Archiv für den Monat: März 2023

Spätbarocke Sterne

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Amate stelle ist eine neue CD bei GLOSSA betitelt, welche  Arien für die gefeierte Barock-Primadonna Anna Maria Strada präsentiert (923536). Solistin ist die Sopranistin Marie Lys, spezialisiert im Barock- und Belcanto-Repertoire. Bekannt wurde sie in unseren Breiten durch ihre Mitwirkung in der Vivaldi-Edition von naïve. Die CD wurde im Oktober 2019 in Basel aufgenommen. Das Abchordis Ensemble musiziert unter Leitung von Andrea Buccarella mit starken Akzenten und inspirierenden Vorgaben.

Anna Maria Strada wurde 1703 in der Lombardei geboren und war in Venedig und Neapel engagiert, bevor sie Händel 1729 für seine Zweite Akademie in. London verpflichtete. Dort errang sie den Ruf, die beiden amtierenden und rivalisierenden Diven Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni sogar noch zu übertreffen. Ihre Virtuosität, die Stimmqualität und der lyrische Ausdruck waren legendär. 1737 kehrte sie nach Italien zurück und wurde am berühmten Teatro San Carlo in Neapel engagiert. Das Institut widmete seine Weihnachtsproduktion des Jahres 1740, Porporas Zenobia, Stradas Abschied von der Bühne. Erstmals übernahm die Diva in dieser Aufführung eine Rolle en travestie, dementsprechend wurde der Titel der Oper als Hommage an sie in Tiridate geändert. 1775 starb die Sängerin im Alter von 72 Jahren in Neapel.

In der Programmfolge von zwölf Arien finden sich einige bisher unveröffentlichte Titel. Den Beginnt markiert jene Vivaldi-Oper, welche die Strada in ihrer Karriere als erstes Werk dieses Komponisten interpretierte: La verità in cimento. Daraus erklingt eine Aria der Rosane, „Con più diletto il mio Cupido“, welche eine Alternative für ihr „Solo quella guancia bella“ darstellt. Mit ihren Koloraturkaskaden ist sie von hohem Anspruch und Marie Lys meistert diesen bewundernswert. Der Sopran ist kraftvoll, hell und klar, im Timbre vielleicht nicht unbedingt memorabel, aber sein virtuoses Vermögen ist außerordentlich. Die zweite Nummer stammt aus Domenico Sarros Tito Sempronio Gracco. Es ist die Eingangsarie der Erminia, „Se veglia, se dorme“, welche Strada 1725 in Neapel sang. Dies ist ein empfindsames Legato, das langen Atem und verinnerlichten Ausdruck verlangt. Der dritte Titel ist der erste aus der Feder von Händel, die Aria der Adelaide, „Scherza in mir navicella“, aus dem Lotario, welche Stradas Debütrolle in London markierte. In dieser stürmischen Aria di bravura kann die Solistin der CD erneut mit virtuosem Zierwerk glänzen.

Den Höhepunkt von Stradas Londoner Wirken stellt die Titelheldin in der Alcina dar (1735), aus der Marie Lys die Aria „Ah! Mio cor!“ Interpretiert. Sie verlangt im Gleichmaß Pathos und den Ausdruck seelischen Leids, was Lys beeindruckend gelingt. Dramatischen Aplomb erfordert die Aria der Tusnelda, „Scaglian amore e sangue“, aus Arminio, die Strada 1737 sang, bevor sie nach Italien zurückkehrte. Lys demonstriert hier leidenschaftlichen Zorn und stupende Sicherheit in den Spitzentönen.

Zu den großen Meistern der Italienischen Barockszene zählt Leonardo Vinci, in dessen Eraclea die Strada 1724 die Partie der Flavia sang.  Deren Aria im 1. Akt, „Il ruscelletto amante“, singt Lys bezaubernd kokett und rhythmisch sehr akzentuiert.

Ein anderer Vertreter des Barock ist Leonardo Leo, aus dessen Schaffen sogar drei Beispiele ausgewählt wurden. Aus Achille in Sciro (1740) erklingen zwei Arien – aufgewühlt „Non vedi tiranno“ und expressiv „No, ingrato, amor non senti“, aus Zenobia in Palmira (1725) Aspasias vehementes „Quando irato il ciel“. Es war diese die bedeutendste Partie der Strada in Neapel, wo sie an der Seite von Farinelli brillierte.

Ergänzt wird die Sammlung durch Emirenas mit Koloraturen gespicktes „Infelice in van mi lagno“ aus Baldassare Galuppis Adriano in Siria (1740) und deren empfindsames „Oh, Dio, mancar mi sento“ aus Giovanni Alberto Ristoris Vertonung des Stoffes (1739). Die letzte Nummer stammt aus Nicola Porporas Tiridate, jenem Werk, das die Strada 1740 bei ihrem Bühnenabschied in Neapel interpretierte. Die kantable Aria des Titelhelden, „Vi conosco amate stelle“, welche dem Album den Titel gab, zeugt noch einmal von der starken Ausdruckskraft und dem virtuosen Vermögen der legendären Sängerin und beweist auch die Meisterschaft der aktuellen Interpretin, die hier mit delikaten Trillern und kunstvollen Verzierungen aufwartet (14. 03. 23). Bernd Hoppe

Ein Digest-de-luxe  

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Als die originale Opera-Rara-Ausgabe des Offenbachschen Robinsoe Crusoe herauskam (um 1980 und noch als LPs) lachte ich mich blau beim Hören, denn so lustig und klug hatte ich Offenbach nur in der alten Soundtrack-LP der Vie Parisienne von Barrault erlebt (jetzt sogar bei youtube mit der bezaubernden Suzy Delair, dazu Madelaine Renaud und Jean-Philippe Barrault, einfach umwerfend). Die irrwitzig-kluge Übersetzung des unvergessenen Don White, Mitbegründer und Ankermann von Opera Rara, trug Ihrige dazu bei, diese aberwitzige Operette unter der genialen Hand von Alun Francis zum Leuchten und Explodieren zu bringen. Und die tolle Besetzung mit Yvonne Kenny als resolute Edwige und John Brecknock als schüchterner Robinson tat das Ihrige zum Erfolg. Auf was für Einfälle sind die Librettisten Cormon, Crémieux und natürlich Don White bloß gekommen! Allein der 5-o´clock-tea vor der Abfahrt Robinsons ist eine Sternstunde gesungenen Humors. Das wird nur von dem dto. wunderbaren Christopher Columbus (ebenfalls very english bei Opera Rara, aber nicht in der neuen Box, also bitte den auch noch!) getoppt. Britischer Humor paart sich mit französischem Esprit, unvergleichlich.

Offenbach reitet auf seinem Cello; Karikatur von André Gille/ Wikipedia

Diese meine frühen Offenbach-Offenbarungen finden sich in der nun wieder neu herausgegebenen 2 + 1 Opern-Box bei Opera Rara, Celebrating Offenbach (ORB3). Neben Robinson Crusoe von 1980 gibt es den Vert-vert von 2008 unter David Parry (für mich kein Vergleich mit Alun Francis und deshalb beileibe nicht so rasant wie der Robinson Crusoe, zumal Titelsänger Toby Spence  bei europäischen Nachbarn nicht so ganz zu Hause ist und die polyglotte Besetzung – immerhin Jennifer Larmore als die Sängerin La Corilla  – nicht so wirklich vom Boden hochkommt). Aber immerhin, es ist die einzige Aufnahme bislang. Angekoppelt ist ein köstlicher Offenbach-Abend auf 2 CDs, Entre nous, von 2006, den Michael Haas erfolgreich produzierte und der auf einem gelungenen Londoner Konzert beruht. Hier finden sich die Goodies aus Offenbachs Repertoire, von den Sängern wie Cassandre Berthon, Diana Montague, Mark LeBroq, Elisabeth Vidal und anderen charmant serviert – ein Offenbach Digest-de-luxe (Libretti  gibt es online). Dennoch empfehlenswert, wie die ganze Box als solche. Den erhellende Booklet-Beiltrag schrieb Marcco Ladd, und wir danken Opera- Rara (besonders Moe Faulkner) dafür, diesen Text in unserer eigenen deutschen Übersetzung übernehmen zu dürfen. Die folgt nun nachstehend. G. H.

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Marco Ladd: Die meisten Opernbesucher sind heute mit der Musik von Jacques Offenbach (1819-1880) nur durch zwei seiner Werke vertraut, die an entgegengesetzten Enden seiner Karriere entstanden sind. Das erste ist Orphee aux enfers, die erste abendfüllende Operette, die der Komponist für seine bahnbrechende komische Operntruppe, die Bouffes-Parisiens, schrieb. Obwohl Offenbach bereits vor der Uraufführung des Orphee im Jahr 1858 beim Pariser Publikum beliebt war, da er zu diesem Zeitpunkt bereits etwa dreißig Einakter für die Bouffes geschrieben hatte, prägte der triumphale Erfolg der Operette seinen Ruf für den Rest seines Arbeitslebens. Eine lange kritische Tradition tendiert dazu, Offenbachs kritisches Schicksal mit dem Hof von Napoleon III. zu verbinden, dem letzten Kaiser der Franzosen, dessen halb-autoritäres Zweites Kaiserreich (1852-1870) zu einem Synonym für Dekadenz und Frivolität wurde. In den 1860er Jahren, als sein Ruhm auf dem Höhepunkt war, waren Offenbachs populärste Werke diejenigen, die – wie Orphee – das Regime Napoleons auf die Schippe nahmen, sei es durch respektlose Anspielungen auf Mythen und Legenden (wie in Genevieve de Brabant oder La belle Helene) oder durch köstliche Satiren auf die zeitgenössische Gesellschaft (wie in La Vie parisienne und La Grande-Duchesse de Gerolstein).

Das zweite Werk, auf dem Offenbachs heutiger Ruf beruht, ist zugleich sein letztes: Les Contes d’Hoffmann, eine fünfaktige Opéra fantastique nach drei Kurzgeschichten des deutschen Romantikers E.T.A. Hoffmann, die noch unvollendet war, als der Komponist 1880 starb. Nach dem Sturz Napoleons III. im Jahr 1870, dem demütigenden Ende des Deutsch-Französischen Krieges, ging es für den in Deutschland geborenen Offenbach in dem Land, das er seit seiner Jugend als Heimat bezeichnet hatte, bergab. In diesem ersten Jahrzehnt der Dritten Französischen Republik feierte er in Paris zwar einige Erfolge, doch die Zuneigung des Publikums konnte er nie wieder so stark auf sich ziehen wie zuvor, wie in seiner Blütezeit im Zweiten Kaiserreich. Aus diesem Grund wurde Les Contes d’Hoffmann, eine seriöse Oper, das für eines der wichtigsten Pariser Opernhäuser, die Opéra Comique, geschrieben wurde, oft als ein Versuch Offenbachs interpretiert, sich Respekt zu verschaffen, indem er die komischen Stile, die ihn berühmt gemacht hatten, zugunsten von etwas weniger Frivolem aufgab.

Orphee aux enfers und Les Contes d’Hoffmann gehören zu den einzigen Opern des Komponisten, die nach seinem Tod nie aus dem aktiven Repertoire verschwunden sind, auch wenn die meisten seiner anderen Werke in Vergessenheit geraten sind. Dennoch gibt es vieles, das wir nicht vollständig würdigen können, wenn unser Wissen über seine Musik nur von zwei Werken geprägt ist, so wichtig sie auch sein mögen. Immerhin hat dieser Mann rund hundert komische Opern geschrieben; von seinem Debüt bis zu seinem Tod hatte er ständig zwei oder drei Projekte in Arbeit. Ein frenetisches Tempo, das die Herausforderung widerspiegelt, mit dem sich ständig wandelnden Publikumsgeschmack Schritt zu halten, und dass die Schlüsselrolle unterstreicht, die Offenbachs Operetten und Opéra bouffes standen nicht nur in direktem Zusammenhang mit den Wiener Operetten des frühen 20. Jahrhunderts und dem Broadway-Musical, sondern die immergrünen Tanznummern seiner Werke – vor allem die Walzer – verbreiteten sich auch über die Bühne hinaus in verschiedenen Formen und trugen zu dem bei, was Wissenschaftler als Revolution in der Populärmusik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnen.

Offenbachs Muse: Hortense Schneider/ Wikipedia

Die Opera-Rara-Box „Celebrating Offenbach“ bietet eine einzigartige Gelegenheit, Offenbachs Werk zu würdigen. Genauer gesagt liegt der Wert dieser Opera Rara-Sammlung darin, dass sie uns sowohl einen Überblick über Offenbachs Schaffen in den dreißig Jahren seines öffentlichen Wirkens gibt als auch auf einen ganz bestimmten Moment in der Karriere des Komponisten einstimmt – die späten 1860er Jahre – als er versuchte, die Gunst eines anderen, etwas gehobeneren Teils des Pariser Publikums zu gewinnen. Die Vielfalt der einundvierzig Auszüge aus Offenbachs weniger bekannten Werken, die auf der Kompilationsaufnahme Entre Nous versammelt sind – sie repräsentieren nicht weniger als dreiundzwanzig seiner komischen Opern, wenn auch nicht die vollen hundert -, gibt uns einen breiten Überblick über den Stil des Komponisten und eine Auswahl seiner erfolgreichsten Nummern. Die beiden Gesamtaufnahmen der Opern Robinson Crusoe und Vert-Vert, die 1867 bzw. 1869 entstanden sind, ermöglichen es uns, die Bemühungen des Komponisten in einem bestimmten Subgenre eingehend zu hören.

Entre Nous (eine eigens für Opera Rara erstellte Sammlung) erinnert uns daran, dass Offenbach mit vielen Spielarten des komischen Musiktheaters arbeitete, auch wenn wir heute dazu neigen, die englischen Begriffe Operette oder komische Oper etwas undifferenziert auf seine Werke anzuwenden. Der Komponist selbst verwendete eine Vielzahl von Gattungsbezeichnungen, von denen die bekanntesten opéra bouffe, opéra comique, opérette und opéra-ferie („Märchenoper“ oder „phantastische Oper“) sind. Alle vier Gattungen – die Unterscheidungen zwischen ihnen sind nicht immer eindeutig – sind in dieser Sammlung vertreten, von frühen Werken, die Offenbach noch als Direktor der Bouffes-Parisiens schrieb, bis hin zur komischen Oper Belle Lurette, die, wie Les Contes d’Hoffmann, bei seinem Tod 1880 unvollendet blieb.

Die ersten Auszüge aus den Einaktern Une Nuit blanche (1855, Opera comique) und Les Deux Pecheurs (1857, Operette) versetzen uns in eine Zeit, in der die Anzahl der auf der Komödienbühne erlaubten Figuren durch die Lizenzgesetze streng begrenzt war (erst die Lockerung dieser Vorschriften ermöglichte es Offenbach, die Orphee aux enfers in voller Länge zu schreiben). ´“Allons, Fanchette, allons“, ein Trinklied mit Bass, Tenor und Sopran, ist in der Tat eine Nummer für das gesamte Ensemble von Une Nuit blanche. Dennoch ist der Stil Offenbachs aus seinen bekannteren späteren Werken bereits erkennbar. Die Musik ist spritzig, die Stimmen deklamieren rhythmisch über einer leichten, stakkatoartigen Streicherbegleitung. Die Orchestrierung  (relativ unkompliziert und leicht an wechselnde Aufführungsbedingungen anpassbar) ist in leuchtenden Farben gehalten, mit schnatternden Holzbläsern, die die Gesangspartien umspielen; die Piccoloflöte steht stark im Vordergrund. Gioachino Rossini soll Offenbach als den „Mozart der Champs-Elysees“ bezeichnet haben, aber in Bezug auf den Orchesterklang sind die Opern von Rossini selbst vielleicht ein besserer Bezugspunkt. Auch in dramatischer Hinsicht haben viele von Offenbachs Werken etwas von Rossini an sich, denn die Figuren bewegen sich fast gegen ihren Willen durch die Possen der absurden Handlungen.

