Archiv für den Monat: April 2014

Musikalisch spannend

In Zeiten mangelnder Studio-Gesamtaufnahmen ist es besonders verdienstvoll, wenn Opernhäuser für Live-Mitschnitte sorgen, wie es die Frankfurter Oper in vorbildlicher Weise tut, für den Ring sogar mit DVDs und CDs. Aus dem Jahre 2013 stammt die jetzt bei Oehms Classics (OC 945) erschienene La fanciulla del West, die zugleich eine Art Ehrenrettung für die gerade mit Puccinis Manon Lescaut in Baden-Baden nicht besonders glücklich abgeschnitten habende Eva-Maria Westbroek ist, die hier beweisen kann, dass sie durchaus auch diesen Komponisten zu singen vermag, wenn auch eine weitaus dramatischere Partie. Ihre Minnie beginnt mit recht dunklem Timbre, obwohl man sich über den vielen tiefen Männerstimmen trotz aller vokalen Autorität etwas mehr Sopranglanz wünscht, der jedoch lässt nicht lange auf sich warten, wenn die Stimme zugleich mit dem Erscheinen von Dick Johnson merkbar an dolcezza zulegt und schöne, zärtliche Töne produziert. Nun rundet sich der Sopran auch in der Höhe, wird facettenreich eingesetzt und besticht zudem durch die gute Diktion der Sängerin. Zum Schluss des ersten Akts gibt es viel Höhenglanz zu bewundern, der auch den zweiten Akt überstrahlt. Nur selten, so in „voglio vestirmi tutta….“, gibt es leichte Schärfen, die die Gesamtleistung kaum beeinträchtigen. Das akustische Zusammenspiel mit den Partnern ist ein ausgesprochen glückliches, zwischen dem Sopran und dem Tenor knistert es, und beim Pokerspiel sind sogar die Pausen mit großer Spannung erfüllt.

Ein angemessener Partner ist der Sängerin Carlo Ventre als Dick Johnson mit virilem Timbre baritonaler Grundierung, das sich trotzdem von dem des sehr dunklen Baritons klar abhebt. Die Mittellage erweist sich als sehr präsent, die Höhe ist sicher, die Schulung der Stimme, das beweisen Legato und Phrasierung, durch und durch italienisch. Die Walzermelodie entlockt der Stimme Schmelz, zärtlich klingt „non piangete“. Eine schöne Melancholie erfreut den Hörer ebenso wie die Kontrolle der Stimme auch bei den dramatischsten Ausbrüchen. Sehr eindringlich gelingt das Rezitativ vor „Ch’ella mi creda“, während die Arie nicht spektakulär, aber sehr anständig gesungen wird. Jack Rance ist Ashley Holland mit eindrucksvoller Brunnenvergifterstimme, die leider nicht durchgehend optimal zu sitzen scheint, sondern manchmal wie erstickt klingt. Das Timbre entfaltet sich erst bei einem gewissen Druck auf den Bariton und gewinnt dann eine beachtliche vokale Autorität. Einen effektvollen Finsterling Ashby singt Alfred Reiter, seinem Namen Ehre macht Simon Bailey als Sonora, während Peter Marsh für den treuen Nick einen präsenten Charaktertenor hat. Seltsam herb beginnt Elisabeth Hornung als Wowkle, findet aber schnell zu echten Altqualitäten. Sehr eindrucksvoll ist der Chor sowohl als Ansammlung akustischer Individuen wie in der gemeinsamen Klage um den Verlust der geliebten Minnie. Sebastian Weigle betont zu Beginn besonders das Schwerblütige, setzt wirkungsvoll auf Kontraste im Auf und Ab der Stimmungen und reagiert sehr exakt auf die Sänger. Sehr schön herausgearbeitet sind die Variationen, die die Walzermelodie im Verlauf des Werks erfährt.

Ingrid Wanja

Alters-Marathon in Sachen Mozart

Wohl noch einmal wissen wollte es Edita Gruberova und nahm nicht nur bei ihrem (hauseigenen?) Label Nightingale eine reine Mozart-CD (NC 0715602unter dem Titel Mozart-Arias auf, sondern gab inzwischen auch bereits Konzerte mit diesem Programm. In ihm befinden sich einige der bekanntesten Arien überhaupt, allerdings nicht mehr die der Königin der Nacht, einst eines der cavalli di battaglia des Soprans. Es beginnt mit zwei Arien der Konstanze, „Traurigkeit“ und Martern aller Arten„, die eine intakte Stimme dokumentieren, allerdings auch einige Eigenarten, die aus der Figur ein eigenartiges Kunstwesen machen durch ein sehr manieriert angelegtes Rezitativ mit einem geschmäcklerisch klingenden „leiden“  und mit verhuschten Endsilben auf „Traurigkeit“ und „Lose“ in der Arie. Die Sängerin neigt häufig zu einem zu kurzen, nicht voll ausgesungenen Phrasenschluss, zarte Tongespinste verführen sie manchmal zu einem verwaschenen Ton. Ansonsten erscheint der Sopran als gut und exakt konturiert, und auch die Phrasierung ist, abgesehen von den genannten Einwänden. stimmig. Diese Konstanze neigt wahrscheinlich für manchen Geschmack etwas zur Larmoyanz, wirkt als Figur geziert und scheint auf „armes Herz“ sogar etwas zu kokettieren. In der „Martern“-Arie ist die Tiefe fahl, ja geradezu alt klingend, während auch die extremen Höhen kaum einmal schrill klingen und die Virtuosität des Singens Bewunderung abnötigt. Leid tun kann dem Hörer der Ottavio, denn als Donna Anna lässt sie deren Rezitativ zu Non mi dir eher zickig als tragisch erklingen und tippt auch hier manchen Ton nur an statt ihn auszusingen. Fiordiligis Rezitativ zu Come scoglio bleibt unverbindlich, der Beginn der Arie wird mit vorsichtig angegangener Tiefe eher geraunt, insgesamt erscheint hier das Timbre als nicht jung genug für die Figur, die Bewältigung der Arie allerdings geglückt, auch wenn die Gestaltung zu deren Gunsten etwas zurücktritt. Am besten gefallen kann, was die Rezitative betrifft, das zu Susannas Rosenarie, denn hier wird etwas von deren Schelmerei hörbar. Besonders gut gelungen ist auch der Schluss, im Verlauf der Arie hätte man sich etwas mehr Aufblühen anstelle des im Knospenstadium Verharrens gewünscht. Scharfe Töne hat La Gruberova für die Arie der Sifare aus Mitridate, ein bewundernswertes Virtuosentum beweist sie in der der Fortuna aus dem „Scipione“, während die Arie der Elettra D’Oreste e d’Ajace aus Idomeneo nach einem energisch angegangenem, charaktervollem Rezitativ durch Rasiermesserschärfe dem Charakter der Prinzessin nahe kommt, das „Gekecker“ auf dem Höhepunkt der Erregung Geschmackssache sein dürfte. Insgesamt nötigt diese sportliche CD-Bewältigung angesichts des Alters der Sängerin eher gruselige Bewunderung ab.  Geschönt wird der Zustand der Stimme durch das einfühlsame Spiel des Orchesters L’Arte del Mondo unter Werner Ehrhardt.

Ingrid Wanja

Russisches

 

Naxos hat bei den drei jüngsten Wiederveröffentlichungen von Aufnahmen der sowjetischen Plattenfirma Melodiya drei Volltreffer gelandet. Es sind großartige Dokumente eines vollblütigen, theatralischen russisch/sowjetischen Musizierstils, die hinsichtlich der Opern zusätzliches Interesse beanspruchen können, weil sie nicht zum gängigen Repertoire gehören. Und auch weil man Sängern begegnet, die im Westen kaum bekannt sind und dennoch höchsten Ansprüchen genügen. Dementsprechend ist uneingeschränkte Authentizität garantiert, zu der die profunden Chöre und das Orchester des sowjetischen Rundfunks beitragen.

Da ist zunächst einmal Anton Rubinsteins 1875 uraufgeführte Oper Der Dämon. Dies ist ein Werk voller Düsternis und dunkler Farben, nur gelegentlich aufgehellt mit orientalischem Kolorit und stimmungsvollen Genreszenen. Es behandelt ein urromantisches Sujet: die Hoffnung des namenlosen Dämons, eines verdammten Untoten, auf Erlösung durch die Liebe eines irdischen Mädchens. Die aus dem Jahr 1974 stammende Gesamtaufnahme wird von Boris Khaikin mit dramatischem Feuer dirigiert. Nina Lebedeva verleiht der fächerübergreifenden Partie der Tamara einen slawisch herben, dabei üppigen wie agilen Sopran, der aber auch zu innigen Pianotönen fähig ist. Als dämonischer Verführer steht ihr mit dem ausladenden, in allen Lagen kraftvollen Bass-Bariton von Alexander Polyakov ein Dämon großen Formats und schmerzlich intensiven Ausdrucks gegenüber. Wie sich beide im ausgedehnten Finalduett ein tolles, vor schierer Leidenschaft berstendes stimmliches Duell liefern, gleicht einem musikalischen Krimi. Nina Derbina steuert die zur Versöhnung aufrufenden Worte des Engels mit vollmundigem, ausgeglichenem Alt bei. Die kurze, aber wichtige Partie des Prinzen ist mit dem etwas schmalen, aber kultiviert geführten lyrischen Tenor Aleksey Ousmanov besetzt und eine weitere kleine Rolle, die des alten Dieners, prunkt mit Boris Morozov aus dem großen Reservoir exzellenter russischer Bässe (Mel CD 1002102, 2 CD).

 

Von ebensolcher interpretatorischen Geschlossenheit ist die 1978 eingespielte Aufnahme von Peter Tschaikowskys überbordendem Vierakter Die Zauberin. Im Mittelpunkt des 1887 uraufgeführten historischen Bilderbogens steht die junge selbstbewusste Gastwirtin Nastasja, die unschuldig ein grausames Familiendrama auslöst, weil sie dem Begehren des Fürsten Nikita nicht nachgibt und sich stattdessen in seinen Sohn Yuri verliebt. Am Ende wird sie von Nikitas eifersüchtiger Gattin vergiftet, der Fürst tötet Yuri und verliert den Verstand. Die Oper changiert zwischen intimem Zwiegespräch und pompöser Massenszene, die der schlank und gleichzeitig expressiv dirigierende Gennady Provatorov zu einer fesselnden Einheit zu verschmelzen weiß. Unter seiner Leitung erlebt man ein packendes, in der Intensität nie nachlassendes musikalisches Drama, bei dem die Emotionen nur so lodern. Was natürlich auch an dem ausnahmslos vorzüglichen Ensemble, insbesondere den vier famosen Hauptrollensängern liegt. Rimma Glushkova verkörpert die Titelpartie hingebungsvoll und verströmt gleichmäßigen, warm timbrierten und leuchtkräftigen Sopranglanz. Den passenden dramatischen Kontrast liefert Lyudmila Simonova als Fürstin mit einem voluminösen, durchschlagsfähigen Mezzosopran und imposanten Höhen. Lev Kuznetsov steuert für den Yuri einen substanzreichen, emphatischen Tenor bei. Den Fürsten stattet Oleg Klyonov mit baritonaler Wucht und markanter Ausdruckskraft aus, die in der finalen Wahnsinnsszene ihren Höhepunkt findet. Trotz ihrer Länge versetzt Die Zauberin den Zuhörer über drei Stunden in Spannung, und das – ein weiteres Plus – in erstaunlich plastischer Tonqualität (Mel CD 10 01811, 3 CD).

 

Die modernste Oper, auch inhaltlich gesehen, ist Sergei Prokofievs 1940 uraufgeführter Fünfakter Semyon Kotko. Sie führt nicht in ferne Zeiten zurück, sondern in eine damals erst unmittelbare Vergangenheit, in ein ukrainisches Dorf am Ende des 1. Weltkriegs 1918. In fast 50 Szenen entfaltet sich ein ganzer Kosmos menschlicher Schicksale: im Zentrum steht der Soldat Semyon, der aus dem Krieg zurückkehrt und sich aufgrund der aufflackernden politischen Konflikte im Ort der Roten Armee anschließt; da ist der reaktionäre Bauer Tkachenko, der seine bolschewistischen Nachbarn an die Deutschen verrät, der oberste Dorfsowjet Remenjuk, der sich den Partisanen anschließt, oder die junge Ljubka, die nach der Ermordung ihres Verlobten wahnsinnig wird. Dieses realistische Gesellschaftspanorama hat Prokofiev zu einer wunderbaren Mischung aus melodischem Rezitativ, lyrischem Arioso und Volksmusik, Leitmotiven und filmmusikhaft illustrierender Orchesterbegleitung inspiriert. An der Spitze eines auch in den kleinsten Partien typengerecht besetzten Ensembles präsentiert sich ein wunderbarer Tenor: Nikolai Gres in der Titelpartie hat Belcantoschmelz in der Stimme, singt kernig und trotzdem elegant, ein wahrer vokaler Held. Man möchte alle anderen nennen: Lyudmila Gelovani, die seiner Braut Sofia einen hellen Sopran mit viel Liebreiz schenkt; die beiden weiteren Paare Tatiana Tugarinowa und Mikhail Kiselyov sowie Tamara Antipowa und Nikolai Timchenko, ein Quartett junger, gut geführter Stimmen mit singdarstellerischer Prägnanz; die schwarzen Bässe Nikolai Panchekhin als Verräter und Gennady Troitsky als Dorfsowjet, die im gleichen Stimmfach durch unterschiedliche Färbung divergente Charaktere erschaffen – bedrohlich der eine, bemitleidenswert in der Trauerklage der andere. Großes leistet auch der Dirigent Mikhail Zhukov, der den enormen Apparat an Solisten und Chor überlegen zusammenhält und eine Sogkraft entwickelt, der man sich nicht entziehen kann. Prallstes Musiktheater, das gerade im Moment durch die gegenwärtigen Verhältnisse in der Ukraine von beklemmender Aktualität ist, das verspricht diese Aufnahme aus dem Jahr 1960 in erheblichem Maße. Man freut sich auf weitere anstehende Neuheiten von Melodiya (Mel CD 10 02120, 3 CD). Karin Coper

Und noch ein Counter-Duell

Die letzte CD-Einspielung von Händels Dramma per musica Tamerlano liegt Jahre zurück – höchste Zeit also für eine Neuaufnahme, die naïve in einer exquisiten Besetzung vorlegt und dabei die spätere Fassung (von 1731) vorstellt (V 53739). Die Titelrolle singt Xavier Sabata, der seit einigen Jahren zur internationalen Elite in diesem Fach zählt, die des Andronico Max Emanuel Cencic. Die beiden Countertenöre liefern sich ein imposantes Duell, wie das schon bei der Uraufführung des Werkes 1724 in London geschah, als sich die beiden Altkastraten Andrea Pacini als Tamerlano und Senesino als Andronico dem unmittelbaren Vergleich stellen mussten.

Die Stimme von Sabata klingt weich und schmeichelnd, was sogleich seine Auftrittsarie, „Vuò dar pace“,  die das Orchester mit gewichtigen Akkorden einleitet, hören lässt. Sie zeigt zudem seine eloquente Stimmführung, die mühelos fließenden und schmiegsamen Koloraturen. Auch das erste Solo im 2. Akt, „Bella gara“, ist erfüllt von reinem Wohlklang. Im 2. Akt gewinnt der Sänger an Vehemenz in der Formulierung der Rezitative und im Terzett mit Asteria und Bajazet, das aus der Fassung der Uraufführung übernommen wurde. Prüfstein jeder Interpretation  des Titelhelden ist die Arie „A dispetto“ im 3. Akt, mit der Derek Lee Ragin in der Erato-Einspielung von 1985 unter Gardiner Maßstäbe gesetzt hat. Dessen hysterischen Furor hört man bei Sabata zwar nicht, doch schildert er mit den aufgewühlten Koloraturen die Situation Tamerlanos eindringlich.

