Erscheinung korrespondiert der baritonal getönte, virile Tenor mit potenten Spitzentönen. Den trunkenen Rausch des Schlussduettes, welches Loy mit berstender Spannung wie einen Thriller inszeniert, kosten der chilenische Sänger und Sara Jakubiak bis zur Neige aus und sorgen damit für den musikalischen Höhepunkt der Aufführung. Zu Ivan Inverardi als derb polterndem, gefährlich cholerischem Ehemann Giancotto könnte der optische Kontrast nicht größer sein. Dritter im Bunde ist Charles Workman als zwielichtiger Malatestino mit prägnanter, inzwischen zum Charaktertenor gereifter Stimme.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin musiziert unter Carlo Rizzi, der die fiebrig-nervöse Musik, aber auch deren Schillern und Schwelgen effektvoll ausbreitet. Der Chor des Hauses (Einstudierung: Jeremy Bines) wird im Rahmen des Hygiene-Konzeptes der Pandemie aus dem Probenraum eingespielt. Die Aufführung (in Ko-Produktion mit NAXOS und Deutschlandfunk Kultur sowie takt 1) stellt der Deutschen Oper Berlin erneut ein glänzendes Zeugnis aus. Bernd Hoppe

Aufforderung zum Tanz

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Dance with me heißt ein neues Album bei Alpha Classics (780) und wer könnte dieser Einladung widerstehen, wenn sie von Barbara Hannigan kommt? Die kanadische Sopranistin ist bekannt für ihre Repertoire-Vielfalt, die vom Barock über den Belcanto bis zu Bergs Lulu und der zeitgenössischen Musik reicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sie während der Pandemie im Mai des vergangenen Jahres in Hilversum auch bei einer CD-Produktion mitwirkte, die sich dem Genre der Unterhaltungsmusik widmet. Ihre Partner sind Lucienne Renaudin Vary an der Trompete, das Berlage Saxophone Quartet und das Ludwig Orchestra. Der Sound ist eine reizvolle Mischung aus Kaffeehaus-Musik und Oldtime Jazz. Die zwölf Titel mit Slow Fox, Tango, Salsa, English Waltz, Rumba, Samba und Wiener Walzer garantieren reichlich Abwechslung und ein großes Hörvergnügen.

Hannigan sorgt mit Glenn Millers „Moonlight Serenade“ für einen stimmungsvollen Einstieg. Man wähnt sich in einer Nachtbar, genießt den sinnlich-verführerischen Klang der Stimme und der begleitenden Instrumente. Der Komponist Bill Elliott hat den Titel arrangiert, neben einigen anderen wie dem Cha-Cha „Quien sera“ von Pablo Beltrán Ruiz mit seinem Latino-Flair oder dem fetzigen Jive „In the Mood“ von Wingy Manone. Die Sopranistin singt als zweiten Beitrag eine Komposition von Kurt Weill und Roger Fernay, „Youkali“, welche Teresa Stratas auf ihrer Weill-CD so unnachahmlich interpretiert hat. Hannigan findet eine eigene Version von mondänem Zuschnitt mit raffinierten vokalen Valeurs. Danach hört man von ihr den One-Step „Fluffy Ruffles“ von George Hamilton Green und Wallace Irwin – eine flotte Nummer, die gute Laune macht, wie die ganze Platte überhaupt ein wunderbarer Stimmungsaufheller ist.

Die Orchestertitel zwischen den Vokalnummern bieten eine große Vielfalt der Farben und Stimmungen – wie die Salsa „Copacabana“ von Barry Manilow mit ihrem rasanten Rhythmus, das „Je veux t’aimer“ von Robert Stolz mit seiner nostalgischen Atmosphäre oder die Rumba „My Shawl“ von Xavier Cugat mit ihrer lockenden Sinnlichkeit. Mit Edward Elgars „Salut d’amour“ bietet das Orchester als Schlusspunkt mit feiner Kultur der Streicher eine lyrische Perle von nostalgischem Sentiment.

Letztes Solo der Sängerin ist das sattsam bekannte „I Could Have Danced All Night“ aus My Fair Lady von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner. Davon gibt es unzählige Interpretationen, gegen die sich Barbara Hannigan nicht genügend behaupten kann. Man bedauert dennoch, dass die Sängerin nur mit vier Titeln zu hören ist und die originelle Platte insgesamt mit knapp 47 Minuten reichlich kurz geraten ist (26. 02. 22). Bernd Hoppe

Antonietta Stella

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Die italienische Sopranistin Antonietta Stella starb am 23. Februar (2022) im Alter von 92 Jahren. Mit ihr geht wirklich eine Ära des italienischen Gesangs zu Ende. Wie ihre Kolleginnen Tucci oder Malaspina, Roberti, Mancini gehörte sie, die vor allem durch ihre physische Schönheit punktete, zum festen Bestand der italienischen Oper und hatte im Gegensatz zu den Genannten eine bemerkenswerte internationale Karriere, auch an der Met, wenngleich sie doch, wie die Gencer und viele, im Schatten der Callas und Tebaldi stand. Fans werden mir heftig widersprechen, aber sie war stets in der 2. Riege, so auch bei den Opernaufnahmen der Deutschen Grammophon, die als Konkurrenz zu denen der EMI und Decca aufgebaut wurden. Der etwas enge, steife Sopran der Stella leuchtete in der Höhe, und ihre Amelia im Boccanegra der RAI 1951 (neben Silveri und Bergonzi) gehört zu meinen Lieblingsaufnahmen, eben weil alle dort so jung und (scheinbar) unbekümmert klingen. Antonietta Stella war eine außerordentlich tüchtige Sängerin wie die nachstehende Auflistung bei Kutsch-Riemens zeigt, eine würdige Vertreterin der Italienischen Oper, wie es sie heute nicht mehr gibt (Foto Alchetron). G. H.

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Stella, Antonietta, Sopran, * 15.3.1929 Perugia; sie wurde an der Accademia di Santa Cecilia in Rom ausgebildet. Sie debütierte 1950 in Spoleto als Leonore im »Troubadour«. 1951 hatte sie an der Oper von Rom ihren ersten großen Erfolg als Leonore in »La forza del destino«. 1951 sang sie in Deutschland an den Opernhäusern von Stuttgart, München und Wiesbaden. Es folgten Gastspiele in Florenz, Neapel, Rom, Catania, Parma, Turin, Lissabon und Perugia. 1954 debütierte sie an der Mailänder Scala als Desdemona in Verdis »Othello« und hatte dort bis 1963 in einer Anzahl von Partien ihre Erfolge, u.a. als Tosca, als Traviata und als Elisabetta im »Don Carlos« von Verdi. Die Künstlerin gastierte sehr oft an der Staatsoper von Wien; auch an der Covent Garden Oper London (1955), in Paris, Brüssel und Chicago war sie erfolgreich. 1955 sang sie in der Arena von Verona (wo sie 1953 erstmals aufgetreten war) die Aida und die Leonore in »La forza del destino« auch in den Jahren 1957-58, 1960 und 1964 war sie in Verona in großen Partien anzutreffen. 1956 folgte sie einem Ruf an die Metropolitan Oper von New York (Antrittsrolle: Aida). Bis 1960 hatte sie an diesem Opernhaus große Erfolge; sie sang an der Metropolitan Oper in vier Spielzeiten acht Partien in 54 Vorstellungen, darunter die Leonore im »Troubadour«, die Amelia in Verdis »Ballo in maschera«, die Butterfly, die Tosca, die Traviata und die Elisabetta im »Don Carlos«. 1974 hörte man sie am Teatro San Carlo Neapel in der Uraufführung der Oper »Maria Stuarda« von de Bellis. – In ihrer Sopranstimme verbanden sich dramatische Aussagekraft, musikalische Schönheit und souveräne Beherrschung der Gesangstechnik. Große Verdi-und Puccini-Interpretin.

Aufnahmen auf Cetra (»Simon Boccanegra«), Philips (»Linda di Chamounix« von Donizetti, »La Bohème«, »Tosca«), DGG (»Un Ballo in maschera« von Verdi, »Don Carlos«, »Troubadour«), HMV (»Don Carlos«), Columbia (»La Traviata«, »Andrea Chénier« von Giordano), UORC (»Aida«), Foyer (»La battaglia di Legnano« von Verdi), HRE (»Luisa Miller« von Verdi), Melodram (»La forza del destino«, »Africaine« von Meyerbeer), Memories (»Agnese di Hohenstaufen« von Spontini).

[Nachtrag] Stella, Antonietta; als erste Partie sang sie 1955 an der Londoner Covent Garden Oper die Aida. Sie übernahm auch Partien aus dem Wagner-Repertoire wie die Elisabeth im »Tannhäuser«, die Elsa im »Lohengrin« und die Sieglinde in der »Walküre«.

[Lexikon: Stella, Antonietta. Kutsch/Riemens: Sängerlexikon, S. 23278 (vgl. Sängerlex. Bd. 5, S. 3338; Sängerlex. Bd. 6, S. 611) (c) Verlag K.G. Saur]

Reichtum in der Beschränkung

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Unter strengen (2020) und weniger strengen (2021) Corona-Beschränkungen gab es in Salzburg Konzerte der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann und unter Mitwirkung von Elīna Garanča, die jeweils einen Liederzyklus beisteuerte. Vervollständigt wurde das Programm in beiden Jahren von einer Bruckner-Sinfonie, 2020 von der Vierten und 2021 von der Siebenten. Eine DVD existiert vom Konzert im Jahre, die Auftritte der Mezzosopranistin liegen nun „Live from Salzburg“ auf einer CD der Deutschen Grammophon vor.

Es ist gar nicht so selten, dass ein CD- oder DVD-Booklet bereits die Kritik zu einer Aufnahme bereitstellt, und so ist es auch in diesem Fall, wo der lettischen  Sängerin bzw. ihrem Vortrag „berückende Dichte“ und „inniger Ausdruck“ bescheinigt werden, wo eher tiefgestapelt wird mit einem „schafft das Orchester die gelungene Basis“ für den Gesang, während es zwischen Werk, Interpretin und Publikum „unmittelbar von Herz zu Herz“ geht.

Dem Hörer können auch andere, nicht verachtenswerte Attribute zu den Darbietungen der Sopranistin einfallen, so die ausgezeichnete Diktion, die vom ersten Wesendonck– bis zum letzten Mahler-Lied beeindruckt, das kostbare Timbre, die feine Agogik wie auf „Engel“ im ersten der Wagner-Lieder, die Fähigkeit, quasi jedes Wort auszudeuten, was manchmal etwas auf Kosten einer einheitlichen Grundstimmung geht. Auch im dramatischeren Stehe still! bleiben die Konturen exakt, im „süßen Vergessen“ kommt die Musik fast zum Stillstand, das Orchester bleibt zurückhaltend, ehe es zum Schluss mehr von der Atmosphäre des Lieds vermittelt als der Gesang zuvor.  In Im Treibhaus fasziniert der zarte Tonabsatz in der Höhe, für die Gesamtstimmung zeigt sich wieder das Orchester verantwortlich, trägt die Stimme wunderbar und beide wetteifern um den Preis für absolute Schönheit am Schluss. Ein strahlendes „Glorie“ hat der Mezzosopran für Schmerzen, einen schönen Jubelton für „O wie dank ich“, und in Träume wirkt der Variationsreichtum des Ausdrucks recht kalkuliert, wenig spontan.

Auch in den 5 Liedern Mahlers nach Gedichten von Rückert ist es die Makellosigkeit des Vortrags, die frappiert, aber nicht unbedingt berührt. Duftig und klar lässt sich die Stimme vernehmen, erst die Begleitung lässt wahrnehmen, dass in Ich atmet‘ mehr steckt als eine Idylle. Selten ist die Textverständlichkeit so anfechtbar wie in Liebst du um Schönheit, aber schön der Jubel auf „immerdar“. Unangefochten hält der Mezzosopran dem Forte in Um Mitternacht stand, der Wandel im Schlüsselbegriff wird zwar auch in der Stimme, stärker noch in der Begleitung spürbar. Von Videoaufnahmen weiß man, wie sehr Christian Thielemann auf die Bedürfnisse seiner Gesangssolisten eingeht, hier meint man es zu hören, zu spüren. Huschend, aber nicht verhuscht klingt Blicke mir nicht in die  Lieder, getragen, aber keineswegs spannungslos Ich bin der Welt abhanden gekommen.

Die CD nötigt Bewunderung für die Schönheit der Stimme, für die perfekte Technik ab, vermag aber weniger zu berühren als der Beitrag des Orchesters, der auch im letzten Track den inneren Reichtum in der Beschränkung hörbar macht (DG 486 1929). Ingrid Wanja    

Josephine Veasey

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Zu meinem großen Bedauern hörte ich vom Tod der bedeutenden britischen Mezzosopranistin Josephine Veasey im Alter von 91 am 22. Februar (2022), eine meiner Lieblingsstimmen und eine der wichtigsten britischen Nachkriegssängerinnen. Allein schon ihre Mitwirkung am Berlioz-Projekt von Colin Davis bei Philips und an Covent Garden in den Sechzigern/Siebzigern, wo sie jahrzehntelang in allen wichtigen Rollen ihres Fachs auftrat (so Suzuki neben Sena Jurinacs Butterfly), sichert ihr einen festen Platz in der Geschichte der Aufführungen Berlioz´ (unvergessen auch ihre Béatrice ebendort). Ihre noble Erscheinung, ihr wunderbarer, ausgeglichener Gesang, ihre wirklich bedeutende Gesangstechnik lassen sie für mich unvergesslich sein. Ich hatte das große Glück sie neben wenigen Auftritten in West-Berlin ab 1968 (und in Folge 1972 und 1976) als Didon in London zu erleben, dann in 1980 in Buxton als Königin Gertrude im dortigen Hamlet von Thomas, an der Seite ihrer ebenso beeindruckenden Kollegen Thomas Allen und der bezaubernden Sopranistin Christine Barbaux, ein Abend, der mir bis heute unvergesslich ist. Josephine Veasey war auch eine bedeutende Fricka bei Herbert von Karajan in dessen Salzburger Ring 1967 pp, eine nachhaltige Adalgisa in der Norma von Orange neben Caballé und Vickers (1974, man erinnert sich an das fliegende Gewand der Caballé im spannenden Video). Sie war eine flexible Sängerin und war alternierend Cassandra und Didon von Berlioz eben an Covent Garden. Wie alle Mezzos ihrer Zeit stand sie dort im Schatten von Janet Baker (wie Helen Watts einmal etwas bitter bemerkte), und die letzten Jahre an Covent Garden waren sicher keine leichten. Sie zog sich auf das Unterrichten zurück und machte sich einen Namen als bedeutende Lehrerin, wie mir ihre Kollegin und Schülerin Ann Evans berichtete. In Erinnerung bleibt mir eben diese ausgeglichene, pastos timbrierte, noble Stimme, ein wenig an Yvonne Minton erinnernd und vielleicht das eleganteste, was England an Mezzos hervorgebracht hat. Mich hat sie seit dem ersten Hören durch mein Leben begleitet (Foto Isoldes Liebestod). G. H.