Ein weiteres stilistisches Merkmal von Offenbachs Opern ist seine Vorliebe für leichte, flexible Sopranstimmen, die zu präzisem und virtuosem Gesang in hohen Lagen fähig sind. Eine der berühmtesten Passagen in Les Contes d’Hoffmann ist die Paradearie des Automaten Olympia, dessen mechanistische Koloraturen immer wieder zusammenbrechen, um die darunter liegende Maschine zu enthüllen. Aber Offenbach spielte mit koloraturreichen Kadenzen lange vor Hoffmann. Man höre sich zum Beispiel „Je suis nerveuse, je suis fievreuse“ aus Le Voyage dans la lune (1875) an, einem Opernmärchen, das auf Jules Vernes bahnbrechendem Science-Fiction-Roman basiert, oder „Dansons la chaconne“ aus Monsieur et Madame Denis (1862, opéra comique), in dessen Kadenz ein Sopran wortlos mit einer Soloflöte duettiert, möglicherweise eine Parodie auf Donizettis Lucia di Lammermoor. „Je suis nerveuse“ ist ebenfalls ein Walzer, der wiederum ein wesentliches Merkmal von Offenbachs Stil ist. Walzerlieder waren ein Schlüsselelement für die Attraktivität komischer Opern: Es überrascht daher nicht, dass in Entre Nous immer wieder Walzer auftauchen – von „Salut, salut, noble assemblee“, einem Lied, das eine wundersame Fleischpastete in Genevieve de Brabant (1857, überarbeitet 1867, Opéra bouffe) preist, bis zu „Chez nous la vie est si douce“, dem Finale des zweiten Akts von La Diva (1869, Opéra bouffe), dessen gesamter Schlussteil ein Walzer ist.

Bringt Offenbachs „Robinson Crosoe“ rasant zum Leben: der Dirigent Alun Francis/ Wikipedia

Abgesehen von der tänzerischen Energie entspringt der Humor in Offenbachs Musik aus verschiedenen Quellen. La Diva, eine Oper, die das Verhalten einer kapriziösen Sängerin persifliert, hätte das metatheatralische Vergnügen geboten, Offenbachs Hauptdarstellerin in den 1860er Jahren, Hortense Schneider, eine Version ihrer selbst spielen zu sehen. Die meiste Zeit sind die Lacher jedoch einfacher, in Albernheiten und Farcen, in unerwarteten oder unpassenden Zitaten verwurzelt. In „Prince doux et fort debonnaire“ aus L’lle de Tulipatan (1868, opéra bouffe) quakt der Chor die Begleitung. In „Ce fut a Londres“ aus Belle Lurette (1880, opéra comique) – ebenfalls ein Walzer – wird die schräge Begleitung zu den Silben „bing! bing!“ gesungen, ein unverkennbares Zitat von „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauß dem Jüngeren.

Offenbach hatte zwar eine unbestreitbare Begabung für das komödiantische Schreiben, aber er pflegte auch andere Gattungen und Stimmungen. 1864 schrieb er eine romantische Oper, Die Rheinnixen, für die Wiener Bühne. Und in Paris schrieb er vier Werke für eine der Säulen des Pariser Opernbetriebs, die Opera-Comique. Im Gegensatz zur Opéra – der Heimat der ernsten, tragischen Oper in Paris – waren die Werke, die an der Opéra-Comique aufgeführt wurden, im Allgemeinen von leichterem Charakter. Leicht bedeutete jedoch nicht unbedingt lustig und schon gar nicht gewagt. Das Publikum der Opéra-Comique, das sich in der Regel aus angesehenen Bürgern und ihren Familien zusammensetzte, wollte sentimentale Werke mit einem starken moralischen Kern und einer aufrichtigen Darstellung der Gefühle hören.

Angesichts des Rufs Offenbachs als Schürzenjäger wären nur wenige seiner früheren Werke, selbst jene, die als Opéra comique bezeichnet wurden, für dieses besondere Opernhaus geeignet gewesen. Tatsächlich war sein erster Versuch, für die Opera Comique zu schreiben, Barkouf (1861), ein solcher Misserfolg, dass es nach nur sieben Aufführungen zurückgezogen wurde. In den späten 1860er Jahren war die Offenbach-Manie in der französischen Hauptstadt jedoch auf ihrem Höhepunkt, und seine Operetten waren ein Kassenschlager.

So kam es, dass Offenbach eingeladen wurde, in relativ kurzer Folge zwei weitere Werke für die Opéra-Comique zu schreiben. Robinson Crusoe wurde im November 1867 uraufgeführt und erlebte zweiunddreißig Aufführungen. Im März 1869 kehrte Offenbach mit Vert-Vert zurück, das sogar noch erfolgreicher war: achtundfünfzig Aufführungen, eine warme, wenn auch nicht gerade enthusiastische Aufnahme (es sei daran erinnert, dass Orphee aux enfers allein bei seiner ersten Aufführung 228 Mal gespielt wurde).

Die beiden Opern weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Robinson Crusoe (hier in der englischen Adaption des unvergessenen und leider verstorbenen Don White/ G. H.) ist eine lose Adaption des berühmten Romans von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719, der so berühmt war, dass er längst in die Populärkultur übergegangen war. Die unmittelbare Vorlage für Offenbachs Librettisten, Eugene Cormon und Hector-Jonathan Cremieux, war eine britische Pantomime, in der der Roman als Abenteuerroman mit einer Liebesgeschichte im Mittelpunkt neu interpretiert wurde: In dieser Erzählung sticht Robinsons mutige Geliebte Edwige selbst in See, um ihren gestrandeten Geliebten zu suchen. Auch Vert-Vert geht auf ein bekanntes didaktisches Gedicht aus dem Jahr 1734 zurück, ist aber eher eine Adaption einer Vaudeville-Komödie aus dem Jahr 1832. In dem Gedicht geht es um den Papagei Vert-Vert, der in einem Kloster aufgewachsen ist und sich auf einer Reise in ein anderes Kloster zahlreiche schlechte Angewohnheiten wie das Fluchen angewöhnt hat; er kehrt zu seinen ursprünglichen Besitzern zurück, kämpft um seine Besserung und stirbt. Die Librettisten Henri Meilhac und Charles Nuitter übertrugen den Namen Vert-Vert auf die Hauptrolle des Tenors, dessen Reise ins Ausland als eine Reise der Selbstfindung und des sexuellen Erwachens dargestellt wird. Vert-Verts neu erworbene „schlechte Angewohnheiten“ erlauben es ihm, sich seine Liebe zu dem Konventsmädchen Mimi, der Sopranistin, einzugestehen.

In beiden Werken passte sich Offenbach dem Zielpublikum und dem Genre an, indem er die gesprochenen Dialoge zwischen den musikalischen Nummern deutlich reduzierte und den Hauptdarstellern gehaltvollere Stücke – echte Arien – zum Singen gab. Dennoch gibt es auch einige Passagen, die von Offenbachs üblichem Stil in auffälliger Weise abweichen. So beginnt der zweite Akt von Robinson Crusoe mit einem achtminütigen Entr’acte, in dem das Meer dargestellt wird: Diese Meeressymphonie“, die über einem stattlichen Dreiertakt an- und abschwillt, besitzt eine verhaltene Größe, die nur in wenigen anderen Werken des Komponisten zu finden ist. In Vert-Vert zieht die hinreißende Arie „Le bateau marchait lentement“ der Titelfigur, die an die verführerische Sängerin La Corilla gerichtet ist, mit ihrer langen, lyrischen Gesangslinie, die sich über einer gedämpften, murmelnden Streicherbegleitung entfaltet, in einen ähnlichen Bann.

Und noch eine Einspielung, die Spass macht: „Offenbach Fantastique: Symphonic Music by Jacques Offenbach“/ Leipziger Symphonieorchester unter Nicolas Krüger/ Genuin GEN20698 erschienen 2020/ das große Foto oben ist dem Cover entlehnt/ Danke!

An anderer Stelle sind die Opern jedoch stärker von Offenbachs Markenzeichen, dem Witz, geprägt, wenn auch ohne den begleitenden Zynismus. Der Beginn von Robinson Crusoe ist eine Komödie der Sitten, in der die bibelzitierende Heiligkeit von Robinsons Vater den verzweifelten Bitten seiner Mutter um eine Tasse Tee gegenübergestellt wird, während die zweite Hälfte des zweiten Aktes direkt komödiantisch ist. Das zweite Paar, Toby und Suzanne, wird von Kannibalen gefangen genommen und tritt in einem Eintopflied auf, das stark an Gilbert und Sullivan erinnert. Und der Versuch der Kannibalen, die blonde Edwige ihrem Gott Saranha zu opfern (mit Anklängen an King Kong), entlockt unserer Heldin weder Schrecken noch Wut, sondern vielmehr ein opulentes Walzerlied, „Take me away to the one I adore“. Nur Man Friday, Robinsons „einheimischer“ Begleiter, scheint sich sowohl in den komödiantischen als auch in den ernsten Rollen völlig wohl zu fühlen. Im Gegensatz dazu ist die Komödie in Vert-Vert zahmer, aber die sentimentalen Elemente der Geschichte sind insgesamt besser integriert; vielleicht wurde sie aus diesem Grund von den beiden Opern besser aufgenommen.

Letzten Endes mag der Wechsel des Tons sowohl in Robinson Crusoe als auch in Vert-Vert dem heutigen Hörer verwirrend erscheinen, denn die weichere Komödie unterscheidet sich überraschend von dem vertrauten Offenbach des Can-Can und der Chorgruppe. Doch die größere Vertrautheit mit dem Stil des Komponisten, die diese Sammlung ermöglicht, macht deutlich, dass diese Opern eine andere Seite von Offenbachs musikalischer Persönlichkeit darstellen. Unerforschtes Terrain, gewiss: aber die Entdeckungsreise lohnt sich. Marco Ladd,. 2022 Opera Rara/ Deutsche Übersetzung Geerd Heinsen 

Mercadantes „Proscritto“

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Mit spektakulären Live- und Studioaufnahmen setzt sich Opera Rara seit über 50 Jahren erfolgreich dafür ein, zu Unrecht vergessene Opernschätze der Belcanto-Ära wieder zum Leben zu erwecken. Der neueste Coup des Labels: eine brillante Einspielung von Saverio Mercadantes (1795-1870) Dreiakter „Il proscritto“ („Der Gesetzlose“), einer düsteren Liebesgeschichte im politisch aufgewühlten Schottland des 17. Jahrhunderts – reich an bezaubernden Melodien und packenden Opernmomenten.

Bei der Londoner Live-Aufführung im Sommer 2022 brachten die Beteiligten mit „Schwung, Elektrizität und brachialer Kraft“ laut „Times“ „das Fundament des Barbican Centers zum Wanken“. Diese Energie hat sich auch auf den Mitschnitt übertragen, den Opera Rara im April 2023 veröffentlicht – die weltweit erste Einspielung von „Il proscritto“ , einer Partitur, die seit ihrer Uraufführung in Neapel 1842 nie wieder zu hören war. Unter der Leitung von Carlo Rizzi und begleitet von der Britten Sinfonia hat sich ein Spitzen-Cast zusammengetan, um Mercadantes Meisterwerk den vokalen Rahmen zu geben, den es verdient. Zwei Tenor-Stars, dem Mexikaner Ramón Vargas und dem Peruaner Iván Ayón-Rivas, Gewinner des Operalia-Wettbewerbs 2021, stehen mit Irene Roberts und Elizabeth DeShong zwei Sängerinnen gegenüber, die ebenfalls über große Belcanto-Erfahrung verfügen. Eine weitere Opera-Rara-Produktion auf Weltniveau. (Quelle Warner)

Isländische Orchesterwerke für die Bühne

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Island nimmt innerhalb der Musikgeschichte der nordischen Länder eine Sonderrolle ein. Spärlich ist die isländische Tradition der klassischen Musik zu nennen, was schon daran liegt, dass es bis 1921 kein landeseigenes Orchester gab und bis 1930 auch kein isländisches Konservatorium. Insofern kann auf gerade ein Jahrhundert zurückgeblickt werden. Der landläufig vermutlich bekannteste Komponist Islands war Jón Leifs (1899-1968), der gleichwohl wiederum einen skurrilen Außenseiter darstellt, nicht typisch ist für die klassische Musik Islands, und dessen schroffes und exzentrisches Werk mitunter als die lauteste Musik überhaupt beworben wurde. Diskographisch ist Leifs allerdings vergleichsweise sehr gut abgedeckt, was so für Páll Ísólfsson (1893-1974), den Begründer der Musikschule Reykjavík, mitnichten gilt. Bis dahin musste eine Ausbildung zum klassischen Musiker zwingend im Ausland erfolgen, in diesem Falle in Leipzig. Anders als Leifs kehrte Ísólfsson nach Beendigung seines Studiums in seine Heimat zurück und wirkte dort nicht nur als Direktor der besagten Reykjavíker Musikschule (1930-1957), sondern war daneben auch Leiter der Musikabteilung des Isländischen Rundfunks (1930-1959) und Organist der Domkirche zu Reykjavík (1939-1968). Die Komponistin Jórunn Vidar (1918-2017) konnte aufgrund der Pionierarbeit Ísólfssons dann als Vertreterin der nächsten Generation isländischer Musikschöpfer bereits am Konservatorium der Landeshauptstadt ihre Studien beginnen.

Das Label Chandos bringt nun eine hochinteressante Scheibe auf den Markt (CHSA 5319), die sich der Musik von Ísólfsson und Vidar annimmt. Es zeichnet, idiomatisch astrein, verantwortlich das Isländische Sinfonieorchester unter der Leitung des britischen Dirigenten Rumon Gamba.

Jeweils zwei Werke der beiden Komponisten wurden berücksichtigt, im Falle von Ísólfsson zwei Bühnenmusiken aus den 1940er Jahren. Die Schauspielmusik zum Drama Das Fest auf Solhaug von Henrik Ibsen (1943) entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter denkbar schwierigen Bedingungen. Obwohl Reykjavík seinerzeit bloß um die 40.000 Einwohner hatte, gelang es, eine eigene Theatergruppe, ein Orchester und das notwendige Publikum dafür zu mobilisieren. Es war als Akt der Solidarität für das deutsch besetzte Norwegen zu verstehen. Die fünfsätzige Bühnenmusik, die einer Suite ähnelt, besteht aus einer Ouvertüre, einem Hochzeitsmarsch, einem norwegischen Volkstanz, dem Portrait eines Bergkönigs und einem abschließenden Trauermarsch und kommt auf eine Länge von einer knappen Viertelstunde. Die Schauspielmusik für Aus Jónas Hallgrímssons Bilderbuch (1945) war gar noch ehrgeiziger und trug patriotischere Züge, war doch die Loslösung Islands von der Krone Dänemark im Vorjahr erfolgt. Der isländische Poet Jónas Hallgrímsson (1807-1845) gilt in seinem Heimatland als Nationalheld. Die Bühnenmusik ist in diesem Falle für bloßes Streichorchester gesetzt, daher leichtgewichtiger, dauert ebenfalls knapp 14 Minuten und umfasst sechs Sätze: ein Vorspiel, einen Marsch, ein Menuett, ein Volkslied sowie abschließend ein Paar isländischer Volkstänze. Wer den gewöhnungsbedürftigen und zuweilen enervierenden Tonfall Leifs‘ im Ohr hat, wird mit Freude feststellen, dass Ísólfsson sich einer deutlich gemäßigteren und letztlich gefälligeren, mehr in der Nachfolge Griegs stehenden musikalischen Sprache bedient, die authentisches Lokalkolorit aufweist.

