.
Giovanni Simone (Johann Simon) Mayr ist Lesern unserer Seite nun wirklich kein Unbekannter, wir haben viel über ihn geschrieben. Mehr über Giovanni Simone (Johann Simon) Mayr (* 14. Juni 1763 in Mendorf bei Altmannstein, Landkreis Eichstätt; † 2. Dezember 1845 in Bergamo) zu erzählen, hieße Tauben nach Bergamo tragen – seine Opern haben wir zahlreich vorgestellt. Nun also eine Ersteinspielung seines Alfredo il Grande, der bei Naxos unter der Leitung des verdienstvollen Mayr-Champions Franz Hauk in einer Aufzeichnung von 2019 mit Mitgliedern des Chores der Bayerischen Staatsoper und des Concerto de Bassus erschienen ist. Marie-Louise Dressen singt als Mezzo die Titelpartie (und auf den Knien dankt man Hauk für seine Entscheidung, keinen Counter dafür genommen zu haben, denn die Erstbesetzung war die berühmte Altistin Rosa Mariani, Rossinis Starinterpretin!), Markus Schäfer ist der gestandene Gutrumo, dazu kommen Daniel Ochs, Anna Feith, Sophie Körber und Philipp Pohlhardt (Naxos 8.660483-84, 2 CD). Im ökonomisch-ökologisch schmalen Booklet findet sich der kluge Einführungstext von Thomas Lindner, Universitäts-Wissenschaftler und Mayr-Spezialist in Salzburg. Das Libretto kann aus dem Netz heruntergeladen werden – wie stets ein intelligenter Service von Naxos. Freund Thomas Lindner hat uns seinen Text im originalen Deutsch überlassen, wir danken sehr. Langsam gewinnt Giovanni Mayr durch diese vielen Veröffentlichungen bei Naxos (und anderswo) seinen Platz als Fundament der romantischen italienischen Oper des 19. Jahrhunderts. G. H.
.
.
Nun also Thomas Lindner: Mayrs Alfredo il grande und die Entwicklung der romantischen Oper. Unter Alfred dem Großen (altengl. Ælfrēd) erlebte das mittelalterliche England im späten 9. Jahrhundert eine Periode der politischen Konsolidierung und dadurch auch eine kulturelle Blütezeit. Als um 866 dänische Wikinger in England eingefallen waren und in den darauffolgenden Jahren die Angelsachsen in einer Reihe von erfolgreichen Schlachten zu erobern drohten, gelang es dem westsächsischen König Alfred 878, den Dänen bei Edington eine empfindliche Niederlage zuzufügen und sein Herrschaftsgebiet (Wessex, d.h.„Westsachsen“) vor neuen Angriffen zu bewahren. In der Folge wurde er auch von den übrigen angelsächsischen Königreichen als erfolgreicher Heerführer und Schutzherr anerkannt und schließlich zum obersten Herrscher ausgerufen. Dadurch wurde das Fundament für die Vereinigung aller Gebiete des heutigen Englands gelegt, was allerdings erst durch seine Nachfolger realisiert werden sollte. Indem Alfred den Reformen seines Vorbilds Karls des Großen nacheiferte, stiftete er zahlreiche Schulen und Klöster, was einen gewaltigen Fortschritt für Bildung, Literatur und Kultur der Angelsachsen bedeutete. Die westsächsische Literatursprache zur Zeit Alfreds wurde so zum schriftlichen Standard des in zahlreiche Dialekte aufgespaltenen Altenglischen. Recht bald schon nach seinem Tod im Jahr 899 wurde Alfred als Heiliger verehrt – er war freilich niemals offiziell kanonisiert worden –, und als einem der ganz wenigen Herrscher in der englischen Geschichte wurde ihm schließlich auch das Epitheton der Große verliehen.
Das mittelalterliche und frühneuzeitliche England übte einen starken Einfluss auf Giovanni Simone Mayr aus, vor allem in seiner letzten, gleichsam protoromantischen Schaffensperiode. So vertonte er mit La rosa bianca e la rosa rossa (Genua, 21.8.1813) den Stoff der Rosenkriege und mit Le due duchesse (Mailand, 7.11.1814) die Legende von Æþelwold und Ælfþryþ zur Zeit König Edgars des Friedfertigen († 975), eines Vorgängers von Alfred. Mit Alfredo il grande, re degli Anglo-Sassoni griff er schließlich, kurz vor dem Ende seiner Opernkarriere um 1820, nochmals einen angelsächsischen Stoff auf. Einer seiner Schüler, der Bergamaske Bartolomeo Merelli (1794–1879) – in jungen Jahren Studienkollege von Donizetti und Librettist für Mayr, Donizetti und Vaccai, später bekanntlich Impresario der Mailänder Scala und Förderer des jungen Verdi – wurde von Mayr engagiert, ein altes Textbuch von Gaetano Rossi entsprechend zu adaptieren: Eraldo ed Emma (Mailänder Scala, 18.1.1805), eine seiner erfolglosen Opern auf einen schottischen Stoff. Merelli griff hierfür eine wichtige Episode aus den Kämpfen mit den Dänen heraus, als Alfred im Jahr 878 beinahe gefangengenommen worden wäre und von den Sümpfen von Somerset aus letztlich den Krieg zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Der Textdichter bereitete die legendenhaft verbrämte Handlung – der von seinen Gefolgsleuten verlassene Alfredo zieht als verkleideter Barde Elfrido mit seiner Harfe unerkannt umher, rückt indes dem Feind zu Leibe und gewinnt seine geliebte Alsvita wieder – opernmäßig auf; dabei hielt er sich, was Szenenfolge und Personencharakteristik anbelangt, getreu an Rossis Vorbild.