 

Nachstehend ein Auszug aus dem unersetzlichen Kompendium  „Großes Sänmgerlexikon“ von Kutsch-Riermens:  Veasey, Josephine, Mezzosopran, * 10.7.1930 Peckham (Sussex); ihre Stimme wurde durch Audrey Langford in London ausgebildet. Sie kam dann an die Covent Garden Oper London, wo sie zunächst 1948-50 im Chor und kleinere Partien sang. 1950-51 war sie bei der Opera for All tätig. 1954 hatte sie an der Covent Garden Oper einen sensationellen Erfolg als Cherubino in »Figaros Hochzeit«. Sie gehörte seitdem zu den prominentesten Sängerinnen der Covent Garden Oper, an der sie bis 1982 60 Partien in 780 Vorstellungen vortrug; zu ihren Glanzrollen zählten die Carmen, der Octavian im »Rosenkavalier«, die Amneris in »Aida«, die Azucena im »Troubadour«, die Brangäne im »Tristan« und die Alt-und Mezzosopran-Partien im Ring-Zyklus von R. Wagner. Bei den Festspielen von Glyndebourne erschien sie erstmals 1957 als Zulma in Rossinis »Italiana in Algeri«, 1958-59 als Cherubino, 1964 als Clarice in Rossinis »Pietra del Paragone«, 1965 als Octavian im Rosenkavalier, 1969 als Charlotte im »Werther« ebenso erfolgreich trat sie auch beim Edinburgh Festival auf. Bei Gastspielen an der Staatsoper von Wien, an der Oper von Köln und bei den Osterfestspielen von Salzburg (Fricka unter Herbert von Karajan) hatte sie wichtige internationale Erfolge. 1971-72 gastierte sie an der Hamburger Staatsoper, 1971 an der DeutschenOper Berlin. An der Mailänder Scala sang sie Wagner-Partien, an der Grand Opéra Paris die Dido in »Les Troyens« von Berlioz, 1973 die Kundry im »Parsifal«. 1968 kam es zu ihrem Debüt an der Metropolitan Oper New York (Fricka im Nibelungenring unter H. von Karajan). Auch in Nordamerika hatte sie eine bedeutende Karriere, 1975 gastierte sie an der Oper von Dallas als Brangäne. 1976 wirkte sie an der Covent Garden Oper in der Uraufführung von H.W. Henzes »We come to the River« mit. 1982 sang sie als Abschiedspartie an der Covent Garden Oper die Herodias in »Salome«. Sie wurde dann Gesangsmeisterin an der English National Opera London, seit 1983 wirkte sie an der Royal Academy of Music London als Pädagogin. Zu ihren Schülern gehörten Sänger wie Sally Burgess, Phyllis Cannon, Vivian Thierney, Mary Hegaty, Helen Field, Felicity Palmer, Ethna Robinson, Anthony Mee und Peter Sidham. Neben ihrem Wirken auf der Bühne war sie eine geschätzte Konzert- und Oratoriensängerin. 1970 wurde sie zum Commander of the British Empire ernannt.

Schallplatten auf Philips (Dido in »Les Troyens« von Berlioz, »La dammation de Faust« von dem gleichen Meister, »Dido and Aeneas« von Purcell), auf Decca (Agnese in »Beatrice di Tenda« von Bellini, »A Midsummer Night’s Dream« von Benjamin Britten, Geneviève in »Pelléas et Mélisande« von Debussy, »Salome« von Richard Strauss), MRF (»Pénélope« von Fauré, »Hamlet« von A. Thomas) und auf DGG (Alt- Partien im Ring-Zyklus aus Salzburg, Verdi-Requiem).

[Nachtrag] Veasey, Josephine; aus den vielen Partien, die sie an der Covent Garden Oper London übernahm, sind noch die Rosina im »Barbier von Sevilla«, die Marina im »Boris Godunow«, die Magdalene in den »Meistersingern«, die Emilia in Verdis »Othello«, die Cassandre wie die Didon in »Les Troyens« von Berlioz und die Eboli in Verdis »Don Carlos« hervorzuheben. 1980 gastierte sie an der Oper von Boston als Königin im »Hamlet« von A. Thomas, an der San Francisco Opera bereits 1974 als Eboli. – Lit: A. Blyth: Josephine Veasey (in »Opera«, 1969).

[Lexikon: Veasey, Josephine. Kutsch/Riemens: Sängerlexikon, S. 24903 (vgl. Sängerlex. Bd. 5, S. 3578; Sängerlex. Bd. 6, S. 634) (c) Verlag K.G. Saur] Foto: Josephine Veasey als Didon in Les Troyens/ Berlioz/ Foto Philips/Covent Garden

Eugen Engels „Grete Minde“

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Zu den erstaunlichen Entdeckungen der jüngsten Tage gehört die Oper Grete Minde des Amateur-Komponisten Eugen Engel, dessen Lebenslauf nachstehend im Artikel der Dramaturgin des Magdeburger Theaters skizziert wird. Wie aus dem Dunkel der Geschichte tauchte in Amerika die handschriftliche Partitur (eigentlich eher eine Orchester-Skizze) einer Oper auf, die – nun im Februar 2022 auf den Brettern des Magdeburger Theaters zum Klingen gebracht und anschließend im Radio gesendet – sich als anspruchsvolles und üppigst orchestriertes Bühnenwerk darstellt. Der Presse-Rummel um das Leben und Sterben (1943 im KZ Sobibor) des jüdischen Angestellten Engel blockiert eher die Würdigung seiner musikalischen Schöpfung, die staunen macht. Aber der Reflex, dass hier gleich wieder die Klammer der „Entarteten Musik“ greift und dass die dto. bemerkenswerte Zusammenarbeit eines jüdischen Komponisten mit einem „faschistischen“ Librettisten die heutige Wertung in eine ganz bestimmte, politisch korrekte und opportune Richtung schiebt, ist für die Journalistenkollegen ja allzu verführerisch.

Eugen Engel im Berliner Tiergarten, September 1928; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2012/127/80, Schenkung von Janice Lowen Agee/ Theater Magdeburg

Zu viel bleibt ungeklärt. Eugen Engel und der Journalist Hans Bodenstedt dürften um 1914, als Bodenstedt die Vorlage von Theodor Fontane (auch dem wird heute Antisemitismus vorgeworfen) aufgriff, also weit vor Beginn des Hitlerfaschismus Kontakt aufgenommen haben. Die Daten der Entstehung der Komposition von Grete Minde sind unklar, zumal möglicherweise die Oper nicht für eine Veröffentlichung gedacht war und lange in der Schublade lag. Wenngleich sich Engel deswegen an einige wichtige Leute im Berliner Musikleben wandte („im Kontakt“ heißt es, aber das scheint eher eine einseitige Kontaktnahme gewesen zu sein). Und erst spät, ab 1933, sind ablehnende (weil anti-jüdische) Reaktionen erwähnt.

Und erst in den Dreißigern, also weit nach 1914, wandte sich der Librettist Hans Bodenstedt  (* 25. Oktober 1887 in Sudenburg; † 10. Dezember 1958  in Feldafing, Bayern) dem Faschismus zu, machte aber auch eine bemerkenswerte Karriere beim NWDR nach dem Krieg . Er war, wie bei Wikipedia nachzulesen, ein Rundfunkpionier, arbeitete als Programmleiter, Autor und Sprecher und tat viel für die Entwicklung der Rundfunkreportage und des Hörspiels. Bodenstedt verfasste Libretti, bearbeitete Operetten für die Aufführungen im Rundfunk, schrieb Märchentexte und war der Schöpfer der populären Kinderfunk-Figur „Funkheinzelmann“. Zwischen 1939 und 1944 war er Herausgeber von 26 Bänden der Reihe „Die Bücher der Ährenlese“, die im „Verlag Blut und Boden“ in Goslar erschien.  Aus „gesundheitlichen“ Gründen nahm er 1953 Abschied vom Rundfunk und übersiedelte nach Oberbayern, wo er im 71. Lebensjahr verstarb.

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Der Journalist Hans Bodenstadt, Librettist für Engels „Grete Minde“/ Grammophon-Platten

In Sachen Grete Minde brachte der Hobby-Sänger Uwe Jöckel alles ins Rollen, als er von dem Vorhaben zu einen Stolperstein für den Komponisten Eugen Engel in der Berliner Charlottenstrasse  (Mitte) hörte. Wie der Spiegel schreibt, „wurde Jöckel neugierig, beschaffte sich Noten. »Sie erinnerten mich an die Lieder Gustav Mahlers«, erzählt er.“  Er wandte sich über Umwege an Janice Lowen Agee, die Enkelin von Eugen Engel in Amerika. Dass nun Engels Partitur der Magdeburger Dirigentin Anna Skryleva „sozusagen in die Hände gefallen war“, ist, vermehrt das Rätsel, wie ein Kaufmännischer Angestellter des Warenhauses Tietz ohne jede erkennbare Vorbildung eine so beeindruckende Orchestrierung zustande gebracht hat. Er habe „professionelle Hilfe“ gehabt, mutmaßt Ulrike Schröder in ihrem Einführungsartikel. Aber wer? Natürlich gab es zu Engels Zeiten in Berlin viele Musiker/Komponisten für alle mögliche Musiksparten. Aber für einen Amateur am Klavier ist dies doch ein außerordentlich erstaunliches Werk, zumal sein einziges dieses Formats. Woher also stammt die Orchestrierung, wenn nicht sogar auch die musikalische Vielfalt? Da klingt sehr viel Korngold, Strauss, Schreker, Wagner-Regeny hindurch, auch ein Schuss Wagner (Meistersinger-Zitat) und vielleicht auch Russisches (wie bei so vielen amerikanischen Komponisten) …

Wie auch immer – Grete Minde von Eugen Engel, nun endlich am Theater Magdeburg uraufgeführt, ist eine wirklich überraschende Oper, die hoffentlich auch als CD dokumentiert und so einem großen Kreis zugänglich gemacht wird. Eine Radioaufnahme gibt es ja.

Nachstehend folgt eine Besprechung der Aufführung vom 5. März 2022 von Gerhard Eckels sowie  Einführendes aus dem Programmheft , wofür wir sehr danken. G. H.

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Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Mühen der Bearbeitung des Notenmaterials durch die Magdeburger Generalmusikdirektorin Anna Skryleva und die Musikdramaturgin Ulrike Schröder haben sich wirklich gelohnt, denn dieses spannende, konfliktreiche Werk könnte eine echte Bereicherung des Repertoires werden.

Die Handlung von Fontanes Novelle und der Oper geht zurück auf Ereignisse in nachreformatorischer Zeit kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs im altmärkischen Tangermünde, als im September 1617 bei einem gelegtem Brand mehr als die Hälfte der über 600 Wohnhäuser der Stadt und 52 Scheunen zerstört wurden. Davon weicht die Novelle, die Grundlage des Librettos, deutlich ab; das Schicksal der historischen Margarethe Minde war um Einiges grausamer, indem sie nach Folterung einem Justizmord zum Opfer fiel.

Zum Inhalt der Oper: Die lebensfrohe Grete lebte als verwaiste Tochter einer Katholikin in der lutherisch geprägten Kleinstadt Tangermünde bei ihrem älteren Halbbruder Gerdt und dessen bigotter Frau Trud. Liebe gibt es in dieser strengen, harten Welt nicht: Gerdt flüchtet sich in Geld und Arbeit, seine Frau Trud beneidet den „Hexenspross“, dem die Liebe zufliegt, während sie selbst einsam ist. Grete trifft auf Valtin, der ebenfalls ohne Mutter aufgewachsen ist. Beide sind krasse Außenseiter, was letztlich dazu führt, dass sie die Stadt verlassen, um der hartherzigen, beklemmenden Enge ihrer Heimat zu entfliehen; sie schließen sich einer fahrenden Komödianten-Truppe an. Nur wenige glückliche Jahre sind dem Paar vergönnt, als Valtin ohne Hoffnung auf Rettung erkrankt. Verzweifelt verspricht Grete dem Sterbenden, nach Tangermünde zurück zugehen, um auch im Interesse ihres kurz zuvor geborenen Kindes ihr Erbteil zu erkämpfen. Dass ihm der lutherische Pastor Beistand im Sterben und ein Begräbnis verweigert, die Domina der katholischen Nonnen des Klosters Arendsee aber nicht, ist nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. In Tangermünde verweigert der mitleidslose Halbbruder Gerth die Aufnahme von Mutter und Kind in die Familie, aber auch die Herausgabe des ihr zustehenden Erbteils. Selbst beim Bürgermeister Peter Guntz kann Grete ihr Recht gegen den hoch geachteten „Ratsherren Gerth Minde“ nicht durchsetzen. Als auch ein Vermittlungsversuch der Schwägerin Trud scheitert, kommt es zu verzweifelter Rache: Grete setzt die Stadt in Brand und kommt mit ihrem Kind in den Flammen um.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Regisseurin Olivia Fuchs, deren Personenführung insgesamt gut gefiel, hat versucht, die drei Zeitebenen (Tangermünde 1617, Fontanes Novelle 1879 und die Biographie des Komponisten) zusammenzubringen, indem sie, wie sie im Programmheft erläutert, die mittelalterliche Geschichte in die 1940-er Jahre verlegt und mit einigen Koffern in der Bühnenmitte den Holocaust angedeutet hat. Dazu wurden auf die grauen Wände des kargen Einheits-Bühnenbildes Schwarz-Weiß-Videos von Brandenburger Landschaften und – zum lautstark angekündigten Erscheinen des Kurfürsten – von Marschkolonnen der Wehrmacht projiziert. Ohne dies im Programmheft gelesen zu haben, ließen sich die Andeutungen zu Eugen Engels Biographie kaum erkennen. Auch passt die Geschichte mit ihren religiösen Gegensätzen und den fahrenden Komödianten nicht ins mittlere 20. Jahrhundert – dies wirkte jeweils allzu krampfhaft und damit letztlich überflüssig. Durchaus sinnfällig ist die Kostümierung, wenn den bunt gekleideten Komödianten und dem Außenseiter-Paar (Grete mit feuerroten Haaren, Valtin in legerem Look) die feindlich gesonnene Bürger-Gesellschaft in einheitlich zeitlosem, strengen Schwarz gegenüber steht,  wobei man über das Outfit der Trud à la Emmy Göring  streiten kann (Ausstattung: Nicola Turner).