Auch die Stimme von Cencic wird immer runder und sanfter, was die beiden Counter freilich nicht sehr unterscheidet. Andronicos erste Arie, „Bella Asteria“, vermittelt in ihrem empfindsamen Duktus eindrücklich seine Liebe zur Tochter des türkischen Sultans Bajazet, die aber auch von Tamerlano begehrt wird. Seine Arie am Ende des 1. Aktes, „Benchè mi sprezzi“, der ein ausdrucksstarkes Rezitativ vorangeht, ist erfüllt von purem Wohllaut und geschmeidigem Fluss der Koloraturen. Rasend dagegen das „Più d’una tigre“ im 2. Akt, dessen Dramatik das Orchester mit aufgewühlten Streicherfiguren untermalt. Souverän bewältigt Cencic die Koloraturläufe und färbt die Stimme gemäß der Situation strenger und erregter. Davon profitiert auch seine Arie im 3. Akt „Se non mi rendi“. Karina Gauvin gibt die Asteria mit ihrem fraulich-noblen wie expressiven Sopran, der leuchtet und alle Stimmungen der Figur im Gesang bezwingend umsetzt. Die Innigkeit ihrer ersten Arie „S’ ei non mi vuol amar“ ist ergreifend, ebenso das „Deh, lasaciatemi il nemico“, das mit schwebenden Tönen den seelischen Zwiespalt Asterias plastisch verdeutlicht. Ihr „Non è più tempo no“ im 2. Akt ist ein bewegtes, an erregten Koloraturen reiches Stück, das die Virtuosität der Sängerin herausstellt. Mit lastend schweren, düsteren Akkorden eingeleitet wird ihre Arie im 3. Akt, „Cor di padre“, mit der Gauvin noch einmal ihre Stärke in der anschaulichen Zeichnung eines seelischen Konfliktes beweist. Eines von Händels bewegenden Duetten ist das zwischen Asteria und Andronico „Vivo in te“, indem sich die Stimmen von Gauvin und Cencic umschmeicheln und für einen der magischen Momente dieser Einspielung sorgen.

Die Rolle Bajazet, der von Tamerlano gefangen gehalten wird, schrieb Händel für den italienischen Tenor Francesco Borosini. Hier hört man John Mark Ainsley, der insgesamt eine sehr ausgewogene und kultivierte Interpretation bietet. Furios gestaltet er das erregte „Ciel e terra“, das aber stets maßvoll bleibt und nie in ein veristisches Fahrwasser gerät. Grandios ist seine Szene gegen Ende der Oper, „Empio, per farti guerra”, welche in rasenden Koloraturketten die existentielle Situation vor seinem Selbstmord beschreibt. Das folgende Arioso „Figlia mia“ ist ein bewegender Abschiedsgesang an seine Tochter, bevor das dramatische Recitativo accompagnato „Tu spietato“ eindrücklich und in lautmalerischen Effekten plastisch ausgemalt das Sterben des Fürsten schildert.

Tamerlanos Verlobte, die Fürstin Irene, ist eine Mezzorolle und mit Ruxandra Donose kompetent besetzt. Ihre erste Arie, „Del crudel che m’ha tradita“, singt sie mit dunklem Timbre energisch und drohend, da sie sich von Tamerlano verraten glaubt. Das wiegend-tröstliche „Par che mi nasca in seno“ im 2. Akt ist in seinem Ebenmaß und der hoffnungsvollen Stimmung dazu ein schöner Kontrast. „Crudel più non son io“ im 3. Akt schließlich zeigt im bewegten Fluss der Koloraturgirlanden die Virtuosität der Sängerin. Der Bass Pavel Kudinov bringt als Leone eine dunkle Farbe ein und trumpft in „Amor dà guerra“ mit sonorer Stimme gebührend auf, beweist mit den getippten Koloraturen seine Eignung für das barocke Idiom. Bei der Wiederaufnahme des Werkes 1731 sang statt Giuseppe Maria Boschi der hoffnungsvolle Bassist Antonio Montagnana diese Rolle und bekam vom Komponisten die (ursprünglich für Riccardo Primo geschriebene) Arie „Nel mondo e nell’abisso“ zugeteilt. Kudinov singt sie eloquent und souverän im Durchmessen der Tessitura. Riccardo Minasi leitet das Ensemble Il Pomo d’oro mit viel Gespür für Farben, Stimmungen und Rhythmus. In die nicht sehr große Zahl der Aufnahmen dieser Oper reiht sich die Neuveröffentlichung bei naïve prominent ein.

Bernd Hoppe

Georg Friedrich Händel: Tamerlano (Sabata, Cencic, Ainsley, Gauvin, Donose, Kudinov, Il Pomo d’oro, Riccardo Minasi) naïve V 5373, 3 CD

 

Carrers „Marathon-Salamis“

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Angesichts der Bankenkrise 2010 und der mürrisch gezahlten Milliarden für Griechenland 2010 – 2018 mag man vergessen, was für ein Kulturland die EU retten (auch und vor allem Dank Angela Merkel)  wollte, nicht nur einen Verwalter der antiken Trümmer, sondern eben auch eine Gesellschaft, die sich als eigener Staat erst im 19. Jahrhundert etablierte und nach einer so wechselvollen Okkupation durch Fremdmächte (Osmanen) Identität und den Anschluss an Westeuropa suchte – in politischer wie kultureller Hinsicht.

Kaum bekannt ist die Operngeschichte des Landes, das sich nach der Befreiung von den Türken Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest in der Oberschicht akut am Westen zu orientieren versuchte, vor allem in musikalischer und literarischer Hinsicht – erst an Italien, dann Deutschland und Frankreich (bemerkenswerter Weise ist die Popmusik dort nach wie vor orientalisch beeinflusst). Im Folgenden werden einige Väter der griechischen Oper vorgestellt, so hier Paolo Carrer, dessen Marathon-Salamis (erst 2003!) an der Athener Oper Premiere hatte.

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Pavias Carrer (oder auch: Paolo Carrer, der stets auf seinem griechischen Namen bestand) war einer jener ausländischen Komponisten, an denen das Italien der Verdi-Folge so reich war. Sie alle erhielten ihre musikalische Formierung meist in Mailand und gingen dann – nach beträchtlichen Erfolgen in Italien – in ihre Heimatländer zurück, wo sie umjubelte Nationalkomponisten wurden. Wie seine Kollegen Gomes (Fosca), Montero (Virginia), Zaijc (Amelia) oder sein etwas späterer Landsmann Samara (La Martire) wurde auch Carrer (um beim italienischen Namen angesichts seiner italienischsprachigen Opern zu bleiben) – nach einer Kindheit auf Korfu und in England und nach einem ersten Musikstudium bei Cricca und Mirangini auf seiner Heimatinsel Zakynthos – ebendort ausgebildet, denn 1850 übersiedelte er aus dem erst 1821 gegen die Türken revoltierenden Griechenland nach Italien und erlernte im Musikzentrum Mailand bei Bosserone, Tassistri und Winter sein Handwerk. Seine ersten Opern wurden in der Folgezeit mit Glanz am Teatro Carcano aufgeführt (so Dante e Beatrice 1852, lsabella d’Aspeno 1853 und La Rediviva 1854).

Paolo Carrer und seine Frau, die Sängerin lsavella Yara/OBA

Paolo Carrer und seine Frau, die Sängerin lsavella (!) Yara/OBA

Bereits 1857 kehrte Carrer nach Zakynthos zurück, wo er die beiden letztgenannten Werke aufführen konnte. In beiden Fällen sang die Sopranistin lsavella (sic) Yara die Hauptrolle, und Carrer heirate sie kurz darauf  (was sich auf die Sopranlastigkeit seiner weiteren Opern auswirkte). 1858 wurden erstmals Auszüge seiner gegen die ehemalige türkische Herrschaft gerichteten Oper Marcos Botsaris in Athen in Anwesenheit des Königs (der von den Siegermächten eingesetzte deutsche Otto) gegeben. Das ganze Werk zu spielen bereitete Probleme, weil die ionischen Inseln (Zakynthos war der Heimatort Carrers) nach der Vertreibung der Türken unter britischer Herrschaft standen, während Festland-Griechenland bereits unabhängig war und das Thema der Oper Marcos Botsaris ein mühsam unterdrücktes, pangriechisches Vereinigungsverlangen anstachelte, das politisch nicht opportun schien und Griechenlands Position gegenüber den Weltmächten problematisch machte. Noch 1861, als in Patras eine komplette erste Aufführung zustande kam, gab es Unruhen im Publikum, als im 1. Akt das interpolierte Freiheitslied „O yero Demos“ erklang und weitere Aufführungen darauf untersagt wurden – Oper als Ausdruck politischen Volkswillens lässt an Verdi und Auber denken.

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4e77d25227Zwischen  Verdi und dem Verismo – die Musik: Carrer muss als eine der großen Pionierfiguren in der Geschichte der abendländischen (i. e. westlich orientierten) Musik in Griechenland nach der abgeschüttelten Unterdrückung durch die Ottomanen gelten. Er war dort vor seinem späteren Kollegen Samara vielleicht der am meisten gespielte griechische Komponist im 19. Jahrhundert. Er gilt zudem als einer der wichtigsten Vertreter der ionischen (d. h. nicht dem Festland zugehörigen) Schule Griechenlands, der er sich mit seinen Opern über bedeutende Persönlichkeiten der griechischen Geschichte und in seiner Wendung gegen die türkische Unterdrückung widmete. Trotz seiner sehr kurzen Ausbildungszeit in Italien, aber doch auch durch seine vorausgehende Formierung in italienischer Idiomatik, erinnert sein Stil sehr an die Sprache eines frühen Verdi, wenngleich seine Opern große Ähnlichkeiten zu Bellini (Norma vor allem) und Donizetti aufweisen. Dabei zeigt seine Musik nicht wirklich die sonst für diese Exil-Komponisten typische „Ponchielli“-Sprache eines allgemeinen vor-verdianischen Idioms. Sie ist sehr reichhaltig an Cabaletten, plötzlichen Stimmungsumschwüngen, an Chorpassagen, die mit fast reißerischen Momenten an den Trovatore oder Attila erinnern, an langen, hervorragend aufgebauten Solo­-Auftritten mit dankbaren und außerordentlich belkantesken Ausformungen, ohne in wirklich konservativen Ziergesang  zu  münden.  George  Leotsakos schreibt  im  Opera  Groves  von  einer „spontan  eingefangenen“  Melodie  mit Blick auf enorme  Bühnenwirksamkeit, üppig und flüssig in ihrem Effekt und von direkter dramatischer Zielrichtung .

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Libretto zu Marcos Botsaris/OBA

Libretto zu Marco Botzaris/OBA

Carrers Begabung lag in der Tat eher im Erfassen von Atmosphäre statt in der Ausbreitung des Dramas – das schlägt sich in großen Tableaus  und  kontemplativen Soloszenen nieder, die hinter dem Voranschreiten der dramatischen Handlung zurückbleiben. Der Dirigent und eigentliche Pionier bei der Wiederentdeckung der griechischen Oper heute, Byron Fidetzis, der die Opern von Samara und Carrer mit entscheidenden Aufführungen/Aufnahmen wiederbelebt, versucht sogar, etwas spezifisch „Griechisches“ in diesen Werken zu beschreiben.  Bei  Carrer spricht er von der Einbindung folkloristischer  Lieder und Elemente, von einer bewussten Hinwendung zu einer neuen „griechischen Ästhetik“ der klassischen Musik, von spezifischen diatonischen und modal orientierten Strukturen dieser Musik, die viele Elemente der deutschen (!), russischen und nachfolgenden französischen Musik reflektiert und damit auf spätere, heutige Komponisten wie Kalomiris (Mutters Ring) weisen. Im Falle von Carrer muß zudem berücksichtigt werden, dass er ein außerordentlich abgeschiedenes Leben auf seiner Insel Zakynthos führte, also fast ohne Außeneinwirkungen das einmal Gelernte der ständigen Suche nach Ausdruck für neue Kompositionen unterzog . Er schrieb im weiteren Verlauf nach Marcos Botsaris (Athen 1858/ Patras 1861) noch Frossini (1879 Patras),  Fior di Maria ovvero i Misteri di Parigi nach Sué (Korfu, 1868), Maria Antoinetta (Zakynthos 1884),  Despo (Patras 1882/Lyra CD), Marathon-Salamis (Salamis 1886, unaufgeführt und erst 2003 in Athen premiert) sowie O konte Spourghitis (Athen 1888). Geerd Heinsen

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Champion für die nationale Sache, der Dirigent Byron Fidetzis/Lyra

Champion für die nationale Sache, der Dirigent Byron Fidetzis/Lyra

Dazu Alexander Weatherson: Ein Marathon der Leidenswege. Nach eigener Auffassung des Komponisten war die Oper Marathon-Salamis sein vollkommenstes Werk. Er schrieb in seinen Memoiren, er habe versucht, zeitgenössische Elemente in sein Werk  aufzunehmen, „entsprechend den Anforderungen an die moderne Kunst“.  Aber auch die Veröffentlichungen aus jener Zeit loben die Besonderheit dieser musikalischen Komposition hinsichtlich „der vom Komponisten gewählten Klangfarbe und Ausdrucksform“.  Zur musikalischen und formalen Beurteilung der Oper, aber auch ihrer deutlichen Tendenz zum  Neoklassizismus, die in den griechischen  Opernkompositionen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts festzustellen ist, sei auf die Texte des Musikwissenschaftlers und erfahrenen Forschers der griechischen Musik, Giorgos Leotsakos , hingewiesen.

Die historische Gemengelage/OBA

Die historische Gemengelage/OBA

In seinen Memoiren versetzt uns der Komponist in den Herbst des Jahres 1886 und schildert, wie er, nachdem er gehört hatte, der sehr wohlhabende Andreas Synggros habe die Finanzierung des Baus des neuen Städtischen Theaters in Athen übernommen, überlegte, sich durch eine der Einweihung würdige Oper auszuzeichnen. Nachdem Carrer die dramatische Struktur entworfen hatte, machte sich Ende 1886 der aus seiner Heimat stammende Dichter (Aga-) Memnon Martzokis an das Libretto in italienischer (weil üblicher Opern-) Sprache. Etwa ein Jahr später, noch vor Vollendung der Komposition, wurden zum ersten und letzten Mal zwei musikalische Auszüge aus dem vierten Akt aufgeführt.  Am 9. (oder am 10.) März 1887 sang die italienische Sopranistin Katarina Landi-Botarelli, Frau des aus Corfu stammenden Bass-Buffos Antonios Landis, im Rahmen einer Tournee des beliebten Sängerpaars auf der Insel Zakynthos, diese zwei Passagen aus der Oper bei einer Wohltätigkeitsveran- staltung.

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Temistocles/Stich 18. Jahrhundert/OBA

Temistocles/Stich 18. Jahrhundert/Wikipedia

Die offizielle Bekanntgabe der Oper Marathon-Salamis als „bedeutendes neues griechisches musikalisches Bühnenwerk“ fand exklusiv in der Athener Zeitung Nea Efimeris im Oktober 1887 statt. Der Artikel betont, diese Oper sei geschaffen worden, um bei der Einweihung des Städtischen Theaters in Athen auf der Bühne vorgestellt zu werden, wobei er die zahlreichen Vorzüge des Werkes und seines Komponisten leidenschaftlich hervorhebt – offensichtlich mit der Absicht,  Andreas Synggros ein verbindliches Versprechen zur Aufführung abzuringen. Die Franzosen Lassalle und Charlet waren die beiden Direktoren des französischen  Ensembles Theâtre Francais a l’Etranger, das man für die erste Spielzeit verpflichtet hatte (Winter 1888 – 1889). Aus der Presse erfahren wir, dass Lassalle, „von der imposanten szenischen Anordnung des Werks begeistert“, verlangte, das Libretto müsse ins Französische übersetzt werden, „um vom französischen Ensemble aufgeführt zu werden (…)“. Der Verfasser des Artikels nutzt allerdings auch die Gelegenheit, die Forderung nach einer griechischen Übersetzung des Librettos hinterher zu schieben, und so klingen auch die Gedanken von Carrer selbst an, der schon oft bedauerte, seine Werke mangels geeigneter griechischer Sänger nicht in seiner Nationalsprache aufführen lassen zu  können.