Jórunn Vidar ist mit Ballettmusik vertreten, zum einen Eldur (Feuer) von 1950, eine knapp zehnminütige Komposition, bei der nach den Worten des Komponisten folgende Bilder in den Sinn kommen: „lodernde Freudenfeuer, Stichflammen, Fanale, Fackeln, Glut, Asche“. Das Feuer, zu Beginn durch einen Feuerstein entfacht, durchläuft verschiedene Phasen, erlischt zwischenzeitlich auch, nur um letztlich wieder aufzuflammen und alles zu verschlingen. Das Ballett wurde zusammen mit der Tänzerin Sigrídur Ármann konzipiert und gelangte als erstes Ballett des neuen Nationaltheaters von Reykjavík auf die Bühne. Dasselbe Team Vidar/Ármann schuf zwei Jahre später auch Ólafur Liljurós, ein Handlungsballett nach einer im Norden sehr geläufigen Volksballade. Diese handelt von Ólafur, der vier Elfinnen begegnet und von diesen betört wird, ihnen aber widersteht und an seinem Gott (in einer Version Christus) festhalten will. Schließlich ringt eine Elfe dem Helden einen Kuss ab, währenddessen sie ihm indes ein zuvor verstecktes Schwert ins Herz stößt. Die kunstvolle Ballettmusik ist etwa halbstündig und untergliedert sich in acht Nummern. Auch die Tonsprache Vidars ist tonal, allenfalls dezent modern und insofern hörbar der Tradition verpflichtet, wobei man durchaus eine Vorbildwirkung gerade Ísólfssons heraushören kann.

Der künstlerische Wert dieser Produktion darf geflissentlich als auf höchstem Niveau bezeichnet werden. Klanglich lässt die Einspielung zudem keine Wünsche offen und liegt neben der gewöhnlichen CD-Spur auch im hochauflösenden SACD-Format, sowohl stereophon als auch als Mehrkanalton, vor (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 13.-15. Juni 2022). Die Textbeilage fällt labeltypisch vorbildlich aus (Einführungstext von Paul Griffiths auf Englisch, Deutsch und Französisch). Insgesamt eine echte Bereicherung für Freunde nordeuropäischer Musik, die Neuentdeckungen aus der Peripherie gegenüber aufgeschlossen sind (13. 03. 23). Daniel Hauser

Zum Abschied Richard Strauss

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Elektra auf der Bühne ohne Strich? Eine Neuerscheinung von Sterling (CDA-1867/1868-2) weckt eine falsche Hoffnung. Der Box mit dem Mitschnitt des Strauss-Einakters vom 4. Mai 1996 aus dem Königlichen Opernhaus Stockholm liegt ein Libretto mit dem kompletten Text der großen Szene zwischen Elektra und Klytämnestra bei. „Was bluten muss? Dein eigenes Genick, wenn dich der Jäger abgefangen hat!“ Im Original folgte darauf eine Flut von Gewaltfantasien, mit denen die gedemütigte Tochter die Mutter konfrontiert. In der Praxis wird diese Stelle auf etwa ein Drittel zusammengekürzt – auch, um die Solistin zu schonen. Die unerschütterliche Birgit Nilsson hat den Strich im Decca-Studio gemeinsam mit dem Dirigenten Georg Solti aufgemacht und damit dieser Aufnahme einen einzigartigen Stempel aufgedrückt. In Stockholm wurde das Experiment durch Laila Andersson-Palme, die 1941 geborene Landsmännin der Nilsson, aber nicht wiederholt. Track 11 der ersten CD ist offenbar irrtümlich der vollständige Text zugeschlagen worden. Gesungen wird er nicht. Muss er auch nicht zwingend. Denn in der Kürze spitzt sich die Situation viel rascher und damit auch wirkungsvoller zu.

Der Mitschnitt in breitem Stereo hält eine höchst spannende Aufführung fest, mit der die Sängerin der Titelpartie Abschied von der ersten Opernbühne ihres Landes nahm. Noch bevor das Orchester zu Beginn wie ein Beil niederfährt, ist ein gellender Schrei zu vernehmen, auf den man auch als Hörer nicht gefasst ist. Es kann nicht schaden, vorsorglich den Lautstärkepegel abzusenken, denn es bleibt nicht bei einem Schrei. Siegfried Köhler ist am Pult auch nicht eben zimperlich und dirigiert eine insgesamt dramatisch aufgeheizte Vorstellung mit vielen rasanten Akzenten der Blechbläser, die man so noch nicht zu vernehmen glaubte. Er war damals Hofkapellmeister in Schwedens Hauptstadt. Für Laila Andersson-Palme fand eine lange und erfolgreiche Karriere ihren fulminanten Abschluss. Sie hatte etwa hundert Rollen gesungen und war Mitte fünfzig. Obwohl gewisse Verschleißerscheinungen nicht zu überhören sind, gelingt ihr mit Professionalität und Erfahrung ein eindrucksvolles mitleidsvolles Porträt der Königstochter, die ihr Dasein im Hinterhof bei den Hunden fristen muss. Alle anderen einheimischen Mitwirkenden sind stimmlich bestens disponiert: Gunilla Söderström (Klytämnestra), Anita Soldh (Chrysothemis), Gunnar Lundberg (Orest) und Lennert Stregard (Aegisth). Niemand lässt sich zu grellen Übertreibungen verleiten. Der Dirigent achtet wohl auch streng darauf, dass die Oper gesungen und an keiner Stelle gesprochen wird. Alle Mitwirkenden sind gut bis sehr gut zu verstehen sind. Sie bezeugen das hohe künstlerische Niveau an diesem Haus.

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Die schwedische Sopranistin Laila Anderson-Palme sang so gut wie alles. Von der Königin der Nacht in der Zauberflöte bis hin zur Elektra, Salome, Brünnhilde und Ortrud. Dazwischen Lulu, Marschallin im Rosenkavalier, Butterfly, Tosca, Lady Macbeth und die Marie in Bergs Wozzeck. Palme im Doppelnamen rührt von ihrer Ehe mit dem renommierten Schauspieler Ulf Palme (1920 bis 1993) her. In allen Sopranlagen unterwegs, gilt sie als eine der vielseitigsten Sängerinnen. Sterling, das 1980 in Stockholm gegründete Label, hat ihr auch ein Doppelalbum gewidmet (CDA-1806/1807-2). Es ist prall gefüllt, lässt nicht eine Minute frei und bildet die Breite ihres Rollenspektrums ab. Auch Lieder gehören dazu. Allein fünf Titel – darunter Morgen, Meinem Kinde und Die Nacht – stammen von Richard Strauss. Musik aus ihrem Heimatland ist bei der Programmauswahl stiefmütterlich behandelt worden. Gerade mal fünf Liedern sind für Ture Rangström abgefallen, nur zwei für Wilhelm Stenhammar. Beide waren Zeitgenossen von Strauss und haben in Berlin studiert und dort Impulse empfangen, die auch herauszuhören sind. Das Opernrepertoire in der Edition ist ausschließlich deutschen und italienischen Ursprungs. Warum nur? Er wurde eine Chance verpasst, die Sängerin auch mit mehr Werken ihrer Heimat vorzustellen, die im Rest Europas weiterhin unbekannt sind. Offenbar mussten die Herausgeber aber auch an die Verkaufszahlen denken, was verständlich ist. Wagner, Strauss, Verdi, Puccini und Mozart gehen eben nach wie vor besser als schwedische Musik. Selbst wenn sie schwedisch gesungen werden wie das Schlussterzett aus dem Rosenkavalier, die Arien der Königin der Nacht, die Butterfly und die Wozzeck-Marie.

An wen erinnert mich die Stimme von Laila Andersson-Palme? An Anja Silja. Die Höhe ist sehr ähnlich, gleißend, grell, manchmal gar gellend, die Tiefe wenig ausgeprägt. Ihre Faszination ist eine andere. Nämlich diese unerschrockene, ja erbarmungslose Vielseitigkeit, die keine Herausforderung scheut. Auf der Bühne muss das stark gewirkt haben. Teile des Publikums lieben diesen Kitzel, wenn das Scheitern mit einer künstlerisch anspruchsvollen Aufgabe in der Luft liegt. In der Schlussszene der Salome kann das leicht passieren, passiert ihr aber nicht. In der Box ist ein Mitschnitt aus der Deutschen Oper in Berlin vom 27. Februar 1984 unter der Leitung von Heinrich Hollreiser zu finden, in dem sie sich erstaunlich wacker schlägt. Neben Elektra dürfte Salome zu ihren größten Erfolgen gehört haben. Sogar an der Met ist sie damit 1981 in einer Vorstellung nachgewiesen. Auftritte gab es auch an der Wiener Staatsoper, in Rio de Janeiro und in Gelsenkirchen.

Aus der dänischen Stadt Aarhus hat sich das Finale der Walküre mit Leif Roar als Wotan erhalten. Mit gut dreißig Minuten ist es der größte Brocken der Edition – und hinterlässt auch den stärksten Eindruck. Wer Aufnahmen dieses Werkes hinterher ist, wird dankbar sein für diese unverhoffte Ergänzung der Sammlung. Sie ist eine entschlossene Brünnhilde, die ihre stählerne Höhe heftig  gegen den zornigen Vater einsetzt wie Peitschen. „Was hast Du erdacht, das ich erdulde?“ Atemlos und gehetzt wirft die Andersson-Palme die Frage hin, dass sich ihre Kritiker wieder versöhnen mit ihr, weil sie der Wahrheit des Moments durch Ausdruck so nahe kommen kann. Diese Edition ist ein Werk der Liebe, nicht des Schöngesangs. Rüdiger Winter

Spass mit Offenbach

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1855 hatte die erste Pariser Weltausstellung stattgefunden, und man hatte feststellen müssen, dass sich das internationale Publikum zwar tagsüber von den prachtvollen Pavillons und dem, was in ihnen ausgestellt wurde, fesseln ließ, dass es aber für den Abend und die Nacht ebenfalls nach Sensationen verlangte, vor allem solchen, die dem Ruf von Paris als Stadt der Liebe gerecht sein würden. In dieser Hinsicht wollte man für die Zweite Pariser Weltausstellung von 1866 vorsorgen und gab dazu Jacques Offenbach den Auftrag für die Komposition einer Operette mit Pariser Flair, aber auch der Einbeziehung von Personal aus den Ländern, aus denen die Gäste der Weltausstellung stammten. La Vie Parisienne nannte sich das Werk, das bereits ein Jahr vor Beginn der Weltausstellung fertiggestellt war und im Theatre du  Palais-Royal uraufgeführt wurde. Einen Skandal wegen der Frivolität der Handlung hatte man befürchtet, zu einem Triumph wurde die Uraufführung, der eine lange Reihe von weiteren Vorstellungen folgte. Dabei ist die Handlung mit unendlich vielen Personen, allein drei weibliche Hauptrollen, mit unendlich vielen Verkleidungen und Maskierungen reichlich kompliziert, obwohl es eigentlich nur um die eine Sache geht: Wie finde ich einen Partner für die nächste Nacht. Damit sich recht viele Besucher angesprochen fühlen, gibt es Dänen (eigentlich Schweden), Brasilianer, Tiroler, Preußen, viele Damen aus Marseille, und so vielseitig wie die Nationalitäten sind auch die Professionen u.a. der drei Diven: Gräfin, Handschuhmacherin und Prostituierte.

In französischer Originalsprache gibt es viele Aufnahmen, maßstäblich die von 1959 mit Jean-Louis Barrault und 1976 mit Regine Crespin und Michael Sénéchal, in deutscher Sprache mit Dallapozza, Holm und Rothenberg oder mit Schramm, della Casa. Hallstein, Schock, Unger und de Kowa, was zeigt, dass das Werk sowohl mit Opernsängern wie mit Schauspielern, oder besser noch, mit Angehörigen beider Berufe aufgeführt werden kann.

Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um den gelungenen Versuch des verdienstvollen Venezianer Palazzetto Bru Zane, die Version, die dem französischen Zensor 1866 vorgelegt worden war, wieder herzustellen. Die besteht aus fünf Akten, die Aufführung dauert immerhin drei volle Stunden. Die Produktion trat in den letzten Jahren zunächst ihren Siegeszug durch französische Häuser an, wurde aber auch bereits auf Arte gezeigt und ist nun bei Naxos als Blu-ray erschienen.

Nicht verwunderlich ist bei einem Ausstatter namens Christian Lacroix, dass besonders die Kostüme Aufmerksamkeit erregen. Für sie wird ein ungeheurer Aufwand betrieben, was Stoffmassen, in denen die Damen fast ertrinken, was Farbigkeit, in der Herren fast als blasse Schemen erscheinen, betrifft, wahre Wunderwerke der Kostümbildnerei und  einem seltsamen Hang zu Kariertem frönend. Auch das Bühnenbild ist bemerkenswert, vor allem durch einen Fahrstuhl, der die Bühne um eine Dimension erweitert, aber auch durch kostbar erscheinende Gobelins oder eine phantasievolle Möblierung. Die Figuren, weiß geschminkt, scheinen Stummfilmen entsprungen zu sein, sind liebenswert bleibende Karikaturen, und nicht nur in der Komischen Oper Berlin gibt es Balletttänzer in Korsett und Tutu. Für Diverses ist also auch gesorgt. Urkomisch ist es, wenn sich in der turbulenten Nacht entstehende Menschenknäuel am nächsten Morgen mühsam zu entwirren versuchen, oft noch im letzten entscheidenden Moment entsteht nicht befürchteter Klamauk, sondern es wandelt sich alles ins sympathisch Komische.

 Romain Dumas führt Les Musiciens du Louvre souverän durch die Vorstellung, besonders die Vorspiele vereinen Eleganz und Esprit miteinander. Mit hübschem Soubrettenstimmchen und darstellerischer Souveränität ist Sandrine Buendia die Baronin, urkomisch als Ungetüm von Fell und Haaren und mit präsentem Bariton Franck Leguérinel ihr Gatte. Die Lebemänner Gardefeu und Bobinet werden von Rodolphe Briand mit schmalem, aber prägnantem Tenor und Marc Mauillon mit präsentem Bariton rollendeckend auf die Bühne gebracht. Jodie Devos hat einen spritzigen Koloratursopran für die muntere Gabrielle, Aude Extrémo  einen aparten Mezzo und eine charmante Erscheinung für die Métella, urkomisch ist Ingrid Perruche als Madame de Quimper-Karadec, der Tenor Éric Huchet ist nicht nur Brasilianer, sondern auch Frick und Gontran. Deftig-charmant sind die drei Zofen Elena Galitzkaya, Louise Pingeot und Marie Kalinine. Die tiefen Töne wissen sich mit denen von Laurent Kubla zu behaupten (Urbain, Alfred), die hohen mit Carl Ghazarossian ( Joseph, Alphonse, Prosper). Der Choeur de chambre de Namur tobt sich darstellerisch und musikalisch aus. Eine französische Fledermaus empfiehlt sich für amüsante Silvestervorstellungen (Naxos BD01633). Ingrid Wanja   

Entdeckungsreise

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.Gelangt eine neue CD mit Philippe Jaroussky auf den Markt, ist es nicht damit getan, einfach mal reinzuhören. Schon gar nicht nebenbei. Und wenn dann noch die geheimnisvoll lächelnde Christina Pluhar gleichberechtigt auf dem Cover in Erscheinung tritt, dürfte endgültig klar sein, dass es nicht nur um Gesang geht. Beide sind seit fünfzehn Jahren künstlerisch eng verbandelt. Sie scheinen sich gesucht und gefunden zu haben. Gemeinsam begeben sie sich auf Entdeckungsreisen, bei denen sie ungeahnte musikalische Erlebnisse und Erfahrungen zutage fördern. Der Franzose Jaroussky ist mit seinem Countertenor, die Österreicherin Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata, das sie im Jahre 2000 gründete. Für das Publikum in der Rolle des Mitreisenden lohnte es sich allemal. Es kommt voll auf seine Kosten. Obwohl hinter allen künstlerischen Darbietungen die Kernerarbeit der musikwissenschaftlicher Forschung zu ahnen ist, die Hörer – ob in den Konzertsälen oder an den Lautsprechern – merken davon fast nichts. Im Vortrag dominieren Spielfreude und gehobene Unterhaltung über historische Erkenntnisse und Informationen. Und nie umgekehrt. Ihr gemeinsames Album Passacalle de la Follie ist bei Erato erschienen (5054197221873). Es widmet sich der französischen Hofmusik des 17. Jahrhunderts. Aus einer Zeit also, in der in Italien das Madrigal in seiner späten Blüte stand.

