Wolfgang Sawallisch

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Wolfgang SawallischComplete Opera Recordings. Eine neue Box bei Warner mit nicht weniger als 31 CDs entpuppt sich als ein spannendes Kapitel Schallplattengeschichte (5054197949463). Schon der Zeitraum des Entstehens der Aufnahmen, nämlich 1956 bis 1993, lässt nur diesen Schluss zu. Was ist in diesen Jahren nicht alles geschehen? Endgültig setzte sich die Stereophonie durch, die Schallplatte wurde durch die CD ersetzt. Die deutsche Teilung, die auch auf Besetzungslisten in Aufnahmestudios Spuren hinterließ, wurde 1990 durch die Wiedervereinigung überwunden. Sawallisch (1923-2013) gehörte also zu jener Dirigentengeneration, die sich gleich mehreren Herausforderungen stellen musste. Die Edition bildet das anschaulich ab, ohne dass die betreffenden Ereignisse, die auch Einschnitte waren, im Booklet alle dokumentiert sind. Das wäre gewiss zu viel verlangt. Musikfreunde und Sammler kennen sich aus, verknüpfen mit Tondokumenten zudem eigene Erlebnisse und Erinnerungen.

Platz eins der Sammlung belegt Mozarts Zauberflöte. Eine gute Wahl, auch wenn sie ganz zufällig getroffen sein dürfte. Ein Ordnungsprinzip für eine Reihgenfolge etwa nach Buchstaben oder Aufnahmejahr ist nicht zu erkennen. Für die Heraushebung spricht vieles. Doch was beim ersten Erscheinen für Aufsehen sorgte, hat mit den Jahren die Exklusivität verloren. Eingespielt wurde die Oper 1972 an acht Tagen im August im geschichtsträchtigen Bürgerbräu-Saal in München, der sieben Jahre Neubauten Platz machen musste. Sawallisch leitete Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper. Als Nachfolger von Joseph Keilberth hatte er das Amt als neuer Generalmusikdirektor seit einem Jahr inne. Produzent im Studio war Helmut Storjohann, dem die Electrola schon zahlreiche prominent besetzte Aufnahmen verdankte. „Quadrophonie“ prangte es wie ein Transparent noch über dem Titel auf dem originalen Plattencover. Damals der neueste Schrei, hat sich diese Technik der Mehrkanal-Aufzeichnung und -wiedergabe längst überholt und ist auch nicht mehr erwähnenswert. Unvergessen bleibt hingegen, dass die Stimme von Edda Moser als König der Nacht seit 1977 für „eine geschätzte Lebensdauer von 500 Millionen Jahren“ durchs Weltall schwebt, wie es auch Booklet-Autor Christoph Vratz vermerkt. „Ich bekam einen Brief aus Kalifornien“, zitiert Vratz die Moser aus einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Thomas Voigt, „ob ich einverstanden sei, dass meine Aufnahme auf die Platte der Voyager-Sonden könne. Das habe ich natürlich mit Freuden getan.“ Die Aufzeichnung sei morgens um zehn „in einem Rutsch“ gegangen. „Wollen Sie einen Probelauf, oder nehmen wir gleich auf?“, habe Sawallisch gefragt. Die Antwort: „Von mir aus gleich Aufnahme!“

In anderen Quellen stellt sich die offenkundig mehrfach erzählte Geschichte etwas anders dar. Wikipedia zitiert sie Sängerin aus einem Interview mit dem Forum-Forum von 2013: „An die Entstehung dieser legendären Zauberflöte erinnere ich mich noch sehr gut, die war wie ein Wunder. Mit Kurt Moll, Theo Adam, Walter Berry und Peter Schreier hatten wir damals ein komplett deutschsprachiges Ensemble, das alleine war schon außergewöhnlich. Mich hatte man als Königin der Nacht für diese Aufnahme engagiert. Ich kam dann nach München, da sagte mir der Produzent Helmut Storjohann: ‚Es gibt da ein kleines Problem: Frau Sawallisch möchte Sie nicht als Königin haben.´ Worauf ich fragte, was Frau Sawallisch mit der Aufnahme zu tun hätte? Daraufhin hat der von mir verehrte Helmut Storjohann gesagt: ‚Wenn die Edda die Königin der Nacht nicht singt, fällt die ganze Produktion aus!‘ Sawallisch hat dann in den sauren Apfel gebissen und fragte mich bei der ersten Sitzung etwas kühl, ob ich mit der ersten oder zweiten Arie anfangen möchte. Ich sagte, ich nehme gerne die zweite. Und in dieser Wut, die ich hatte, weil man mich nicht wollte, habe ich den ganzen Zorn in die Arie gelegt und in einem Take durchgesungen.“ Ob in Details so oder so – gut ist die Geschichte allemal.