Eines der seltenen Fotos mit Carrer vor dem Plakat seiner Werke/Lyra

Eines der seltenen Fotos mit Carrer vor dem Plakat seiner Werke/Lyra

In einem Schreiben, das er am 21. Oktober 1888 an Pavias Carrer richtete, bestätigte Lassalle, die Übersetzung ins Französische sei in Auftrag gegeben worden, und bat den Empfänger, ihm „einen Klavierauszug zu schicken, mit dem Text unter den Noten“, ließ jedoch die Frage des Termines für eine bevorstehende Aufführung des Werkes offen. Der griechische Musikwissenschaftler Leotsakos vermutet hier eine absichtliche Täuschung Carrers;  seines Erachtens versuchte sich Lassalle hier elegant aus einer für ihn unangenehmen Affäre (eines aufkommenden Konfliktes mit dem Großkapitalhörigen und anti-nationalgriechischen Synggros) zu ziehen. Dennoch ist es Tatsache, dass der französische Theaterdirektor sich immerhin die Mühe gab, einen Übersetzer ausfindig zu machen, der die Übersetzung des Werkes schließlich auch fertigstellte. Ferner besteht Gewissheit dahingehend, dass die Zusammenarbeit von Lassalle und Charlet mit dem Städtischen Theater Athen 1889 zu Ende ging. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass hieran das Zustandekommen der originalen Premiere  gescheitert ist, die dann erst 2003 zu Stande kam.

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Szene "Marathon-Salamis" 2003 in Athen/Stenaos/Griechische Nationaloper

Szene „Marathon-Salamis“ 2003 in Athen/Stefanos/Griechische Nationaloper

Ein Werk zwischen den Zeiten:Wenn jemand glaubt, dass auch nur die oberste Schicht des kilometerhohen Stapels an unbekannten Opernpartituren entstaubt worden ist, dann irrt er. Der arme Carrer! Er bleibt ein weiterer  vergessener  Komponist  aus  der Herrschaftszeit der italienischen Oper. Seine Musik kann als Beispiel der Embargo-Opfer in der Folge des Verdi-Komplotts gelten, deren wichtigste Vertreter Ponchielli und Lauro Rossi sind, die zusammen mit anderen das melodramma romantico mit dem verismo zusammenschweißten und damit den Beginn des 20.  Jahrhunderts  in  der  italienischen Oper vorbereiteten. Dazu gehören aber auch der junge Gomes, Marchetti, Petrella, der alternde Pacini, Di Giosa und Catalani. Wie ist es nur möglich, dass wir immer noch die farbenreichen Opern dieser hochwichtigen Übergangskomponisten im Schatten des Giganten Verdi vernachlässigen bzw. nicht kennen? Paolo Carrer begann doch so glanzvoll in Italien (mit zwei Opern am Teatro Carcano, wenngleich nicht an der Scala),  packte dann seine Sachen und ging nach Hause auf seine Insel. Und warum wurde er kein berühmter Nationalkomponist wie Tschukadian, Montero oder auch Gomes? Ein Hineinhören in seine absolut unbekannte Oper Marathon-Salamis lässt den Opernbegeisterten  aus dem Sessel fallen und bestätigt, dass Carrer ein wirklicher Melodiker war, mit einer immensen Begabung für die große, lyrische Linie und ebenso wie Ponchielli mit einer Liebe für die Dramatik der großen Stimmen.

Szene "Marathon-Salamis" 2003 in Athen/Stenaos/Griechische Nationaloper

Szene „Marathon-Salamis“ 2003 in Athen/Stefanos/Griechische Nationaloper

Man ist versucht zu sagen: einfach in das Duett Mirto/Fedima im 1. Akt hineinhören, aber es bringt nichts, nur auf einzelne Stücke dieser bemerkenswerten Komposition hinzuweisen. Es gibt zu viele davon, und sie kommen wie aus dem Gewehr geschossen. Die Vokalität klingt italienisch, die Instrumentation evoziert Griechenland, dies aber deutlich mit einer transalpinen Richtung. Diese Musik wühlt geradezu im Eklektizismus, in flamboyanter Orchestrierung, in großartig „swingenden“ unisoni á la Pacini und in dessen großen Chören.

Szene "Marathon-Salamis" 2003 in Athen/Stenaos/Griechische Nationaloper

Szene „Marathon-Salamis“ 2003 in Athen/Stefanos/Griechische Nationaloper

In mancher Hinsicht scheint der Komponist entschlossen, alle musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit in diesem übervitalen, vollgestopften Werk unterbringen zu wollen – da jagt eine große Nummer die andere, da folgen tutti auf tutti. Es gibt so viele Klimaxe, dass man im Winter die Eigernordwand damit abschmelzen könnte. Alles ist überdimensional, triumphierend, gewalttätig, überreif, süß, pathosreich und beinhaltet zudem eine veritable Kriegsschlacht und das längste „Addio“ der Operngeschichte. Der Plot lässt Metastasios Temistocle  blass aussehen, und trotz aller antiken Geschichtsverhaftung überlappen sich die Verwendung der üblichen Formen des melodramma im mittleren 19. Jahrhundert mit denen des ja erst später einsetzenden modus vivendi. Es ist sonnenklar, dass eine Oper wie diese die absolute Antithese der von Verdi angestrebten Komprimierung und Konzentrierung ist. Extravaganz und Expansivität sind hier die modus vivendi. Statt schwerblütiger dramatischer (und logisch erarbeiteter) Errungenschaften zeigt sich hier eine abgefahrene, aber gleichzeitig vorhersehbare, üppige, sonore, außerordentlich vielfarbige Musik, die keine Grenzen zu kennen scheint, die äußerste Aufmerksamkeit verlangt und die den Hörer mit einer Vielfalt belohnt, die keinem Kalkül entspringt.

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Szene "Marathon-Salamis" 2003 in Athen/Stenaos/Griechische Nationaloper

Szene „Marathon-Salamis“ 2003 in Athen/Stefanos/Griechische Nationaloper

Die Ur-Aufführung und Publikumsaufnahme von Marathon-Salamis im Februar 2003 ging im restlichen Europa fast spurlos vorüber – es war die Weltpremiere dieser 1866 fertiggestellten, aber damals nicht aufgeführten Oper! Die Griechische Nationaloper in Athen hatte keine Kosten und Mühen gescheut, und die Besetzung und Ausstattung hätten den Neid größerer Häuser in Zentraleuropa hervorgerufen – hätte man es gewusst (was absolut kein Ruhmesblatt für die eigene Wertschätzung des Eigenen in Athen bedeutet)! Ein Team mehr als kompetenter Stimmen stellte sich dieser Herausforderung bei der Wiederbelebung der nationalen Kultur:  Andreas Koloumbis als Temistocle, Martha Arapi als Fedima, Lydia Aggelopoulou als Mirto und Yannis Hristopoulou als Verräter Alessandro. Dazu kamen Vassilis Kostopoulou und Dimitris Kassioumis. Die Einleitung des das nationalstolze Griechenland noch heute bewegenden Dramas sprach Margarita Varlamou.

Und dirigiert wurde das Ganze von Byron Fidetzis mit „Schmackes“, dem man nur einen Lorbeerkranz nach dem anderen zuwerfen kann: Wie er hat sich kein zweiter um die Wiederbelebung des musikalischen nationalen Erbes gekümmert. Immerhin gelangte die Premiere ins nationale TV, ohne dass eine weitere Verbreitung geplant war. Und die Oper wurde seitdem mit weitgehend denselben Kräften noch einmal wieder aufgenommen. Aber in der Folge sind auch Fidetzis  Bemühungen (der zumindest bei der Pleite gegangenen griechischen CD-Firma Lyra einiges an nationaler Musik und vor allem an Oper eingespielt hatte – auch da keine Nachfolgefirma in Sicht, niemand interessiert sich für das schmale musikalische, nationale Erbe) vereitelt worden, und die Athener Oper tut sich nicht mit weiteren Ausgrabungen hervor – was es in der neuen Saison an wenigem,  interessantem Griechischen gibt, wird als Foyer-Kleinstveranstaltung  verwurstet, povera Grecia.  Alexander Weatherson/G. H./Übers./Redaktion:  G. H. 2014

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PS. 2023: Die Produktion von 2003 wurde noch einmal 2005 wieder aufgenommen, wie Dieter-David Schoilz in der Opernwelt schreibt, alletdings hat Carrers Alessandro nichts (wie erwähnt) mit Alexander dem Großen zu tun, der hätte sich nicht als Spion des Serse verdungen. Dankenwerter Weise stellen nun die Griechische Nationaloper und die Olympic Concert Hall Maria Callas ihre Produktionen in Teilen zu youtube, wo die Aufführung von 2010 mit einer bedeutenden Besetzung zu sehen bzw. besser noch zu hören ist: „Filmed in Olympia Theater, Athens, 2010, directed by Isidoros Sideris; Directed by: Byron Fidetzis; Poeta: Margarita Varlamou; Fedima: Celia Costea; Temistocle: Tassis Christoyannis; Alessandos: Yiannis Christopoulos; Myrto: Marisia Papalexiou; Archbishop: Tasos Apostolou; Xerxes: Dimitris Kasioumi ; with the Greek National Opera Orchestra, Greek National Opera Chorus and Greek National Opera Ballet“. Absolut rasant und spannend, unbedingt hören. G. H.

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Zu Carrer: „Die Seeschlacht bei Salamis“, Gemälde von Kaulbach 1868/Wikipedia

Marathon-Salamis: Oper in vier Akten von Paolo/Pavlos Carrer (komp. 1866) Libretto von A. Martzokis/A. Kapsolkephalos; Uraufführung am 14. Februar 2003 (!) an der Griechischen Nationaloper, Athen; Personen: Fedima, persische Tänzerin – Mezzosopran, Alexander, griechischer Überläufer und persischer Gesandter – Tenor, Mirto – griechische Edle – Sopran , Temistocle, ihr Vater – Bass, Serse, persischer Feldherr – Bariton, Gran Sacerdote di Apollo – Bass, Un araldo – Tenor, Una schiava –  Mezzosopran,  Un generale  –  Bariton,  due Atenesi ,  Perser  und Griechen , Soldaten,  Priester; Ort/Zeit: Athen und Salamis zur Zeit der Perserkriege, ca. 490 v. Chr.; Inhalt: Akt 1/1 – Marathon. Im Dionysos-Theater wird der 10. Jahrestag des Sieges über die Perser bei Marathon gefeiert (wenngleich die Bedrohung immer noch vorhanden ist – was für ein deutlicher Hieb auf die Türken vor der Haustür Carrers). Unter den Menschen ist auch die persische Tänzerin Fedima mit ihrem kleinen Sohn. Sie ist aus Susa und liebt den Vater ihres Kindes, einen gutaussehenden Mazedonier, der sie verlassen hat und dem sie auf ihrer Suche nach Griechenland gefolgt ist. Trompeten kündigen den Auftritt des Generals Temistocle an, der die Griechen bei Marathon vor Serse/Xerxes bewahrt hatte. Die Perser haben eine Gesandtschaft zu Friedensverhandlungen geschickt, der Anführer ist der Grieche Alexander, nun im Sold des Serse. Mirto, Temistocles ‚ Tochter, verliebt sich auf der Stelle in den attraktiven Krieger und lädt ihn in das Haus ihres Vaters ein. Temistocle erklärt, dass die Griechen nicht die Sklaven der Perser werden wollten, und lehnt eine Unterwerfung ab . Er will das Orakel von Delphi anrufen, um zu hören, wie sich die Athener erneut vor den Persern schützen könnten.

Zu Carrer: Konstantinos Volanakis (1837-1907): „Seeschlacht von Salamis“/ Wikipedia

Akt 2 – Der Verräter. In ihren Gemächern singt Mirto von Alexander, als eine Frau angekündigt wird – Fedima in tiefem Schleier und mit einem Kind an der Hand. Sie hat in Alexander ihren treulosen Liebhaber erkannt und erzählt Mirto ihre Geschichte. Sie warnt Mirto vor Alexander, die indigniert reagiert und in einen Streit mit Fedima gerät. Dieser Lärm erreicht Temistocle mit seinem neuen Gast – als sie eintreten, weist Fedima auf Alexander und erklärt ihn zum Verräter in doppelter Sache Er leugnet natürlich und erklärt sie für verrückt. Ein ganz wunderbares Quartett endet mit Alexanders Wunsch, mit Fedima allein zu sein. Dann rät er ihr kühl, ihn zu vergessen – er denkt nicht daran, seine Karriere wegen des Bastard-Kindes einer Kurtisane zu opfern. Fedima erkennt, dass er sie nicht mehr liebt. Verzweifelt zieht sie einen Dolch, um ihr Kind zu töten .Alexander kann sie daran hindern. Alles stürzt bei dem Lärm herein. Alexander erzählt eine Lügengeschichte, Mirto nimmt die Bewusstlose in die Arme, Temistocle ist vom Anblick dieses Jammers gerührt und nimmt Fedima in sein Haus auf. Die Delegation macht sich auf den Weg nach Delphi.

Akt 3/1 – Das Orakel. Die Priester singen eine Hymne an die Nacht, die Athener – mit Temistocle, Fedima und Mirto treten auf. Der Akt schließt mit dem Orakel der Pythia, die den Sieg der Griechen durch „hölzerne Wände “ (Schiffe natürlich) vorhersagt. Was ja auch historisch belegt ist und eintrifft.

Der Autor: Aleander Weatherson renommierter Fachmann für Opern des 18. und 19. Jahrhunderts, namentlich des Belcanto sowie Autor vieler Artikel und Bücher über eben dies Feld, zudem auch international gefragter „Lecturer“; er war der Begründer und langjähriger Chef der Londoner Donizetti Society/ AW

Akt 3/2 – Salamis. Zurück in Temistocles‘ Haus, singt Fedima eine wunderbare Arie voller Trauer. Temistocle tritt ein und erklärt ihr seinen Plan. Sie soll als Perserin zurück an der Hof des Serse und dort berichten, dass die Athener in Panik die Stadt verlassen und vor den Persern übers Meer fliehen. Serse soll sich für die Niederlage von Marathon rächen. Aus Dankbarkeit für die fürsorgliche Aufnahme willigt Fedima ein und übergibt ihren Sohn an Temistocle, der verspricht, dem Kind ein zweiter Vater zu sein, sollte Fedima etwas  zustoßen. Ein Szenenwechsel zeigt die Athener beim fluchtartigen Verlassen der Stadt. Sie singen ein „Addio “ und trauern um ihre Heimat. Temistocle muntert sie auf und verspricht ihnen den Sieg über die Perser.