Im mehrsprachigen Booklet, das zudem reich bebildert ist, beschäftigt sich der Musikwissenschaftler Alessio Ruffatti mit den historischen Hintergründen, die sich als weit weniger galant darstellen als es das CD-Programm verheißt. „Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ist in politischer Hinsicht eine für Frankreich und das übrige Europa turbulente Zeit.“ Mit Königsmorden wurde der Kampf um die Macht ausgetragen. „Dabei waren dieselben Protagonisten dieser blutigen Zeit auch große Kunstliebhaber„, weiß Ruffatti. So habe Ludwig XIII. (1601-1643) gemalt, komponiert, Gitarre gespielt und leidenschaftlich getanzt. Sein Bruder und politischer Widersacher Gaston de Bourbon (1608-1660) „verfügte über eine Gruppe von Sängern und ein ganzes Orchester“. Höfische Vokalmusik dieser Zeit – meist handelt es sich um Liebeslieder – ist als Air de Cour in die Musikgeschichte eingegangen. Der Name leitet sich von Air für Lied und Cour für Hof her. Zentrales Instrument ist die Laute. Christina Pluhar, die als Lautenistin auch international einen guten Ruf genießt, ist mit der Neuerscheinung wieder ganz in ihrem Element. Sie spielt vornehmlich eine Theorbe, die zur Familie der Lauteninstrumente gehört und sich durch einen verlängerten Hals auszeichnet. Und sie hat die meisten Titel auch selbst so arrangiert, dass das dunkel timbrierte virtuose Potenzial dieses Instruments voll ausgeschöpft wird. Vier instrumentale Zwischenspiele wie die Improvisation von Les Folies d’Espagne nach Marin Marais, einem Schüler von Lully und Robert de Visèe, einem berühmten Pluhar-Vorgänger am Hof Ludwig XIV. geraten zu Höhepunkten, die den Gesang nicht vermissen lassen. Mit ihnen stehen die Namen anderer bedeutender Vertreter der französischen Hofmusik, darunter von Gabriel Bataille, Antoine de Boësset, Michel Lambert, Etienne Moulinié und Pierre Guédron, in der Trackliste aus insgesamt sechzehn Nummern.

Jaroussky hat seine Kunst von der atemberaubenden Virtuosität mit den nicht enden wollenden Koloratur-Kaskaden längst in ehr sanfte Bereiche verlegt. Sein stimmliches Spektrum gewann an Tiefe im Ausdruck, wenngleich die technische Ausführung inzwischen auch an Grenzen kommt. Hohe Töne klingen oft angestrengt – und in meinen Ohren nicht sonderlich schön. Dabei bleibt der frivole Charme dieser Lieder, deren Texte sich auch in deutscher Übersetzung im Booklet finden, hin und wieder auf der Strecke. Trotz alledem ist der 1978 geborene Sänger von seiner unverwechselbaren Stimmarbe her der Alte geblieben. Wo Jaroussky draufsteht, ist auch Jaroussky drin. Rüdiger Winter

Rossini-Feuerwerk

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Das Dramma giocoso L’Italiana in Algeri vom 19. Februar 2022 von Glossa stammt live aus dem Concertgebouw Amsterdam (GCD 921132, 2 CDs). Die Aufnahme bezieht ihren Stellenwert vor allem aus der Mitwirkung des Orchestra of the Eighteenth Century unter Leitung von Giancarlo Andretta. Das Klangbild des Mitschnitts ist sensationell, denn der Dirigent feuert das Orchester zu Atem beraubenden Tempi an. Lange hat man die Ensembles und Finali nicht derart sprühend und mitreißend gehört. Und das Orchester begeistert schon in der Sinfonia mit federndem Spiel und spannender Steigerung. Alle Sänger haben hohen Anteil an dieser faszinierenden Deutung, indem sie die Tempovorgaben des Dirigenten übernehmen und perfekt umsetzen. Ein Paradebeispiel ist das Settimino mit Stretta im 1. Finale, das sich von pianissimo getupften Tönen zu einem konfusen Wirbel und grotesken Nonsens-Lauten steigert, dabei Fahrt in prestissimo-Dimensionen aufnimmt.

In der Besetzung gibt es einen prominenten Namen – Vasilisa Berzhanskaya als Isabella, also der Titelrolle. Die Sängerin hat sich als Rossini-Interpretin bereits international einen Namen gemacht, und so waren an ihren Auftritt hohe Erwartungen geknüpft. Nach meinem Ermessen erfüllt sie diese nicht, klingt zu verhalten in der Tongebung und kann Vergleichen mit ihren illustren Rollenvorgängerinnen Marilyn Horne, Agnes Baltsa, Lucia Valentini Terrani und Ewa Podles nicht standhalten. Schon ihrer Auftrittskavatine, „Cruda sorte!“, fehlt es an Energie. Der Gesang ist delikat, das dunkle, herbe Timbre durchaus reizvoll – Vorzüge, die der Kavatine im 2. Akt, „Per lui che adoro“, gut anstehen würden, aber auch diese klingt wie vieles einfach nur markiert. Den besten Eindruck im Rahmen ihrer eigenen Interpretation hinterlässt sie mit bravouröser Koloratur in ihrem finalen Rondo ,Pensa alla patria“, dennoch hat man auch diese Nummer von anderen Sängerinnen noch weit eindrucksvoller gehört.

Eine Überraschung ist dagegen der junge Tenor Alasdair Kent als Lindoro, der schon in seiner Auftrittskavatine „Languir per una bella“ mit schmeichelndem Klang und zärtlicher Empfindung auf sich aufmerksam macht. Den schnelle Schlussteil der Nummer singt er mit Verve, geschmackvollen Verzierungen und auftrumpfenden Spitzentönen. In die Extremhöhe führt ihn die Kavatine „Oh, come il cor di giubilo“ und ist zudem höchst anspruchsvoll durch das vertrackte Zierwerk. Kent bewältigt diese Herausforderungen bravourös. Überzeugend besetzt ist auch der Mustafa, die andere zentrale Partie des Werkes, mit dem Bassbariton Ricardo Segel. Das köstlich sprudelnde Duettino mit Lindoro „Se inclinassi a prender moglie“ macht er gemeinsam mit dem Tenor zu einem hinreißenden Geschwindmarsch. Seiner Aria „Già d’insolito ardore nel petto“ gibt er mit prägnanter Koloratur und resoluter Stimmführung markantes Profil.

Auch in den beiden Baritonrollen der Oper, Haly und Taddeo, sind mit José Coca Lola und Pablo Ruiz solide  Interpreten zu hören. Letzterer kann in Taddeos Arie „Ho un gran peso sulla testa“ durch buffoneske Tonmalerei brillieren, ersterer in der Aria „Le femmine d’Italia“ gekonnt mit den hüpfenden Tönen jonglieren. Und er macht gemeinsam mit Lindoro und Mustafa das Terzett „Pappataci!“ zu einem großen Vergnügen.

Die Besetzung komplettieren die Sopranistin Lilian Farahani als Elvira und die Mezzosopranistin Esther Kuiper als Zulma. Sie und der Chor (La Cetra Vokalensemble Basel unter Leitung von Federico Sepúlveda) geben den Introduzioni zum 1. und 2. Akt markante Kontur. Und sie führen gemeinsam mit allen Interpreten das Finale II zu einem turbulenten Abschluss des singulären Werkes (14. 03. 23). Bernd Hoppe

Ein ténor de grace à la française

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So romantique! heißt das neue Recital des Tenors Cyrille Dubois bei ALPHA-CLASSICS (924). Aufgenommen in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane im Juli 2021 in Lille, enthält es französische Opernarien, die zwischen 1820 und 1900 entstanden und für einen ganz bestimmten Stimmtyp geschrieben wurden. Es ist der ténor de grace, die französische Variante des italienischen tenore di grazia.  Sänger dieser Gattung bedienten vor allem das Repertoire der Opéra comique. Ihre Stimmen zeichnen sich durch ein helles, geschmeidiges Timbre und eine leichte, strahlende Höhe aus. Diese Merkmale charakterisieren auch den Solisten des Recitals. Er singt Händel, Mozart und Belcanto-Partien, spezialisiert sich aber vor allem auf das französische Fach. Einfühlsam begleitet wird er vom Orchestre National de Lille unter Leitung von Pierre Dumoussaud.

Älteste Komposition der Anthologie ist die Cavatine des Georges, „Viens, gentille dame“, aus François-Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825). Der Tenor beginnt sie verträumt, um sie dann überschwänglich zu steigern und ganz entrückt enden zu lassen. Boieldieus Modell führte Daniel-François-Esprit Auber weiter. Das Air des Fabio „Asile où règne le silence“ aus dessen La Barcarolle (1845) eröffnet das Programm. Mit Rezitativ, Cantabile und schnellem, rhythmischem Schluss, der italienischen stretta vergleichbar, ist diese Nummer typisch für ein romantisches grand air. Die Stimme des Tenors klingt hier besonders weich und schmeichelnd, trumpft am Ende bei den Spitzennoten gehörig auf.

Verdienstvoll ist die Zusammenstellung der CD, welche viele Raritäten enthält, so die Romance des Alvar, „Combien de fois j’ai revé d’elle“ aus Benjamin Godars Pedro de Zalamea (1884), die Romance du sommeil, „Revons qu’un plus beau jour“, des Titelhelden aus Louis Clapissons Gibby la cornemuse (1846) oder das Air des Haydn, „Viens, o mélodie“, aus Charles Luce-Varlets L’élève de Presbourg (1840). Da hört man schwärmerische, elegische, melancholische, zärtliche, sehnsuchtsvolle Klänge und feine Kopftöne.

Natürlich finden sich auch bekannte Namen auf der Liste der Komponisten, nicht immer aber Ausschnitte aus dessen populären Werken. So ist von Ambroise Thomas nicht nur die bekannte Mélodie des Wilhelm, „Adieu, Mignon“, aus der nach Goethe entstandenen Mignon (1866) in einer sanften, traumversunkenen Wiedergabe zu hören, sondern es ergibt sich auch die Bekanntschaft mit seiner Komposition Le roman d’Elvire (1860), aus der das emphatische und exponiert notierte Air des Gennaro, „Supreme puissance“, erklingt, und mit seinem Raymond von 1851, aus dem die Cavatine des verzweifelten Titelhelden, „Point de pitié“, zu hören ist. Auch bei Charles Gounod wählte der Sänger nicht dessen Faust, sondern Le médecin malgré lui (1858) und daraus das narrative  Fabliau des Léandre „Je portais dans une cage“. Da die dramatischen Tenorpartien des Eléazar in Fromental Halévys La Juive und die des männlichen Titelhelden in Camille Saint-Saëns’ Samson et Dalila einen ganz anderen Tenortyp verlangen würden, wählte Dubois von Halévy Les mousquetaires de la reine (1846) mit dem inbrünstigen  Couplet des Olivier, „Enfin un jour plus doux se lève“, und von Saint-Saëns Le timbre d’argent (1864) mit der Mélodie des Bénédict, „Demande à l’oiseau“.

Von Georges Bizet findet sich die nicht ganz unbekannte Oper La jolie fille de Perth (1867) mit dem erregten Air des Smith „O cruelle!“, von Léo Delibes seine populäre Lakmé (1883) mit dem  ekstatischen Air des Gérald „Fantaisie aux divins mensonges“. Ein wirklicher Hit ist dagegen die Cavatine des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Gaetano Donizettis La fille du régiment (1840) mit ihrer Serie von hohen C’s. Hier muss sich der Interpret großer Konkurrenz stellen, macht aber gute Figur mit einem leidenschaftlichen Entrée, dem schwelgerischen „Pour mon ame“ und sicheren Topnoten. Zum Schluss nochmals eine Rarität mit der Romance  des Donatien, „Adieu, toi ma pauvre mère!“ aus Louis Clapissons Le code noir (1842), mit der dieses bemerkenswerte Recital noch einmal die Vorzüge der Stimme herausstellt und wirkungsvoll endet (10. 02. 23). Bernd Hoppe

Ersteinspielung

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Als Weltpremiere veröffentlicht DYNAMIC als Blu-ray Disc Nicola Porporas Serenata L’Angelica (57936). Die Aufnahme stammt vom Festival della Valle d’Itria in Martina Franca und wurde Ende Juli/Anfang August 2021 im Palazzo Ducale produziert. Gianluca  Falaschi verantwortete die Produktion als Regisseur und Ausstatter, unterstützt vom Choreografen Mattia Agatiello.

Mit Federico Maria Sardelli steht ein Spezialist für Alte Musik am Pult des auf historischen Instrumenten musizierenden Ensembles La Lira di Orfeo. Das garantiert einen authentischen Klang, der schon in der Sinfonia zu vernehmen ist. Sie tönt zunächst gravitätisch und dann lebhaft. Leider wird sie vom Regisseur in Szene gesetzt – an einer festlich gedeckten Tafel nehmen die Personen der Handlung Platz und heben das Glas auf das Wohl aller Anwesenden. Hinter der Tafel, an der sich bis zum Schluss das Geschehen abspielt, befindet sich eine mattierte Glaswand, hinter der Tänzer in erotischen Szenen zu sehen sind. In Tiermasken agieren sie halbnackt später auch auf der Szene in sexuellen Spielarten aller Art.

Das Libretto von Pietro Metastasio erzählt die Geschichte von Angelica und Medoro, in die der Dichter Passagen aus dem Orlando furioso eingebunden hat, endend mit dessen Wahnsinnsszene. Zu diesen Charakteren gesellen sich noch der Schäfer Titiro, seine Tochter Licori und ihr Geliebter Tirsi.

Prominenteste Vertreterin der von Sängerinnen dominierten Besetzung ist die italienische Mezzosopranistin Teresa Iervolino – Festival erprobt in Salzburg und Pesaro – als Orlando. Mit dem Rezitativ „Pur ti raggiungero“ hat sie im roten Anzug einen fulminanten Auftritt mit einer Stimme von maskuliner Energie und starkem Nachdruck.  Mir der folgenden Aria „Dal mio bel sol lontano“ kann sie die samtene Beschaffenheit ihrer Stimme besonders  heraus stellen. „La bella mia nemica“ im zweiten Teil imponiert durch den resoluten Vortrag. Mit „Mi provera spietato“ hat sie dann auch ein (leider nur kurzes) Bravourstück. Ihr gehören zudem die beiden letzten Soli des Werkes: das erregte, konfuse „Da me che volete“ und – verbunden durch ein verwirrtes Rezitativ – das entrückte „Aurette, leggiere“, welches in seinen Stimmungen jäh umschlägt. Iervolino wird diesem differenzierten Anspruch imponierend gerecht. Ekaterina Bakanova ist die Titelheldin. Ihr fällt mit der Aria „Mentre rendo a te la vita“ das erste Solo des Werkes zu – ein getragenes Stück von reicher Empfindung. Sie singt es mit lyrischem, obertonreichem Sopran. Durch koketten Ausdruck fällt ihr „Costante e fedele“ auf. Mit „Quel cauto nocchiero“ hat sie im zweiten Teil eine virtuose Gleichnisarie vom bedrohten Steuermann, was die Tänzer mit Quallengebilden in den Händen illustrieren. Ihr folgt Paola Valentina Molinari als Medoro mit „La tortura innocente“. Es ist die erste Arie in der typisch virtuosen Manier Porporas und die Sängerin absolviert sie mit resolutem Sopran angemessen. Auch ihre nächste Aria, „Sopra il suo stelo“, fällt in diese Kategorie und wird gleichfalls überzeugend bewältigt. Den ersten Teil des Werkes beschließen Angelica und Medoro mit dem Duett „Se infida tu mi chiami“, in welchem sich die beiden Stimmen ausgewogen verbinden. Nach einer stürmischen Sinfonia, die den zweiten Teil einleitet, hat Medoro mit „Quell’umidetto ciglio“ auch dessen erstes Solo und kann mit tiefer Empfindung aufwarten.