Gewisse Vorbehalte gegen die Moser dürften sich auch daraus erklären, dass sie als Königin einen ganz neuen Typ verkörperte, nämlich die rasende verletzte Frau, die sich ihrer Tochter und ihres Erbes beraubt sieht, die sich nichts gefallen lässt und sich gegen die ihr feindlich gesinnte Männerwelt zu wehren weiß. Das passte in die frauenbewegte Zeit während der Einspielung, wurde von der Sängerin auch stimmlich überzeugend dargestellt – und verfehlte die Wirkung nicht. München war durch Erika Köth geprägt, die noch immer zum Ensemble der Staatsoper gehörte. Sie hatte die Königin im In- und Ausland mehr als 270 Mal gesungen. Ihre Interpretation war stilistisch mehr oder weniger immer die gleiche geblieben, die Koloraturen wie in Stein gemeißelt. Generationen wollten es so und nicht anders hören. Ich lege sie immer wieder gern auf, staunen, wie man so perfekt singen kann wie sie. Zufall oder nicht. Edda Moser ließ bei der Aufzählung der Mitglieder des von ihr geschätzten deutschsprachigen Ensembles Anneliese Rothenberger weg. Die war als ihre Tochter Pamina fast zwanzig Jahre älter als die Mutter. Und das hört man auch. Nicht, dass sie ihre Partie technisch nicht bewältigte. Sie kann sich aber nicht glaubhaft einbringen, wirkt wie ein Fremdkörper – in den gesprochenen Dialogen noch mehr als im Gesang. Die Betonfrisur ist etwas verrutscht. Für die Rothenberger kommt die Aufnahme eindeutig zu spät.

Was die Einspielung von allen anderen unterscheidet, wäre auch bei der neuen Ausgabe durch Warner eine Bemerkung wert gewesen. Wer die Zauberflöte als solche verinnerlicht hat und diese Aufnahme nicht genau kennt, dürfte bei Track 4 auf CD 2 aufhorchen: „Pamina, wo bist du?“ Mit dieser Frage stimmt Tamino (Peter Schreier) ein unbekanntes Duett mit Papageno (Walter Berry) an. Was hat es damit auf sich? Im Nachtragsband zur Neuen Mozart-Ausgabe würden auch verschiedene unter dem Namen Mozart überlieferte Kompositionen als „Werke zweifelhafter Echtheit“ zur Diskussion gestellt, klärt Ulrich Leisinger, Direktor der Forschungsabteilung der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg, im Bärenreiter-Magazin Takte auf. Zu diesen Werken gehöre besagtes, das singulär in einer Partiturabschrift des frühen 19. Jahrhunderts überliefert sei, die sich in der Lippischen Landesbibliothek Detmold befinde. Nach Angaben des Musikwissenschaftlers wurde es wurde dann auch in Auflagen aus dem frühen 20. Jahrhundert des Zauberflöten-Klavierauszugs des Verlags C. F. Peters gedruckt, allerdings in die bis heute bekannte Ausgabe des Klavierauszugs der Zauberflöte von Kurt Soldan (1932) nicht mehr aufgenommen. In Partitur sei es bislang ungedruckt. Leisinger bezeichnet das Duett über weite Strecken des Vokalstimmensatzes als „mozartisch“. Dies gelte auch für die abwechslungsreiche und recht dichte Orchesterbegleitung im ersten Teil. Der stilistische Befund im weiteren Verlauf des Stücks sei allerdings zwiespältig: Taminos „Monolog“ wirke für ein Duett eher deplatziert, und der zurückhaltend instrumentierte Schluss lasse mozartsche Überraschungsmomente vermissen, die hingegen am Beginn des zweiten Teils in einigen harmonisch ungewöhnlichen Wendungen noch anzutreffen seien. Leisinger, seit 2005 Herausgeber der Neuen Mozart-Ausgabe, spricht von einem „musikalisch interessantes Stück, das zwar früh in der Überlieferung der Oper auftaucht, aber weitgehend unbeachtet geblieben ist“. Aus der Kenntnis von Mozarts Schaffensweise und seines Personalstils sei es aus der Tatsache, in keiner einzigen weiteren Quelle überliefert zu sein, allerdings unwahrscheinlich, dass es in allen Teilen von Mozart stamme. Soweit der Mozart-Experte.