Eugen Engels einzige Oper enthält mit lebhaften Chorszenen, zarten Klängen des Liebespaars und dramatischen Steigerungen so ziemlich alles, was zu großer Oper gehört. Im ersten Akt wirken die Chöre mit einem derben Walzer noch reichlich grob geschnitzt. Das verdichtet sich in Arendsee, wenn im zweiten Akt in der turbeligen Wirtshaus-Szene der Wirt (mit prägnantem Bass Frank Heinrich) Lokalkolorit herstellt, indem er in dem dort üblichen Dialekt über die Einwohner der Nachbarorte Magdeburg, Tangermünde, Salzwedel und Stendal herzieht. Noch stärker wird es in der Sterbeszene mit Gretes innigem Wiegenlied, dem von ihr als Engel aus dem Off gesungenen Marienlied aus dem Mysterienspiel der Komödianten zum Sterben von Valtin und dem Segen der Domina. Besonders im Finale wird alles ineinander verschränkt, die Tonmalerei des sich ausbreitenden Feuers, das Entsetzen des Volks und der ernste Spruch von Gretes Vater über die Ausübung von Gerechtigkeit. Die Stärken der im Ganzen eingängigen Musik liegen damit deutlich in den lyrischen, liedhaften Szenen; dagegen ist die Illustrierung der Dramatik nach meinem Geschmack allzu plakativ und aufdringlich, was wohl auch an der starken Instrumentierung liegen mag, mit der die Akteure auf der Bühne so manches Mal ihre Probleme hatten. Hier hätte Anna Skryleva die sehr präsente Magdeburgische Philharmonie etwas dämpfen müssen, wenn auch der spätromantische Farbenreichtum der vielschichtigen Partitur durchaus angemessen zur Geltung kam.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Besonders eindrucksvoll war das ausgezeichnete Magdeburger Ensemble, das in allen Positionen eindringlich agierte und stimmlich begeisterte. Da ist zunächst Raffaela Lintl in der Titelpartie zu nennen. Mit ihrer Grete konnte man in jeder Gemütslage mitfühlen, von lebenslustiger Leichtigkeit über intensive Liebe bis zu ausrastender Rache. Dabei führte sie ihren volltimbrierten Sopran sicher und intonationsrein durch alle Lagen; sie hatte keine Mühe, sich trotz starker Orchesterfluten Gehör zu verschaffen. Das gelang auch Zoltán Nyári als ihr Geliebter Valtin mit tenoraler Strahlkraft; der ungarische Gast hätte allerdings stimmlich etwas mehr differenzieren müssen, um einige Schärfen seiner durchschlagskräftigen Stimme zu mildern. Die mit gewagten Intervallsprüngen gespickte Partie der Trud Minde war der norwegischen Sopranistin Kristi Anna Isene anvertraut, die mit einem passenden Rollenporträt der Trud ebenso überzeugte wie durch die beeindruckende Beherrschung der hohen stimmlichen Anforderungen. Die drei Komödianten waren mit markantem Bariton Johannes Wollrab als Puppenspieler, mit flexiblem Tenor Benjamin Lee als munterer Hanswurst und mit feinem Sopran Na´ama Shulman als Zenobia. Da der Sänger des Halbbruders Gerdt erkrankt war, retteten der Regieassistent Florian Honigmann (szenisch) und Johannes Wollrab (Gesang) die Vorstellung. Der warme Mezzosopran von Karina Repova passte gut zur sympathischen Domina; in kleineren Rollen bewährten sich Jadwiga Postrożna mit charaktervollem Mezzo als Valtins Stiefmutter, Paul Sketris mit gepflegtem Bass als lutherischer Pfarrer und mit wie gewohnt sonorem Bass Johannes Stermann als hartherziger Bürgermeister Peter Guntz. Wie inzwischen in Magdeburg gewohnt, erfreute der beweglich geführte Chor in der Einstudierung von Martin Wagner durch ausgewogene Klangpracht. Das Publikum bedankte sich bei den Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Applaus. Gerhard Eckels

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Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Ulrike Schröder: Eugen Engel – Spurensuche. Der Musiktheaterspielplan verläuft an den meisten Opernhäusern in ruhigem Fahrwasser: Gern verlässt man sich auf beliebte Werke aus einem gut erforschten Repertoire, deren künstlerische Qualität unumstritten ist. Und tatsächlich liegt ein besonderer Reiz darin, sich bekannten und guten Stücken immer wieder aus neuer Perspektive zu nähern. Die Kehrseite dieser Medaille besteht im Versiegen von Neugier und im Festhalten an überkommenen Gewissheiten. So gilt bei vielen: Wer es bis heute nicht ins Licht der Öffentlichkeit geschafft hat, der oder die ist einfach nicht gut genug. Diese Selbstzufriedenheit sollte häufiger gestört werden und dabei kann das Stolpern über neue oder bisher unbekannte Werke helfen. Und plötzlich tauchen neue interessante Fragen auf, z. B. nach den Gründen, die zum Vergessen geführt haben.

Ein solcher »musikalischer Stolperstein« ist die Oper »Grete Minde« von Eugen Engel. Bei den mittlerweile europaweit verlegten Stolpersteinen in Erinnerung an während der Nazizeit aus Deutschland vertriebene und ermordete Juden, Sinti und Roma, Behinderte und aus anderen Gründen Verfolgte besteht ein zentraler Aspekt darin, den Opfern ihre Geschichte und ihr Gesicht zurückzugeben. Deshalb steht auch am Beginn der Beschäftigung mit diesem musikalischen Stolperstein die Frage: Wer war Eugen Engel?

Eugen Engel wurde am 19. September 1875 in Widminnen (Ostpreußen, heute Wydminy in der Ermländisch-Masurischen Woiwodschaft Polens) als Sohn des jüdischen Kaufmanns und Grundbesitzers Samuel Engel (1830-1928) und seiner jüdischen Frau Berta, geb. Salinger (1835-1911) geboren. Er hatte 12 Geschwister (8 Schwestern und 4 Brüder), die zwischen 1857 und 1883 geboren wurden.

Widminnen war in dieser Zeit ein »Marktflecken und Kirchdorf« mit knapp 100 Wohngebäuden. Die gut 1000 Bewohnerinnen waren ganz überwiegend evangelisch, die Statistik zählte im Jahr 1872 »2 Katholiken, 4 sonstige Christen und 42 Juden«.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Teile der großen Familie Engel zogen im August 1892 nach Berlin, hielten aber enge Verbindungen in die Heimat. Eugen Engel wurde wie sein Vater Kaufmann und handelte mit Damenmäntelstoffen bzw. Damenkonfektionsstoffen. Sein Geschäft ist zuerst 1906 im Berliner Adressbuch nachweisbar. Solcherart wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehend, heiratete er am 18. Juni 1907 – mit fast 32 Jahren – im ostpreußischen Heilsberg die 1883 geborene Lea Jacoby, eine jüngere Schwester seiner Schwägerin Ella. Am 19. Juli 1910 wurde die Tochter Eva geboren und die Familie zog in die Charlottenstraße im heutigen Bezirk Mitte, wo Engel nun auch seine Geschäftsräume hatte.

Lea Engel starb im Alter von nur 46 Jahren am 22. Juli 1929 in der Berliner Charité. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben. Für Eugen Engel war dies ein großer Verlust. Gegenüber dem Grabstein ließ er eine Bank aufstellen, auf der seine Tochter und er oft saßen. Der Grabstein trägt als Inschrift eine Gedichtzeile von Adelbert von Chamisso: »Nun hast du uns den ersten Schmerz getan, der aber traf«.

Obwohl Eugen Engel zeit seines Lebens als Kaufmann arbeitete, war seine Leidenschaft die Musik: als Zuhörer, Komponist und Musikerfreund. Mit seiner Tochter besuchte er Musikgeschäfte, um sich mit ihr dort Schallplattenaufnahmen anzuhören. Wann der junge Geschäftsmann begonnen hatte, sich der Musik zuzuwenden und zu komponieren, ist nicht bekannt. Auch wenn Engel 1938 in einem Brief von sich sagte: »Klavierspieler bin ich nicht«, muss er eine beeindruckende musikalische Persönlichkeit gewesen sein. Seine Nichte Erna, die selbst am Stern’schen Konservatorium in Berlin Klavier studiert hatte, erinnerte sich voller Ehrfurcht an ihn. Offensichtlich war er kompositorischer Autodidakt und hatte Anfang des Jahrhunderts privaten Unterricht genommen, u. a. bei Otto Ehlers, der als Dirigent und Korrepetitor beim Königlichen Ballett engagiert war. Um das Jahr 1905 sind Aufführungen kleinerer Orchesterwerke durch den Dirigenten Carl Zimmer und durch ein »Kaufmännisches Dilettantenorchester« belegt.

Nach 1914 scheint sich Engels kompositorische Tätigkeit ganz auf die Oper »Grete Minde« konzentriert zu haben. Wann und wie genau er mit dem Librettisten Hans Bodenstedt in Kontakt kam, ist ungewiss. Bodenstedt, 1887 in Magdeburg geboren, begann als Journalist im »Harzer Kurier« und war ab 1905 Redakteur verschiedener Zeitungen in Berlin, später München und Hamburg. 1914 verfasste er das »Grete Minde«-Libretto, 1923 entstand das Libretto für Leon Jessels Operette »Der keusche Benjamin«. Danach wendete sich Bodenstedt dem Rundfunk zu, schrieb jedoch unter Pseudonym weiter einige Libretti. Nach 1933 avancierte er zum Verlagspolitischen Direktor der NS-Verlage »Blut und Boden«, »Zucht und Sitte« und »Ährenlese«, ab 1948 fand er eine Anstellung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Hamburg.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Arbeit an seiner Oper beschäftigte Engel bis 1933, wobei er im Nachhinein bemerkte, wie sehr sich sein musikalischer Stil im Verlauf der Kompositionszeit geändert hatte. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er 1936: »Die ersten Szenen – ihre Komposition liegt etwas länger zurück – werden in manchem an mir nicht mehr ganz gedeckt [?], doch glaube ich, daß vieles andere, namentlich die Szenen am Sterbebett im 2. Akt u. der dritte Akt, textlich u. musikalisch ihre Wirkung nicht verfehlen dürften.« Dieser Brief dokumentiert die letzte Phase im musikalischen Leben von Eugen Engel: Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 war an öffentliche Aufführungen des Juden Engel nicht mehr zu denken. Die letzten Jahre vor seiner Emigration in die Niederlande 1939 verbrachte er damit, seine guten Kontakte im Berliner Musikleben dafür zu nutzen, eine Aufführung von »Grete Minde« im Ausland zu erreichen. Neben dem Austausch mit Bruno Walter ist unter anderem Korrespondenz mit dem Dirigenten Leo Blech und dem Pianisten Edwin Fischer erhalten.

Eugen Engel liebte Berlin und war ein stolzer Deutscher. Er musste sich jedoch eingestehen, dass die „dynamische Kulturnation“, um die er sich so sehr bemüht hatte, nicht länger existierte. Seine Tochter Eva, zu der er eine enge Beziehung hatte, war bereits 1935 nach Amsterdam emigriert, wo sie ihren Freund aus Kindheitstagen, Max Herbert Löwenberger, heiratete. Am 21. Januar 1939 zog auch Engel nach Amsterdam. Er lebte bei Eva und ihrer Familie in demselben Mietshaus.

Stolperstein für Eugen Engel in der Berliner Charlottenstraße 75 in Mitte/ Foto Theater Magdeburg

Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht ließ sich Engel im Juli 1940 beim Amerikanischen Konsulat in Rotterdam registrieren und kam auf die Warteliste. Sicher ist, dass er versuchte nach Kuba zu emigrieren. Am 12. November 1941 bekam er die Nachricht aus der Kubanischen Botschaft in Berlin, dass er eine Einreiseerlaubnis bekommen hatte. Tragischer Weise scheiterten alle seine Bemühungen auszuwandern in letzter Minute, während Eva mit ihrer Familie im Februar 1941 die Ausreise in die USA gelungen war.

Im März 1943 wurde Engel ins Durchgangslager Westerbork de-portiert. Das letzte Lebenszeichen an seine Tochter Eva über das Rote Kreuz lautete: »Meine lieben Kinder, ich bin gesund und munter und denke ganz viel an Euch. Innige Grüße, Euer Vater Eugen Engel«. Am 23. März 1943 kam er in einem Massentransport zusammen mit 1.250 Gefangenen ins Vernichtungslager Sobibor, wo er drei Tage später, am 26. März 1943, im Alter von 67 Jahren ermordet wurde, höchstwahrscheinlich in der Gaskammer. Von seinen Geschwistern wurden fünf in Theresienstadt, eine Schwester in Treblinka und mindestens drei weitere im Rahmen der Shoah ermordet.