Mit dem Bariton Sergio Foresti als Titiro findet sich in der übrigen Besetzung noch ein bekannter Name. In seiner Auftrittsarie „Folle chi sa sperar“ trumpft er mit reifer, gelegentlich auch dumpfer Stimme auf. Reicher Hörnerklang begleitet seine Aria „Non cerchi innamorati“, in welcher er mit starker Autorität aufwartet. Die Sopranistin Barbara Massaro ist seine Tirsi mit heller Stimme und die Mezzosopranistin Gala Petrone seine Tochter Licori. Ihr Auftritt mit dem verschatteten „Ombre amene“ ertönt gebührend verhalten, das „Se i rai del giorno“ im zweiten Teil klangreicher. Am Ende werden die Sänger in ihrem Mix aus Rokoko-Kostümen und moderner Alltagskleidung vom Publikum herzlich gefeiert. Bernd Hoppe

Aus der Komischen Oper Berlin

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Fast auf den Tag genau 87 Jahre nach ihrer Uraufführung im Berliner Admiralspalast wurde in einer rekonstruierten und neu arrangierten Fassung, denn die Orchestrierung ging in den Kriegswirren verloren, Jaromir Weinbergers Operette Frühlingsstürme in der Komischen Oper aufgeführt. Am 20. Januar 1933 war das Stück erfolgreich uraufgeführt worden, das dem Tenor Richard Tauber auf die Stimmbänder komponiert worden war, der nach der Vorstellung vor dem Hotel Kempinski am Kurfürstendamm von SA-Schlägern niedergeschlagen wurde. Der Komponist und sein Star verließen Deutschland, auch Weinbergers Oper Schwanda der Dudelsackpfeifer, in der Spielzeit 29/30 die noch vor Carmen oder Zauberflöte meistgespielte Oper in Deutschland, verschwand von den Spielplänen, Frühlingsstürme wurde noch einige Male in tschechischer Sprache aufgeführt, zum letzen Mal 1947 in Ostrava.  Aus dem Jahr 1933 gibt es einige Aufnahmen von Arien und Duetten, allerdings hat hier Tauber nicht seine Bühnenpartnerin Jarmila Novotná zur Seite und diese an seiner Stelle den Tenor Marcel Wittrich.

Das Libretto von Gustav Beer ist der Nachwelt überliefert worden, weist allerdings die genreüblichen Schwächen mit Herz-Schmerz-Reimen auf wie „sollst mein Leben hold umschweben“ oder Holprigem wie „darf ich sie nicht begehren, wozu wär‘ solches gut“, ansonsten neigt sich das Werk eher dem Genre tragische Operette zu, denn es gibt kein happy end zwischen den Komponenten des Hohen, sondern nur des  Buffo-Paars, stattdessen ein Sichfügen in die Gegebenheiten, eine aus einem Irrtum entstandene Ehe für den Tenor, für die Diva das Bündnis mit dem alternden General, dem sie einst das (falsche) Lösungswort „Frühlingsstürme“ entlockte, um ihrem Geliebten die Flucht aus dem feindlichen Lager zu ermöglichen. Die Darstellung der Handlung nahm im Programmheft der Komischen Oper zwei volle Seiten in Anspruch, was für eine Operette bedenklich ist, auch damit zusammenhängt, dass sie auf tatsächliche historische Ereignisse, den japanisch-russischen Krieg von 1905 und die darauf folgenden Friedensverhandlungen, zurückgreift.

Trotz all dieser nicht gerade optimalen Voraussetzungen war der Komischen Oper wieder ein zumindest in großen Teilen praller Operettenabend gelungen, den Naxos jetzt als DVD vorstellt. Da ist ein Wehrmutstropfen nur, dass ausgerechnet der  Beginn sich mit einer langen Sprechszene für die Lagebesprechung im russischen Hauptquartier in der Mandschurei ungewöhnlich zäh dahinzieht.  Einen Kontrast dazu bieten die frech-fetzigen, manchmal zu klamaukhaften Szenen des Buffopaars, der aufmüpfigen Generalstochter Tatjana und des deutschen Skandaljournalisten Roderich Zirbitz, der sich auch als Koch oder Zauberkünstler verkleidet, um an seine Stories zu gelangen. So richtig in die Operettengänge kommt die Geschichte, wo sie sich fein über die Gattung lustig macht mit Damenballett (Choreographie Otto Pichler) mit riesigen Schwanenfederfächern, Revuetreppe in rosigen Farben und einem Starkregen von roten Papierherzchen. Nicht nur die Tänzerinnen bekamen in vielen ganz unterschiedlichen Funktionen, Chinapüppchen oder blasierte Hotelgäste, die allerschönsten Kostüme von Dinah Ehm verpasst. Der andere große Pluspunkt ist der Darsteller der reinen Sprechrolle des heiratslustigen, wenn auch bereits von Altmännerproblemen geplagten Generals Katschalow, Stefan Kurt, für den sich Regisseur Barrie Kosky eine Fülle herrlicher Szenen ausgedacht hatte, so das Musizieren auf dem verführerisch ausgestreckten Bein der angebeteten Lydia, den Streit zwischen hochfliegenden Liebesgedanken und viel tiefer liegenden Misshelligkeiten, den inneren Kampf zwischen Erzieherstrenge und Vaterliebe. Ihm galt dann auch, trotz eines schlimmen eingelegen „Kuda, kuda“ der herzlichste Beifall des Publikums.

Auf leerer schwarzer Bühne  (Klaus Grünberg) ist ein riesiger wandelnder Kubus zu bestaunen, der sich zu Schauplätzen wie Vorzimmer zum Ballsaal oder Hotelhalle öffnen kann und durch eine Unzahl von Türen Auftritts-, Flucht- und Versteckmöglichkeiten ohne Zahl bietet. Da bedarf es dann nur weniger Requisiten wie zweier auch als Versteck dienender Palmen, um die passende Atmosphäre zu schaffen.

Die Komische Oper kann auch eine Operette bestens mit Kräften aus dem eigenen Ensemble besetzen. So die zwielichtige Lydia mit der bildschönen, mit leichtem, aber farbigem, in der Höhe reich aufblühendem Sopran bedachten Vera- Lotte Boecker, mit Alma Sadé, die die flippige Tatjana hinreißend spielt und deren Sopran an Frische nichts einbüßt, obwohl sie häufig fürchterlich kreischen muss. Eine kurze und dazu gesangslose Rolle hat Martina Borroni als Gattin des Helden und kann trotzdem berühren. Dieser ist mit Tansel Akzeybek rollengerecht besetzt, bringt das exotische Element als Ito und dazu einen timbreschönen, mitreißend höhensicheren Tenor in die Produktion. Dominik Köninger windet sich schlangengleich durch seine Partie als newssüchtiger Roderich und singt dazu hinreißend mit markigem Bariton. Tino Lindenberg und Luca Schaub lassen als russische Offiziere in schmucker Uniform weibliche Herzen für das Militär schlagen. Ihr unrühmliches Ende zwölf Jahre später blendet man besser aus.

Viel Verdienstvolles ist  Norbert Biermann zu verdanken, der aus Klavierauszügen, Schlagerheftchen, wenigen originalen Orchesterstimmen und Platten-Aufnahmen und nach dem Studieren des Schwanda eine Rekonstruktion und Arrangements schuf, die in ihrer Raffiniertheit, Klangschönheit und ihrem musikalischen Reichtum vom Orchester der Komischen Oper unter Jordan de Souza voll zur Geltungsgebracht wurden und damals Appetit machten auf die Premiere von „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ im folgenden März. Die erhoffte generelle Renaissance der Werke des Komponisten allerdings blieb aus (Naxos 2.110677-78). Ingrid Wanja  

Portugals Nationaloper

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„Heróis do mar, nobre povo, // (…) Levantai hoje de novo // O esplendor de Portugal! – Helden der See, edles Volk, (…) //Erhebet heute aufs Neue, //Die Pracht Portugals!“ – Ausgerechnet ein Portugiese mit deutschen Wurzeln ist für diese Nationalhymne verantwortlich: Alfredo Keil. Der kommt nur deshalb in Portugal auf die Welt, weil es seinen Vater, Hans-Christian Keil, als Schneider an den portugiesischen Hof verschlägt. Den Sohn, Alfredo, reizt es weniger, für die Fernandos, Carlos und Manuels dieser Welt Nähnadeln durch erlesene Samtstoffe zu triezen; er studiert Malerei und Musik und setzt sich energisch daran, die portugiesische Oper endlich portugiesisch zu machen. Mit Serrana, im Untertitel Die Frau aus den Bergen, vertont er wagemutig ein portugiesisches Libretto – bei so viel nationaler Bewegung muss die Zeit ja endlich mal reif sein für ein Werk in der Muttersprache, oder? Doch ehe das Stück 1899 mit großem Erfolg am Teatro São de Carlos aufgeführt wird, muss es, man braucht es eigentlich schon nicht mehr zu sagen, erst ins Italienische übersetzt werden.

Sein Lied A Portuguesa komponiert Keil bereits 1891, im Schwung der Empörung über die britische Afrikapolitik. Dass daraus dann zwanzig Jahre später die portugiesische Nationalhymne gezaubert wird, versehen mit einem Text des Dichters Henrique Lopes de Mendonça, erlebt er gar nicht mehr – und glücklicherweise auch nicht, dass das leider das einzige ist, was von seinem Werk überhaupt noch gespielt wird.

Alfredo Keil, Gemälde von Félix da Costa 1909 (Museu de Lisboa, Palácio Pimenta)

Hymne hin oder her, die junge Republik kämpft – und versinkt zugleich im Chaos. Der 1. Weltkrieg destabilisiert nachhaltig, Attentate, Korruption, Inflation, höhlen das System aus, alle paar Monate wechselt die Regierung. Der Ruf nach einem starken Mann wird immer lauter, Portugal schlingert Richtung Diktatur. Ein dunkles Kapitel der portugiesischen Geschichte. …  (soweit Sylvia Roth im SWR 2017 in ihrer vierten Folge der Kleinen Musikgeschichte Portugals).

 

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Alfredo Keil? Wer war Alfredo Keil? Ein Portugiese, zumal ein patriotischer mit deutschem Namen? Alfredo Keil wurde am 3. Juli 1850 in Lissabon geboren und war väterlicherseits deutscher und mütterlicherseits elsässischer Abstammung.  Sein Vater, João Cristiano (Johann Christian) Keil, ließ sich 1838 als Schneider in Lissabon nieder und konnte den König zu seinen Kunden zählen; seine Mutter, Maria Josefina Stellpflug, gehörte zu einer Familie, die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert in Portugal ansässig war.

Im Jahr 1868, noch nicht 18 Jahre alt, geht er nach Bayern, um in München und Nürnberg zu studieren, wo Kaulbach und Keeling seine Lehrer an der Akademie der Bildenden Künste sind. Von dort aus schickte er seine ersten Bilder für eine Ausstellung der Sociedade Promotora das Belas Artes (Gesellschaft zur Förderung der schönen Künste).

1870 zwang ihn der Deutsch-Französische Krieg zur Rückkehr nach Portugal, wo er sein Studium der Malerei bei Prieto und Miguel Lupi fortsetzte. In den Jahren 1874 und 1876 wurde er von der Sociedade Promotora mit einem Preis ausgezeichnet und nahm an mehreren internationalen Ausstellungen teil und wurde dort auch prämiert.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Aquarell vom Künstler mit einer Widmung für Jules Massenet/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

In der Zwischenzeit wurde er in den eleganten Salons als Komponist von Walzern und Polkas immer beliebter. Seine musikalischen Lehrer waren der Ungar Oscar de Ia Cinna (Klavier) und die Portugiesen Ernesto Vieira (Harmonie) und António Soares (Grundlagen).

Im Jahr 1883 wurde seine einaktige komische Oper Susana nach einem Text von Higino Mendonça im Teatro da Trindade aufgeführt. Am 10. Juni des darauffolgenden Jahres, im Anschluss an das Camões-Jahresjubiläum (1880), wurde seine Kantate Patrie im alten Whitoyne Coliseum unter der Leitung von Filipe Duarte aufgeführt. 1885 und 1886 wurden seine symphonische Dichtung Uma Caçada na Corte und die Kantate As Orientais von der Academia dos Amadores de Música im Trindade-Saal uraufgeführt. Aber es war auch eine Zeit großer Aktivität als Maler, aus der die meisten seiner kleinen Gemälde von Colares stammen.

Dona Branca, sein „Drâme lyrique“ in einem Prolog und vier Akten, wurde am 10. März 1888 im Teatro de São Carlos uraufgeführt und war sein erstes wichtiges Werk. Nach einem Libretto von César Fereal, das auf dem gleichnamigen Gedicht von Almeida Garrett basiert, war es ein großer Erfolg und wurde dort dreißig Mal aufgeführt, bevor es an das Teatro Lírico in Rio de Janeiro weiterging.

Zwei Jahre später setzte das britische Ultimatum eine gewaltige Welle patriotischer Begeisterung in Gang. Um die Gefühle der Nation auf den Punkt zu bringen, komponierte Alfredo Keil den Marsch A Portuguesa, dem Henrique Lopes de Mendonça einen Text hinzufügte, der bald im ganzen Land gesungen wurde. Zu den Klängen von A Portuguesa brach am 31. Januar 1891 in Porto die republikanische Revolution aus, die dazu führte, dass dieser Marsch 20 Jahre lang nicht mehr öffentlich gesungen werden durfte. Bei der Revolution vom 5. Oktober 1910 wurde er vom Volk wieder aufgegriffen und schließlich von der Republik als Nationalhymne angenommen – ein Schicksal, das der inzwischen verstorbene Monarchist Alfredo Keil nicht vorausgesehen hatte.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Foto zu einer Aufführung 1909 im Teatro de la Trinidad, Portugal/ Wikipedia

Zurück ins Jahr 1890: In diesem Jahr führte das Teatro Nacional Dona Maria II. zum ersten Mal die historische Tragödie A Morta von Henrique Lopes de Mendonça auf, zu der Keil die Bühnenmusik komponierte. Im selben Jahr veranstaltete er eine Ausstellung, bei der er etwa 300 Gemälde verkaufte. Einer der Käufer war König Luís, der Alfredo Keil 1886 gebeten hatte, eine Kantate zur Feier der Hochzeit von Prinz Carlos mit Prinzessin Amélia von Orleans zu komponieren, woraus O Poema da Primavera entstand (erst 1930 posthum aufgeführt). König Luís widmete der Komponist die Partitur von Dona Branca, die in Paris veröffentlicht wurde.

Die vieraktige „Leggenda mistica“ Irene wurde am 20. März 1893 am Teatro Regio in Turin uraufgeführt. Ebenfalls nach einem Text von César Fereal wurde es zwei Jahre später in Leipzig veröffentlicht und 1896 im São Carlos aufgeführt.

Etwa zur gleichen Zeit vollendete Keil A Serrana nach einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, das auf der Erzählung Como ela o amava („Wie sie ihn liebte“) von Camilo Castelo Branco basiert. Die Uraufführung fand am 13. März 1899 im São Carlos statt. Ein Auszug für Gesang und Klavier wurde in Rio de Janeiro von einer großen Gruppe von Bewunderern veröffentlicht (ähnlich wie bei der Symphonie „A Pátria“ („Das Vaterland“) von Viana da Mota), mit Illustrationen von Roque Gameiro, Columbano Bordalo Pinheiro und anderen.

Alfredo Keil „A Serrana“ scene II, Act 2, Júlia Coelho, soprano,  Taylor Burkhardt pianist Whitmore recital Hall Columbia, Missouri 2015/ youtube

Während dieser Zeit widmete sich Aldredo Keil weiterhin der Malerei. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem seinen Sammlungen von Kunstwerken, insbesondere seiner berühmten Musikinstrumentensammlung. Diese umfasste bis zu 400 verschiedene Stücke und ist heute Teil der Sammlung des Museu de Música in Lissabon. Zu seiner wertvollen Gemäldesammlung gehörten ein Goya, ein Luca Giordano, ein Bruegel und zahlreiche portugiesische alte Meister. Seine prächtige Bibliothek umfasste eine Reihe seltener Werke, darunter Manuskripte, einige mit Buchmalerei. Er selbst veröffentlichte die Bände Breve Notícia da Colecção Keil – Instrumentos de música (1904) und Colecções e Museus de Arte de Lisboa (1905).