Sawallisch nahm es auf – und das spricht für seine Kenntnis und seinen wissenschaftlichen Spürsinn. Die neue Zauberflöte aus München hatte sich auch in der DDR herumgesprochen. Briefe flogen hin und her. Telefonleitungen glühten. Hast du schon, wie findest du …? Man zapfte alle nur möglichen Bezugsquellen an, bemühte Onkel und Tante, um in ihren Besitz zu gelangen. Obwohl mit Schreier und Theo Adam als Sprecher die beiden namhaftesten Sänger aus dem Osten mitwirken, blieb die Einspielung dem westdeutschen Publikum vorbehalten, denn es handelte sich um keine Koproduktion, wie sie es auch gab. Deshalb wohl auch der ausdrückliche Hinweis in der Plattenausgabe, dass Schreier „mit freundlicher Genehmigung des VEB Deutsche Schallplatten“ mitwirke. Zudem war der kleinere ostdeutsche Markt 1970 mit einer eigenen Produktion gesättigt, an der Schreier ebenfalls als Tamino beteiligt war, während Adam den Sarastro gab. Mit Helen Donath konnte sie sich der überzeugenderen Pamina sicher sein. Und als Königin der Nacht trat die aus Ungarn stammende Sylvia Geszty ins Rampenlicht – mit ihrem betont dramatischen Impetus der Moser nicht unähnlich.

Nach CD-Menge gerechnet, bildet Richard Wagner mit dem Ring des Nibelungen und den Meistersingern von Nürnberg den größten Posten der Edition. Vratz im Booklet: „Wolfgang Sawallisch hat stets hervorgehoben, dass das Orchester der Bayerischen Staatsoper eine besondere Beziehung zu Wagners Musik pflegt.“ Er wisse nicht, zitiert er den Dirigenten, wie es zu erklären sei, aber seit den Uraufführungen scheine sich von Generation zu Generation eine Wagner-Überlieferung erhalten zu haben. Daher habe Sawallisch diese Ring-Aufführung, die von Nikolaus Lehnhoff szenisch realisiert und die in den Folgejahren sukzessive weiterentwickelt worden sei, resümierend für einen bedeutenden Beitrag in der Ring-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte gehalten Und doch hatte es dieser Mitschnitt nicht ganz leicht. 1989, im Jahr des Mauerfalls, im Münchner Nationaltheater von NHK Enterprises gemeinsam mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, kam er mit einiger Verspätung in den gesamtdeutschen Handel, wo er sich bald starker Konkurrenz ausgesetzt sah. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis sich der nächste Ring bei EMI unter Bernard Haitink ankündigte. Von der Metropolitan Opera war unter dem Gelblabel (Deutschen Grammophon) eine Produktion auf DVD und CD mit Hildegard Behrens, die die Brünnhilde auch bei Sawallisch ist, zu erwarten. Und aus Bayreuth drängte Daniel Barenboim ebenfalls in Ton (Teldec) und in Bild (Unitel) in den Handel. Ein Mitbewerber gab mittendrin auf. Christoph von Dohnányi kam bei Decca nur bis zur Walküre. Die Schlacht um das große Buffet war eröffnet. An Nachschub mangelte es nicht. Ein Ring nach dem anderen würde in den kommenden Jahrzehnten folgen. Ungeachtet der Tatsache, dass Georg Solti, dieser Herr der Ringe, mit seiner epochalen Wiener Decca-Produktion in immer neuen Auflagen wie eine unbezwingbare Gebirgswand vor die Konkurrenten geschoben hatte.