Das ist das furchtbare Ende einer Geschichte, schrecklich bekannt und immer wieder aufs Neue ungeheuerlich – und in diesem Falle auch ein Anfang: Eva Löwenberger, die ihren Namen in den USA in Löwen anglisierte, war es gelungen, einen Koffer mit Kompositionen ihres Vaters mit nach Amerika zu nehmen. Doch erst nach ihrem Tod 2006 fassten ihre Kinder Claude L. Löwen und Janice Ann

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Agee den Mut, sich diesem Koffer und den darin enthaltenen Erinnerungen zu nähern. Neben Dokumenten, Briefen und Manuskripten kleinerer Kompositionen fanden sie eine großformatige Partitur und einen Klavierauszug – die Noten der Oper »Grete Minde«. Dass diese Noten zurück nach Deutschland gelangten, hängt wiederum mit Stolpersteinen zusammen: Janice Agee initiierte die Verlegung zweier solcher Steine am letzten deutschen Wohnort ihres Großvaters und ihrer Mutter in der Berliner Charlottenstraße. Über die lokale Stolperstein-Initiative kam Magdeburgs Generalmusikdirektorin Anna Skryleva in Kontakt mit der Oper und konnte den Klavierauszug durchsehen: Sie war begeistert und überzeugte Generalintendantin Karen Stone von dem Werk. So kommt »Grete Minde« am 13. Februar 2022 endlich zu ihrer verdienten Uraufführung – fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung und fast 80 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers.

Und auch die Stolpersteine liegen mittlerweile an ihrem Platz: Am 19. Oktober 2019 wurden sie in Anwesenheit der Familie an der Stelle verlegt, wo Engels – im Krieg zerstörtes – Wohnhaus in der Charlottenstraße 74/75 gestanden hat. Damit ist Engel in vertrauter Gesellschaft: An seine Schwester Therese Wronkow erinnert seit 2009 ein Stolperstein in Berlin-Wilmersdorf, an seinen Bruder Nathan Engel, der sich Walter nannte, seit 2014 einer in Lübeck.  Ulrike Schröder (Mit freundlicher Genehmigung des Theaters Magdeburg/Ulrike Schröder)

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Zur musikalischen Wirkung der Oper bei der Welturaufführung in Magdeburg bemerkt Anja Schmidt in der ZEIT ONLINE: (…) „die Musik (ist) von einer erstaunlichen Qualität“. Ungewöhnlich sei, dass Engel die von ihm verwendeten innermusikalischen Zitate zum Teil schriftlich als solche in der Partitur markiert habe –  „Meistersinger-Zitat“ etwa schreibe er einmal, mit einem Sternchen versehen, Mitte des ersten Aktes. Die Autorin hat in ihrer feinsinnigen Betrachtung für ZEIT ONLINE das Werk analysiert und sein Wesen mit allen Besonderheiten genau erfasst. Klanglich habe der Komponist offenbar eine sehr konkrete Vorstellung von dem gehabt, was er da notierte. Differenzierte Spielanweisungen („etwas majestätisch“) und Feinheiten wie etwa Vorgaben über die Härte der Schlägel in den Pauken „würden ein kluges Ohr und viel Aufführungs- und Orchestererfahrung verraten“. Schmidt glaubt sich beinahe an die Herangehensweise eines Dirigenten erinnert, „der sich weniger für die Komposition als für die Interpretation zuständig“ fühle. „So arbeitet auch Anna Skryleva Ende Januar mit ihrem Magdeburger Orchester besonders an den Nuancen im farbenreichen Sound der Grete Minde“, heißt es in dem Beitrag weiter. Engels Musik sei – das höre man deutlich – unter dem Eindruck der musikalisch und kulturell blühenden 1920er-Jahre in Berlin entstanden. Sie gebe sich harmonisch vielschichtig, erinnere „mit ihren teilweise vom Jazz inspirierten Melodien und Phrasierungen an die Leichtigkeit der Varietés oder mit Streicherschmelz und assoziativen Holzbläserklängen an die Ära des Stummfilms“. Dazwischen sättige Engel seinen zumeist konsonanten Klang mit viel Blech, lüfte den harmonischen Raum aber auch immer wieder mit solistischen Durchgängen und durchschimmernden kleinen Motiven in den filigraneren Stimmen.

Die Chefdirigentin am Theater Magdeburg, Anna Skryleva, orchestrierte die Oper „Grete Minde“ von Eugen Engel/ Foto Andreas Lande

Aus dem überaus informativen ZEIT ONLINE-Beitrag ist weiter zu erfahren, dass das Theater Magdeburg aus der Partitur, die der Dirigentin Anna Skryleva „sozusagen in die Hände gefallen war“, zusammen mit einem Notenschreibbüro die Orchesterstimmen erstellt habe. „Es wurde jede einzelne Stimme heraus- und abgeschrieben, und ich habe alles Korrektur gelesen“, wird Skryleva zitiert. Dafür habe sie anderthalb Jahre gebraucht. Bei vielen Stimmen (etwa bei der der Harfe) sei folgendes deutlich geworden: „Obwohl über Engels Ausbildung so gut wie nichts bekannt ist und er seinen Lebensunterhalt als einfacher Geschäftsmann verdiente (im Berliner Kaufhaus Hermann Tietz, dem Vorläufer von Hertie), notierte Engel in seiner Partitur nichts, was für die entsprechenden Instrumente ungünstig wäre oder gar nicht spielbar.“ Er habe sich mit Sicherheit professionellen Rat geholt, ist Anna Skryleva überzeugt. „Eine solche Oper am Klavier zu komponieren und zu orchestrieren – dafür müsste man schon Mozart sein.“

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.Eine Rezension der auch als DVD erschienenen Oper von Engel findet sich hier. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.

Viktorianische Christus-Story

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Große Berühmtheit kann Segen und Fluch zugleich sein. Das Stichwort „Gilbert & Sullivan“ ist wohl den meisten Klassikfreunden auch hierzulande ein fester Begriff. Gemeint sind die erfolgreichsten komischen Opern aus dem englischen Sprachraum überhaupt, 14 an der Zahl, die von den 1870er bis in die 1890er Jahre hinein in Zusammenarbeit mit dem Librettisten W. S. Gilbert entstanden. Dass Arthur Sullivan (1842-1900) ein weit größeres Repertoire abdeckte, ist, zumal außerhalb Großbritanniens, heutzutage nur wenigen bekannt. Neben den insgesamt 24 Opern gibt es ein knappes Dutzend Orchesterwerke, zehn Chorwerke, zwei Ballette, sieben Bühnenmusiken, einen Liederzyklus und Zahlloses an Kirchenmusik. Seine großen Verdienste um die britische Musik brachte ihm die Wertschätzung König Victorias und 1883 auch den Ritterschlag ein.

William Holman Hunt: „The Light of the world“/ Wikipedia

Es ist Ironie des Schicksals, dass von Sullivans vielleicht ambitioniertestem Werk überhaupt, dem englischsprachigen gewaltigen Oratorium The Light of the World (Das Licht der Welt), bis vor kurzem keine professionelle Gesamteinspielung vorlag. Die Idee dazu soll dem erst 30-jährigen Komponisten im Herbst 1872 beim Besuch einer Kapelle in Norwich gekommen sein. In relativ kurzer Zeit lag die Komposition im Folgejahr vor und erfuhr beim Birmingham Festival bereits am 27. August 1873 ihre Uraufführung. Es handelte sich um Sullivans zweites Oratorium nach The Prodigal Son (Der verlorene Sohn) von 1869. Ist letzteres Werk von etwa einstündiger Aufführungsdauer, übertrifft The Light of the World dies mit üppigen zweieinhalb Stunden noch einmal deutlich und erreicht damit die Ausmaße von Georg Friedrich Händels Messiah, dem bis heute sicherlich berühmtesten englischen Oratorium überhaupt. Auf den oberflächlichen ersten Blick tut sich ein Vergleich geradezu auf, doch widmet sich Sullivan nicht wie Händel der spirituellen Idee Christi und ist sein Anliegen auch keine Passion im Stile von Johann Sebastian Bach. Vielmehr fokussiert sich Sullivan auf die menschlichen Aspekte, das Wirken Jesu auf Erden, sein Wirken als Prediger, Heiler und Prophet. Ähnlich Mendelssohns Elias, offenbart sich das Werk sodann auch in der ersten Person, wobei die Charaktere sich direkt dem Publikum zuwenden. Eine gewisse Nähe der Thematik mag man auch zum kurz zuvor vollendeten Christus von Franz Liszt erkennen.

Arthur Sullivan/Wiki

Ein Auftreten des Heilands in erster Person erschien im viktorianischen England freilich in gewissen Kreisen beinahe blasphemisch. Dies erklärt dann auch den Umstand, warum der Komponist den Charakter des Jesus von Nazaret in der Partitur schlicht als baritone oder solo bezeichnet. Indem er bewusst auf einen Erzähler verzichtet, verleugnet Sullivan sein Herkommen von der Oper mitnichten und erzielt eine stellenweise beinahe opernhafte Dramatik. Die anderen auftretenden Einzelpersonen sind Mary, the Mother of Jesus (Maria, die Mutter Jesu), Mary Magdalene (Maria Magdalena), Martha, An Angel (Ein Engel), A Disciple (Ein Jünger), Nicodemus, A Ruler (Ein Herrscher), A Pharisee (Ein Pharisäer) sowie A Shepherd (Ein Hirte). Der Chor, der eine ganz eminente Rolle einnimmt, tritt in verschiedener Funktion auf: Zunächst als Chor der Engel, sodann als Chor der Hirten, als Chor der Kinder, als Chor der Jünger, als Chor der Frauen, teilweise aber auch ohne genauere Bezeichnung und gegen Ende an einer Stelle auch a capella.

Formal unterteilt sich The Light of the World in zwei große Teile, wobei der erste Teil zunächst einen vom Chor vorgetragenen prophetischen Prolog umfasst, in welchem das zukünftige Auftreten eines Messias bei Jesaja aus dem Alten Testament zitiert wird. Es folgt die Geburt Christi in Bethelehem mit Maria, dem Engel und den Hirten. In der mit Nazareth – In the Synagogue (In der Synagoge) betitelten nächsten Szene tritt erstmals Jesus selbst auf, wobei Matthäus 5,10 gewiss die Schlüsselstelle darstellt: „Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich.“ In der daran anschließenden Szene um Lazarus und At Bethany (In Bethanien) steht die Erweckung des Lazarus, des totgeglaubten Bruders der Martha, von den Toten im Mittelpunkt. The Way to Jerusalem (Der Weg nach Jerusalem) schließlich beschließt den ersten Teil des Oratoriums mit einem freudigen Hosanna-Chor.

Der zweite Teil in Jerusalem wird unverhofft mit einer theatralischen Ouvertüre eingeleitet, die es verdiente, auch aus dem Kontext gelöst im Konzertsaal zu erklingen. Sie vermittelt die feindliche und von Zwietracht vergiftete Stimmung, welche Jesu Anwesenheit in der Stadt hervorruft. Der Herrscher bestreitet, dass Christus aus Galiläa käme und die Weiber beklagen das Schicksal Jesu. Dieser spricht ihnen Mut zu und betont, dass er die Welt überwunden habe (nach Johannes). Dies sind auch die letzten Worte Jesu im gesamten Werk. Die anschließende Passion und den Tod Christi beschreibt wiederum der Chor. Die letzte Szene ist sodann mit At the Sepulchre – Morning (Am Grabe – Morgen) betitelt. Die trauernde Maria Magdalena wird vom Engel getröstet, der ihr versichert, Christus sei auferstanden und dass Gott alle Tränen von den Augen abwischen werde (nach der Offenbarung des Johannes). Der sich allmählich gewaltig steigernde Schlusschor lobpreist die Auferstehung und beschließt das Oratorium prachtvoll und ergreifend mit Worten aus der Offenbarung sowie aus dem Paulusbrief an die Galater: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus, der sich selbst für unsre Sünden dahingegeben hat, dass er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen Gottes, unseres Vaters. Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“

Die großartig gelungene und von wahrem Pioniergeist getragene Weltersteinspielung dieses Oratoriums, das mit seinem Pathos stellenweise an spätere Hollywood-Filmmusik erinnert, hat nun das britische Label Dutton besorgt (2CDLX 7356). Es zeichnet verantwortlich das BBC Concert Orchestra unter John Andrews. Als Chöre fungiert neben dem BBC Symphony Chorus (Chorleitung: Gavin Carr) der Kinder Children’s Choir (Chorleitung: Joyce Ellis). Kongenial durch die Bank die Riege der Solisten Natalya Romaniw (Sopran), Eleanor Dennis (Sopran), Kitty Whately (Alt), Robert Murray (Tenor), Ben McAteer (Bariton) sowie Neal Davies (Bass). Die ausgezeichnet klingende Produktion (Aufnahme: Watford Colosseum, 21.-25. April 2017), die in Zusammenarbeit mit der BBC entstand, erscheint im hybriden SACD-Format sowohl im Stereo- als auch im Mehrkanalformat. Für die Cover-Gestaltung hätte man sich anstatt des modernen Gethsemane (2016) von Jorge Cocco Santángelo vielleicht eher das gleichnamige allegorische Gemälde The Light of the World (1853) des englischen Präraffaeliten William Holman Hunt erwartet, doch ist dies nur ein marginales Manko. Labeltypisch vorbildlich die (wenn auch nur englische) Textbeilage mit einer Einführung von Martin T. Yates und einer theologischen Einordnung von Ian Bradley. Der komplette gesungene Text liegt bei. Hilfreich auch die Angabe der jeweiligen genauen Bibelstellen. In der Summe neuerlich ein beeindruckendes Plädoyer für eine in Vergessenheit geratene musikalische Rarität. Daniel Hauser

Totenmesse a la française

Die Grande Messe des morts von Hector Berlioz, so der offizielle Name für sein Requiem von 1837, stellt die gewaltigste Vertonung einer Totenmesse überhaupt dar. Trotz ihrer Ausmaße besteht diskographisch nicht eigentlich ein Mangel an Aufnahmen. Die neueste Hinzufügung stellt die Einspielung des Königlichen Concertgebouw-Orchesters Amsterdam auf seinem Eigenlabel dar (RCO 19006). Der italienisch-britische Dirigent Antonio Pappano leitet eben dieses Orchester. Der Chor kommt, wie der Dirigent, aus Italien, es handelt sich nämlich um denjenigen der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, dessen Klangkörper Pappano bereits seit 2005 vorsteht. Endgültig international wird die Neuaufnahme durch das Mitwirken des mexikanischen Tenors Javier Camarena.