Alfredo Keil war ein Mann, der die Zuneigung und Wertschätzung von Institutionen und einfachen Menschen gleichermaßen genoss. Diese Universalität, die von allen Schichten des Landes in Anspruch genommen wurde, führte zur Komposition einer Reihe von Gelegenheitswerken, wie dem Hino do Infante Dom Henrique und dem Marcha de Gualdim Pais. Die lyrische symphonische Dichtung A Índia (ursprünglich als Oper gedacht, die jedoch nie vollendet wurde) wurde von der Geographischen Gesellschaft in Auftrag gegeben, um den vierhundertsten Jahrestag der Entdeckung Indiens durch Vasco da Gama im Jahr 1898 zu begehen (die Komposition wurde wegen fehlender finanzieller Mittel eingestellt).

Bei seinem frühen Tod am 4. Oktober 1907 hinterließ Alfredo Keil ein unveröffentlichtes Buch mit Versen, Zeichnungen und Liedern, die er alle selbst angefertigt hatte und die ein Jahr später unter dem Titel Tojos e Rosmaninhos („Ginster und Rosmarin“) veröffentlicht wurden. Ansonsten hinterließ er Skizzen für eine weitere Oper, Simão, o Ruivo, und eine große Anzahl kleiner Vokal- und Instrumentalstücke. (Quelle Wikipedia Poirtugal).

 

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Roque Gameiro/Denise Pereira & Gerald Luckhurst, “Alfredo Keil e Luigi Manini: Os sons e os tons da didascália operática” in Alfredo Keil em Sintra: 100 anos depois, Câmara Municipal de Sintra, (Exhibition catalog), 2007

Soweit die Bio. Nun aber endlich zur Oper selbst: Am  13. März 1899 wurde also  im S. Carlos Theater in Lissabon A Serrana, ein lyrisches Drama in drei Akten mit einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, basierend auf dem Roman Como Ela o Amava, von Camilo Castelo Branco Real Teatro de São Carlos uraufgeführt.  Es ist die erste moderne Oper mit einem Libretto in portugiesischer Sprache, die auch populäre Melodien enthält. Es wurde Keils bekannteste Oper sowie ein „echt nationales“ Repertoire-Stück. Obwohl das Libretto ursprünglich in portugiesischer Sprache verfasst war und Keil angedeutet hat, dass er die Musik auf der Grundlage des Textes in dieser Sprache geschrieben hat, wurde die Oper, wie alle ihre Gegenstücke von portugiesischen Komponisten, die im 19. ein Ensemble, dem einige berühmte Sänger der damaligen Zeit angehörten, darunter die Sopranistin Eva Tetrazzini, Ehefrau des Orchesterdirektors Cleofonte Campanini, und der Bariton Mario Ancona, eben – de rigeur –  in Italienisch gegeben.

In der Widmung an Massenet (einen Freund des Komponisten), die am Anfang der Partitur steht, erwähnt Keil Serrana als die erste Oper, die mit einem portugiesischen Text gedruckt wurde, und die 90 Subskribenten, die die Ausgabe finanziert haben, bezeichnen sie als „die erste moderne Oper, mit der die ‚Vulgarização da Musica Portugueza‘ beginnt„. Nach der Tradition des 19. Jahrhunderts ist dies die Partitur, die in der Öffentlichkeit das Bild der Oper prägt und sicherlich zu ihrer Identifizierung als Nationaloper beigetragen hat.

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Columbano Bordalo-Pinheiro/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Es dauerte jedoch bis 1909, ein Jahrzehnt nach der Uraufführung und zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten, bis der Impresario Afonso Taveira die Oper in der Sprache, in der sie ursprünglich geschrieben wurde, auf die Bühne des Theaters von Trindade brachte.  Zu dieser Zeit erkannte A Illustração Portuguesa die Oper als Keils populärste an (was sich sicherlich auf die Tatsache bezog, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt fünf Mal aufgeführt worden war) und auch als „echt national“. Diese Popularität wird sich im 20. Jahrhundert widerspiegeln, denn Serrana war sicherlich die meistgesungene portugiesische Oper. Zwischen 1900 und 1979 gab es neun Spielzeiten im Teatro de S. Carlos, vier Spielzeiten im Coliseu bis 1965, im Teatro de S. João do Porto im Februar 1901, im Teatro da Trindade 1909 und dann, in den sechziger Jahren, durch die Companhia Portuguesa de Opera, die es in der portugiesischen Fassung zu einem ihrer Repertoirewerke wählte, sowie 1979 im Teatro Rivoli in Porto. Eine semi-konzertante Aufführung findet sich zudem 2015 im amerikanischen Columbia/Missouri.

2002 und 2019 erfolgten zwei weitere Aufführungen in Lissabon (in portugiesich), letztere ist bei youtube nachzuerleben (in halligem Sound, Maria Pia Jonata singt die Titelpartie, Donato Renzetti dirigiert am Teatro Nacional de São Carlos). Gleich nach der Uraufführung in Lissabon brachte das tüchtige Hamburger Opernhaus eine deutsche heraus. Eine im Netz erwähnte erste und einzige deutschsprachige konzertante Nachkriegs-Aufführung (stark gekürzt in der Originalsprache) vom WDR stammt vom 15. 5. 2005 (wie der Bonner Generalanzeiger am 17. 5. 2005 titelt: Konzertante WDR-Produktion von Alfredo Keils „Serrana“ im!!! Bonner Opernhaus.“). Davon gibt es keine weiteren Informationen (außer der Info der Radiozeitung Hör Zu, wie ein Leser herausgefunden hat: Günter Lamprecht und Claudia Amm sind die Sprecher, und es singen Laura de Souza, Ricardo Tamura sowie Juan-Carlos Mera-Euler mit Helmuth Froschauer am Pult des Rundfunk-Orchesters und -Chores). Der Musikverlag Schott, bei dem  bei der Hamburger Erstaufführung die deutschen Rechte lagen, findet nichts im Archiv.  (G. H.)

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Alfredo Keil: „Serrana“/ Bühnenbildentwurf von Manuel Macedo für Alfredo Keil/ TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Im Gegensatz zu den früheren Opern Dona Branca und Irene, die beide ein historisches Thema behandeln und von den Vorbildern der Grand Opéra beeinflusst sind, behandelt Serrana Probleme, die mit dem Leben der Bauern eines Dorfes in der Umgebung von Serra da Estrela verbunden sind.

Wie ihre Vorbilder aus dem späten 19. Jahrhundert verbindet Serrana Elemente, die von der romantischen Oper übernommen wurden, mit anderen, die für die literarischen Strömungen des italienischen Naturalismus charakteristisch sind – verista oder Realisten -, die den meisten dramatischen Werken ab 1870 ihren Stempel aufdrückten.

Romantische Stereotypen werden besonders deutlich in der Organisation des dramatischen Raums: Akt I spielt im Freien, während des Morgens, in einer Taverne mit Tischen; Akt II spielt im Inneren eines wohlhabenden Hauses, während einer stürmischen Nacht, und Akt III spielt am Morgen des nächsten Tages, ebenfalls im Freien. Wir beobachten also eine Entwicklung vom offenen und bukolischen Raum des ersten Aktes zum geschlossenen und intimen Raum des zweiten Aktes und eine Rückkehr zum offenen Raum im dritten Akt, der nun beunruhigend und bedrohlich ist.

Die Dialoge zwischen dem Chor und den verschiedenen Figuren im ersten Akt repräsentieren das Gefühl der Feindschaft zwischen den beiden rivalisierenden Dörfern, während Peter und Zabel im zweiten Akt in einer intimeren Atmosphäre ihre Liebesgefühle zueinander ausdrücken.

Alfredo Keil/ Gedenkstein in Lissabon/ Wikipedfia

In der Beziehung zwischen den drei Akten von Serrana finden wir auch andere der in der italienischen romantischen Oper üblichen Strukturen: Akt I als racconto, die Schilderung der Vergangenheit, aus der die in der Gegenwart erlebte Situation entstanden ist – hier die alte Feindschaft zwischen den Dörfern, Pedro, Zabels erste Leidenschaft, dessen Eifersucht, als er erfährt, dass Zabel mit Marcelo nach Brasilien geht, und das Versprechen, das Lager zu boykottieren – der zweite und dritte Akt sind die eigentliche Entfaltung des Dramas, wobei das charakteristische Liebesduett im zweiten Akt zu finden ist.

In der engen Verbindung zwischen den raphaelischen Elementen der äußeren Natur und der Entfaltung des Dramas wird der Einfluss der französischen Oper besonders deutlich. Ein Beispiel dafür ist das Erscheinen einer Höhle und des Grabes von Petrus auf der Bühne, das von Nabor mit einem groben Holzkreuz markiert wird (III). Der Sturm (II),26 ein allgemeines Symbol für das Herannahen der Tragödie, ist auch eine Projektion der Gemütszustände und der gequälten Leidenschaften, die die Figuren beleben und die aufgrund ihres spektakulären Charakters auf der Bühne ein sehr häufiges dramatisches Mittel im gesamten neunzehnten Jahrhundert darstellen. Es handelt sich im Grunde um eine „Rhetorik der dramatischen Räume“.

Einige der aufgezeigten Merkmale finden sich auch in einer Reihe von Opern aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – insbesondere in Bizets Carmen und Puccinis Manon Lescaut.  Die dramatischen Themen der tinte forti, die in der Literatur und im Theater der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts präsent waren, leiteten den Übergang von einer romantischen zu einer realistischen Ästhetik ein, was sich unmittelbar in der Oper jener Zeit niederschlug. Eines der Werke, die am meisten zum Erscheinen dieses neuen Genres beitrugen, war Bizets Carmen, in der die Heldin zum ersten Mal eine Frau von niedrigem sozialen Status ist und in der die Gewalttätigkeit von D. Josés Verbrechen aus Leidenschaft auf der Bühne zu sehen ist.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Szene Aufführung 1909 am Teatro de la Trinidade/ Wikipedia

In Serrana sind das Thema der Auswanderung aus dem portugiesischen ländlichen Umfeld nach Brasilien, auf das im ersten Akt Bezug genommen wird, die Anwesenheit des Dorfältesten von Malhada (die typische Figur des weisen Dorfältesten – Nabor), die Tatsache, dass die Hauptfiguren dem ländlichen Umfeld angehören, die Verwendung einer für die Region Beira Baixa typischen Sprache und der Gebrauch von Sprichwörtern, die versuchte Vergewaltigung, die Präsenz traditioneller portugiesischer Instrumente wie der Adufe und der Gitarre auf der Bühne oder auch die Bezugnahme auf Aspekte, die mit dem täglichen Leben eines portugiesischen Dorfes verbunden sind, wie die Schafzucht, die Arbeit der Spinnerinnen  oder die Adlerjagd , sind alles Elemente, die es dieser neuen Ästhetik näher bringen.

Aus symphonischer Sicht ist der interessanteste Aspekt in Serrana das Vorhandensein eines symphonischen Intermezzos, mit dem der 3. Akt beginnt und das dazu dient, den Tod von Peter zu beschreiben. Diese Art von Stücken taucht in den Opern der Komponisten der Giovane Scuola als Antwort auf den Symphonismus in Wagners Werken auf und steht auch im Zusammenhang mit dem Aufkommen deskriptiver musikalischer Elemente in der italienischen Oper. Abgesehen von kleineren Bemühungen von Komponisten wie Smareglia (La Falena, 1897-1905) oder Franchetti (Germania, 1902) um eine Wiederbelebung der Wagnerschen Tradition sind bedeutendsten Werke unter diesem Gesichtspunkt  die von Komponisten, die mit dem Verismo verbunden sind – L’amico Fritz (1891), Guglielmo Ratcliff (1895) und Cavalleria rusticana, (1890) von Mascagni oder auch Le Villi (1884) und Manon Lescaut (1893) von Puccini. Die beiden Orchesterintermezzi in Le Villi werden von Texten begleitet, die den Verrat von Roberto, den Tod von Anne bzw. die Legende von Villi beschreiben, und in Manon Lescaut beschreibt das Intermezzo im dritten Akt die Verhaftung von Manon und ihre Reise zum Hafen von Le Havre.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Postkarte/ priv coll.

Das Sturm-Intermezzo in Serrana ist ein programmatisches Stück, das sich anhand der Didaskalien, die die Partitur begleiten, in mehrere Momente unterteilen lässt. Zu diesen gehören chromatische Skalen, meist absteigend, sowie eine Reihe von Akkorden, die mit punktierten Rhythmen artikuliert werden, von denen einige diminutiv sind. Dieser Moment erinnert an Wind, Donner und sintflutartigen Regen, Elemente, die bereits im zweiten Akt zu spüren waren.

Um dem Zuschauer ein größeres Gefühl der Authentizität zu vermitteln, verwendet die realistische Oper eine Reihe von Referenzen, die zu einem Bewusstsein der Umgebungen führen, die das Werk darstellen will: Volkstänze und Lieder einer bestimmten Region, dionysische Gesänge (Marcelos Lied „Eva lá no paraíso“, ein Beispiel für das typisch französische chanson à boire), sowie Litaneien, religiöse Hymnen, Prozessionen und malerische Chöre. Die Prozession von Serrana, ein religiöses Element am Ende des ersten Aktes (mit dem ein Choral verbunden ist), erfüllt nicht nur eine dramatische Funktion – den Gegensatz zwischen dem Kampf der Kriegsparteien und der anschließenden Vereinigung durch die Religion -, sondern bringt auch ein starkes Element des Lokalkolorits ein. 

 

Zum Inhalt/Personen: Zabel, Serrana (dramatischer Sopran) PEDRO, Bauer von Alfatema (Tenor) Marcelo, Bauer von Malhada (Bariton) Nabor, alter Major (Bass) Manuel, Dorfbewohner von Malhada (Bass) ANDRÉ, Sänger (Tenor) Um Pastor (Tenor).

Alfredo Keil/ Illustration zu seiner Oper „Donna Branca“/Wikipedia

Akt I – Die Handlung spielt im Jahr 1820 in dem kleinen Dorf Malhada, das in der Serra da Estrela liegt. Die Männer streiten sich heftig über alte Rivalitäten zwischen den Dörfern, die nun wieder aufleben, da Pedro, aus dem Dorf Alfatema und erste Liebe von Zabel (der Serrana), geschworen hatte, das Fest zu ruinieren, das an diesem Tag anlässlich des Festes von S. Silvestre, dem Schutzheiligen von Malhada, stattfinden sollte. Auslöser für Pedros Revolte war die Nachricht, dass Marcelo, Zabels derzeitiger Lebensgefährte, aus Eifersucht und dem Wunsch, sein Vermögen zu vergrößern, beschlossen hatte, nach Brasilien auszuwandern und das Mädchen mitzunehmen. Obwohl der alte Nabor zur Ruhe mahnt, gelingt es Marcelo, eine Gruppe von Bauern davon zu überzeugen, Pedro und seine Gefährten gewaltsam an der Ausführung ihres Vorhabens zu hindern. Um die Gemüter zu beruhigen, bietet Nabor Marcelo ein Glas Wein an und er stimmt das dionysische Lied „Eva im Paradies“ an. In der Zwischenzeit nähert sich eine Gruppe von Sängern, angeführt von Zabel, und auf Wunsch aller singt sie gemeinsam mit André das Aufforderungslied „Sie nennen mich Rosa nos Montes“.

Dann erscheinen die Bauern aus dem rivalisierenden Dorf Alfatema, angeführt von Pedro. Marcelo und seine Männer gehen zu der Brücke, die die beiden Dörfer trennt, während Pedro, der sich nähert, Marcelo herausfordert. Die beiden Rivalen stehen sich mit vorgehaltener Waffe gegenüber, als Zabel eingreift und sich zwischen die beiden Männer stellt. Mit netten Worten gelingt es ihr, Marcelo zu beruhigen.

Er vereinbarte heimlich ein Treffen mit Pedro für diese Nacht. In der Zwischenzeit geht der Kampf wieder los, der nun von Nabor unterbrochen wird, der die rivalisierenden Gruppen trennt. Die Glocken rufen zur Prozession und alle stimmen ein Loblied auf den heiligen Schutzpatron an.