Für mich sind die Filetstücke der Edition bei Richard Strauss zu finden. Mit Studioeinspielungen von vier Werken hat sich Sawallisch Meriten vom Feinsten erworben. Obwohl noch in Mono ist Capriccio mit Elisabeth Schwarzkopf als Gräfin Madeleine (1958) bis heute der Standard geblieben. Keine andere Aufnahme kann es mit der musikalischen Delikatesse dieser hochkarätig besetzten Produktion aufnehmen, in der sich der Dirigent auch im Ensemble als einer der Diener verewigt ist. Wie Capriccio war auch Intermezzo (1980) die erste offizielle Aufnahme dieses Stückes und hat nicht zuletzt durch Lucia Popp in der Rolle der Christine die Maßstäbe gesetzt. Die Frau ohne Schatten (1987) ist die erste komplette Aufnahme. Auch wenn sie es mit der Stimmung, die Karl Böhm in seiner allerersten Einspielung bei Decca eingefangen hat, nicht aufnehmen kann, darf sich unter neuesten Stereo-Bedingungen die rauschhafte Breitwandmusik endlich in ihrer überbordenden Dramatik, die sich immer wieder in feinsten Verästelungen selbst auszubremsen scheint, entfalten. Und zwar mit voller Wucht. Was die Akustik in keinem Opernhaus hergibt, wurde im Studio exemplarisch zelebriert. Ute Vinzing ist als Färberfrau in einer ihrer seltenen Auftritte vor dem Mikrophon zu erleben. Alfred Muff gibt ihren Gatten. Das Kaiserpaar singen Cheryl Studer, die damals aus den Studios nicht herausgekommen war und dennoch keine tiefenden Spuren hinterließ, und René Kollo. Hanna Schwarz bleibt der Amme deren Dämonie schuldig. Elektra (1990) ist eine unter vielen geblieben. Ihre Besonderheit, nämlich nach Georg Solti bei Decca mit der Nilsson die wohl einzige offizielle ohne den großen Strich in der Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit Klytämnestra (Marjana Lipovsek) zu sein, wird nicht erwähnt. Was noch? Jeweils eine CD nehmen Abu Hassan von Carl Maria von Weber und Die Zwillingsbrüder von Franz Schubert (beide 1975) in Anspruch. Ob ihnen die Mitwirkung von Edda Moser, Helen Donath, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Kurt Moll gerecht wird, darf mit zeitlichem Abstand hinterfrage werden. 1975 tat ihnen der prominente Einsatz gewiss gut. Plötzlich redete man über diese abseits stehenden singspielartigen Stücke.

Die Edition klingt versöhnlich aus in einer Welt, die zur alten Ordnung zurückgefunden hat. Und zwar mit Kinderstimme und Zitherbegleitung, dass es zu Herzen geht: „Ah, da hängt ja der Mond.“ Wir sind bei Carl Orff, dem bayerischen Landsmann von Sawallisch, für den er sich bereits am Beginn seiner internationalen Karriere von London aus verwendet hat. Dort gelangten kurz hintereinander Die Kluge (1956) der Schwarzkopf und Der Mond (1957) mit Hans Hotter als Petrus auf Schallplatte. Zum Glück hatte sich Produzent Walter Legge diesmal auf Stereo eingelassen, was beiden turbulenten Einaktern sehr zum Vorteil gereicht indem sie deutlicher als kraftvolle Theaterstücke erkennbar werden. Es sollten fast fünfzehn Jahre vergehen, bis sich in München erneut Kurt Eichhorn an beide Stücke für Eurodisc machte. In der DDR nahm sich Herbert Kegel zunächst den Mond vor, um 1978 die Kluge nachzureichen. Seither kam nichts mehr von Belang. Rüdiger Winter