Die Messlatte beim Berlioz-Requiem ist hoch gelegt seit der bis heute maßstäblichen Einspielung von Colin Davis für Philips aus dem fernen Jahre 1969. Weder seine Neuauflage aus Dresden von 1994, geschweige denn Davis‘ Spätestaufnahme aus London von 2012 konnten dies toppen. Die Erstaufnahme wurde zwischenzeitlich neu gemastered und gar im Mehrkanalformat bei Pentatone wiederum aufgelegt und ergänzt die grandiose künstlerische Darbietung nun endlich auch klanglich kongenial. Überhaupt ist die Tontechnik bei diesem Werk häufig überfordert. Es gibt zudem wenige Stücke in der klassischen Musik, bei denen Mehrkanalton wirklich einen solchen Mehrwert erbringt, bedingt durch den vom Komponisten sehr auf Räumlichkeit ausgelegten Effekt insbesondere im Tuba mirum mit seinen vier Fernorchestern in allen Himmelsrichtungen. Insofern muss die Neueinspielung unter Pappano tatsächlich hervorgehoben werden, bietet die SACD doch neben Stereo auch Multi-Channel. Im Amsterdamer Concertgebouw am 3. und 4. Mai 2019 eingespielt, kann man also State of the Art erwarten. Für diese Rezension abgehört wurde indes lediglich die gewöhnliche Stereo-CD-Tonspur – und schon sie überzeugt außerordentlich.

Wie einst Colin Davis, so hat ungeahnt auch Pappano ein Händchen für Berlioz‘ Totenmesse. Dies rührt womöglich durch seine langjährige Erfahrung als Operndirigent her (er leitet das Royal Opera House, Covent Garden, seit zwanzig Jahren). Sinn für die notwendige Dramatik, aber auch die dem Requiem innewohnende Lyrik sind mit der Schlüssel für eine überzeugende Darbietung. Pappano hat die monströsen Klangmassen stets unter Kontrolle, profitiert von der Weltklasse des Concertgebouw-Orchesters und kann sich auf den gleichermaßen formidablen Chor, der die zweite Hauptrolle spielt, verlassen (Chorleitung: Ciro Visco). Im kurzen Tenorsolo im Sanctus erweist sich Javier Camarenas sonorer Tenor als Tüpfelchen auf dem i.

In der Summe kann also durchgängig höchstes Niveau bescheinigt werden und gesellt sich nach über einem halben Jahrhundert eine ähnlich gelungene moderne Einspielung zum Klassiker von Colin Davis. Daniel Hauser

Lena Belkina

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Die Mezzosopranistin Lena Belkina ist mit zahlreichen wichtigen Rollen an den großen Opernbühnen vielbeschäftigt. Im letzten Jahr (2021) fand die in Taschkent geborene, in Kiew und Leipzig ausgebildete Sängerin aber zur Innerlichkeit der kleinen Form im Kunstlied. Auf ihrer aktuellen CD Spring Night (Solo Musica 381)widmet sie sich zusammen mit der russischen Pianistin Natalia Sidorenko den hierzulande selten gehören Liedern von Peter Tschaikowski und Sergej Rachmaninoff. Zwischen den Proben für Gastspiel am Gran Teatre del Liceu in Barcelona fand sie Zeit für ein Gespräch mit Stefan Pieper.

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Ich bin doch mal neugierig auf Ihre Herkunft. Sie sind offiziell Ukrainierin, aber in Usbekistan geboren, sind aber auf der Krim aufgewachsen und leben heute in Wien.  Ich bin auf der Krim aufgewachsen, meine Mutter ist Krimtatarin. In sowjetischer Zeit war es so, dass die Menschen irgendwo arbeiten mussten und sich dies nicht aussuchen konnten. Meine Eltern haben sich in Taschkent in Usbekistan kennengelernt, wo sie zum Arbeiten hingeschickt wurden. Ein paar Jahre, nachdem ich geboren wurde, ist die Sowjetunion zerfallen und die Krim- Tataren durften endlich wieder in ihre Heimat zurück übersiedeln. Mein Vater ist Russe aus Sibirien. 1990 sind wir auf die Krim übergesiedelt und deswegen habe ich in Kiew studiert. Seit 10 Jahren lebe ich in Wien, vorher habe ich in Leipzig studiert und an der Oper gearbeitet.

Haben Sie früher einmal gedacht oder sich erträumt, dass Ihr Leben heute so aussehen würde? Ich glaube schon. Ich habe seit meiner Kindheit gewusst, dass ich Sängerin werden möchte. Aber ich musste erst lernen, wie man sich diese professionelle Karriere erarbeitet, um ein solches Ziel zu erreichen. Ich habe noch nicht mein Maximum erreicht und fühle mich nach wie vor auf einem Weg, auf dem es einiges zu bewältigen gibt.

Vor der Pique Dame hier in Barcelona standen Sie in Moskau beim Neujahrskonzert zusammen mit dem Countenor Max Emanuel Cencic auf der Bühne… Ja, singe die Paulina hier im Liceu. Es ist eine absolute Star-Besetzung. Die Rolle des Herrmann wird von Yusif Eyvazov gesungen. Die Rolle der Lisa übernimmt Sondra Radvanovsky.  Und ich freue mich, in Moskau zusammen mit einem der besten Countertenöre seines Fachs auftreten zu können. Eigentlich wollten wir dort Rossinis Oper Donna del Lago konzertant machen. Wegen der Pandemie wurde sie aber zweimal verschoben. Schließlich hat Max gesagt, dass er die Partie des Malcolm nicht mehr singen möchte. Stattdessen haben wir ein anderes Konzertgemeinsam gemacht.

Mich beeindruckt Ihre große Vielfalt. Ein frühes Video zeigt Sie in Bachs Matthäuspassion. Was würden Sie sagen, hat sich seitdem verändert und weiterentwickelt? Ich bin bei dieser Aufnahme 20 Jahre alt. Ich habe seitdem meine Technik weiterentwickelt und übe jeden Tag, dass ich nicht auf einem Level stehen bleibe.

Viele Profis sagen, man muss immer den Wunsch haben, noch besser zu werden. Nur so lange ist man gut. Würden Sie das bestätigen?
Ja, absolut. Es geht dabei nicht nur um die Zufriedenheit über das bereits Erreichte, sondern auch um die Arbeit am technischen Können. Auch geht es darum, Entscheidungen zu treffen. Welche Rolle passt mir gerade? Was kann ich mit meiner Stimme besonders gut und besser als meine Kolleginnen singen? Solche Gedanken beschäftigen mich, damit ich mich weiterentwickele. Ich ruhe mich nie auf etwas aus. Auch wenn meine Umgebung sagt, ich habe wunderbar gesungen, bin ich eigentlich selbst nie zufrieden. Ich sehe immer noch Details und bin in jedem Moment mein eigener Kritiker.

Lena Belkina als Sonya in der Oper „Krieg und Frieden“ von Sergej Prokofiew am Grand Theatre de Genève / Foto Carole Parodi

Wie sieht es mit Zeitdruck aus? Ich gehe davon aus, dass Sie ständig in sehr begrenzter Zeit riesige Partien einstudieren müssen. Wie fühlt sich das an?  Ich bin gerade dabei, in dieser Hinsicht etwas umzudenken und mir ein neues Konzept zu überlegen. Ich möchte künftig nicht mehr so viele Aufträge annehmen, eben damit die Qualität nicht irgendwann leidet. Heute ist mir an einer ausgewogenen Lebenssituation gelegen. Früher hatte ich keine Familie. Da konnte ich jedes Angebot annehmen. Dabei habe ich gelernt, jede Rolle super schnell studieren und lernen zu können. Eine Hauptrolle kann ich in einer Woche auswendig lernen, wenn ich will. Das ist alles möglich, aber ob das gut ist, ist dann die zweite Frage. Ich möchte in erster Linie auf Qualität setzen. Also weniger Auftritte singen und darauf Wert legen, dass ich ausgeruht bin und Zeit habe, etwas zu lesen und auch anderen Interessen und Hobbys nachzugehen. Ich habe während der Pandemie-Zeit etwas Neues ausprobiert und einen Kurs im Bereich Film- Regie absolviert. Ich produziere gerne selber Videofilme und schreibe auch Drehbücher.

Sie haben sich aktuell mit selten gesungenem Liedrepertoire beschäftigt und mit der Pianistin Natalia Sidorenko eine Duo-CD aufgenommen. Markiert dies ein neues künstlerisches Kapitel? Ja und nein. Ich habe diese Lieder während des Studiums in verschiedenen Recitals gesungen und wollte sie immer schon mal aufnehmen. Es war jedes Mal etwas kompliziert, einen Pianisten dafür zu finden. Auch jetzt war ursprünglich ein anderer Pianist geplant, der aber wegen der Pandemie nicht anreisen konnte. Da bin ich auf Natalia Sidorenko gestoßen. Wir haben auf Anhieb sehr gut zusammen geprobt. Wir konnten in Ruhe daran arbeiten und haben uns viel Zeit dafür genommen. Das kommt auf jeden Fall der Qualität dieses Produkts zugute. Auch kamen uns die Bedingungen während der Pandemie entgegen. Normalerweise hätten wir viel mehr Druck gehabt dabei. In der Regel muss eine Aufnahme zwischen zwei Produktionen geschoben werden. Wenn ich eine CD aufnehme und damit etwas für die Ewigkeit schaffe, will ich auch top vorbereitet sein. Auf diese Weise bin ich dann selber mit mir zufrieden und kann sagen, ich habe hier eine große Leistung vollbracht. Jetzt freue ich mich, dass ich über die neue Aufnahme schon viel positives Feedback von vielen Menschen bekommen habe.

Wie unterscheidet sich die künstlerische Herausforderung zwischen einer Opernproduktion und diesem Liedprogramm?
Opernrollen haben riesige Anforderungen an das technische Können. Lieder brauchen natürlich auch eine gute Gesangstechnik, aber es braucht noch etwas anderes darüber hinaus – nennen wir es mal seelisches Können. Es geht in diesen Liedern von Tschaikowski und Rachmaninoff nicht nur um den Text. Noch mehr kommt es darauf an, Bilder zu singen. Die thematische Gegenüberstellung von zwei Komponisten gefällt mir gut und ich möchte sie gerne noch für andere Aufnahmen verwenden. Vielleicht mache ich irgendwann mal ein Programm mit Schubert und Schumann oder mit Debussy und einem anderen französischen Komponisten. Auf jeden Fall gefällt mir die Liedkunst und ich möchte so etwas auf jeden Fall weiter machen.
Das Ganze ist eine neue Bereicherung, vor allem wenn man auf meinen Alltag in meinem Business schaut: Wenn ich einmal eine Rolle gut singe, werde ich überall immer wegen dieser Rolle engagiert. Ich möchte aber gerne neue Programme und unbekannte Opern singen und wünsche mir Direktoren und Intendanten, die genug Mut haben, um solches Repertoire zu inszenieren.

Wie haben Sie das Release-Konzert im Dezember im Berliner Pianosalon Christophori erlebt?
Ich habe nicht nur die Lieder aufgeführt, sondern eine Mischung aus Arien und Liedern. Die Reaktion war großartig. Es war zwar nicht so viel Publikum da, aber dieses spendete stürmischen Applaus mit der Folge, dass ich insgesamt vier Zugaben gesungen habe und dabei das Publikum auch habe wählen lassen. Ich habe immer gefragt, ob ich Carmen oder doch lieber Tschaikowski oder Rachmaninoff singen soll. Es wurde jedes Mal Letzteres gewählt. Carmen habe ich aber trotzdem noch gesungen.

Hatte Sie überrascht, dass die Leute als Zugabenwunsch nicht Carmen hören wollten?
Wenn sich ein Publikum gut in der Literatur auskennt, möchte es meist nicht so einen Hit wie Carmen hören, sondern lieber etwas Unbekanntes entdecken. Wenn sich ein Publikum nicht so gut auskennt, möchte es in erster Linie die tolle Stimme erleben –  da hilft ein Stück, was alle gut kennen. Aber grundsätzlich lege ich jedes Konzertprogramm auf Vielfältigkeit an, so dass für alle etwas dabei ist.

Können wir uns auf weitere Aufführungen Ihres aktuellen Liederprogrammes freuen? Auf jeden Fall. Am 6. April gastiere ich in Hamburg, und dann gibt es endlich einen Nachholtermin für mein verschobenes Debutkonzert in Wien am 15. Mai (Fotos Bofil Barcelona). Stefan Pieper

Beglückend

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Insbesondere bei den Liedern von Richard Strauss ist der Hörer dankbar, wenn der Interpret ein gestandener Opernsänger oder das weibliche Pendant dazu ist, denn auch wenn die kleinen Kostbarketen nicht von einem Orchester , sondern vom Klavier begleitet werden, verlangen sie eine weite Spannbreite, ja vom zartesten lyrischen Feingefühl bis hin zum opernhaften Aufblühen der Stimme. Und so ist die britisch-deutsche Sopranistin Sarah Wegener die geeignete Interpretin der allerbekanntesten wie der weniger populären Lieder, dessen eines Titel, nämlich Zueignung, auch der ihrer CD ist. Es ist zugleich der erste Track und überzeugt durch den corpo der Stimme, die weit ausholen kann, sei es in Bezug auf die Lautstärke, sei es in Bezug auf die vokale Dichte. Als Kontrastprogramm folgt sogleich Gefunden, anmutig und lieblich dargeboten  wie das darin besungene bescheidene Blümelein. Ein wirkliches Frauenlied ist Begegnung, obwohl von einem Mann getextet, und Sängerin wie der Pianist Götz Payer bringen es fertig, in die stürmische Begegnung eine Art Lachen einzubauen, sie auf „geküsst“ und „einander getan“, er in der letzten Strophe.   

Die hoch liegende Heimliche Aufforderung durchmisst der Sopran im Plauderton, ehe er sich in der letzten Strophe auf „Pracht“ prächtig entfaltet, eine schöne Sehnsucht lässt sich in der letzten Zeile vernehmen, obwohl nicht die „Nacht“ zum Höhepunkt , sondern die Stimme hier eher zurückgenommen wird. Eine duftige Rokokostimmung, allerdings, und das geschieht nicht nur hier, auf Kosten der Konsonanten, wird in Das Rosenband verbreitet, sogar das „Elysium“ muss darunter leiden. Sehr weichgespült zu Ungunsten der Konsonanten klingt auch Die erwachte Rose, nur das Klavier tritt dem energisch entgegen. Versöhnt wird der Hörer mit „Glückes genug“, hervorgehoben mit einer beeindruckenden Fermate und viel Agogik. Eindeutig ein Männergedicht ist Rote Rosen, aber sehr weiblich interpretiert von Sarah Wegener. „Ruhig“,Frieden“  und „Kühle“ als Schlüsselworte in Freundliche Vision treffen den Charakter des Lieds vollkommen, in Die Nacht wird der angstvolle Aufschrei „O die Nacht“ eingebettet in den sonstigen Text. Im populären Ständchen wetteifern Klavier und Stimme im „rieseln“ und „hüpfen“ miteinander, und sanft bleiben auch die „Wonneschauer“.  