Alfredo Keil/ „A Portugueza“, die spätere Nationalhymne Portugals/ Wikipedia

Akt 2 – Nachts, im Haus von Marcelo, gehen Zabel und die Spinnerinnen ihrer Arbeit nach, während in den Bergen ein Sturm aufzieht. Verängstigt durch den Sturm verschwinden die Spinner und lassen Zabel allein zurück. Sie fragt sich, was sie für Pedro empfindet, als er auftaucht. Das Mädchen läuft ihm in die Arme, gesteht ihm ihre Liebe und bereut den Moment, als sie sich von Marcelos Reichtum verführen ließ. Die beiden beschließen, wegzulaufen und weit weg von diesem Ort zu leben, als Marcelos Stimme in der Ferne zu hören ist. Zabel beeilt sich, das Gold in ihre Tasche zu packen, wird aber von Pedro ermahnt, der ihr sagt, dass sie dafür keine Zeit hat. Als er durch das Fenster flieht, um nicht von Marcelo überrascht zu werden, schlägt Pedro mit dem Kopf auf einen Stein, was seinen Tod zur Folge hat. Der betrunkene Marcelo bricht die Tür auf, dringt in das Haus ein und versucht, Zabel zu vergewaltigen, die ihn mit einem Messer bedroht und entkommen kann.

Alfredo Keil: „Serrana“/ der Musikwissenschaftler Luis Raimundo hat zu der Oper geforscht und den nachstehend erwähnten Artikel von 2002 verfasst/ link

Akt 3 – Am Morgen findet Nabor die Leiche von Pedro. Verärgert begräbt er ihn in der Nähe einer Höhle und stellt ein grobes Holzkreuz auf. Der alte Mann fragt die Hirten, was passiert ist, aber sie können ihm nichts sagen. Von einer tiefen Traurigkeit geplagt, stimmt Nabor ein Vaterunser an. Zum Erstaunen aller erscheint Zabel auf den Felsen und sieht dement aus. Sie erkennt Nabor nicht, der sie stützt und tröstet und sie an die glücklichen Zeiten mit Peter erinnert.

Angesichts des Entsetzens von Nabor und Zabel kommt Marcelo mit der Waffe in der Hand, bereit, das Mädchen zu töten, das er des Ehebruchs und des Diebstahls beschuldigt. In einem kurzen Moment der Reue bittet er Zabel jedoch, es sich noch einmal zu überlegen und sagt ihr, dass er sie immer noch liebt. Aber die Serrana wirft ihm hasserfüllt die Goldkette vor die Füße und ruft: „Ich widere dich an“. Um das Schlimmste zu verhindern, versucht Nabor, das Mädchen zu schützen, aber Marcelo stößt ihn gewaltsam weg und schießt. Der tödlich verwundete Zabel kriecht zum Grab von Pedro, küsst die Erde und stirbt. Als Marcelo erkennt, welches Verbrechen er begangen hat, flieht er entsetzt.

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Der portugiesische Musikwissenschaftler Luis Raimundo hat sich in der Revista Portuguesa de Musicologia 2000 mit der Oper beschäftigt, der vorstehende Artikel beruht auf seinem Beitrag ebendort; (Raimundo, Luis: «Für eine dramaturgische und stilistische Lektüre von Serrana von Alfredo Keil». Lissabon. Portugiesisches Journal für Musikwissenschaft: 227-274.  Wir danken für seine außerordentlich liebenswürdige Hilfe, die auch die Bereitstellung einiger  Illustrationen umfasst.  Übersetzungen aus dem Portugiesischen Luisa Ferreira

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Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier

Kenneth Montgomery

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Mit großem Bedauern lasen wir vom Tode des britischen Dirigenten Kenneth Montgomery OBE (28. Oktober 1943 – 5. März 2023). Viele seiner Aufnahmen, ob nun offizielle oder (überwiegend) inoffizielle vom Radio zieren die Sammlungen der Musikfreunde, vor allem die Früchte seiner Arbeit in Amsterdam, wo er lange Jahre für herausragende Aufführungen sorgte. Ob nun Johann Christian Bach (sein Amadis gehört zu meinen absolute Lieblingsaufnahmen) oder Händel, Donizetti et al: Seine energische, dichte Orchesterbehandlung, sein Drive und sein Verständnis für die Musik zeichnen alle seine Dokumente aus. Mit seinem Tod ist die Musiklandschaft ärmer geworden. G. H.

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Dazu nun die englische Wikipedia: Als einziges Kind von Lily und Tom Montgomery wuchs er in Wandsworth Parade, Belfast, auf und besuchte die Royal Belfast Academical Institution. Sein Musikstudium absolvierte er am Royal College of Music. Er studierte bei Adrian Boult und setzte später seine Dirigierstudien bei Hans Schmidt-Isserstedt, Sergiu Celibidache und Sir John Pritchard fort. Zu seinen ersten Engagements als Dirigent gehörte die Arbeit an der Glyndebourne Festival Opera, wo er als Assistenzdirigent, Assistenz-Chorleiter und Probenpianist tätig war. Später gehörte er dem Dirigentenstab der Sadler’s Wells Opera an.

Im Jahr 1973 wurde Montgomery Musikdirektor der Bournemouth Sinfonietta. Von 1975 bis 1976 war er Musikdirektor der Glyndebourne Touring Opera und blieb dem Ensemble als Gastdirigent erhalten. 1985 wurde er sowohl künstlerischer als auch musikalischer Leiter der Opera Northern Ireland. Beim Ulster Orchestra war Montgomery als erster Gastdirigent tätig, und im September 2006 ernannte ihn das Orchester mit Wirkung vom September 2007 zu seinem Chefdirigenten – der erste in Belfast geborene Musiker, der zum Chefdirigenten des Orchesters ernannt wurde. Er beendete seine Tätigkeit als Chefdirigent des Ulster Orchestra am Ende seines Dreijahresvertrags im Jahr 2010.

Außerhalb des Vereinigten Königreichs wurde Montgomery 1975 zum Chefdirigenten des Niederländischen Radio-Sinfonieorchesters ernannt und bekleidete dieses Amt von 1985 bis 1989 auch unter dem neuen Namen Netherlands Radio Symphony. Später wurde er zum Leiter des Niederländischen Rundfunkchors (Groot Omroepkoor) ernannt. Im Jahr 1991 wurde er Leiter der Opernstudien am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Er lebte weiterhin in den Niederlanden, wo er im Jahr 2023 starb.

Ab 1982 war Montgomery regelmäßiger Gastdirigent an der Santa Fe Opera (SFO).  Im Mai 2007 ernannte die Santa Fe Opera Montgomery zu ihrem Interims-Musikdirektor als Nachfolger von Alan Gilbert. Montgomerys Amtszeit als Interims-Musikdirektor endete nach der Spielzeit 2007 mit der Ernennung von Edo de Waart zum Chefdirigenten der SFO mit Wirkung vom 1. Oktober 2007. Im April 2013 wurde Montgomery zum Ehrendirigenten der SFO für die Spielzeit 2013 ernannt.

Montgomery wurde bei den Neujahrsehrungen 2010 zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt. Er starb am 5. März 2023 im Alter von 79 Jahren. (Foto kennethmontgomery.net)

Schlammschlacht bei Wagners

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Ist es ein Zufall, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Biographien über zwei Wagner-Frauen erschiene? Über Cosima W. (wenngleich diese nun mehr als vielfach in Biographien porträtiert wurde) und ihre Tochter Isolde. Es macht nach unserer Meinung Sinn, die beiden Bücher in einer Präsentation zu besprechen, war doch die Beziehung zwischen beiden problematisch. G. H.

So schreibt der herausgebende Suhrkamp Verlag mundig:(…) „Cosima wollte für ihre Tochter nur das Beste – nämlich eine gute Partie. Die war der Musiker und Dirigent Franz Beidler, den Isolde im Dezember 1900 heiratete, nicht. Ihm fehle die »vornehme Gesinnung« – so Cosima, die ihn vom Bayreuther Hügel verbannte. Isolde rächte sich, als sie der Mutter zukommen ließ, ihr geliebter Sohn Siegfried sei homosexuell – damals ein schweres Vergehen. Die Folge: Isolde wurde die Herkunft als Tochter Richard Wagners aberkannt und ihr Sohn damit enterbt. Eine beispiellose Schlammschlacht begann.“ 

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Vor zehn Jahren befasste Eva Rieger sich mit dem Schicksal der Wagner-Enkelin Friedelind, nun ist ihr neuestes Buch erschienen und ist der Wagner-Tochter Isolde gewidmet (Isolde – Richard Wagners Tochter im Insel Verlag). Beiden Nachkommen gemeinsam ist der ihr gesamtes Leben überschattende Zwist mit den in Wahnfried ansässigen und die Festspiele leitenden Wagners, beiden gemeinsam ist aber auch die offensichtliche künstlerische Begabung, die Isolde nie ausbilden, geschweige denn vor den Augen der Welt offensichtlich machen konnte, während Friedelind, eine Generation weiter, eher an ihrer Unfähigkeit , mit Geld umzugehen, scheiterte. Während Friedelind um ihr Erbe kämpfte, stritt Isolde um den Namen Wagner. Während sie gezeugt wurde, war ihre Mutter Cosima bereits die Geliebte Wagners, lebte aber noch, wenigstens zeitweise, mit ihrem Gatten, dem Dirigenten Hans von Bülow, unter einem Dach. Auch ihre Geschwister Eva und Siegfried wurden geboren, ehe Cosima und Richard einander heiraten konnten, die Eintragung Siegfrieds beim Standesamt wurde erst nach der Scheidung und Wiederverheiratung Cosimas vorgenommen.

Das Buch von Eva Rieger liest sich wie ein spannender Roman, genügt aber streng wissenschaftlichen Ansprüchen, indem er im Wesentlichen aus Briefen, Zeitungsartikeln, Bekenntnissen besteht, die geschickt zu einer fortlaufenden Handlung miteinander verknüpft werden und so das Werk zu „Eine(r ) unversöhnliche(n) Familiengeschichte“ machen. Geht es einmal ins Reich der Spekulation, dann wird das auch mit einem „vielleicht“ betont. Da gerät der Leser immer wieder ins Staunen darüber, wie viel Schriftliches die damalige Generation verfasste, aufbewahrte und damit der Nachwelt zukommen ließ. Bewundernswert ist auch die Beherrschung der Sprache, die manchen Brief geradezu zu einem literarischen Kunstwerk werden lässt. Genauso bemerkenswert ist aber auch die Gefühlsseligkeit, ist das Pathos, das aus den Briefen zum heutigen Leser spricht, so dass er fast beschämt darüber ist, so tief in das Gefühlsleben fremder Menschen einzudringen, die ihm mit zunehmender gelesener Seitenzahl immer vertrauter werden.

Für Isolde scheint das Leben zunächst nur Positives bereit zu stellen, sie gilt als „Lieblingstochter“, als „wunderliches Wunderkind“, nach zwei Halbschwestern, deren Vater der ungeliebte von Bülow ist, als erstes in Leidenschaft empfangenes und mit Freude geborenes Kind Cosimas, wenn auch „nur“ ein Mädchen. Und so wird auch nur für den nach vier Mädchen geborenen Siegfried Wert darauf gelegt, dass er auch für das Standesamtsregister als Kind Wagners gilt.

Nicht nur die Wagner-Familie wird portraitiert oder portraitiert sich durch die überlieferten Zeugnisse selbst, auch viele berühmte Zeitgenossen wie natürlich der Großvater Franz Liszt oder Malwida von Meysenbug begegnen dem Leser, der natürlich, was die frühen Lebensjahre Isoldes betrifft, nur das akribisch aus Zeitzeugenberichten Herausgefilterte zur Kenntnis nehmen kann, der aber gerade darin die Redlichkeit der Verfasserin erkennt, die sich nicht in Spekulationen ergeht. Wenn sie einmal mutmaßt, Isolde habe eine Aufführung besonders genossen, dann lässt sich das durch die Zeichnungen, die die Wagner-Tochter Jahre später davon anfertigte, schon fast beweisen. Ein kleiner Exkurs, der nicht von der Autorin zu verantworten ist, stellt Siegfried über Brünnhilde, eine fragwürdige Parallele zum Verhältnis des Wagner-Sohnes zu seinen Schwestern ziehend.             

Die Autorin Eva Rieger/ Wikipedia

Erfreulich ist auch der umfangreiche Bildteil, in dem auch Isoldes Kostümentwürfe für die Blumenmädchen in Parsifal zu sehen sind und der beweist, dass sie nicht nur die begabteste, sondern auch die attraktivste der vier Cosima-Töchter war. Ein bisschen dünn ist die Beweislage für die Behauptung, Isolde „blieb… unbeirrt in ihrer Suche nach einem Lebensinhalt“, und deutet sich bereits das nächste Buch von Rieger mit folgendem Absatz an:“Die schwärmerische Idealisierung von Diven durch homosexuelle Männer ist ein Phänomen, das bislang wissenschaftlich nicht eindeutig erklärt werden kann“?

Sehr bald taucht am Horizont mit Houston Chamberlain eine verhängnisvolle Figur auf, der nacheinander der verwitweten Cosima, Isolde und, schließlich mit Erfolg, Eva den Hof macht und einen extremen Antisemitismus in das ohnehin nie den Juden zugetane Wahnfried bringt. Noch ist das Verhältnis zwischen Cosima und Isolde gut, bittet die Tochter die Mutter, ihr bei der „Wegfindung“ zu helfen. Sie heiratet den Dirigenten Franz Beidler, der, selbst hochbegabt, dem angeblichen Genie Siegfried, weder dem Komponisten noch dem Dirigenten, angemessen huldigen mag und deshalb aus dem Festspielhaus verbannt wird, in Russland, England oder Spanien sein Auskommen suchen muss. Da ihm Isolde dorthin nur selten folgt, gibt es einen interessanten Briefwechsel zwischen den beiden Gatten, von dem das Buch profitieren kann. Zum endgültigen Bruch und um einen Prozess um den Namen Isoldes kommt es, nachdem die Homosexualität Siegfrieds ins Spiel gebracht wurde, ihre Gegner Isolde am liebsten in eine Nervenklinik einweisen lassen würden. Das empört die Autorin so sehr, dass sie sich zu einem unbewiesenen „Das (die Offenlegung der Homosexualität Siegfrieds) hätte Isolde niemals zugelassen“, hinreißen lässt. In diesem Konflikt sieht die Verfasserin und sie belegt es eindrucksvoll, entgegen der bisherigen Meinung nicht nur ein „erbrechtliches Kalkül“, sondern den Versuch, den Sohn Isoldes generell von der Erbfolge auszuschließen. Schließlich war er bis zur späten Ehe Siegfrieds und der Geburt Wielands der einzige Enkel Wagners.