Mayr erkor Bergamo für die Uraufführung aus, was auf beiden Seiten mit großen Erwartungen verknüpft war, betrifft es doch die erste und einzige Oper für seine Wahlheimat. Am 26. Dezember 1819 wurde das Melodramma serio in due atti am dortigen Teatro della Società aus der Taufe gehoben. (Die Angabe in etlichen älteren Referenzwerken, Alfredo il grande wäre in Rom 1818 uraufgeführt worden, hat sich freilich als falsch herausgestellt.) Zahlreiche Zeitungen berichten von einem „Furore“, den die Oper machte, auch ein Hausjournal von Bergamo spricht erwartungsgemäß von „uno fra i migliori spettacoli, che si sono veduti su queste patrie scene“. Ein Artikel aus dem Wiener Unterhaltungsblatt Der Sammler (1820) sieht die Sache mit größerem Abstand und weniger Emotion und attestiert dem Stück nur im zweiten Akt viel Beifall; zugleich findet sich im umständlichen Stil jener Zeit ein nicht gerade schmeichelhaftes, aber doch zeitgenössisch-aufschlußreiches Urteil über den Komponisten: „Der erste Act gefiel mäßig; aber der zweyte wurde mit vielem Beyfalle aufgenommen, und die Bergamasker rühmten sich, obwohl etwas frühzeitig, der besten Carnevalsoper.
Die Musik des angehenden Veteranen ist, obwohl sie vieles von ihrer früheren Eigenthümlichkeit verloren, besonders in den Ensemblestücken sehr schätzbar. So oft ich mein Auge in der Kunstgeschichte rückwärts wandte, war es mir Genuß, der Geschichte seines Geistes nachzugehen, da er Schüler, Zeitgenosse und nicht selten Rival der beneidetsten Tonsetzer dieses Landes war, und durch glückliche Verschmelzung des Kernes teutscher Musik mit der Blüthe der italienischen auch bei mäßigem Fonde schaffender Kraft eine Individualität erlangte, die seinen Ruf ungeachtet rivalisirender Collisionen und gefährlicher Nachbarschaften stets aufrecht erhielt. Obwohl nun auch in dieser Oper der Fond von schaffender Kraft nicht bedeutend sich bekundete, so half ihm hiebey eine gewisse ästhetische Haushaltungskunst und besonnenes zu Rathe halten. Man kann es ihm um so weniger übel nehmen, daß er sich an manchen Stellen zu häuslich niedergelassen, weil er derley Plätzchen öfters mit sehr angenehmen Blumen bestreut hat“.
Nichtsdestoweniger sind sich beinahe alle Quellen darin einig, dass am Uraufführungsabend große Beifallsbekundungen stattfanden, sowohl für das Sängerensemble – Rosa Mariani (Alfredo/Elfrido; Alt), Domenico Bertozzi (Gutrumo, dänischer König; Tenor), Margherita Bonsignori (Alsvita, Geliebte und spätere Gemahlin Alfredos; Sopran), Pietro Sangiovanni (Etelberto, Graf von Merzien; Baß), Marietta Bramati (Alinda, Kammerzofe von Alsvita; Sopran) und Giuseppe Pontiroli (Amundo, Heerführer von Gutrumo; Tenor) – als auch insbesondere für den verehrten Komponisten und Landsmann.
Es gab in der weiteren Folge ein paar Wiederaufnahmen, und zwar im Herbst 1820 am Teatro alla Scala in Mailand mit immerhin 26 Aufführungen sowie im Sommer 1822 am Teatro Grande in Brescia; dann verschwand das Werk, nicht aber ohne eine weitere, zumindest indirekte Spur zu hinterlassen. Der neapolitanische Dichter Andrea Leone Tottola ließ sich davon zu seinem gleichnamigen Libretto inspirieren, das kurz darauf Donizetti vertonen sollte (Alfredo il grande, Melodramma serio, Teatro San Carlo, Neapel, 2.7.1823). Doch handelt es sich dabei, abgesehen von derselben Ausgangssituation, um ein unterschiedliches und eigenständiges Textbuch.