Auch in Traum durch die Dämmerung sind sich Stimme und Klavier darin einig, so weich wie farbenreich zu sein, das „Licht“ eine kleine Ewigkeit leuchten zu lassen. In Morgen! Kann man bewundern, wie das Klavier zu erzählen beginnt und die Stimme einsetzt, als fahre sie fort im Berichten. Schön wird die Steigerung von Strophe zu Strophe in Cäcilie herausgearbeitet, in Waldseligkeit beweist die Sängerin, dass sie ein schönes Piano in der Höhe wie in der Mittellage ohne Brüche durchhalten kann, variationsreich wird in Allerseelen das „wie einst im Mai“ gestaltet, Jubel wie Trauer werden im „O Glück“ von Befreit gleichermaßen ausgedrückt, und insgesamt bestätigt sich der Eindruck, dass ihre Sopranstimme auch  einem Orchester und dessen Begleitung gewachsen wäre, dass ihre Darbietung absolut keine so verhuschte ist, wie das Cover weismachen möchte (AVI AvI 8553041). Ingrid Wanja  

Judith Beckmann

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Nicht nur die Hamburger Staatsoper trauert um die Sopranistin Judith Beckmann, die am 20. Februar 2022 mit 86 Jahren verstarb.  Wie ein Sprecher am Dienstag sagte, starb die Sopranistin am Wochenende im Alter von 86 Jahren. Darüber habe die Familie der Sängerin und Gesangspädagogin informiert. Die Opernsängerin (* 10. Mai 1935 in Jamestown, ND) absolvierte den Großteil ihrer Karriere an Häusern in Deutschland und Österreich. Judith Beckmann wurde als Kind einer Opernsängerin und eines Pianisten geboren. Ihre erste musikalische Ausbildung erhielt sie an der University of Southern California und der Music Academy of the West in Santa Barbara sowie von Lotte Lehmann und ihrem Vater. 1961 gewann sie in San Francisco einen Gesangswettbewerb, durch den sie ein Stipendium in Deutschland bei Henny Wolff in Hamburg und bei Franziska Martienssen Lohmann in Düsseldorf erhielt. Ihr musikalisches Debüt hatte sie 1962 am damaligen Nationaltheater in Braunschweig in der Rolle der Fiordiligi in Mozarts Oper Così fan tutte. Dies war der Beginn einer andauernden und erfolgreichen Karriere mit Engagements an der Deutschen Oper Berlin und der Bayerischen Staatsoper in München. Ab 1964 war sie ständiges Mitglied an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und ab 1967 an der Staatsoper in Hamburg. Ab 1971 folgten ständige Engagements an der Wiener Staatsoper. 1975 wurde sie gleichzeitig mit Plácido Domingo zur Hamburger Kammersängerin ernannt.[1] Ihre größten Erfolge feierte sie 1988 als Ariadne in der Oper Ariadne auf Naxos von Richard Strauss am Theater Dortmund und als Marschallin in der Oper Der Rosenkavalier am Teatro Regio in Turin. (Foto Bach-Cantatas/ Wikipedia)

Mayrs „Alfredo il Grande“

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Giovanni Simone (Johann Simon) Mayr ist Lesern unserer Seite nun wirklich kein Unbekannter, wir haben viel über ihn geschrieben. Mehr über Giovanni Simone (Johann Simon) Mayr  (* 14. Juni 1763 in Mendorf bei Altmannstein, Landkreis Eichstätt; † 2. Dezember 1845 in Bergamo) zu erzählen, hieße Tauben nach Bergamo tragen – seine Opern haben wir zahlreich vorgestellt. Nun also eine Ersteinspielung seines Alfredo il Grande, der bei Naxos unter der Leitung des verdienstvollen Mayr-Champions Franz Hauk in einer Aufzeichnung von 2019 mit Mitgliedern des Chores der Bayerischen Staatsoper und des Concerto de Bassus erschienen ist. Marie-Louise Dressen singt als Mezzo die Titelpartie (und auf den Knien dankt man Hauk für seine Entscheidung, keinen Counter dafür genommen zu haben, denn die Erstbesetzung war die berühmte Altistin Rosa Mariani, Rossinis Starinterpretin!), Markus Schäfer ist der gestandene Gutrumo, dazu kommen Daniel Ochs, Anna Feith, Sophie Körber und Philipp Pohlhardt (Naxos 8.660483-84, 2 CD). Im ökonomisch-ökologisch schmalen Booklet findet sich der kluge Einführungstext von Thomas Lindner, Universitäts-Wissenschaftler und Mayr-Spezialist in Salzburg. Das Libretto kann aus dem Netz heruntergeladen werden – wie stets ein intelligenter Service von Naxos. Freund Thomas Lindner hat uns seinen Text im originalen Deutsch überlassen, wir danken sehr. Langsam gewinnt Giovanni Mayr durch diese vielen Veröffentlichungen bei Naxos (und anderswo) seinen Platz als Fundament der romantischen italienischen Oper des 19. Jahrhunderts. G. H.

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Nun also Thomas Lindner: Mayrs Alfredo il grande und die Entwicklung der romantischen Oper. Unter Alfred dem Großen (altengl. Ælfrēd) erlebte das mittelalterliche England im späten 9. Jahrhundert eine Periode der politischen Konsolidierung und dadurch auch eine kulturelle Blütezeit. Als um 866 dänische Wikinger in England eingefallen waren und in den darauffolgenden Jahren die Angelsachsen in einer Reihe von erfolgreichen Schlachten zu erobern drohten, gelang es dem westsächsischen König Alfred 878, den Dänen bei Edington eine empfindliche Niederlage zuzufügen und sein Herrschaftsgebiet (Wessex, d.h.„Westsachsen“) vor neuen Angriffen zu bewahren. In der Folge wurde er auch von den übrigen angelsächsischen Königreichen als erfolgreicher Heerführer und Schutzherr anerkannt und schließlich zum obersten Herrscher ausgerufen. Dadurch wurde das Fundament für die Vereinigung aller Gebiete des heutigen Englands gelegt, was allerdings erst durch seine Nachfolger realisiert werden sollte. Indem Alfred den Reformen seines Vorbilds Karls des Großen nacheiferte, stiftete er zahlreiche Schulen und Klöster, was einen gewaltigen Fortschritt für Bildung, Literatur und Kultur der Angelsachsen bedeutete. Die westsächsische Literatursprache zur Zeit Alfreds wurde so zum schriftlichen Standard des in zahlreiche Dialekte aufgespaltenen Altenglischen. Recht bald schon nach seinem Tod im Jahr 899 wurde Alfred als Heiliger verehrt – er war freilich niemals offiziell kanonisiert worden –, und als einem der ganz wenigen Herrscher in der englischen Geschichte wurde ihm schließlich auch das Epitheton der Große verliehen.

Simone Mayr in Italien/OBA

Das mittelalterliche und frühneuzeitliche England übte einen starken Einfluss auf Giovanni Simone Mayr aus, vor allem in seiner letzten, gleichsam protoromantischen Schaffensperiode. So vertonte er mit La rosa bianca e la rosa rossa (Genua, 21.8.1813) den Stoff der Rosenkriege und mit Le due duchesse (Mailand, 7.11.1814) die Legende von Æþelwold und Ælfþryþ zur Zeit König Edgars des Friedfertigen († 975), eines Vorgängers von Alfred. Mit Alfredo il grande, re degli Anglo-Sassoni griff er schließlich, kurz vor dem Ende seiner Opernkarriere um 1820, nochmals einen angelsächsischen Stoff auf. Einer seiner Schüler, der Bergamaske Bartolomeo Merelli (1794–1879) – in jungen Jahren Studienkollege von Donizetti und Librettist für Mayr, Donizetti und Vaccai, später bekanntlich Impresario der Mailänder Scala und Förderer des jungen Verdi – wurde von Mayr engagiert, ein altes Textbuch von Gaetano Rossi entsprechend zu adaptieren: Eraldo ed Emma (Mailänder Scala, 18.1.1805), eine seiner erfolglosen Opern auf einen schottischen Stoff. Merelli griff hierfür eine wichtige Episode aus den Kämpfen mit den Dänen heraus, als Alfred im Jahr 878 beinahe gefangengenommen worden wäre und von den Sümpfen von Somerset aus letztlich den Krieg zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Der Textdichter bereitete die legendenhaft verbrämte Handlung – der von seinen Gefolgsleuten verlassene Alfredo zieht als verkleideter Barde Elfrido mit seiner Harfe unerkannt umher, rückt indes dem Feind zu Leibe und gewinnt seine geliebte Alsvita wieder – opernmäßig auf; dabei hielt er sich, was Szenenfolge und Personencharakteristik anbelangt, getreu an Rossis Vorbild.

Alfred der Große in einer mittelaterlichen Darstellung/Wikipedia

Mayr erkor Bergamo für die Uraufführung aus, was auf beiden Seiten mit großen Erwartungen verknüpft war, betrifft es doch die erste und einzige Oper für seine Wahlheimat. Am 26. Dezember 1819 wurde das Melodramma serio in due atti am dortigen Teatro della Società aus der Taufe gehoben. (Die Angabe in etlichen älteren Referenzwerken, Alfredo il grande wäre in Rom 1818 uraufgeführt worden, hat sich freilich als falsch herausgestellt.) Zahlreiche Zeitungen berichten von einem „Furore“, den die Oper machte, auch ein Hausjournal von Bergamo spricht erwartungsgemäß von „uno fra i migliori spettacoli, che si sono veduti su queste patrie scene“. Ein Artikel aus dem Wiener Unterhaltungsblatt Der Sammler (1820) sieht die Sache mit größerem Abstand und weniger Emotion und attestiert dem Stück nur im zweiten Akt viel Beifall; zugleich findet sich im umständlichen Stil jener Zeit ein nicht gerade schmeichelhaftes, aber doch zeitgenössisch-aufschlußreiches Urteil über den Komponisten: „Der erste Act gefiel mäßig; aber der zweyte wurde mit vielem Beyfalle aufgenommen, und die Bergamasker rühmten sich, obwohl etwas frühzeitig, der besten Carnevalsoper.

Die Musik des angehenden Veteranen ist, obwohl sie vieles von ihrer früheren Eigenthümlichkeit verloren, besonders in den Ensemblestücken sehr schätzbar. So oft ich mein Auge in der Kunstgeschichte rückwärts wandte, war es mir Genuß, der Geschichte seines Geistes nachzugehen, da er Schüler, Zeitgenosse und nicht selten Rival der beneidetsten Tonsetzer dieses Landes war, und durch glückliche Verschmelzung des Kernes teutscher Musik mit der Blüthe der italienischen auch bei mäßigem Fonde schaffender Kraft eine Individualität erlangte, die seinen Ruf ungeachtet rivalisirender Collisionen und gefährlicher Nachbarschaften stets aufrecht erhielt. Obwohl nun auch in dieser Oper der Fond von schaffender Kraft nicht bedeutend sich bekundete, so half ihm hiebey eine gewisse ästhetische Haushaltungskunst und besonnenes zu Rathe halten. Man kann es ihm um so weniger übel nehmen, daß er sich an manchen Stellen zu häuslich niedergelassen, weil er derley Plätzchen öfters mit sehr angenehmen Blumen bestreut hat“.

Rossinis Star Rosa Mariani war der erste Alfredo (hier als Semiramide)(/ Wikipedia

Nichtsdestoweniger sind sich beinahe alle Quellen darin einig, dass am Uraufführungsabend große Beifallsbekundungen stattfanden, sowohl für das Sängerensemble – Rosa Mariani (Alfredo/Elfrido; Alt), Domenico Bertozzi (Gutrumo, dänischer König; Tenor), Margherita Bonsignori (Alsvita, Geliebte und spätere Gemahlin Alfredos; Sopran), Pietro Sangiovanni (Etelberto, Graf von Merzien; Baß), Marietta Bramati (Alinda, Kammerzofe von Alsvita; Sopran) und Giuseppe Pontiroli (Amundo, Heerführer von Gutrumo; Tenor) – als auch insbesondere für den verehrten Komponisten und Landsmann.

Es gab in der weiteren Folge ein paar Wiederaufnahmen, und zwar im Herbst 1820 am Teatro alla Scala in Mailand mit immerhin 26 Aufführungen sowie im Sommer 1822 am Teatro Grande in Brescia; dann verschwand das Werk, nicht aber ohne eine weitere, zumindest indirekte Spur zu hinterlassen. Der neapolitanische Dichter Andrea Leone Tottola ließ sich davon zu seinem gleichnamigen Libretto inspirieren, das kurz darauf Donizetti vertonen sollte (Alfredo il grande, Melodramma serio, Teatro San Carlo, Neapel, 2.7.1823). Doch handelt es sich dabei, abgesehen von derselben Ausgangssituation, um ein unterschiedliches und eigenständiges Textbuch.