Was am Schluss des Buches die Zuordnung von Kaiserreich und Nazizeit zum Männlichen, der Weimarer Republik zum Weiblichen soll, ist nicht ganz auszumachen und eigentlich überflüssig, mindert aber den Wert des Werks nur geringfügig. Bibliographie, Abkürzungsverzeichnis, Bildnachweise, Personenregister, Stammtafel und Bilderverzeichnis vervollständigen den Band (Eva Rieger: Isolde – Richard Wagners Tochter, Insel Verlag 2022, 345 Seiten, ISBN 978 3 458 64292 3). Ingrid Wanja 

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Dazu aber auch Achim Bahr von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft:  Ignoranz und Unwissenheit –  ein Beispiel dafür, wie durch Ignoranz und Unwissenheit gerade in Bezug auf Siegfried Wagner Fehler erzeugt und kolportiert werden, gibt Eva Rieger in ihrem neuen Buch: Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte. Darin zitiert sie aus einem Brief Isolde Beidlers an ihre Schwester Eva Chamberlain: »›Das war ein Müssen‹, war ›Herzensgebot‹!« und erläutert die Zitate [Plural!] in Fußnote 46: »Zitat [Singular!] aus Meistersinger, III. Akt.« Dies bezieht sich freilich nur auf das erste Zitat in dieser Briefstelle, das zweite erkennt sie gar nicht und verwechselt es anscheinend sowieso mit einer Stelle aus dem II. [!] Akt Meistersinger (»Lenzes Gebot, die süße Not …«). Sie weiß ganz offensichtlich nicht, dass es sich hierbei eindeutig um ein Zitat aus einer Oper von Siegfried Wagner handelt: STERNENGEBOT (op. 5, 1906), Schluss des 3. Aktes: Höher als aller Sterne Gebot waltet ein Zweites: Des Herzens Gebot! Der Kontext dieses zweiten Zitats würde Eva Rieger einen zusätzlichen Aspekt der Situation ermöglichen, die sie an dieser Stelle ihres Buches beschreibt, so aber weder verstehen noch einordnen kann. Achim Bahr (in Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth)

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Und nun die Rezension zu Sabine Zurmühls Buch Cosima Wagner-Ein widersprüchliches Leben im Böhlau-Verlag: Widersprüchlich ist das Wort im Untertitel von Sabine Zurmühls Cosima-Wagner-Biographie, das das Interesse an seiner Lektüre wachruft, und es ist dasjenige, dem man widersprechen möchte, wenn man seine Lektüre beendet hat. Nachvollziehbar ist immerhin, dass als Widerspruch zur  bedingungslosen Anbetung des musikalischen Genies die Emanzipation der  von einer hochadligen Mutter abstammenden Katholikin, die aus einer Ehe ohne Liebe ausbricht und Jahre lang in wilder Ehe mit einem Bürgerlichen lebt, gesehen wird. Auch ihre souveräne Leitung der Bayreuther Festspiele nach Richard Wagners Tod spricht für ihre tatsächliche Emanzipation, wobei das Widersprüchliche immerhin darin gesehen werden könnte, dass sie die Emanzipationsbestrebungen der Frauen in ihrer Zeit eher ironisch kommentierte, statt sie zu unterstützen.

Das Buch erweckt zunächst den Anschein, wie eine Oper gegliedert zu sein, beginnend mit der Ouvertüre,  aus den Kosenamen Wagners für seine zweite Frau bestehend. Das wird aber nicht durchgehalten, es folgen Kapitelüberschriften, meistens nur aus einem Wort bestehend, so „Schreiben“, „Kindersorge“ oder „Gesundheit“, innerhalb derer chronologisch vorgegangen wird. Souverän werden umfangreiche Zitate aus Briefen, Tagebüchern, Aussagen von Zeit- und Weggenossen mit den Kommentaren der Verfasserin ineinander verschränkt. Und auch Träume sind es wert, von Cosima dargestellt und von der Verfasserin in ihren Text aufgenommen zu werden. Das „atemlose Leben“ der Cosima scheint über weite Strecken eine Atemlosigkeit der Sprache der Autorin zu provozieren, ein Aufeinandertürmen von Gegensätzen, leidenschaftliche Formulierungen wie „ja, sie war“- und es folgen die Vorwürfe, die man der unehelich geborenen, gar nicht hübschen, später zu Karikaturen provozierenden Liszt-Tochter machte.

Einfühlsam beschreibt Zurmühl die Zerrissenheit zwischen Französisch- und Deutschsein, später eine bedingungslose Hinwendung zum eigentlich „nur“ zweiten Heimatland. Nicht ganz verleugnet wird die feministische Grundstimmung der Verfasserin, aber diese führt nie dazu, die bedingungslose Hingabe, ja Selbstaufopferung ihres Forschungsgegenstands ins Lächerliche zu ziehen. Man gewinnt stattdessen zunehmend mit dem Fortschreiten in der Lektüre den Eindruck, noch nie zuvor habe sich eine Biographin Cosima Wagners ihrem Forschungsgegenstand gegenüber so fair verhalten, so fern von Schönfärberei wie von Verunglimpfung. Sympathisch müssen der Autorin die vielen Freundschaften gewesen sein, die Cosima (Nach einigen Skrupeln nennt sie sie durchgehend so und nicht, wie es den Männern zugestanden wird, mit ihrem Familiennamen.) in einem reichen Briefwechsel pflegte.

Zwei Wagner-Partien spielten für Cosima und damit auch für Zurmühl eine besondere Rolle: Fricka und Kundry. Einmal war es die Faszination des Gegensatzes zwischen Regelbruch, wie ihn Wotan verkörpert, und Prinzipientreue, für die Fricka steht, der Cosima interessierte und nicht minder die Autorin, zum anderen der Weg Kundrys, der im Dienen Ziel und Ende findet.

Die Autorin Sabine Zurmühl/ Wikipedia

Anschaulich berichtet Zurmühl von der Gestaltung von Festen, so des Cosima-Geburtstags mit Aufführung des Siegfried-Idylls, der Selbstinszenierung, in der auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt. Es bleibt nicht bei einer Darstellung, einer Beschreibung, sondern es werden Schlüsse gezogen wie der, dass Cosima das apollinische, Richard das dionysische Prinzip verkörpere.

An anderer Stelle kommt Zurmühl zum überzeugenden Fazit:“Cosima gehört damit zu den nicht seltenen Frauen der Oberschicht, die tagespolitisches Engagement für  Frauenfragen strikt ablehnen, in ihrer Lebensrealität aber das Rollenmodell selbst verkörperten, das die Frauenbewegung für die Masse der Frauen erst fordern musste“. Wenn Cosima Rechte wahrnahm, so waren noch viel  zahlreicher die Pflichten, denen sie sich freiwillig unterwarf und die die Autorin eindrucksvoll schildert. Dazu gehörte die Erziehung und Bildung der fünf Kinder, die Führung des Haushalts, die Beherbergung zahlreicher Gäste, darunter auch des Vaters Franz Liszt, die Vorbereitung von häufigen Reisen und Umzügen, das Notenschreiben , die Pflege von Verwandten und Gästen, das Heranschaffen von Sponsoren und vieles mehr. Nach Wagners Tod kam noch die Führung der Bayreuther Festspiele dazu, wo sie Regie führte, sich um Bühnenbilder, Technik und alles weitere kümmerte.

Ambivalent ist ihr Verhältnis zu den Juden. Tendenziell ist sie Antisemitin, bedauert aber die Schrift Wagners gegen das Judentum, pflegt durchaus auch herzliche, vorbehaltlose Kontakte mit einzelnen Juden. „Ich habe die besten Freunde unter Juden“, ist von ihr überliefert. Besonders interessant und von Zurmühl detail- und kenntnisreich dargestellt ist die Beziehung zum Parsifal-Dirigenten Levi, ausführlicher Betrachtung wert die zum Schwiegersohn Chamberlain. 

Natürlich muss der Zorn Zurmühls Felix Weingartner treffen, der sich in hässlicher Überheblichkeit über Cosima äußert. Der Verfasserin hingegen kann man bescheinigen, dass ihr völlig das Bestreben abgeht, Cosima von der hohen Warte der besserwissenden Spätgeborenen her zu beurteilen. So enthält sie sich auch im Unterschied zu anderen Biographen jeglicher Spekulation darüber, wie Cosima zu Hitler stand.  Und so kann es geschehen, dass man nach dem Lesen des Buches, das von Fakten und Quellen ausgeht und nicht von einer vorgefassten, zu bestätigenden Meinung,  zu einem sehr viel positiveren Urteil über die Heldin des Werks bereit ist, als es vorher der Fall war.       

Ein Nachwort von Monika Beer, dazu ein nochmal 55 Seiten umfassender Anhang vervollständigen neben vielen interessanten Fotos das Buch (360 Seiten, 2022 Böhlau Verlag Wien, ISBN 978 3 205 21501 1). Ingrid Wanja (Foto oben Bernd Meyer Stiftung mit Dank)

Pluspunkt lange Fassung

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Aus Kostengründen entstehen immer seltener Aufnahmen kompletter Opern im Studio – WARNER CLASSICS bildet da eine rühmenswerte Aufnahme. Denn nicht nur die zahlreichen Aktivitäten auf dem Barocksektor beim Label Erato ragen da heraus, auch italienische Standardwerke werden produziert, wovon die Aida von 2015 mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann zeugt. Sie wurde mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom unter Antonio Pappano aufgenommen.

An diesem Ort entstand genau vor einem Jahr die Einspielung von Puccinis Dramma lirico Turandot, die nun auf zwei CDs veröffentlicht wurde (5054197406591). Wieder wirken das aus der Aida-Aufnahme bekannte Orchester und sein Dirigent mit. Ihre Besonderheit bezieht die Ausgabe aus Pappanos Entscheidung, das originale Finale des Komponisten Franco Alfano komplett aufzunehmen. Nach Puccinis Tod 1924 hatte er das Schlussduett zwischen Turandot und Calaf auf der Grundlage von Puccinis Skizzen vollendet. Dirigent Arturo Toscanini allerdings veranlasste ihn zu Änderungen und Kürzungen. In dieser amputierten Fassung wird die Oper heute zumeist aufgeführt. 1999 gab es einen Versuch des italienischen Komponisten Luciano Berio für eine neue Finallösung, die 2002 uraufgeführt wurde, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Die prominente Besetzung der Neuaufnahme führt die Amerikanerin Sondra Radvanovsky an, die derzeit die Lady Macbeth am Liceu in Barcelona singt. Nach ihren Donizetti-Königinnen, der Norma, Medea, Manon Lescaut und Tosca erarbeitet sich die Sopranistin zielstrebig ein Repertoire, das ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit belegt. Sie legt die Prinzessin im Rahmen ihrer stimmlichen Möglichkeiten an, also nicht als hochdramatischer Sopran, sondern eher in der Nachfolge einer Sutherland und Caballé. Ihr Auftritt mit der fordernden Arie „In questa Reggia“ ist reich differenziert – von dunkler Glut, aber auch introvertierter Wehmut – und bestechend in der stimmlichen Fülle. In der Rätselszene, „Straniero, ascolta!“, klingt der Sopran zunächst geschärfter, nimmt aber zunehmend Töne der Verunsicherung an, gipfelnd in der inständigen und betörend gesungenen Bitte an ihren Vater, sie nicht diesem Fremden auszusetzen. Das Schlussduett „Principessa di morte!“ in der vollständigen Fassung Alfanos dauert nun fast zwanzig Minuten und ist eine vokale Herausforderung an die beiden Interpreten, gibt vor allem dem Kuss Calafs mehr musikalische Entfaltung. Radvanovsky lässt hier flirrende lyrische Töne vernehmen, welche die Verwirrung der Figur eindrücklich zeigen, muss aber dann eine hohe Tessitura bewältigen, was ihr gleichfalls souverän gelingt.

Wieder ist Jonas Kaufmann mit von der Partie, nach seinem Radamès nun als Calaf. Der Tenor singt mit zumeist wuchtiger Stimmgebung, klingt allerdings oft sehr guttural und gelegentlich auch erstickt. Das erste Solo, „Non piangere, Liù“, nimmt er anfangs sehr zurück und lässt erst am Ende starken Einsatz erkennen. Vehement ertönen seine Antworten auf Turandots Rätsel, doch der Spitzenton im Finale des 2. Aktes kann allenfalls als Angstschrei gewertet werden. Auch der populäre Hit „Nessun dorma!“ wirkt etwas forciert und könnte mehr Glanz haben. Das Schlussduett beginnt er in äußerster Erregung, offenbart auftrumpfend seinen Namen und singt gemeinsam mit der Titelheldin noch ein exponiertes  „Amore!“.

Antonio Pappano und Jonas Kaufmann bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ Warner/ youtube

Ein Trumpf der Besetzung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als Liù. Bekannt für ihre expressiven Rollenporträts der Violetta, Angelica und Butterfly, bietet sie auch als unglückliche junge Sklavin ergreifende Momente von innigen, flehentlichen Gesängen. Ihre erste Arie, „Signore, ascolta!“, besticht durch den feinen Schimmer und wunderbar aufblühenden Schluss. Zu Herzen gehend und exquisit gesungen sind ihre Soli im letzten Akt („Tanto amore“ und „Tu, che di gel sei cinta“).

Bekannte Namen finden sich auch für die Nebenrollen – Michele Pertusi als reifer Timur und als große Überraschung Michael Spyres als Altoum. Der amerikanische Tenor, auf dem Höhepunkt seines Könnens und selbst ein potentieller Vertreter für den Calaf, ist eine Luxus-Besetzung für den alten Kaiser. Er verstellt seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit und suggeriert mit ihr trefflich den schütteren Greis.

Mit gebührend schneidenden Akkorden eröffnet Pappano mit dem Orchester die Handlung. Michael Mofidian singt den Mandarino mit etwas dumpfem Bariton. Das charaktervolle Terzett der Minister bilden die Tenöre Gregory Bonfatti als Pang und Siyabonga Maqungo als Pong sowie der Bariton Mattia Olivieri als Ping. Mit starkem Einsatz und klangvollem Gesang bringt sich der Coro dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia (Piero Monti) ein. Pappano scheut nicht den Pomp und Bombast des monumentalen Werkes, bringt aber auch dessen musikalisches Raffinement und die reiche Farbpalette zu angemessener Wirkung. Bernd Hoppe

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PS: Nun gibt es kaum etwas zum ersten Mal. Und es wäre eine Unterlassung, erwähnte man nicht frühere Bemühungen um den originalen, ungekürzten Alfano-Schluss der Turandot. Denn die 1990 Aufsehen erregende CD von Josephine Barstow (Opera Finales bei Decca) enthielt unter Mitwirkung des italienischen Tenors Landon Bartolini eben diesen, sehr wirkungsvoll und Tenor wie Sopran in Bestform (für meinen Geschmack überzeugender als hier nun die Kollegen auf der neuen Warner-Aufnahme, aber de gustibus …).

Und unbekannt war Sammlern das Alfano-Finale nicht. Außer der Oper Bonn in den Neunzigern (Sophia Larson alternierte mit Linda Kelm) gab es die lange Fassung in Amsterdam 1993 (Linda Kelm und Nicola Martinucci, bei Sammlern), in Buenos Aires bereits 1983 (mit der unerschrockenen Adelaide Negri und Vincenzo di Bella, bei Sammlern), 1985 in Rom (mit Gwyneth Jones und Nicola Martinucci, bei Sammlern),  Athen ebenfalls 1983 (mit Giovanna Casolla und Alberto Cupido, bei Sammlern), 1985 in New York (City Opera, erneut Linda Kelm und John Frederic West, bei Sammlern), 1987 in Wien mit Gwyneth Jones und Giuliano Ciannella), 1997 in Bologna mit Jane Eaglen und Nicola Martinucci), 1989 an der Met (mit Eva Marton und Placido Domingo, auch als DVD), 2014 in Cagliari (Cristina Piperno und Frank Porretta), 2015 in Novara (mit Maria Billieri und Walter Fraccaro,  bei Sammlern), 2018 in Odessa (mit Tatjana Zakharchuk und Oleg Zlakoman,  bei Sammlern), und die Finnische Nationaloper schließlich 2019 (mit Satu-Kristina Vesa und Petri Vesa, Calàf Jukka Nykänen).

Sondra Radvanovsky bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ youtbube/ Warner

Aber die neue Warner-Einspielung in für mich wattigem Sound ist in der Tat die erste Studio-Einspielung mit dem Alfano-Ende. Wenngleich unter schwierigsten Umständen eingespielt, was den unbefriedigenden Klang erklärt. Wie Dirigent Pappano im Booklet andeutet, ist diese Turandot in  der Tiefe der Corona-Krise in Italien entstanden. Italien war ja besonders betroffen, und die Leichen stapelten sich auch in Rom. Die Aufnahme in der großen Halle von Santa Cecilia war geplant und konnte (oder wollte? aus Kostengründen?) nicht abgesagt werden. Es gab Masken auf den Gesichtern (bei youtube gibt´s einen clip dazu), der Chor sang in einem getrennten Raum, die Solisten in Teilen ebenfalls. Was die Aufnahme umso schwieriger machte und den mulschigen Klang erklärt. Man kann sich fragen, ob die kommerziellen (und vertraglichen) Erwägungen dieser Aufnahme den Markt nicht unnötig verstopfen, denn so schnell wird keine weitere Firma einen Alfano-Schluss aufnehmen, der ja das eigentliche Verdienst dieser hochbesetzten Turandot ist…  G. H.