In Ludwig Schiedermairs umfangreicher Monographie zu Simon Mayrs Leben und Werk wird Alfredo il grande einer kurzen und meist treffsicheren Analyse unterzogen, die ich im Folgenden auszugsweise, teils paraphrasierend, teils darauf aufbauend, wiedergebe. Eine Ouvertüre eröffnet das Werk. Seccorezitative nehmen in dieser Opera seria, wie in Norditalien zu jener Zeit noch üblich, einen breiten Raum ein und erläutern das dramatische Geschehen. In der Introduzione (I/1: «Tace il colle») hält Gutrumo mit seiner Gefolgschaft und seinem Vertrauten Amundo heimlich Rat; in wirkungsvoller Weise kontrastieren kurze Crescendi das Pianissimo des ersten Satzes. In den Gesangsnummern macht sich eine ausgiebige Kolorierung der Tonlinien und ein Streben nach sinnlicher Melodik bemerkbar. Besonders die Musikstücke Alsvitas und jene, in denen diese mit Elfrido und Gutrumo zusammentrifft, sind ausgeprägt koloriert. Durch die Singstimmen und das Orchester zieht im ersten Teil des Duetts zwischen Alsvita und Elfrido (I/9: «Bell’alma generosa») eine ohrenfällige, rossini-hafte Melodie. Eine besondere Ausnahmestellung kommt unter den Gesängen der Bardenszene (II/5: «Ov’è la bella vergine») zu, die von den Zeitgenossen als Meisterstück bezeichnet wurde. Elfrido nähert sich, als Barde verkleidet, der Geliebten und Gutrumo. In einer Arie, die im ersten Teil ernst und pathetisch gehalten ist und im zweiten Teil an Mozart anklingt, besingt er die Geliebte. Solovioline, Klarinette, Englischhorn, Horn sowie Solovioloncello und Harfe begleiten dieses schöne Stück und geben ihm ein einzigartiges Kolorit; hier zeigt sich der Komponist in seiner ganzen Eigenart. Auch das Terzett (II/7: «Audace avrai fra poco»), in dem Gutrumo das Liebespaar überrascht und im Barden den verkleideten Alfredo erkennt, hält sich im ersten Teil mit einem ausdrucksvollen Oboensolo und auch später, vor allem im Allegro «Che giorno infausto!», auf dieser Höhe. Die Chöre der Oper weisen großteils einen pompösen Charakter auf, der durch die Instrumentierung mit Posaunen und Schlagzeug noch verstärkt wird.
Jedoch spiegeln sie auch, wie z.B. der Coretto di Montanari (I/6: «Buon Sire!») und der Coro di Danesi (II/4: «Scendi propizio Genio»), ein typisches Lokalkolorit wider. Das erste Finale (ab I/12) entspricht in Aufbau und Ausdehnung der komplexen Nummernfolge dieser Stücke. Das zweite Finale (II/15) ist dagegen knapp gehalten und umfasst mit dem polacca-artigen Larghetto Alfredos («Apri quei lumi o bella») auch den fröhlichen Schlußjubel («Quest’istante di contento»). Größere Accompagnati fehlen in der Partitur. Nur der kolorierten Sortita Elfridos (I/6: «Sì, ti rivedrò») geht eine ausgedehnte Scena mit Accompagnato-Rezitativ («Fra le dubbie vicende») voraus, in dem das Orchester die Singstimme Elfridos in der bei Mayr gewohnten Weise kommentiert; Bläsersoli dienen zur Einleitung. Als Elfrido den Namen Alsvita erwähnt, taucht in den ersten Violinen und den Violen ein sehnsuchtsvolles Motiv auf. Soweit also der Mayr- und Mozart-Spezialist Schiedermair (1876–1957); bisweilen kritisiert er an manchen Stellen schwache Einfälle und triviale Melodik, doch im Großen und Ganzen überwiegt der positive Tenor seiner Einschätzung. Der Mayr- und Donizetti-Forscher John Stewart Allitt (1934–2007) spricht sogar von einem „dolce stil nuovo“, der die späten Partituren Simon Mayrs durchzieht.
Alfredo il grande erweist sich meines Erachtens als ein monumental konzipiertes und sorgfältig komponiertes Werk, mit dem der reife Meister sein Heimatpublikum zu Recht beeindrucken konnte. Es führt darüber hinaus stofflich wie musikalisch einen Ansatz weiter, der für die kommende Generation (Donizetti, Bellini, Mercadante, Pacini, Vaccai und die vielen anderen) charakteristisch werden wird. Mayr hat das melodramma romantico – neben, ja sogar noch vor Rossini – maßgeblich mitgestaltet (Foto oben Total War Saga: Thrones of Britannia; Taktik & Strategie) von SEGA – Bildquelle SEGA). Thomas Lindner
.
.
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.