A4 – Im Lager der Perser bei Salamis wird Fedima zu Serse geführt, dem sie von der Flucht der Athener erzählt. Siegestrunken wähnt Serse leichte Beute und ruft zum Sturm auf Athen auf. Als alle gehen und nur Fedima zurückbleibt, tritt Alexander aus dem Schatten hervor. Er ahnt den Betrug und sticht Fedima von hinten nieder. Tödlich verwundet, hält ihm Fedima vor, dass er es selbst war, der durch seinen Verrat an ihr alles in Bewegung gesetzt hatte. Angesichts der Siegesrufe der Perser flüstert er ihr ins Ohr, dass „dasselbe Grab sie beide bedecken wird“, dann ersticht er sich selbst. Die Griechen haben gesiegt, denn Temistocle hat die Athener nur vermeintlich abziehen lassen, um die Perser zu täuschen. Unter den Feiernden sind auch Temistocle und Mirto mit Fedimas Sohn. Als sie den Leichnam Alexanders finden, entdecken sie die sterbende Fedima. Mit ihrem letzten Atemzug sagt sie ihrem Sohn, dass sie nun glücklich sei, weil sie ihrem Geliebten folgen wird und weil sie weiß, dass der Knabe einen neuen Vater (Temistocle)  ebenso gewonnen habe wie die Griechen ihre Freiheit von den Persern.  Geerd Heinsen

 

(Alexander Weathersons Artikel entnahmen wir dem Mitteilungsblatt der Donizetti Society London, deren Chairman der als Belcanto-Spezialist renommierte Autor bis vor kurzem war. Die Informationen zu den Bemühungen einer Erstaufführung in Athen entnahmen wir in einer Zusammenfassung /Übersetzung von Bettina Mara dem Programmheft zur Premiere an der Griechischen Nationaloper 2003, alle Bühnenfotos Stefanos/Griechische Nationaloper Athen)

Mehr Licht und Glanz für Mozart

Official Remastered Edition: Warner Classics schickt sich nach der partiellen Übernahme der EMI an, deren einstigen Pultstart Herbert von Karajan neu in Szene zu setzen. Die ersten Teile einer sehr umfangreichen Edition mit den frühen Aufnahmen sind auf dem Markt. In Vol. 1 der Abteilung  „Karajan and his Soloists“ ist die Auffrischung deutlich zu hören (825646336258 / 8 CDs). Das Klangbild ist heller, eine gewisse Dumpfheit verflogen. Es bleibt hauptsächlich gutes altes Mono, und so soll es ja auch sein. Den Angaben auf der Box zufolge, sollen auch schon Stereo-Aufnahmen dabei sein. Im Einzelnen wird das aber nicht ersichtlich. Man muss es sich selbst erhören. Da wären klare Angaben hilfreich.

Den Klavierkonzerten Nr. 23 und 24 von Mozart mit Walter Gieseking und dem Philharmonia Orchestra von 1951 kommt die dezente Bearbeitung besonders gut entgegen. Sie brauchen mehr Licht, um ihren ganzen Zauber entfalten zu können. Mein Gott, wie schön das klingt! Karajan und Gieseking scheinen selbst ganz hingerissen und versunken in diese Werke, die wie von selbst klingen – als sei da gar niemand nötig, diese Noten mit Instrumenten zum Klingen zu bringen. Selten habe ich Mozart so intim, so zart gehört, so leicht. Dagegen wirkt das 2. Klavierkonzert von Johannes Brahms mit Hans Richter-Haaser am Klavier, das ich von der alten Schallplatte, die es als Lizenz sogar bis in die DDR gebracht hatte, immer als ziemlich schattig in Erinnerung hatte, wie Kontrastprogramm. Auch hier wirkt sich das Remastering zum Vorteil aus und hört sich wahrscheinlich besser an als das Original, was aber auch nur ein subjektiver Eindruck sein kann. Nur vereinzeln wirkt der Klavierpart etwas hart. Bei diese Einspielung von 1958 wirken bereits die Berliner Philharmoniker mit. Mit gut 50 Minuten ist die Kapazität der CD nicht ausgenutzt wie beispielsweise bei den Klavierkonzerten von Robert Schumann und Edvard Grieg  – als Solist wirkt ebenfalls Gieseking –  die es zusammen mit den Symphonic Variations von César Franck auf etwas mehr als 75 Minuten bringen.

Es wird also nicht immer deutlich, in welcher Zusammenstellung einzelne Werke einst auf LP gelangten. Das ist ein editorischer Nachteil, der nicht zu inhaltlicher Ordnung und Übersichtlichkeit beiträgt. Solisten als Klammer dieses Teils der Edition sagen nicht sehr viel aus, zumal neben den schon genannten Pianisten Dinu Lipatti sowie Kurt Leimer auftreten (in dessen eigenem Klavierkonzert in c-Moll und in seinem Klavierkonzert für die linke Hand, das 1953 vom Komponisten und Karajan 1953 mit den Wiener Philharmonikern uraufgeführt wurde; die Aufnahme in diese Sammlung entreißt es dem Vergessen). Mit Dennis Brain kommt noch ein weiterer Solist bei den Hornkonzerten 1-4 sowie in der Sinfonia Concertante von Mozart zum Zuge. Der Klarinettist Barnard Walton ist ebenfalls dabei, dann noch Sidney Sutcliffe mit der Oboe. Und dann ist da auch noch der Geiger Manoung Parkian, damals Konzertmeister des Phiharmonia Orchestra, in der berühmten Thais-Meditation von Jules Massenet, die der Zusammenstellung eine etwas unverhoffte Wendung ins Populäre gibt.

Im knappen Booklet, das auf Fotos der Solisten verzichtet, gibt es schließllich präzise Angaben über deren Zusammenarbeit mit Karajan. Es wird auch deutlich, woher die Aufnahmen stammen – nämlich von der EMI. Ja, es ist sogar vom EMI-Vermächtnis Karajans die Rede und von dem großen Anteil, das der einstige Chefproduzent Walter Legge daran hat. Schade, dass Warner zu Rezensionszwecken für uns Journalisten bislang nur diese eine Box zur Verfügung gestellt hat. (aus Kostengründen, sagen sie) Deshalb ist es leider nicht möglich, eine Würdigung des gesamten Projekts, das aber auch noch nicht abgeschlossen ist, vorzunehmen. Die Frage, ob auch die anderen Teile so gut ausgefallen sind, bleibt also offen.

Rüdiger Winter

Zur Wiedereröffnung eine Weltpremiere

Mit gleich zwei World Premiere Recordings beginnt das Genueser Label Dynamic das neue Jahr: mit der DVD (und nachfolgender CD als Soundtrack derselben) von César Francks Stradella aus der nach langer Renovierungsphase 2012 hiermit wiedereröffneten Opéra Royal de Wallonie und der CD von Antonio Mazzonis  Antigono, wobei es sich um keinen Druckfehler handelt und von dem an anderer Stelle die Rede sein wird.  Der belgische Komponist ist vor allem durch seine geistliche Musik bekannt, sein „Panis angelicus“ ist in aller Tenormunde, dass er auch vier Opern, wenn auch teilweise unvollendet, komponiert hat, ist kaum bekannt. Umso verdienstvoller ist es, dass sich die Opéra Wallonie des interessanten Stoffs annahm, der das Leben und Lieben eines anderen Musikers vor allem geistlicher Kompositionen zum Inhalt hat, eines Komponisten, der sein Leben durch Meuchelmord verlor, was die Regie (Jaco Van Dormael) dazu berechtigte, die Oper abweichend vom Original tragisch enden zu lassen. Dazu bauchte man an der Musik nichts zu ändern, lässt die beiden Protagonisten in die Schlusshymne als selige Geister mit einstimmen. Von César Franck stammen nur die Gesangsstimmen, die Klavierbegleitung und vereinzelte Notizen zur Orchestrierung, wie das bei Dynamic immer sehr interessante Booklet berichtet. Es wird vermutet, dass der Komponist aus Zeitmangel und wegen häufiger Erkrankungen diese Arbeit nicht vollenden konnte. Vielleicht wirkte es auch entmutigend, dass es zum gleichen Stoff eine Oper von Louis Niedermayer gab, die 1837 uraufgeführt worden war. Die einfühlsame Orchestrierung stammt von Luc van Hove, und in dieser Form wurde das Werk zum ersten Mal am 12.9.2012 aufgeführt. Die Musik enthält täuschend echt klingend alle Merkmale Franckscher Kompositionen.

Marc Laho als Stradella/Foto Opéra Royal de Wallonie

Marc Laho als Stradella/Foto Opéra Royal de Wallonie

Das auch von Niedermayer vertonte Libretto stammt von Emile Deschamps und Emilien Pacini und schildert die Rivalität des Komponisten Stradella und des Duca di Pesaro um die Liebe der schönen Léonor. Der Gefolgsmann des Herzogs erteilt nach einer Entführung von Léonor und ihrer Flucht aus dem Herzogspalast zwei Auftragsmördern den Befehl, den Komponisten zu töten. Die nehmen von ihrem Vorhaben Abstand, als sie seine wunderbare Musik hören, und persönliches Glück des Paares und allgemeiner Jubel bilden den Original-Schluss der Oper. Stradella wurde in Genua ermordet, Francks Oper spielt hingegen in Venedig und Rom, in der Inszenierung durchgehend in Venedig, das hier wie ein unheimliches Brügge wirkt.

Der Handlungsort Venedig suggeriert natürlich Wasser, und davon gibt es auf der Bühne von Vincent Lemaire überreichlich, es scheint sogar Aqua Alta zu herrschen, denn auch der Palast des Duca steht unter Wasser, die Mörder nahen schwimmend, schwankende Stege, die auch ab und zu im Wasser versinken, vermitteln eine Atmosphäre ständiger Bedrohung, die wechselnden Farben des Himmels mit zu- und abnehmendem Mond, der auch einmal zu singen beginnt, schaffen eine faszinierende Traumwelt. Am Schluss treiben Léonor und Stradella in liebender Umarmung in einer riesigen Wasserblase, die wie auch andere Elemente der Inszenierung einschließlich des Orchesters und des Dirigenten durch Spiegel verdoppelt wird.

Die Inszenierung stellt ungeheuere Anforderungen an die Sänger, so wenn Isabelle Kabatu als Léonor in einem überbodenlangen Kleid mit unzähligen Volants singend durch die hoffentlich angenehm warmen Fluten waten muss. Allein dieses Gewicht zu bewegen kostet Kraft, dazu singt sie mit farbenreicher, gut tragender Sopranstimme eines interessanten Timbres. Ihr Partner ist Marc Laho, dessen Frisur ein Verbrechen gegen die Gesetze der Ästhetik ist, der aber mit einem angenehmen lyrischen Tenor, der nur in der Höhe manchmal etwas eng wird, zu erfreuen weiß. Die seine ist eine Bombenrolle mit wunderbaren Melodien. Warum der Duc mit einem Sack voller schwarzer Luftballons, am hinteren Kragenrand angeheftet, durch die Calli schreitet, weiß man nicht. Vielleicht sollen sie ihn bei einem Sturz in einen der Kanäle über Wasser halten, kann man nur vermuten. Philippe Rouillon singt ihn mit immer noch basspotenter Stimme. Markant tönt Werner Van Mechelen als böser Strippenzieher Spadoni, eher schütter hört sich Patrick Mignon als Stradellas Freund Beppo an, der eigentlich eine Mezzopartie ist. Mit frischen Stimmen besetzt sind die Meuchelmörder, die von Xavier Rouillon und Giovanni Iovino gesungen werden. Die ins Lächerliche gezogene Venezianer Polizei wird von Roger Joakim sonor angeführt. Himmlisch schön singt der Chor, der von Marcel Seminara betreut wurde. Sensibel und höchst aufmerksam, wie man beobachten kann, leitet Paolo Arrivabene das Orchester. Eine hoch interessante Oper, die durch eine spektakuläre Inszenierung noch gewinnt (Foto oben: Marc Laho (Stradella) rechts, Xavier Rouillon (Pietro), Giovanni Iovino (Michael) und Ensemble/Foto  Jacques Croisier/Opéra royal de Wallonie-Liège, DVD Dynamic 37692 und resteverwertend auch als CD CDS 7692/1-2 akustisch identisch).

Ingrid Wanja     

Carl Amand Mangolds „Tanhäuser“

Nicht nur dasselbe Geburtsjahr, auch der geistesgeschichtliche Gehalt einiger Stoffe weisen auf die Nähe Carl Amand Mangolds zu Richard Wagner hin, und wie Wagner war Mangold (zumindest  in  einem  Fall) sein  eigener  Librettist.  Mangolds Tanhäuser nach einem Libretto des Österreichers und Grabbe- Biographen Eduard Duller (1809 – 1853) entstand zwar zeitgleich, aber völlig unabhängig von Wagners Bearbeitung dieses Stoffes.

"Tanhäuser"-Programmzeittel der Erstaufführung 1846/OBA

Mangolds „Tanhäuser“-Programmzettel der Erstaufführung 1846/OBA

Im Mittelpunkt steht die Geschichte des Minnesängers Heinrich von Ofterdingen, der um seiner Sünden Willen nach Rom pilgert, dort aber vom Papst keine Absolution erhält, sondern erst durch einen göttlichen Gnadenakt vor der ewigen Verdammnis gerettet wird. Wo jedoch bei Wagner die Tragödie des Renaissancemenschen, also des modernen Menschen steht, des Künstlers und Individualisten, der sich gegen die starre mittelalterliche Gesellschaft mit ihren verkrusteten und abgestorbenen Konventionen zur Wehr setzt, interpretieren Mangold und Duller ihren Stoff weitaus unproblematischer: Sie beziehen sich ganz auf das romantische Märchen vom Tanhäuser, der in den Venusberg zieht und erst durch die aufopfernde Liebe einer Frau, Innigis, errettet wird.

Der junge Carl Mangold/OBA

Mangolds „Tanhäuser“:  Der junge Carl Mangold/OBA

Mangolds Musik zeigt sich ganz auf der Höhe der Zeit, und ihre solide und inspirierte Tonsprache ist allemal eine Wiederentdeckung wert. Schon die grandiose Ouvertüre mit ihrer Verarbeitung von Themen aus der Oper und mit ihrem Choralzitat lässt Erstaunliches ahnen, und Mangolds Arien und Ensembles zeigen denn auch profundes kompositorisches Können und eine Gabe, volkstümlich-schlichte, aber eingängige Melodien zu erfinden. Besonders auch die dramatisch hochgespannten Rezitative brauchen den Vergleich mit Wagners Werken aus jenen Jahren (Der Fliegende HolländerTannhäuserLohengrin) nicht zu scheuen. Erstaunlicherweise haben die beiden Komponisten – die auch gleich alt waren – ihre Opern beinahe synchron geschrieben: Begonnen im Oktober/November 1843 beendete Wagner sein Werk am 29. Dezember 1844 und Mangold das seine eine Woche später, am 6. Januar 1845. Zwischen 1846 und 1850 ist Mangolds Tanhäuser in Darmstadt gespielt worden; abgelöst wurde er erst von einer anderen Mangold-Oper, der Gudrun von 1851. (Text: Programmheft Residenzfestpiele Darmstadt 2006)

Grub den "Tanhäuser" aus: Dirigent Wolfgang Seeliger/Residenzfestspiele Damstadt

Mangolds „Tanhäuser“ – Grub den „Tanhäuser“ aus: Dirigent Wolfgang Seeliger/Residenzfestspiele Damstadt

Im Juni 2006 präsentierte erstmals Wolfgang Seeliger mit seinem Konzertchor Darmstadt die Oper in moderner Zeit bei den Darmstädter Residenzfestspielen im dortigen Schlosshof „open-air“. Nun also die szenische Erstaufführung in unseren Tagen in Annaberg-Buchholz in Ingolf Huhns Inszenierung im April 20014.