Ludwig Schiedermairs umfangreiche Monographie zu Simon Mayrs Leben und Werk von 1907 bei Kessinger

In Ludwig Schiedermairs umfangreicher Monographie zu Simon Mayrs Leben und Werk wird Alfredo il grande einer kurzen und meist treffsicheren Analyse unterzogen, die ich im Folgenden auszugsweise, teils paraphrasierend, teils darauf aufbauend, wiedergebe. Eine Ouvertüre eröffnet das Werk. Seccorezitative nehmen in dieser Opera seria, wie in Norditalien zu jener Zeit noch üblich, einen breiten Raum ein und erläutern das dramatische Geschehen. In der Introduzione (I/1: «Tace il colle») hält Gutrumo mit seiner Gefolgschaft und seinem Vertrauten Amundo heimlich Rat; in wirkungsvoller Weise kontrastieren kurze Crescendi das Pianissimo des ersten Satzes. In den Gesangsnummern macht sich eine ausgiebige Kolorierung der Tonlinien und ein Streben nach sinnlicher Melodik bemerkbar. Besonders die Musikstücke Alsvitas und jene, in denen diese mit Elfrido und Gutrumo zusammentrifft, sind ausgeprägt koloriert. Durch die Singstimmen und das Orchester zieht im ersten Teil des Duetts zwischen Alsvita und Elfrido (I/9: «Bell’alma generosa») eine ohrenfällige, rossini-hafte Melodie. Eine besondere Ausnahmestellung kommt unter den Gesängen der Bardenszene (II/5: «Ov’è la bella vergine») zu, die von den Zeitgenossen als Meisterstück bezeichnet wurde. Elfrido nähert sich, als Barde verkleidet, der Geliebten und Gutrumo. In einer Arie, die im ersten Teil ernst und pathetisch gehalten ist und im zweiten Teil an Mozart anklingt, besingt er die Geliebte. Solovioline, Klarinette, Englischhorn, Horn sowie Solovioloncello und Harfe begleiten dieses schöne Stück und geben ihm ein einzigartiges Kolorit; hier zeigt sich der Komponist in seiner ganzen Eigenart. Auch das Terzett (II/7: «Audace avrai fra poco»), in dem Gutrumo das Liebespaar überrascht und im Barden den verkleideten Alfredo erkennt, hält sich im ersten Teil mit einem ausdrucksvollen Oboensolo und auch später, vor allem im Allegro «Che giorno infausto!», auf dieser Höhe. Die Chöre der Oper weisen großteils einen pompösen Charakter auf, der durch die Instrumentierung mit Posaunen und Schlagzeug noch verstärkt wird.

Der Autor Thomas Lindner, Professor und Musikwissenschaftler in Salzburg/ plus.ac.at

Jedoch spiegeln sie auch, wie z.B. der Coretto di Montanari (I/6: «Buon Sire!») und der Coro di Danesi (II/4: «Scendi propizio Genio»), ein typisches Lokalkolorit wider. Das erste Finale (ab I/12) entspricht in Aufbau und Ausdehnung der komplexen Nummernfolge dieser Stücke. Das zweite Finale (II/15) ist dagegen knapp gehalten und umfasst mit dem polacca-artigen Larghetto Alfredos («Apri quei lumi o bella») auch den fröhlichen Schlußjubel («Quest’istante di contento»). Größere Accompagnati fehlen in der Partitur. Nur der kolorierten Sortita Elfridos (I/6: «Sì, ti rivedrò») geht eine ausgedehnte Scena mit Accompagnato-Rezitativ («Fra le dubbie vicende») voraus, in dem das Orchester die Singstimme Elfridos in der bei Mayr gewohnten Weise kommentiert; Bläsersoli dienen zur Einleitung. Als Elfrido den Namen Alsvita erwähnt, taucht in den ersten Violinen und den Violen ein sehnsuchtsvolles Motiv auf. Soweit also der Mayr- und Mozart-Spezialist Schiedermair (1876–1957); bisweilen kritisiert er an manchen Stellen schwache Einfälle und triviale Melodik, doch im Großen und Ganzen überwiegt der positive Tenor seiner Einschätzung. Der Mayr- und Donizetti-Forscher John Stewart Allitt (1934–2007) spricht sogar von einem „dolce stil nuovo“, der die späten Partituren Simon Mayrs durchzieht.

Alfredo il grande erweist sich meines Erachtens als ein monumental konzipiertes und sorgfältig komponiertes Werk, mit dem der reife Meister sein Heimatpublikum zu Recht beeindrucken konnte. Es führt darüber hinaus stofflich wie musikalisch einen Ansatz weiter, der für die kommende Generation (Donizetti, Bellini, Mercadante, Pacini, Vaccai und die vielen anderen) charakteristisch werden wird. Mayr hat das melodramma romantico – neben, ja sogar noch vor Rossini – maßgeblich mitgestaltet (Foto oben Total War Saga: Thrones of Britannia; Taktik & Strategie) von SEGA – Bildquelle SEGA). Thomas Lindner 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

In Händels Zauberreich

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Die französische Firma ALPHA-CLASSICS bringt ein Händel-Album mit der französischen Sopranistin Sandrine Piau heraus, das im Oktober 2020 im Théâtre de Poissy aufgenommen wurde (ALPHA 765). Der Titel Enchantresses ist Programm – unter den 14 Nummern finden sich Zauberinnen und Verführerinnen, aber auch verzauberte, enttäuschte und verletzte Frauen. Die Solistin wird begleitet vom Ensemble Les Paladins unter seinem Gründer Jérôme Correas. Beide haben schon mehrfach zusammengearbeitet und diese Vertrautheit ist deutlich spürbar im künstlerischen Einvernehmen und in der stilistischen Übereinstimmung.

Zu Beginn erklingt ein Ausschnitt aus einem weniger bekannten Werk des Hallenser Meisters – die Arie der Adelaide „Scherza in mar“ aus Lotario, uraufgeführt 1729. In dieser forschen Gleichnisarie von einem kleinen Schiff, das im Sturm versinkt, kann die Solistin ihre gereifte und an lyrischer Substanz gewachsene Stimme hören lassen. Auch die Koloraturen haben Gewicht und beweisen die neue Qualität der Interpretin. Weit populärer ist ein Frühwerk von 1711, Rinaldo, aus dem Piau aber kein Solo der Zauberin Armida ausgewählt hat, sondern das einer becircenden Sirene („Il vostro maggio“) – eine von Handels bezaubernden melodischen Eingebungen in wiegendem siciliana-Rhythmus. Eigentlich eine Aria a due, ist sie hier solistisch besetzt, und man kann verstehen, dass sich die Sängerin diese Perle nicht entgehen lassen wollte. Die Stimme klingt dann auch schmeichelnd und betörend, aber dennoch gewichtig. Am Ende gibt es dann noch einen seiner größten Hits – Almirenas Arie „Lascia ch’io pianga“, die wohl alle bedeutenden Sopranistinnen interpretiert haben. Piau singt sie so schlicht wie gefühlvoll und weiß auch mit individuellen Nuancen aufzuwarten. Aus dem Giulio Cesare in Egitto sind zwei in ihrer Stimmung sehr unterschiedliche Soli der Cleopatra zu hören. „Da tempeste“ ist als Gleichnisarie eine bravouröse tour de force der Koloratur, ein Prüfstein für jede Interpretin der Partie. Piau absolviert sie in souveräner Manier, brilliert in den virtuos getupften staccati und überrascht im Da capo mit originellen Varianten. „Piangerò la sorte mia“ dagegen ist ein Ausbruch der Verzweiflung – quasi ein Lamento. Piau findet dafür einen bewegenden Schmerzenston von makelloser Reinheit. Aufbegehrend und aufregend ist der Mittelteil „Ma poi morta“ mit stürmischem Koloraturfuror. Mit der Alcina gibt es dann wieder eine echte Zauberin, die in ihrer Arie „Ah, mio cor!“ den Konflikt schildert, ihren Geliebten Ruggiero zu verlieren. Dies ist erneut ein Stück von großem lyrischem Gefühlsausbruch in einer Situation der Verzweiflung. Piau weiß es mit emphatischer Grandeur  auszubreiten und im dramatischen Mittelteil wiederum mit brillantem  Koloraturfeuerwerk zu überzeugen. Aber sie singt auch eine Arie der anderen Sopranheldin der Oper – Alcinas Schwester Morgana. Deren „Tornami a vagheggiar“ ist ein hochvirtuoses Stück für einen soprano di bravura, in dem Sandrine Piau noch einmal ihre Kunst der Koloraturtechnik beweisen kann, dabei aber nie dünn oder leichtgewichtig klingt.

Zu Handels früher Periode zählt auch Amadigi di Gaula (1715), in der die Zauberin Melissa eine Rivalin zu überlisten sucht und in der rasenden Arie „Desterò dall’empia Dite“ die Höllengeister um Beistand bittet. Die Sängerin veranschaulicht den Ausnahmezustand der Figur mit frenetischem stimmlichem Einsatz und ekstatischem Ausdruck. Schließlich findet sich in der Anthologie noch die Arie der Lucrezia, „Alla salma infedel porga lapena“ aus der gleichnamigen Kantate, in der die Heldin beschließt, die Schande ihrer Vergewaltigung mit dem Tod zu sühnen. Die Szene mit entrückten Melismen ist von existentiellem Zuschnitt. Das Programm wird ergänzt durch drei Sätze aus den Concerti grossi op. 6 sowie die Overture zu Amadigi di Gaula, in denen das Orchester mit feierlichen Klängen aufwartet, in der Overture mit majestätischem Musizieren sogar an den erhabenen Stil der französischen tragédie lyrique erinnern kann (14. 02.22). Bernd Hoppe

Voi che sapete

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Noch ein Mozart-Album, stellte Elsa Dreisig wohl mit einigem Zweifel an der Berechtigung ihres Vorhabens noch im Booklet fest. Und zu Recht konnte sie festellen: „Aber sicher“, und es damit begründen, dass für eine Sängerin „meines Temperaments …Mozart ein absolutes Muss“ ist.

So klar diese Aussage ist, so rätselhaft zumindest auf den ersten Blick ist die Covergestaltung ihrer Mozart-CD mit einem durchkreuztem O im Namen des Komponisten und einer 3 anstelle des Z. Auf den zweiten Blick versteht der überraschte Opernfreund, dass es um dreimal drei Arien aus den Da-Ponte-Opern geht und zusätzlich um jeweils eine Arie aus drei Opere Serie.

Es beginnt mit den drei Damen aus CosÌ fan tutte, von denen natürlich Fiordiligi die dem klaren, leuchtenden Sopran  angemessenste ist, der mit einem energischen Rezitativ und gewagtem Intervallsprung beginnt, in der Extremtiefe etwas rauchig klingt und in „Come scoglio“ an Reinheit, Rundung und Wärme kaum zu übertreffen ist. Da gibt es nichts in der Eile Verwaschenes, sondern durchgehend klare Konturen. Auch in Dorabellas „Smanie implacabili“ lässt sich das Sopranleuchten nicht verleugnen, für Despinas „In uomini“ gibt sich die Stimme so spitzig wie spritzig und durchweg maliziös.

Nicht dem Kummer um die verlorene Nadel ist die dritte Arie aus Le Nozze di Figaro gewidmet, sondern Cherubinos „Voi che sapete“, denn Mozart schrieb die Partie für einen Sopran. Die Stimme von Elsa Dreisig nimmt dafür einen wärmeren Klang an und erfreut den Hörer mit hübschen Verzierungen. Ihre eigentliche Berufung dürfte im Moment zwischen Contessa und Susanna liegen, denn für die Erstere legt sie einen zarten Schleier der Wehmut über das Timbre, klingt noch mädchenhaft, singt ein sehr schlankes Rezitativ vor „Dove sono“ und beweist, wie gut ihr Piano trägt, wie perfekt das Legato ist. Susannas Rosenarie kann in ihrer Interpretation mehr gefallen als  die noch zu sehr in der Knospe Verharrenden, sie spinnt feine Tongirlanden, und über allem steht das Attribut „duftig“.

Es folgen die drei Frauenpartien aus Don Giovanni, beginnend mit Donna Anna, in deren Stimme kein Betrug nach Art moderner Regie auszumachen ist, die in „Non mi dir“ durch den leichten Tonansatz, den Klang, der zu schweben scheint, ausgezeichnet ist. Noch näher dürfte der Sängerin Donna Elvira stehen, die behände und klar artikulierend nichts Verschwommenes aufkommen lässt, während Zerlina einen fein tröstenden Ton annimmt.

Aus den Opere Serie widmet sich der Sopran nicht den feinen Figuren Ilia und Servilia, sondern den interessanteren Elettra und Vitellia, wobei das Orchester wütender klingt als die Erstere, für die Vitellia die Verbindung von Furor und Klangschönheit gelingt, und für den Cecilio aus Lucio Silla wird noch einmal ein schönes, sanftes Ebenmaß eingesetzt.  Durchweg als einfühlsamer Begleiter erweist sich das Kammerorchester Basel unter Louis Langrée, und insgesamt kann der Hörer bekennen: Ja, diese Mozart-CD musste sein (Erato 0190296412257). Ingrid Wanja

Ingrid Wanja

Martha Mödl: Was bleibt.

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Es gibt Sänger, die allein dadurch unsterblich werden, dass sie noch Jahre nach ihrem Tod auf bisher unveröffentlichten Tonaufnahmen zu hören sind. Fans und Freunde der Oper ganz allgemein pflegen dann genauso entschlossen zuzugreifen, als seien die oder der Verehrte noch auf Bühnen und Podien unterwegs. Hast Du schon gehört? Kannst Du dir vorstellen? Da gibt es doch diese neue CD, die Du unbedingt haben musst! Sammlerklatsch hat sich längst von den Bühnenausgängen ins Internet verlagert. Das hat manchen Vorteil. Beteiligte kennen sich oft nur dem Namen nach – wenn es denn überhaupt der richtige ist. Man muss um Leute, die man aus irgendeinem Grund nicht mag und von denen man selbst mit Verachtung gestraft wird, keinen Bogen machen. Jedenfalls hatte es sich im Netz schnell herumgesprochen, dass es ein neues Martha-Mödl-Album gibt, erschienen bei Profil Edition Günter Hänssler (PH21055). Die Zeitmaschine springt an. Bayreuther Festspiele 1955. Ring des Nibelungen, ein neuer Holländer, Tannhäuser und Parsifal. Am 12. August stand Siegfried, am 16. Parsifal auf dem Programm. Aus beiden Vorstellungen wurden der letzte bzw. der mittlere Aufzug in das Album übernommen. Es sind Mödl-Akte. Sie sang die Brünnhilde alternierend mit Astrid Varnay, und viermal die Kundry.