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Die Oper im Spiegel der Zeitkritik:  A. Müller schreibt in der „ Neuen Zeitschrift für Musik“, Darmstadt,  aus dem Jahr 1848: „In Darmstadt ist vor Kurzem ein Werk eines jungen deutschen Componisten zum vierten Male über die Bühne gegangen, welches so viel des Schönen enthält, daß es wohl verdient, bekannt und verbreitet zu werden; es ist die Oper: Tanhäuser von C. A. Mangold, Gedicht von Eduard Duller. Der Handlung liegt die bekannte Sage von dem Ritter Tanhäuser in Thüringen und dem Hörselberge zum Grunde. Der Componist hat in der Ouvertüre einen wirkungsvollen Anfang der Oper hervorgerufen und damit, so wie in dem ganzen Werke eine große Instrumental- Kenntnis und einen sehr richtigen Tact in der Verwendung der musikalischen Mittel an den Tag gelegt, welche uns zu wahrer Anerkennung und Bewunderung auffordern müssen. Die Hauptcharaktere der Oper: Tanhäuser, Innigis und Eckhard, sind in allen Situationen so wahr und trefflich gezeichnet, daß sie ihre große Wirkung nicht leicht verfehlen können. Namentlich sind hervorzuheben: die Romanze Tanhäusers im Hörselberge – die beiden Arien der Innigis – die Romanze des treuen Eckhard vor dem Hörselberge und das gleich darauf folgende Gebet (Tanhäuser, Innigis und Eckhard), als Terzett ohne Instrumentalbegleitung behandelt. Die Parthie des Patriarchen Urban ist, besonders anfangs, so würdevoll gehalten, und ihm solch schöne versöhnende Cantabiles von trefflichen Chören unterstützt, in den Mund gelegt, daß die Behandlung des Actes gewiß großes Lob verdient. Der beiden Pilger-Chöre muß ich noch extra gedenken; auch sie zeugen von der Kraft und dem Talente des Componisten, das Beste zu leisten. Und so will ich denn mein Referat über diese Oper mit dem Bemerken schließen, daß der Componist Hoffnung hat, es baldigst auf einer der allerersten Bühnen Deutschlands zur Aufführung zu bringen. Wir wünschen ihr dort, so wie überall, das Glück, das die Oper verdient, und daß sie auch bei uns in reichem Maße gefunden hat. Die letzte dicht bedrängte Vorstellung, welche vom Componisten selbst geleitet wurde, war aber auch noch abgerundeter als die früheren, und ließ beinahe nichts zu wünschen übrig.“

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Zu Mangolds „Tanhäuser“: Friedrich Glasenapp/ Wikipedia

Dazu Carl Friedrich Glasenapp in Das Leben Richard Wagners (1905 Breitkopf und Härtel, Leipzig): „Den Herren Eduard Duller (als Dichter) und C. A. Mangold (als Komponisten) war es vorbehalten, auch das Sujet des Tannhäuser ›heiter‹ zu behandeln und es mit dem üblichen Ausgang aller Komödien, seit der neueren attischen, zu beschließen: Tannhäuser und Innigis empfehlen sich als Verlobte, der Venusberg stürzt zusammen, und in der Ferne erblickt man Tannhäusers Burg und eine ›herrliche Gegend‹, – das ist der Schluß von Dullers Dichtung, die der widerspruchsvolle Grässe ›verständiger‹ nennt, als die ›frömmelnde Verballhornung‹ des Volksliedes durch Wagner. Der Mangold-Dullersche ›Tannhäuser‹ gelangte am 17. Mai 1846 in Darmstadt unter ›ungeteiltem Beifall‹ zur ersten Aufführung; die Didaskalia nannte die Oper, in jeder Beziehung ein Erzeugnis echt deutscher Kunst. Es konnte wohl keinen ärgeren Fehlgriff geben, als den eines spekulativen Bearbeiters älterer Werke, E. Pasqué, das längst verschollene Werk in späteren Jahren (1892) wieder ans Tageslicht zu ziehen. Zeitungsnotizen über den Wert und die Bedeutung dieses eben entdeckten (vorgeblich, älteren!) Tannhäuser durchdrangen ankündigend alle Welt; die erneute Aufführung in Darmstadt (unter dem Titel Der treue Eckart) erwies aber nur erst recht den völligen Mangel des Werkes an innerer Lebensfähigkeit.“

Feuerbachs Darstellung des Tannhäuser/OBA

Mangolds „Tanhäuser“ – Feuerbachs Darstellung des Tannhäuser/OBA

Der Komponist: Carl Ludwig Amand Mangold wurde am 8. Oktober 1813, im selben Jahr wie Richard Wagner und Giuseppe Verdi, in Darmstadt geboren. Sein Großvater, Johann Wilhelm Mangold, stammte aus Groß-Umstadt im Odenwald, siedelte 1763 nach Darmstadt über, wo er zunächst Türmer an der Stadtkirche war, bevor er 1781 Geiger in der Darmstädter Hofkapelle wurde. Von da an war die Musikerfamilie Mangold in Darmstadt ansässig. Ersten Musikunterricht erhielt der spätere Komponist bei seinem Vater Georg, Geiger, Konzertmeister in der Darmstädter Stadtkapelle und später Hofkapellmeister, und bei seinem älteren Bruder Johann Wilhelm, ebenfalls Konzertmeister, dann Hofkapellmeister und Komponist. Bereits 1831 war Carl Amand als Geiger in der Großherzoglichen Hofkapelle engagiert. Seit 1835 trat er in Konzerten in Darmstadt als Violinsolist und auch als Sänger auf. Von 1836 bis 1839 studierte Mangold am Pariser Konservatorium Komposition, Violine und Gesang. Er verkehrte dort mit Meyerbeer, Berlioz, Chopin, Liszt und Clara Wieck, mit der er gemeinsam konzertierte; er schrieb für die Neue Zeitschrift für Musik. 1839 kehrte Mangold nach Darmstadt zurück. Zunächst übernahm er die Leitung des Musikvereins, die er bis zu seinem Lebensende innehatte. Hier brachte er im Lauf der Jahre alle seine großen oratorischen Werke zur Aufführung. Anfang der 1840er Jahre wurde Mangold als Korrepetitor an das Großherzogliche Hoftheater in Darmstadt engagiert. 1843 wurde hier seine Oper Das Köhlermädchen uraufgeführt; 1846 folgte die Uraufführung des Tanhäuser Mangold und Richard Wagner hatten sich gleichzeitig mit dem Tannhäuser-Stoff befasst – ohne voneinander zu wissen! Wagner begann die Arbeit an seinem Werk im November 1843 und beendete sie am 29. Dezember 1844, Mangold begann seine Komposition am 8. Oktober´1843, also einen Monat früher als Wagner, und vollendete sie eine Woche später, am 6. Januar 1845.

Zu Mangolds „Tanhäuser“: Venus und Tannhäuser/ Stich von Tischbein/ Wikipedia

Wagner gelang es in Dresden allerdings, sein Werk mehrere Monate früher zur Uraufführung zu bringen: Sein Tannhäuser ging am 19. Oktober 1845 zum ersten Mal über die Bühne, während Mangolds Tanhäuser erst am 17. Mai 1846 Premiere hatte. Das Werk wurde in Darmstadt begeistert aufgenommen und stand dort bis 1850 auf dem Spielplan, bevor es dann von Mangolds letzter Oper Gudrun abgelöst wurde. Weitere geplante Aufführungen des Tanhäuser in Leipzig und Berlin wurden, so beschreibt es Mangolds Bruder, offenbar mit Rücksicht auf Wagner, vereitelt. Nach Mangolds Tod wurde der Tanhäuser 1892 mit einem neuen Libretto von Ernst Pasqué, der in der Uraufführung die Partie des Patriarchen Urban gesungen hatte, unter dem Titel Der treue Eckart in Darmstadt zur Aufführung gebracht. 1848 wurde Carl Armand Mangold zum Hofmusikdirektor ernannt; nach seiner Pensionierung 1869 war er weiterhin als Chorleiter und Komponist tätig. Zu seinen weiteren Bühnenwerken gehören unter anderen das Ballett Dornröschen, das Singspiel Die Fischerin, die fragmentarisch gebliebene Oper Rübezahl und die ebenfalls nicht vollendete Komische Oper Der Cantor von Fichtenhagen. Mangold wurde als Komponist von seinen Zeitgenossen hoch geschätzt; breite Wirkung erzielte er vor allem durch seine zahlreichen Chorkompositionen, wie zum Beispiel die Oratorien Wittekind,  Abraham (der auf CD bei Carus vorliegt) oder Israel in der Wüste,  die Konzertdramen Die Hermannsschlacht, Frithjof oder Barbarossas Erwachen, die Symphonie-Kantate Elysium, die er auf Anregung Mendelssohns für das Schillerfest in Leipzig 1845 schrieb. Viele weitere Kantaten, Motetten, Hymnen, Männerchöre, Kirchengesänge und weit mehr als 300 Sololieder gehören auch zu seinem Werk. Jenny Lind, die „Schwedische Nachtigall“, nahm Lieder von Mangold in ihr Repertoire auf. Der Komponist starb im August 1889 an einem Herzinfarkt in Oberstdorf im Allgäu, wo er sich zur Erholung aufhielt.

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Mangolds „Tanhäuser“ – in Annaberg: Frank Unger und Bettina Grothkopf/Foto Dirk Rückschloß – bur Werbung

Der Librettist: Eduard Duller, war ein deutsch-österreichischer Schriftsteller, Historiker, liberaler Politiker und Prediger der Neukatholiken. Er wurde am 8. November 1809 in Wien geboren. Schon ganz früh begann er Gedichte zu schreiben; mit 17 Jahren veröffentlichte er sein erstes Drama mit dem Titel „Meister Pilgram“. Nachdem er in Wien ein Studium der Rechte und der Philosophie begonnen hatte, ging er 1830 nach Deutschland. In München arbeitete er zunächst als Journalist, unter anderem für den „Bayerischen Landboten“. Er begeisterte sich endgültig für die liberalen Ideen der Vormärz-Zeit. Über Baden-Baden und Trier wanderte Duller weiter nach Frankfurt am Main. Hier gründete er 1834 die belletristische Zeitschrift „Phönix, Frühlings-Zeitung für Deutschland“ und freundete sich mit Karl Gutzkow an, einem Protagonisten des Jungen Deutschland. Er gab Werke Georg Büchners und Christian Dietrich Grabbes heraus und verfasste einen Reiseführer über „Die malerischen und romantischen Donauländer”. Im Jahr 1836 siedelte Duller nach Darmstadt über; dort wurde sein Haus zum geistigen Mittelpunkt eines großen politisch liberal orientierten, literarisch interessierten Freundeskreises; dort lernte er auch Carl Amand Mangold kennen. Von 1841-1844 war Duller Herausgeber der neuen Zeitschrift „Das Vaterland“, 1848 war er ein glühender Anhänger der Revolution. In den Jahren darauf wurde Duller zum Vorkämpfer des Deutsch-Katholizismus, eine Bewegung, die die Lösung der deutschen Katholiken vom römischen Papst anstrebte. Im Sommer 1849 verlegte er Wohnsitz und Arbeit nach Mainz und widmete sich von hier aus ohne amtliche Genehmigung der Predigt für die deutsch-katholische Kirche. Zu Dullers Werken gehören neben Novellen und Gedichten auch eine viel gelesene „Geschichte des deutschen Volkes“ und eine Streitschrift gegen den Jesuitenorden mit dem Titel „Die Jesuiten wie sie waren und wie sie sind“. Eduard Duller starb am 24. Juli 1853 in Wiesbaden.

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Inhalt/Akt 1 (Thüringen, bei Tanhäusers Burg, in der Nähe des Hörselbergs) Innigis, die Tochter Eckhards, liebt heimlich den Herrn ihres Vaters, den Ritter und Minnesänger Tanhäuser. Während einer Jagd entfernt sich Tanhäuser von der übrigen Jagdgesellschaft und wird in den Hörselberg, den Berg der Venus, gelockt, in dem die heidnischen Götter hausen und die Menschen zu ewiger Verdammnis und höllischen Sünden zu sich locken. Innigis ist der Jagdgesellschaft heimlich nachgefolgt und gesteht Eckhard ihre Liebe zu Tanhäuser. Beide machen sich auf die Suche nach ihm. Tanhäuser ist inzwischen am Eingang des Berges der überirdisch schönen Venus begegnet und folgt ihr, trotz der verzweifelten Warnungen Eckhards und Innigis’, in den Berg. Innigis will ihm folgen, aber der Berg schließt sich krachend vor ihr. Eckhard und Innigis beten in- brünstig um himmlische Erlösung für den Verdammten. (Verwandlung) (Volksfest in Eisenach) Ein fröhliches Volksfest lässt die Zecher alle Sorgen vergessen, nur ein einzelner Sänger stellt sich ihrem Chor entgegen und warnt vor den Folgen der Zügellosigkeit. Da gewahren die Bürgerinnen und später auch die Bürger von Eisenach, dass ihre Kinder verschwunden sind.

in Annaberg: Frank Unger und Bettina Grothkopf/Foto Dirk Rückschloß - bur Werbung

Mangolds „Tanhäuser“ – in Annaberg: Frank Unger und Bettina Grothkopf/Foto Dirk Rückschloß – bur Werbung

Akt 2 (Im Venusberg) Gnomen, Nymphen und Mänaden führen einen Reigen zu Ehren Tanhäusers auf, bis Venus erscheint und dem Treiben Einhalt gebietet. Sie bittet Tanhäuser zu singen, denn nur der Gesang der Menschen lässt die Geister des Venusbergs weiterleben. Tannhäuser singt zur Harfe ein Loblied auf die Schönheit der Venus – plötzlich werden die Kinder von Eisenach an ihm und Venus vorübergeführt. Tanhäuser wird durch diesen Anblick wieder an die Menschenwelt und an Gott erinnert, er will wieder zurück auf die Erde. Venus lässt ihn unter der Bedingung ziehen, dass er für seinen Aufenthalt bei ihr Vergebung erflehen müsse. Kann er sie nicht erlangen, muss er für immer in den Venusberg zurückkehren. Der Venusberg versinkt, Tanhäus er ist freigegeben. (Verwandlung) Vor dem Venusberg hat Eckhard mit Innigis auf seinen Herrn gewartet, beide sind überglücklich, als Tanhäuser plötzlich wieder erscheint.. Alle drei beten um Erlösung für Tanhäuser, der sich vorüberziehenden Pilgern – den Eltern der verschwundenen Kinder – anschließt, um beim Patriarchen Urban von Jerusalem Vergebung zu erflehen. Innigis folgt ihm.

Akt 3 (In der Grabeskirche in Jerusalem): Während eines Gottesdienstes vergibt Urban den Pilgern ihre Schuld. Tanhäuser tritt nun einzeln vor Urban und bekennt seine Sünde: Durch seinen Aufenthalt bei Venus hat er an Gott gezweifelt. Urban verflucht ihn und schickt ihn fort. Nie könne er Vergebung erlangen, erst wenn der dürre Patriarchenstab in seiner Hand wieder frische Blätter treibe, würde Gott ihm verzeihen.

In Annaberg: Laszlo Varga mit Chor/Foto Dirk Rückschloß - bur Werbung

Mangolds „Tanhäuser“ In Annaberg: Laszlo Varga mit Chor/Foto Dirk Rückschloß – bur Werbung

Akt 4 (Sonniger Morgen auf einer weiten Anhöhe an der Grenze Thüringens): Tanhäuser und Innigis kehren zurück, Tanhäuser will seinen Schwur einlösen und zurück in den Venusberg. Innigis will ihn nicht allein ziehen lassen, sie bekräftigt ihre Liebe und will ihm folgen. Ihre Liebe soll beide vor der Verdammnis schützen und alle heidnischen Zauber brechen. (Verwandlung) Eckhard erwartet die unter Lobgesängen heimkehrenden Pilger, deren Anführer ihm von den Ereignissen in Jerusalem berichtet. Innigis und Tanhäus er folgen den Pilgern in einiger Entfernung und treffen nun ebenfalls auf Eckhard. Innigis berichtet ihrem Vater von ihrem Entschluss, Tanhäuser in der höchsten Not nicht zu verlassen. Eckhards Trauer kennt keine Grenzen, aber schließlich segnet er die beiden und lässt sie ziehen. (Verwandlung) (Vor dem Venusberg) Venus und ihre Geister heißen Tanhäuser willkommen. Eckhard und die Pilger pflanzen den Stab des Patriarchen in die Erde und knien nieder und beten zu Gott um Gnade. Tanhäuser und Innigis gehen in den Berg, der sich krachend schließt. Da geschieht das langersehnte Wunder: Der dürre Stab treibt Blüten. Eckhard schlägt mit dem Stab an den Berg, der sich öffnet und die gefangenen Kinder, Innigis und Tanhäus er endlich freigibt. In einem großen Lobgesang danken alle Gott für seine Gnade. (Programmheft Residenzfestspiele Darmstadt 2006)

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Die vorstehenden Texte entnahmen wir zwei Programmheften zum Werk: dem Programmheft zur szenischen Aufführung der Oper im Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz in der Inszenierung von Ingolf Huhn am 27. April 2014 (Redaktion Annelern Hasselwarder). In den Hauptrollen: Frank Unger in der Titelpartie, László Varga als Eckhart, Madelaine Vogt/Innigis weiterhin Marcus Sandmann, Jason Nandor-Tomory, Bettina Grothkopf und Rebekka Simon. Unter der Leitung von Noashi Takahashi: der Chor des Theaters nebst Extrachor sowie die Erzgebirgische Philharmonie Aue.

Soweit gekennzeichnet entnahmen wir die einleitenden Bemerkungen/musikalischen Wertungen und die Inhaltsangabe dem Programmheft zur modernen Erstaufführung in konzertanter Form bei den Residenzfestspielen Damstadt 2006 unter Wolfgang Seeliger (das uns Anne Stübing von der Pressestelle des Konzertchors Darmstadt liebenswürdiger Weise zur Verfügung stellte). Beiden gilt unser Dank.

Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit den Darmstädter Residenzfestspielen und dem Darmstädter Konzertchor unter der Leitung von Wolfgang Seeliger, der das Werk am 29. Juni 2014 in Darmstadt mit dem Beethoven Akademie Orchester Krakau aufführte. Redaktion G. H.

Ingolf Huhn

 

Über Jahre bin ich ein Fan von Ingolf Huhn, sag ich mal ganz unverstellt. Er ist und war Intendant an verschiedenen ostdeutschen Theatern der „Provinz“ und hat dort so wunderbare Titel wie Der Rattenfänger von Hameln von Nessler oder die Nibelungen von Dorn, den Pfeifertag von Schillings, Lortzings Pole und sein Kind und Rolands Knappen oder Götz von Berlichingen von Goldmark und viele mehr ausgegraben und realisiert, die meisten in moderner Erstaufführung – eine ganze Galerie von beinahe mythischen Titeln für den Opernliebhaber, der seinen Augen und Ohren nicht trauen wollte, sowas jemals zu erleben. Nun gibt es im April/Mai/Juni im Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz Mangolds Tanhäuser (nur ein -n!, und weil sich einfach keine Illustrationen dazu finden, steht oben eines dieser wunderbaren Liebig-Fleischextrakt-Bildchen zum fast gleichnamigen Werk des Kollegen Wagner); und auch das ist ein Grund zum Jubeln und der Anlass für ein Interview mit dem spiritus rector dieser einrucksvollen Langzeit-Opernarbeit, die beweist, dass nicht (nur) die bekannten Titel, sondern und vor allem auch die Begegnung mit Wichtigem aus der weniger populären Ecke lohnt. Deshalb ein paar Fragen an Ingolf Huhn.

Geerd Heinsen

Intendant und Musikarchäologe Ingolf Huhn/Foto Hihn/EVWT

Intendant und Musikarchäologe Ingolf Huhn/Foto Huhn/ETO GmbH

Ich fange einfach mit meinem Staunen an – was brachte Sie eigentlich auf diese „Schiene“ der Ausgrabungen von  Werken des mittleren und auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts? Titel wie von Dorn oder Nessler oder auch Schillings sind im allgemeinen Opernbetrieb derart apokryph und auch mythisch – was reizt(e) Sie daran? Ich bin im Theater des deutschen 19. Jahrhunderts sehr zu Hause, und da treibt mich dann einfach die Neugier immer weiter. Manche Stücke sind ja als Sprichwörter übrig geblieben (Das Nachtlager von Granada  oder „Behüt‘ dich Gott, es wär‘ so schön gewesen“ aus dem Trompeter von Säckingen); da will man dann einfach mehr wissen. Bei den Lortzing-Sachen komme ich von den großen und bekannten Titeln her, die ich unheimlich faszinierend finde – und hab‘ dann weitergeschaut; aber an Lortzing bin ich eh‘ interessiert: Wir haben ja 2001 in Freiberg dann auch eine Lortzing-Gesellschaft gegründet.

Szene aus den "Nibelungen" von Dorn Maria Gessler, Guido Hackhausen und Michael Kunze in Zwickau/Foto Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Szene aus den „Nibelungen“ von Dorn  in Zwickau/Foto Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Und dann gibt es noch lokale Bezüge: Wir haben in Meiningen den Schubertschen Grafen von Gleichen uraufgeführt: in einer Thüringen-orientierten Spielzeit oder so ein Brahms-Stück wie „Oh wüsst‘ ich doch den Weg zurück“, weil Brahms ja in gewissem Sinne auch Meininger ist. Der Name der Rose von Schumann in Zwickau erschließt sich von selbst, aber auch hier Der Löwe von Venedig unseres einzigen Annaberger Komponisten.

Wie kommt man an das Material? Mangold zum Beispiel? Haben Sie gute Kontakte? Sie können ja nicht alles selbst in den Bibliotheken nachforschen. wie sieht das Material im allgemeinen aus? Muss da nachorchestriert/ediert werden? Manchmal gibt es noch Verlage, die das Orchestermaterial haben, manchmal findet man beim Rundfunk etwas, aber wir haben auch schon handschriftliche Partituren ausschreiben lassen. Bei Lortzing ist Irmlind Capelle in Detmold diejenige, die alles hat und weiß. Und Mangold ist ja aus Darmstadt und der dortige Konzertchor unter Wolfgang Seeliger hatte den Tanhäuser schon mal konzertant gesungen, und jetzt machen wir damit eine Ko-Produktion.

Szene aus dem "Nachtlager in Granada" in Freiberg mit Maria Gessler und Michael Kunze/Foto Müller/Mittelsächsisches Theater Freiberg

Szene aus dem „Nachtlager in Granada“ in Freiberg 2003 mit Maria Gessler und Michael Kunze/Foto Müller/Mittelsächsisches Theater Freiberg

 Ich habe die lange Liste Ihrer spannenden Erstaufführungen, aber auch kaum gespielter Repertoire-Titel vor mir – das ist eine wunderbare breite Palette von wenig bekannten Titeln, gemischt mit Knallern wie die Mariza: Gibt es da einen roten Faden? Wonach planen Sie Ihre Saison? Wir planen immer so, dass wir zunächst eine Spielzeit bauen aus dem, was das Publikum braucht, was hier nötig ist und womit wir am besten unsere Überzeugung einlösen können, dass musikalisches Theater zum Leben dazugehört. Dann schauen wir natürlich, ob wir in diesem Repertoire noch etwas Aufregendes und Unerwartetes finden – also in dieser Spielzeit einen Amahl, besonders für die hier von weither kommenden Weihnachtsmarktbesucher. Und danach nehmen wir uns für jede Spielzeit eine wirkliche Ausgrabung vor. Das hat in den meisten Fällen auch Auswirkungen auf die Region: Da werden Leute aus der Ferne auf die Stadt oder auf das Erzgebirge aufmerksam.

Die Ausgrabungen kommen so gut wie immer (vielleicht bis auf so etwas wie d’Albert in Meiningen) aus dem deutschen Bereich im 19. und ganz frühen 20. Jahrhundert. Über die Jahre hin gibt es dann so etwas wie einen Zusammenhang und vielleicht wird unser Bild von dieser Epoche dadurch runder.

Szene aus Goldmarks "Götz von Berlichingen", Annaberg 2012/EVWT Annaberg/huhn

Szene aus Goldmarks „Götz von Berlichingen“, Annaberg 2012/ETO GmbH/Huhn

Theater – Sie waren ja eigenständig weitgehend an mittleren oder eher kleineren Theatern beschäftigt –  strapaziert so ein Repertoire nicht die Häuser, eben keine x-te Traviata zu machen, sondern diese vielen weitgehend unbekannten Titel? Wie sind denn die Publikumsreaktionen? Wenn ich nach Plauen, Döbeln oder Annaberg kam, war´s rappelvoll. und die Leute waren begeistert wie zuletzt (für mich) beim Götz. Aber schafft man das mit einem relativ kleinen Ensemble? Wo holen Sie die beachtlichen Sänger her? Denn viele der Werke sind ja auch für große Bühnen geschrieben. Eine solche Ausgrabung pro Spielzeit funktioniert gut – wenn man bei den anderen Produktionen in Auswahl und Inszenierung sorgsam ist. Und für das Publikum schauen wir, dass irgendein Haltepunkt dabei ist, der sie in die Aufführungen lockt. Also entweder ein Titel, den sie kennen oder ein Autorenname (Lortzing) oder die Assoziationen zu anderen Stücken (Nibelungen, Tanhäuser, Götz) oder halt so Sprichwörtliches, wie das Nachtlager von Granada oder der Studentenprinz in Heidelberg.

Und wenn das Publikum erst mal Vertrauen hat, geht es auch in Stücke, unter denen es sich gar nichts vorstellen kann – mit dem Satz, das ist ja „unsere“ Ausgrabung. Und wenn man dann ganz viel Glück hat, sind sie auch ein bisschen stolz darauf.

Szene aus "Der Rose Pilgerfahrt" von Schumann in Zwickau 2005/Foto Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Szene aus „Der Rose Pilgerfahrt“ von Schumann in Zwickau 2005/Foto Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Mit den Sängern haben wir viel Glück. In unseren kleinen Ensembles müssen sie ja ohnehin über die Fächergrenzen hinweg viel Verschiedenes singen, aber wir schauen sehr genau, dass wir nicht nur irgendwelche all-round-Leute engagieren, sondern sind da sehr heikel, was die stimmlichen Qualitäten angeht – und Spielfreude, Ausstrahlung und Stabilität. Ich hab‘ aber an allen Häusern immer wieder auch tolle Sänger vorgefunden, die ich nicht engagiert hatte und mit denen wir wunderbare Sachen machen konnten. Und dann kommt es natürlich auf die Dirigenten an: Ich hab‘ viel mit Georg Christoph Sandmann gemacht, einiges mit Martin Bargel – und hier in Annaberg vor allem mit Naoshi Takahashi. Und wenn so etwas so gut funktioniert, dann hat man schon viel gewonnen.

Noch einmal eine Szene aus den Dornschen "Nibelungen" in Plauen-Zwickau mit Maria Gessler, Guido Hackhausen und Michael Kunze /Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Noch einmal eine Szene aus den Dornschen „Nibelungen“ in Plauen-Zwickau /Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Sie sind ein Kupfer-, Irmer- und Berghaus-Schüler: Wieviel davon und von der damaligen Aufbruchsästhetik haben Sie mitgebracht in Ihre eigenen Inszenierungen? Ist das DDR-Erbe noch präsent? Sie sind ja auch beruflich im Bereich der ehemaligen DDR-Theater geblieben, ist da noch einiges herübergerettet worden? Ich verdanke Ruth Berghaus – bei der ich fünf Jahre assistiert habe – sehr viel. Und im dramaturgischen Denken vor allem Hans-Jochen Irmer. Das verliert man wahrscheinlich nie: die Haltung dem Theater gegenüber und der Gesellschaft und dem, was die Schnittstellen zwischen beiden markiert. Aber daneben sind dann auch meine Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten kirchlicher Jugendarbeit mit drin, die sich ja mit denselben Themen beschäftigt hat, wie die Theater.

Von dem, was guter Geist war in den DDR-Theatern – Inhaltsorientierung, Publikumsdialog, ästhetisches Verantwortungsbewusstsein, politische Wachheit gegenüber Zumutungen – lebt noch viel. Das, was richtig neu ist für uns (seit 20 Jahren) ist die Abhängigkeit vom Geld.

10 Jahre Kultursenator Sachsens – was beinhaltet das? Ich kannte die Position nicht. Der Sächsische Kultursenat berät die Staatsregierung in kulturpolitischen Fragen. Das ist ein Gremium von 24 Künstlern, Kuratoren etc. und dazu noch einigen Politikern, und man wird maximal zweimal für fünf Jahre gewählt.

Der Komponist Carl mangold, dessen "Tanhäuser" Ingolf Huhn in Annaberg inszeniert/OBA

Der Komponist Carl Mangold, dessen „Tanhäuser“ Ingolf Huhn in Annaberg inszeniert/OBA

Sie sind Mitglied der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags, sind Sie offenbar ein gläubiger Christ? Das finde ich in der Kombination mit Ihrem Theaterberuf und der DDR-Vergangenheit bemerkenswert und interessant: Drei Worte dazu, wenn Sie mögen. Ich bin Christ, evangelisch, habe auch noch in DDR-Zeiten ein Theologie-Fernstudium gemacht und arbeite seit vielen Jahren zuerst in der kirchlichen Jugendarbeit und dann vor allem in der Kirchentagsarbeit – hier in Sachsen und auf gesamtdeutscher Ebene. In der DDR waren ja Kirche und Kunst die beiden zentralen Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung außerhalb staatlicher Strukturen; das passte also gut zusammen. Heute ist das an beiden Stellen etwas weniger, aber der Ausgangspunkt stimmt immer noch. Und manchmal gibt es auch ganz praktische Berührungen: Ich habe beim Eröffnungsgottesdienst des Dresdener Kirchentages 2011 – neben vielem anderem – die Mammon-Szene aus dem Jedermann gemacht. Das predigt von allein.

"Der Rosae Pilgerfahrt" in Zwickau 2005/Theater Plauen-Zwickau/Huhn

„Der Rose Pilgerfahrt“ in Zwickau 2005/Theater Plauen-Zwickau/Huhn

Ausblick – wie geht´s weiter, wie sehen Sie die Zukunft der kleineren Theater wie Annaberg? Wird es weiter möglich sein, mit Phantasie wie der Ihren die finanziellen Engpässe zu überbrücken? Vielleicht könnte ich ein paar Zahlen zur Auslastung haben und zur Subvention des Theaters? Natürlich wollen wir alle, dass Sie möglichst unproblematisch weiterarbeiten können. Wir sind ein so reiches Land – da sollte man eigentlich darüber gar nicht reden müssen. Das Theater und das Orchester in Annaberg und Aue sind im Erzgebirge die Fahnenträger der Hochkultur. Und dass es uns hier gibt, hat ja außerordentlich weitreichende Wirkungen – in alle anderen Lebensbereiche hinein. Die Bevölkerung will das auch und nimmt uns als einen Teil ihrer Lebenswirklichkeit wahr. Und die Politik steht dazu, die Häuser zu erhalten, so, wie sie sind. Das ist ja alles sehr, sehr weit weg vom Reichtum oder auch nur von seriöser finanzieller Ausstattung. Aber wir erreichen mit einem Etat von siebeneinhalb Millionen und mit ca. 150 Leuten etwa 90.000 Zuschauer – inklusive unserer Freilichtbühne „Greifensteine“.

Und was die finanziellen Engpässe angeht: Für die kommunalen Träger hier ist das oft schon sehr mühsam, aber gesamtgesellschaftlich gibt es ja keinen Engpass, sondern Entscheidungen, wofür man Geld ausgibt: für Lebensnotwendiges, wozu gewiss auch Theater und Musik gehören, oder für weniger Notwendiges – oder ob man es verschleudert. Und in der Gesamtsicht ist es doch wohl ein schlechtes Geschäft, wenn man der Kultur Geld wegnimmt. Die Einbußen sind nicht nur mental und charakterlich, sondern auch rein wirtschaftlich.

Noch einmal Micvhael Kunze und Maria gessler in dem "Nachtlager von Granada" in Freiberg 2003/Foto Müller/Mittelsächsisches Theater Freiberg

Noch einmal Michael Kunze und Maria Gessler in dem „Nachtlager von Granada“ in Freiberg 2003/Foto Müller/Mittelsächsisches Theater Freiberg

Ausblick II: Pläne? Titel? Wünsche? Sie sind Ende 50, da gibt´s doch sicher noch Projekte? Mein Hauptziel ist, das Haus, wo ich jetzt bin, auf Jahre hinaus stabil zu machen, das weiterzutreiben und immer noch zu verfeinern, was es hier seit langer Zeit gibt: Theater und lebendige Musik, die die Leute neugierig machen und die zu ihrem Leben dazugehören. Und wir haben hier eine große Felsenbühne, die das Publikum sehr liebt – da wollen wir regional noch viel weiter ausstrahlen, weit über das Erzgebirge hinaus, aber auch mit je neuen Spielformen.