„Für Bayreuther Verhältnisse war es also ein ruhiger Sommer“, vermerkt Bernd Zegowitz im Booklet. War es das wirklich? Der Autor lässt unerwähnt, dass die Decca mit ihrer neuesten Aufnahmetechnik angereist war. Erstmals seit Beginn von Tonaufnahmen wurde der komplette Ring in Stereo mitgeschnitten, während es die Schwestergesellschaft Teldec auf den neuen Holländer abgesehen hatte. Der kam aber nur bei der Decca in Stereo heraus, bei der Teldec lediglich in Mono. Allein die Anwesenheit des Teams mit den eigenen Mikrophonen dürfte für zusätzlichen Wirbel gesorgt haben. Als Präferenz für die Vermarktung hatte sich die englische Plattenfirma für den ersten Zyklus dieser Saison mit der Varnay-Brünnhilde entschieden. Veröffentlicht wurde das einzigartige Dokument aber erst 2006 von Testament, nachdem es um den von Georg Solti geleiteten spektakulären Decca-Studio-Ring etwas ruhiger geworden war und der Mitschnitt nicht mehr als Konkurrenz im eigenen Haus wahrgenommen wurde. 2009, drei Jahre später schob Testament, ebenfalls in Stereo, doch nicht so konsequent remastert, Walküre und Götterdämmerung aus dem zweiten Ring-Zyklus mit der Mödl als Brünnhilde nach. Es wurden mehr Bühnengeräusche zugelassen, was die Live-Atmosphäre eher betonte als ihr abträglich schien. Dieser Mitschnitt war zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Er sollte bei der Herstellung des Masterbandes als Korrekturmaterial in Reserve gehalten werden. Schade, dass nicht auch noch Rheingold und Siegfried folgten. Dadurch wurde die einmalige Chance vertan, aus einer Saison beide Ring-Aufführungen für die Nachwelt dokumentiert zu haben. Glück für Hänssler. Die Firma konnte nun mit dem dritten Siegfried-Aufzug wenigstens die Brünnhilde der Mödl von 1955 komplettieren.

Sammler wissen solche editorische Akribie zu schätzen und hören gnädig über die Defizite im Vergleich mit dem rasanten Decca-Klang hinweg. Die Mödl ist bestens disponiert. Stimmlich hatte sie für mich ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde nie mehr besser klingen. Die Bänder stammen nicht von der Decca sondern wurden vom Bayerischen Rundfunk in Lizenz zur Verfügung gestellt. Mastering und Sounddesign besorgte das Tonstudio von Holger Siedler in Dormagen, das in seiner Internetpräsentation auf vierzig Jahre Praxis verweist, die die Basis „der natürlich klingenden Aufnahmen im THS-Studio“ seien. Die Stimmen sind sehr deutlich und präsent. Sie rücken mehr als vielleicht nötig in den Vordergrund. Vor allem in der Erda-Szene. Es ist, als ob Maria von Ilosvay nach dem mächtigen Weckruf durch den Wanderer (Hans Hotter) plötzlich im Raum steht. So nahe kommt sie. Wer selbst schon im Festspielhaus saß, weiß, dass es dort anders, nämlich entfernter klingt. Mythische Distanz ist gewollt und Teil des noch von Wagner erdachten Theaterzaubers. Bei diesem akustisch relativ vordergründigen Konzept des Albums bleibt es bis zum strahlenden Schluss, wenn sich Brünnhilde und Siegfried (Wolfgang Windgassen) in der leuchtenden Liebe lachenden Tod stürzen. Bayreuther Akustik hin oder her, faszinierend klingt es unter guten Kopfhörern letztlich schon. Zumal die Mödl noch etwas mehr als ihr Partner mit buchstabengetreuem Ausdruck singt. Eine Fähigkeit, die immer mehr verloren geht, und die auch ein bleibender Eindruck vom zweiten Parsifal-Aufzug mit Ramón Vinay in der Titelrolle und Gustav Neidlinger als Klingsor ist. Wie die Kundry aus lähmendem Schlaf gerissen wird, wie sie sich zwanghaft kriechend in ihrem schuldbeladenen Büßerdasein wiederfindet, widerwillig ihren Dienst antritt, um Parsifal „zu bestehen“, von diesem aber zurückgewiesen wird: Das macht der Mödl niemand nach. Sobald auch diese CD des Hänssler-Albums verklungen ist, könnte man schwören, diese Sängerin soeben von ihrer allerbesten Seite gehört zu haben. Mehr geht nicht. Steigerungen ausgeschlossen. So stark ist der jeweilige Eindruck. Er hält vor, bis man sich der nächsten Aufnahmen zuwendet. Der Bayreuther Isolde von 1952 oder der Fidelio-Leonore in dem US-amerikanischen NBC-Dokumentarfilm „Call to Fredom“ gelegentlich der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper im Spätherbst desselben Jahres wie Siegfried. Meine ganz persönliche Auswahl ist mit den Jahren kleiner, dafür aber feiner geworden.

In Bayreuth blieb der Mödl mit 1956 noch eine Spielzeit, in der sie ebenfalls Brünnhilde und Kundry sang. Im folgenden Jahr war sie nurmehr als Kundry, 1958 letztmalig als Brünnhilde angesetzt, 1959 und 1960 wieder als Kundry. 1962 sprang sie einmal als Isolde ein, und kehrte erst 1966 nach einem Fachwechsel als Waltraute in der Götterdämmerung zurück, wovon des bei Philips einen Mitschnitt gibt. Beschlossen wurde das Bayreuth-Kapitel 1967 mit Fricka, dem Alt-Solo in Parsifal und Waltraute, die sie laut Aufführungsdatenbank der Festspiele bei ihrem allerletzten Auftritt am 23. August sang. „Walhalls Göttern Weh‘!“, sind ihre letzten Worte. Die Mödl als Prophetin. Im Jahr zuvor war Wieland Wagner gestorben, dem sie nach eigenem Bekunden sehr viel zu verdanken hatte. „Wir verstanden uns auf Anhieb, weil ich immer sofort gespürt hab, war er wollte, ich sage mit Absicht ,gespürt‘, denn gewusst hab ich’s nicht. Das war reine Intuition“, erinnerte sie sich später gegenüber dem Stimmenkenner und Musikschriftsteller Thomas Voigt. Sie denke sich gar nichts aus. „Ich nehm’s rein von der Musik. Und offenbar hat sich das mit der Art vom Wieland sehr gut vertragen.“ Es sollte vieles anders werden.

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Martha Mödl war im Nachkriegs-Bayreuth von Anfang an dabei. Sie gehörte über Jahre zum lebenden Inventar und sang schon am 30. Juli 1951 in Parsifal – der erste regulären Vorstellung – die Kundry. Teldec hat davon einen Mitschnitt herausgegeben, für den sich offenkundig aus mehreren Vorstellungen bedient wurde. Sie dürfte seinerzeit als der eigentliche Festivalstar wahrgenommen worden sein. Mit ihr hielt ein völlig neuer Typ, der in kein Schema und traditionelles Stimmenfach zu passen schien, Einzug im Festspielhaus. Sie war wie ein Medium, erfasste intuitiv jede dramatische Situation, in die sie sich gestellt fand – und sang drauf los. Sie sang mit wenig Technik und ohne Berechnung, durch und durch Naturbegabung und Naturereignis. Ihre Ausbildung war kurz. Bedingt durch die Folgen der Kriegswirren blieb gar keine Zeit der Reife unter der Aufsicht erfahrener Kollegen und Dirigenten in einem fest gefügten Ensemble. Sie wurde gebraucht und ergriff ihre Chance. Karrieren wie ihre spiegeln die fünfziger Jahre mit ihrem Aufbruchswillen deutlich wider. Sie sind heute so nicht mehr denkbar. Die Mödl war unbelastet, nicht verstrickt. Sie hatte keine Vergangenheit. Nicht zuletzt deshalb kam sie international gut an. Ihr wurden die Rollen abgenommen. Auch wenn Töne daneben gingen. Sie setzte alles auf eine Karte, sang wie um ihr Leben und bezahlte mit dem frühen Verlust ihres hochdramatischen Soprans. Sie hat im Grunde genommen keine Vorgängerin und keine Nachfolgerin. Es gibt keine zweite Mödl. Astrid Varnay hatte nicht das Ausdrucksspektrum der sechs Jahre älteren Duzfreundin, die zugleich auch Konkurrentin war. Stilistisch mag sie überlegen gewesen sein, weil sie eine gründlichere Ausbildung und eine erste spektakuläre Karriere in New York bereits hinter sich hatte als sie in Bayreuth auf die Mödl traf und dort mit Ausnahme der Ortrud dasselbe Repertoire wie sie sang. Aus ihr fuhr es gelegentlich scharf heraus, was bei der Mödl weicher klang. Ihre Tiefe hatte mehr Geheimnis.

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Das Buch von Thomas Voigt ist bei Parthas erschienen (ISBN 4-932529-08-1). Der Autor hat das Wesen von Martha Mödl genau erkundet und erfasst.

„Ich war absolut unbekümmert, hatte keine Angst, keine Skrupel, keine Bedenken, sondern nur ein Glücksgefühl. Und das hat sich über die nächsten fünf, sechs Jahre gehalten“, sagt sie ebenfalls zu Thomas Voigt. Für mich hat keiner das Wesen der Sängerin so genau erfasst wie er. Sein Buch „Martha Mödl – So war mein Weg“ ist eine Sammlung von Gesprächen, die er mit ihr führte. Es erschien 1998 im Parthas-Verlag. Die strenge Abfolge von Frage und Antwort bringt eine Authentizität hervor, die durch keine andere Textform zu erreichen sein dürfte. Hier spricht die Mödl! Wer je persönlich mit ihr ein Wort gewechselt hat, hört sie aus den 190 Buchseiten heraus. In Brechts Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration heißt es, dass man dem Weisen seine Weisheit entreißen müsse, damit er sie nicht mit sich fortnehme. Deshalb sei auch derjenige bedankt, „der sie ihm abverlangt“. Voigt ist so einer. Er hat der Sängerin die richtigen Fragen gestellt. Und sie hat offen und sehr klar geantwortet. Er hat sie nicht angehimmelt, sondern durch jahrelanges vertrauensvolles Miteinander dazu gebracht, viel von sich preis zu geben, sich im Gespräch vielleicht selbst erst über manche Dinge klar zu werden.

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Der Zufall wollte es, dass ich mich dieser Tage mit dem Sommernachtstraum von Shakespeare beschäftigte. Im letzten Aufzug spielen die Handwerker die antike Sage von Pyramus und Thisbe in verballhornter Form als Theater auf dem Theater. Das Paar kann sich nicht sehen, es liebt sich sprechend durch einen Spalt in der trennenden Wand zwischen ihren Elternhäusern. In der neuen deutschen Übersetzung von Frank Günther sagt Pyramus: „Ich seh die Stimme.“ Der Satz fiel mir ein, als ich den Booklet-Text der Hänssler-Neuerscheinung las. Unter Hinweis auf ein Zitat von Jens Malte Fischer heißt es, dass die Aufnahmen der Mödl nur einen „unzureichenden“ Eindruck ihrer Bühnenpersönlichkeit geben würden. Sollten die vergleichsweise wenigen Studioeinspielungen gemeint sein, ist dem zuzustimmen. Für Mitschnitte wie die aus Bayreuth aber gilt dies aus meiner Sicht nicht – oder nicht mehr. Denn woran sollten sich jene halten, die die Mödl allenfalls in ihren ganz späten Jahren erlebten haben? Die stehenden Ovationen nach den letzten Vorstellungen galten nicht mehr der jeweiligen Leistung. Sie galten der Lebensleistung, der Legende – und damit der Stimme, die die Leute von Konserven verinnerlicht haben.

Wenn ich Martha Mödl höre, dann ist mir, als sehe ich sie auch. Ein bisschen wie Pyramus seine Thisbe. Ich muss nicht dauernd in Büchern nach Fotos in unterschiedlicher Verkleidung suchen. Und schon gar nicht einen der Filme aus dem Herbst ihrer langen Karriere einlegen, die sich von heutigen ästhetischen Erwartungen an das Theater immer mehr entfernen. Und genau das macht für mich ihre Einmaligkeit aus – so zu singen, als ob man noch immer vor seinem Publikum steht. Sich abzulösen von der Folie historischer Bühnendekorationen. Das ist nach ihrem Tod den allerwenigsten beschieden. An die Callas denkt man da zuerst. Ich ertappe mich dabei, manchmal in meinem Zimmer laut klatschen oder Bravo rufen zu wollen, wenn Tristan, Siegfried oder Götterdämmerung verklungen sind. Dieses gelegentliche Bedürfnis hat sich erst eingestellt, nachdem ich meine Sammlung rigoros minimalisiert habe. Vor allem die späten Dokumenten und die allzu grauen und verrauschten Bänder unbestimmter Herkunft wurden in die Kammer verbannt. Ich will nicht mehr Zeuge eines Niedergangs sein. Der Ruhm der Mödl kommt mit wenig aus. Ihr Bestes hat sie nach meiner Beobachtung in Bayreuth gegeben. Es ist ein Glück, dass die meisten Mitschnitte inzwischen offiziell geworden und teil exzellent remastert sind. Neben Testament hat daran Orfeo den größten Anteil.

Die erste Wegmarke hatte diese Firma 2003 mit dem Tristan von 1952 gesetzt. Und zwar mit dem Segen des damaligen Festspielleiters Wolfgang Wagner. Der hatte – wie im Vorwort ausdrücklich erwähnt – gewisse Zweifel (was immer darunter zu verstehen ist) aus dem Weg geräumt und einer staunenden Gemeinde die Vorstellung vom 23. Juli präsentiert. Ich habe die erste CD aufgelegt und bin nicht eher vom Lautsprecher gewichen, bis sich der letzte Akkord über die tote Isolde der furiosen Mödl gelegt hatte. Mal so einfach hineinhören, ist nicht. Vom ersten Ton an sind wir, die Hörer, Gefangene dieses hochdramatischen Geschehens. Wir sind mitten drin, hören auch das Atmen der Sänger, die Stille, die zum Zerreißen gespannten Pausen – und manchmal auch den Souffleur. Es grenzt schon an Zauberei, was die Restauratoren aus den Originalbändern des Bayerischen Rundfunks, deren Zustand gerüchteweise nicht mehr im besten Zustand gewesen sein sollen, herausgeholt haben. Sollen das wirklich „nur“ die profanen Lautsprecher sein, aus denen das geliebte Werk kommt? Jetzt brauche ich endlich jene Vorfahren nicht mehr zu sehr beneiden, die damals dabei waren. Wir sind es selbst! Auch wenn lediglich mit den Ohren. Doch das genügt schon. Ein Wunder war geschehen. Rüdiger Winter  (Foto oben: Martha Mödl im Dirndl vor der Kulisse des Bayreuther Festspielhauses/  Ausschnitt aus dem Cover des neuen Albums von Edition Profil Günter Hänssler).