Und was Stücke angeht: Das Gebiet, in dem ich zu Hause bin, ist ja noch riesig, und wir haben eine lange Liste von Sachen, die wir prüfen oder wo wir schon wissen, dass wir sie wollen. Das nächste ist die späte Uraufführung von Lortzings Andreas Hofer im Dezember. Aber es gibt auch noch andere Genres: Ich habe vor ein paar Jahren die erste Stadttheater-Inszenierung von Kunze/Levays Mozart!-Musical gemacht und noch viel früher mal die Europäische Erstaufführung von Weills One Touch of Venus – also: Mein Herz ist auch bei Musical und Operette.

 

Noch einmal "Götz von Berlingen" in Annaberg 2012/ETO GmbHz/Huhn

Noch einmal „Götz von Berlingen“ in Annaberg 2012/ETO GmbH/Huhn

Ingolf Huhn: 1955 geboren am 28. März in Magdeburg; 1961-1973 Schulbesuch in Magdeburg; 1975-1980 Studium der Opernregie an der Berliner Hochschule für Musik »Hanns Eisler« bei Erhard Fischer, Hans-Jochen Irmer und Wolfgang Kersten; Assistenzen bei Carl Riha und Harry Kupfer; 1980-1984 Forschungsstudium Musikwissenschaft an der Universität Leipzig bei Werner Wolf, parallel dazu Fernstudium Theologie, Promotion 1985-1988; Meisterschüler der Akademie der Künste der DDR bei Ruth Berghaus; ab 1988 Regisseur am Meininger Theater und an den Vereinigten Bühnen Graz; 1993-1998 Operndirektor am Südthüringischen Staatstheater Meiningen; 1998-2003 Intendant der Mittelsächsischen Theater und Philharmonie GmbH in Freiberg und Döbeln; 2003-2008 Generalintendant und 1. Geschäftsführer der Theater; Plauen-Zwickau GmbH; seit 2010 Geschäftsführender Intendant der Erzgebirgischen Theater- und Orchester GmbH; 10 Jahre Kultursenator des Freistaats Sachsen; Mitglied der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags

Inszenierungen: 1980 Görlitz Der gestiefelte Kater (Cui); 1980 Fürstenwalde Weihnachtsgeschichte (Orff); 1986 Meiningen Gräfin Mariza; 1986 Altenburg Don Pasquale 1987 Meiningen Titus 1988 Così fan tutte; 1988 Pension Schöller, 1989 Evita, 1989 Armer Ritter (Hacks), 1990 Ein Maskenball; 1990 Graz Die Zauberflöte; 1991 Meiningen Little Shop of Horrors; 1991 Graz Don Giovanni (Gazzaniga); 1991 Meiningen The Rocky Horror Show, 1992 Hoffmanns Erzählungen, 1992 Die schwarze Orchidee (Eugen d’Albert) Erstaufführung nach 1945, 1993 Zar und Zimmermann; 1993 Leipzig Die grüne Gans (Steffen Schleiermacher) Uraufführung; 1993 Meiningen Figaros Hochzeit, 1993 Die lustige Witwe; 1994 Graz Stiffelio Österr. Erstaufführung; 1994 Meiningen One Touch of Venus (Kurt Weill) Europäische Erstaufführung, 1994 Der Freischütz, 1995 Carmen; 1995 Radebeul Così  fan tutte; 1996 Meiningen Der Graf von Gleichen; (Schubert/Rekonstruktion) Uraufführung, 1996 Die Legende von der Heiligen Elisabeth (Liszt) Szen. Erstaufführung, 1996 Eine Nacht in Venedig, 1997 La Bohème, 1997 Oh wüßt’ ich doch den Weg zurück (Brahms) Uraufführung, 1997 Die Entführung aus dem Serail, 1997 Eugen Onegin; 1997 Graz Hair, 1998 Meiningen Don Giovanni; 1999 Freiberg Der Trompeter von Säckingen (Victor Neßler) Erstaufführung nach 1945, 1999 Hoffmanns Erzählungen, 2000 Hair, 2000 Das Christ-Elflein (Pfitzner), 2001 Die Geschwister (Reimann) Uraufführung, 2001 Der Weihnachtsabend (Lortzing) Erstaufführung nach 1900, 2001 Der Pole und sein Kind (Lortzing) Erstaufführung nach 1900, 2002 (Kirche) Jedermann, 2002 Die schöne Müllerin (szenisch), 2002 Das Nachtlager in Granada (Conradin Kreutzer), 2003 One Touch of Venus (Kurt Weill) 2004 Der Rattenfänger von Hameln (Victor Neßler) Erstaufführung nach 1945; 2003 Zwickau Die schöne Müllerin (szenisch), 2004 Plauen Die Nibelungen (Heinrich Dorn) Erstaufführung nach 1945, 2004 Zwickau (Kirche) Jedermann, 2004 Zwickau Die Hochzeit des Figaro, 2005 Plauen Hair; 2005 Freiberg Rolands Knappen (Lortzing) Erstaufführung nach 1900; 2005 Zwickau Der Rose Pilgerfahrt (Schumann), 2005 Plauen Der Freischütz; 2006 Zwickau Der Pfeifertag (Max von Schillings) Erstaufführung nach 1945, 2006 Zwickau Der Rosenkavalier, 2006 In Knecht Ruprechts Werkstatt (Wilhelm Kienzl) Erstaufführung nach 1945, 2007 Zar und Zimmermann, 2007 Die Zauberflöte, 2008 MOZART! (Kunze/Levay) Erste Aufführung des Musicals an einem Repertoiretheater; 2009 Greifensteine Der Bettelstudent; 2009 Trier Die Bremer Stadtmusikanten; 2010 Annaberg-Buchholz Der Waffenschmied; 2011 Hair, 2011 Don Giovanni, 2011 (Kirche) Jedermann, 2012 Die Fledermaus, 2012 Götz von Berlichingen (Goldmark) Erstaufführung nach 1945, 2012 Greifensteine The Rocky Horror Show, 2013 Der Freischütz, 2013 The Student Prince (Romberg) Erste Aufführung an einem deutschen Theater  (und der Vollständigkeit  halber und nicht von Ingolf Huhn inszeniert, gab es 2013 Peter Gasts Löwe von Venedig in der Produktion durch Tamara Korber/G. H.)

 

Die Fotos stellten uns Ingolf Huhn und Christoph Nieder vom Mittelsächsischen Theater Freiberg dankenswerter Weise zur Verfügung.

 

Wunder aus der Kiste

Die ganz große Überraschung im Paket der 2. Staffel der “neuen” Decca-Recitals (viele davon erstmals als CDs und beklagenswert ausgestattet) ist die von Flaviano Labò (1927 – 1991), der wunderbare Don Carlo auf der alten DG-Aufnahme von der Scala mit der Stella. Mit nur 8 Tracks handelt es sich beim Umschnitt von 1956 um eine 25-cm-LP, wie sie in Fünfzigern üblich waren. Ich muss gestehen, dass ich nicht einmal wusste, dass es diese gegeben hat, liebte ich doch immer Labòs Stimme wegen ihrer Unverwechselbarkeit, wegen ihres etwas körnigen italienischen Timbres – er ist für mich so eine Art Bastianini als Tenor. Labò hatte eine solide, nicht wirklich spektakuläre Karriere in einer Zeit, die an Tenören überreich war. Er debütierte nach einem Studium bei Campogalliani in seiner Heimatstadt Piacenza als Cavaradossi (was man heute niemandem als Debüt raten würde) und eroberte schnell die europäischen und vor allem südamerikanischen Häuser, damals stets eine gute Gelegenheit für die Karriere und das Geld. Er sang das klassische Fach wie Forza, Traviata, Aida, Turandot an der Met, in San Francisco, New Orleans oder Philadelphia, aber auch in Europa – London, Scala, Wien und Zürich. Er besitzt eine wirklich bestens geschulter italienische Stimme, mittelgroß und nie brüllend (wie Del Monaco), wie sich auf den wenigen Livemitschnitten mit ihm feststellen lässt: so in der Mexico-Aida mit der Cerquetti 1958. Zu seinen wenigen offiziellen Aufnahmen gehören die Ausschnitte der Manon Lescaut mit der Moffo bei RCA unter Leibowitz und der besagte Don Carlo 1960 von der DG. Umso erfreulicher ist nun diese Ausgabe bei Decca, erstmals auf CD, mit seinen Klassikern: Forza, Gioconda, Tosca, Turandot, Fedora. Previtali begleitet wie gewohnt – was für eine schöne und einmalige, hochpersönliche italienische Stimme (480 8162 bei dürftigster Ausstattung, vergogna! Immerhin gibt es für diese Serie nun die Originalcover und Originalnummern der LPs, und diese sind in Gänze und der originalen Reihenfolge übernommen).

labo deccaAngehängt – und das ist die begrüßenswerte Mogelpackungs-Praxis dieser Edition bei Decca (wenngleich vorne nicht vermerkt) – ist sein Kollege Bruno Prevedi (1938 – 1988): Bruno Prevedi sings Great Italian Arias, auch hier 5 CD-Premieren. Viel Puccini, Verdi, Mascagni und Giordano. Die Stimme hat nicht denselben Impakt wie die von Labò bei mir und bleibt mir vergleichsweise weniger persönlich, aber was red´ ich: Heute würde man auf den Händen laufen, um ihn zu hören, und eine Bombentechnik erlaubte Prevedi die Karriere im großen Fach trotz relativ schmaler Stimme, wie ich mich erinnere, ihn in Berlin gehört zu haben. Und noch ein Anhängsel bringt Gianni Raimondi (1923 – 2008) mit Tosca und Fanciulla ins Bild. Auch hier sagt man: Was für eine schöne, gut geschulte lyrische Stimme mit fast unendlichem Potenzial. Er war der Tenor der Callas-Aufnahmen im Belcanto-Bereich, sang von der Favorita bis zu Anna Bolena die ganze Bandbreite, sogar den Arnoldo an der Scala (bei heruntergesetzter Höhe) und blieb weitgehend im mittleren Fach – auch er eine Bereicherung für das Ohr und ein memento, was für tolle Tenöre Italien einmal hatte.

conleyUm bei den Tenören zu bleiben: Eugene Conley (1908 – 1981). Seine drei Decca-25er sind ebenfalls im Umschnitt erstmals als CD erschienen und zeigen einen sehr überzeugenden lyrischen Tenor der Sonderklasse, wie man ihn aus den Mitschnitten mit der Sayao oder Nelli in Erinnerung hat. Er war eigentlich der Inbegriff des erstklassigen amerikanischen Tenors der Met im lyrischen Fach, selbst wenn er auch an der Opéra-Comique in Paris, an der Scala oder in Covent Garden auftrat. Er stammte aus Massachusetts und machte an der berühmten Academy of Music in Brooklyn sein Debüt als Duca 1940, ging nach dem Krieg an die New York City Opera mit dem Rodolfo und dann auf ein Europa-Engagement, wie das damals für amerikanische Sänger üblich war. 1951 war er der Partner für Maria Callas in den Vespri an der Scala. Vorher, 1950, hatte er als Faust sein Debüt an der Met und nahm diesen neben Eleanor Steber für Columbia auf (inzwischen bei Preiser u. a.). Er war der erste Tom Rakewell unter Strawinsky in Venedig und New York. Alle seine Aufnahmen zeigen diese unerhörte Jugendlichkeit, fast Unbekümmertheit, und sein Timbre ist zwar amerikanisch-weißlich, aber doch voller Persönlichkeit und sehr vielseitig. Die drei LPs, die hier versammelt sind, zeigen ihn bis auf die Tosca in seinem angestammten Fach: Martha, Bohème, Rigoletto, Faust, sodann (viel eindrucksvoller) in den Puritani, Africana, Lucia und Gioconda (wunderbares „Cielo e mar). Angehängt sind die wirklichen Goodies. Victor Herberts Naughty Marietta und Vermischtes an Traditionals wie Danny Boy und der Schmachtfetzen Thine alone aus Herberts Eileen, A3): Schmalz und Schmelz, Wunderbares auf über 78 Minuten (popelige Ausstattung again/4808145).

rouleauDer Franco-Kanadier Joseph Rouleau (1929 geboren) ist bei Decca mit einer halben CD im Umschnitt seiner 25er unter John Matheson geehrt, und eben dieser Dirigent ist derselbe, der auch mit dem bis heute unerreichten Don Carlos in der originalen französischen 5-Akt-Fassung bei der BBC (Opera Rara brachte die exzellenten Radio-Bänder heraus) in die Unsterblichkeit eingegangen ist – Rouleau ist hier Philippe II. Geboren in Quebec war die Zweisprachigkeit für Rouleau der ganz große Vorteil, denn schon damals reüssierten Mutterland-französische Bässe kaum im Ausland. Rouleau hatte bei Martial Singher in Montréal studiert, machte sein Debüt in der Bohème in New Orleans, sang dann erstmals seine signature-role, den Philippe II, in Montréal. Er bekam schnell Engagements in Europa, so in London und blieb in über 40 Produktionen dem Hause treu. Dazu kamen Paris und eine lange Tour durch Australien mit der Semiramide. Bonynge holte ihn für Aufnahmen mit seiner Frau bei Decca. Neben vielen Auftritten von der Scala bis Manchester wandte sich Rouleau auch dem deutschen Fach zu, so als Titurel oder im Russischen auch Boris Godunow. Er wurde in seinem Heimatland hochgeehrt mit verschiedenen Auszeichnungen und Orden und war lange Professor für Gesang in Quebec. Die CD zeigt ihn in eben diesen seinen besten Rollen: in Don Carlos, den Vêpres, Faust, Hérodiade, den Huguénots, der Jolie fille de Perth, La Vièrge und Le Caid von Thomas – eine sehr persönliche, recht körnige und manchmal auch weitschwingende, gutsitzende Bass-Stimme erzfranzösischer Farbe.

Leider sind die angehängten Russischen Arien von (kein Wortspiel) Raphael Arie (1922 – 1988) nicht von dieser Klasse. Ich hab seine Stimme nie gemocht und bin deshalb befangen. Ich fand die Stimme immer ein bisschen unsauber und „wollig“, grummelig – schwer zu beschreiben. Er war ein verdienter Bassist aus Sofia, wo er im Messias debütierte, 1947 ging er bereits an die Scala, sang in ganz Europa, den USA. 1951 nahm er an der Premiere des Rake´s Progress in Venedig teil und sang viel in Wien, war 1960/61 der Großinquisitor im Don Carlo in Salzburg (neben der Jurinac). 1978 verlegte er seinen Wohnsitz nach Israel und starb 1988 in der Schweiz. Die russischen Arien  sind Ausschnitte aus den Gesamtaufnahmen der Decca von deren Boris Godunow und Dämon aus Belgrad, angekoppelt weitere aus dem Fürst Igor, Sadko und dem Leben für den Zaren. Alles sehr verdienstvoll, aber eben… (und ich sage nur: Ausstattung!!!)

warfield mccrackenWas war das für ein Skandal damals beim Propheten Meyerbeers an der Deutschen Oper Berlin 1966 wegen der angeblich provozierenden Produktion, in  der ein Theater auf der Bühne nachgebaut war und sich das Publikum im Saal gespiegelt sah und beim Ballett übel nahm. Das Hohe Paar waren damals Sandra Warfield (1921 – 2009)/Fidés und James McCracken (1926 – 1988)/Jean, und ein Mitschnitt belegt, wie wenig werkdienlich und brutal gesungen wurde (und auch der sonst von mir so geschätzte Hollreiser haute in die Vollen).  Decca hat das Ehepaar mit dessen Duett-LP (Duets of love an Passion: „anything you can sing…“) in breiten Auszügen aus Samson et Dalila, Otello (!), Carmen und Aida erstmals auf CD wieder herausgegeben – very much the Met und eben den Sechzigern in Geschmack und Ausdruck  verhaftet, beide sehr robust, unidiomatisch und im Stil ihren Kollegen Tucker oder Milnes ähnlich: Met eben, wo beide die Haussänger waren. Angehängt ist „James McCracken on Stage“ mit den Felsen seiner Karriere. Er war ja ein Tüchtiger, wenngleich Unsubtiler, eher laut als beglückend: Trovatore, Forza, Otello, Fanciulla, sogar Meistersinger und Tannhäuser, enorm (480 8165/Ausstattung!!!).

micheauZwei französische Remakes runden den zweiten Schwung an Decca-Most-Wanted-Recitals ab. Da ist zum einen die sehr unterschiedliche Janine Micheau, die früh schon recht sauer klang, die aber mit ihren ersten 25ern bei Decca doch recht beglückend und urfranzösisch sich durch ihr Kernrepertoire singt, das des soprano légère, also Juliette, Olympia, Rosine (ah, les Francais), natürlich LouisesDepuis le jour und Leila, dazu die endlosen Proch-Variationen (an denen sich auch die Callas in ihren Anfängen vergriffen hatte – sowas mögen nur hohe Soprane!). Angehängt sind wirklich reizende Auszüge aus der Mireille-Gesamaufnahme und den Pecheurs, alles aus den frühen 50ern und alles wirklich tadellos idiomatisch und mit jenem starken Schuss Essig darin, der die legéren Soprane Frankreichs ausmachte. Die Micheau war vor der Mesplé die Sopranistin fürs lyrische Fach, was eben nicht dünn besetzt wurde, sondern Stimmen mit Stamina und Durchhaltevermögen verlangt. Weder die Leila noch die Mireille sind „Pippi“-Partien sondern richtige Brummer, wie die Juliette ja auch, die heute mit Gheorghiou & Co., besetzt werden, was falsch ist, weil viel zu dramatisch und zu dunkel. Die hellen Stimmen machen diese Partien mädchenhaft und stehen in der Tradition einer Marguérite/Huguenots der Dorus-Gras. Die Micheau (1914 – 1976) war ideal für dieses Repertoire. Ihr charmantes Lächeln täuschte nicht über ihre eiserne Entschlossenheit hinweg, die sie im Alter so sauer klingen ließ. Sie kam aus Toulouse, studierte in Paris und debütierte an der Comique 1933 mit den üblichen choses von Ibert, Charpentier und Erlanger. Sie arbeitete sich in ihr eigentliches Fach hoch an der Opéra und der Salle Favart, sang Lakmé, Micaela und Leila, war nicht unangefochten unter der deutschen Besatzung, gab Mélisande in Amsterdam und Sophie unter Kleiber père in Buenos Aires. Nach dem Krieg hatte sie eine internationale Karriere von der Scala bis Chicago, vor allem im französischen Repertoire, wo sie auch in manchen Uraufführungen sang, so in Milhauds Médée. Sie war dann vor allem als renommierte Konzert- und Liedsängerin bekannt und machte unendlich viele Aufnahmen auf LP und beim Radio. 1961 wurde sie Professorin am Pariser Konservatorium und verabschiedete sich mit der Pamina (!) in Rouen 1968 (4808166/Ausstattung!!!).

souzayZu meinen ersten LPs gehörte die Barocke-Arien-(Philips?-)LP von Gérard Souzay, vorne als extrem sexy aussehender Don Giovanni abgebildet. Die gibt’s nun nicht, aber dafür die andere, quel bonheur. Er singt Barockarien von Händel bis Lully, mit einer wunderbar weichen, prachtvoll erotischen Baritonstimme, mit jenem Versprechen darin, das Fischer-Dieskau nur in den allerersten Aufnahmen hatte. Diese Diktion, diese ardeur (jaja, ich weiß, das schreibe ich immer, wenn es um erfüllten französischen Gesang geht, aber diese ist unerlässlich für eben dieses Repertoire), diese Unmittelbarkeit der Kommunikation war auch damals, in den Sechzigern, nicht eben häufig anzutreffen. Nature, amour, qui partagez mon coeur aus Rameaus Castor et Pollux ist ein Paradebeispiel dafür. Raymond Leppard begleitet wie stets zu Mahler-esk. Und die angehängten Philips-Auszüge aus Monteverdi, Händel, und Gluck sind ebenfalls eine Offenbarung – dass Barockmusik so unglaublich verführerisch klingen kann: Da kommt man ins Schwärmen (zumal sich hier nun besagtes Foto wiederfindet). Souzay (eigentlich Gérard Marcel Tisserand, 1919 – 2004) kam aus einer Sängerfamilie und wurde bei Panzéra und Bernac ausgebildet, was sich in seiner immensen Eignung für seine  Konzerttätigkeit niederschlug. Er galt in seiner Generation als der französische Sänger für die mélodies und das Lied (auch und vor allem das deutsche), viele LPs zeugen von seiner gestalterischen Kraft, die er auch seinen Lehrern Claire Croiza und Vanni-Marcoux verdankte. Seine Bühnenkarriere (Mozart, Berlioz, Debussy – der führende Golo jener Tage und für Ansermet um einen Ton zu „kurz“ für den Pelléas selbst) stand hinter seinen Konzertauftritten zurück, die ihn um die Welt führten. Er war einer der besten Sänger seiner Zeit. Auch als Komponist versuchte er sich, aber sein Andenken wird ganz sicher in seinen vielen und wunderbaren Lied-Einspielungen bewahrt. Deshalb sind mir seine Barock-Arien bei Decca, erstmals auf CD – so kostbar (480 8179/hatte ich schon etwas zur fehlenden Ausstattung geschrieben?).

Geerd Heinsen

 

van millEr war in Bayreuth zwischen 1951 und 1960 u. a. Hunding, Daland, Fafner, Fasolt und Marke (auch in Soltis Einspielung). In Karajans „Aida“-Aufnahme (bei Decca) war er der Ramfis. Der holländische Bassist Arnold van Mill (1921-1996) hatte eine weltweite Karriere, die ihn an die Scala, die Wiener Staatsoper und das Teatro Colon führte. Auch wenn Wagners Werke, die zu seinem Grundrepertoire zählten, ebenso wie italienische Partien nicht auf der CD Arnold van Mill sings favourite Opera Arias (Decca 4808167) enthalten sind, zeigt sie doch viel von seinem Können und seiner Persönlichkeit. Hier steht die Komik der deutschen Spieloper im Mittelpunkt: Nicolais Sir John Falstaff („Die lustigen Weiber von Windsor“), Lortzings van Bett („Zar und Zimmermann“) und Baculus („Der Wildschütz“) sowie der Abu Hassan in „Der Barbier von Bagdad“ von Peter Cornelius. Es sind diese Figuren voller Kraft und Lebensfreude, die in unerschütterlichem Selbstbewusstsein mit sich und der Welt eins sind, denen van Mill eine rundum vergnügliche Charakterisierung angedeihen lässt. Die aufgeblasene Selbstgefälligkeit des Bürgermeisters van Bett trifft Arnold van Mill bei „O Sancta Justitia“ punktgenau, herrlich seine Verzweiflung bei „Den hohen Herrscher würdig zu empfangen“ – man „sieht“ geradezu, wie er sich die Harre rauft. Bei den „5000 Talern“ trumpft er als Schulmeister Baculus mit seinen mächtigen Bass kraftvoll auf – fast wie Gottlob Frick. Und selbst dem etwas betulichen „Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar“ („Der Waffenschmied“) kann van Mill hörenswerte Nuancen abgewinnen, während der Kerkermeister Rocco vielleicht doch eine Spur zu harmlos ausfällt. Der schurkische Kaspar aus dem „Freischütz“ war eine Glanzpartie von Arnold van Mill. Die beiden Arien auf dieser CD unterstreichen das nachdrücklich, vor allem das bedrohliche „Schweig! Damit dich niemand warnt“. Wer van Mill in einer Gesamtaufnahme des „Freischütz“  erleben möchte, dem sei die NDR-Aufnahme (Hamburger Archiv für Gesangskunst bzw. Cantus) mit Muszely und Kónya empfohlen. Weitere Glanznummern beschert van Mill als Abu Hassan („Der Barbier von Bagdad“), den er an seinem Stammhaus Hamburg und bei den Edinburgher Festspielen gesungen hat.  Mit flinkem Parlando bei „O wüsstest Du, Verehrter“ und dem herrlich salbungsvollen „Heil diesem Hause“ liefert van Mill eine prachtvolle Visitenkarte seiner komödiantischen Fähigkeiten.

Es wäre schön gewesen, wenn man diese 1962 entstandenen Einspielungen  (damals für Philips) mit Chor und Orchester unter Robert Wagner mit weiteren Aufnahmen von Arnold van Mill ergänzt hätte.  Aber hier gibt es nun Lieder  von Mussorgsky, Glinka, Rachmaninov , Rimsky-Korsakov und anderen mit dem bulgarischen Bassisten Raffaele Arié (hier als Raphael Arié geführt), der ebenfalls im russischen und italienischen Fach eine bedeutende Karriere gemacht hat, wenn auch nie in der Liga eines Boris Christoff oder Nicolai Ghiaurov. Aber diese Liedaufnahmen (1953 als Recital of Russian Songs entstanden und CD-Premieren auch sie) haben durchaus ihre Meriten, auch wenn gleich das am Beginn stehende Flohlied des Mephisto etwas enttäuscht. Am besten gelingen ihm die Lieder, in denen er sich in schönem, melodischem Fluss verströmen kann.  Das traditionelle Lied der Wolgaschiffer etwa gehört dazu. Begleitet wird er von Wilfred Parry am Klavier.

Wolfgang Denker

 

DECCA setzt die Reihe fort, mit der sie gestandene Opernsänger im sogenannten U-Fach präsentiert. Nach George London ist es nun an einem der bedeutendsten italienischen Bässe des vorigen Jahrhunderts, zu zeigen, wie man sich Songs vorzustellen hat, die nicht von einem Crooner interpretiert werden. Und da ist absolut festzustellen, dass der Swing nicht nur im Besitz der Amerikaner ist! Wer Cesare Siepi in den großen Repertoirerollen in Erinnerung hat und bewundert, wird mit dieser Interpretation der Songs von Cole Porter eine große Überraschung erleben, denn der Bass stellt sein schmeichelndes, erotisches Timbre absolut in den Dienst des Komponisten und lässt seine Herkunft aus der E-Branche, auch dank seines überzeugenden US-Tonfalls, schnell vergessen. Beginnend mit „Night and day“, sind alle großen Cole Porter-Hits zu hören, die über „I‘ve got you under my skin“ bis zu „Wunderbar“ reichen. Die CD 480 8177 ist somit absolut empfehlenswert für Musical- und Jazzliebhaber und natürlich für Sammler, die einmal „was anderes“ wollen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Programm hat es schon bei Myto 1998 gegeben, als Bonus erweitert um acht canzoni von Tosti bzw. in dessen Stil; hier hingegen ist der Bonus Verdiarien aus „Nabucco“, „Ernani“, „Simon Boccanegra“ und „Don Carlo“ gewidmet – eine Ergänzung, die dem Hörer zeigt, wie sehr der Mailänder auf beiden Gebieten zuhause war.

Adam Felix

 

Und die Decca-Serie geht weiter…

Auf gutem Weg zu Wagner

Bereits Bayreuth-Weihen empfangen hat der englische Bassbariton James Rutherford, als er 2010 und 2011 den Sachs dort sang, und so erscheinen auch die beiden Tracks aus dieser Wagner-Oper auf seiner CD, die bei BIS erschienen ist, als die interpretatorisch reifsten. Es beginnt mit der Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, gespielt vom auch den Sänger begleitenden Bergen Philharmonic Orchestra unter Andrew Litton, mit langer Generalpause, betont langsamem Balladenthema, aber auch die verspielten Momente (Steuermann) und vor allem die Kontraste hervorhebend. Des Sängers erster Beitrag ist der Auftrittsmonolog des Holländers mit verhaltenem Beginn einer betont viril klingenden Stimme, deren Gesang sich durch eine erfreuliche Textverständlichkeit auszeichnet. Es fällt aber auch auf, dass die Stimmqualität keine einheitliche ist, dass das Passaggio hörbar Probleme bereitet, die Tiefe sonor, die Höhe strahlend klingt, dazwischen aber der optimale Sitz der Stimme in Gefahr gerät. Bei einem allgemein angenehmen Timbre ist auch bei Wolframs „Blick‘ ich umher“ der eine oder andere gequetscht klingende Ton nicht zu überhören. Des Minnesängers „Lied an den Abendstern“ scheint die Stimme bereits entwachsen, denn das Piano am Schluss des Rezitativs scheint dem Sänger schwer zu fallen, und der Arie fehlt es etwas an Geschmeidigkeit. Eher ist Rutherford schon ein Telramund mit „Du fürchterliches Weib“, und hier stört das nicht gleichmäßige Ansprechen der Stimme nicht besonders. Kernig-Rezitativartiges liegt ihr besonders gut, so der Parlandostil in „Wie duftet doch der Flieder“, mit äußerst fein gesungenem „süße Not“ und einer sehr poetischen Begleitung durch das Orchester. Im Wahn-Monolog bestechen wieder die vorzügliche Diktion, das hörbare Wissen um die Figur, die sinnvollen Variationen, das nachvollziehbare Vorantreiben des gedanklichen Geschehens – und „Johannisnacht“ klingt sehr geheimnisvoll-poetisch. Dazwischen spielt das Orchester mit schön dunklem Streicher- und Bläserklang voll schmerzlicher Intensität das Vorspiel zum 3. Akt der Meistersinger. Farbig und mit schöner Tiefe und mit einem feinen Schwellton auf „Glanz“ gestaltet der Bariton Amfortas‘ „Ja! Wehe! Wehe!“ mit sehr berührendem „Mein Vater“. Bei Wotans Abschied wiederum fällt sich ein nicht vollkommen beherrschtes Passaggio auf, und das Vibrato ist Geschmackssache. Die schöne Fermate auf „nie“ und die Gesamtgestaltung des traurigen Gottes können aber auf jeden Fall damit versöhnen. Von diesem Sänger ist sicherlich im Wagnerfach noch viel Gutes zu erwarten (James Rutherford sings Wagner; BIS-2080).

Ingrid Wanja          

Der Mohr in Zürich

Seit einigen Jahren gehört das Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier zu Ceclia Bartolis bevorzugten Regisseuren. Auch für die Produktionen von Giulio Cesare und Norma bei ihren Pfingstfestspielen in Salzburg hat sie die beiden Künstler als Mitstreiter auserwählt. Dort wird im Juni, weil das Festival-Motto „Rossinissimo“ lautet, neben des Komponisten La Cenerentola auch dessen  Otello gezeigt, den das Regie-Duo 2012 am Opernhaus Zürich herausgebracht hatte. Davon gibt es nun einen Live-Mitschnitt bei Decca (074 3863), die behauptet, dass das selten gespielte Stück durch die beiden Regisseure neu belebt worden sei – und dabei übersehen hat, dass das 1816 in Neapel uraufgeführte Werk seit Jahren im Programm des Rossini Festivals in Pesaro einen festen Platz einnimmt. Dort wurde es 1988, 1998 und zuletzt 2007 gezeigt, als Juan Diego Flórez den Rodrigo sang – einer von fünf geforderten Tenören in dieser Oper, was die Besetzungsbüros heute vor kaum lösbare Aufgaben stellt. In Zürich wurde die Rolle, die Giovanni David kreiert hatte, Javier Camarena anvertraut, der die exponierte Partie beachtlich meistert. Seine Spitzentenöre haben Strahl und Durchschlagskraft, die Koloraturen schmeicheln und fließen. Die Arie zu Beginn des 2.Aktes „Ah, come mai non senti“ in ihrer  heiklen Tessitura bewältigt er souverän. Sie mündet in eine reich verzierte Cabaletta mit jenem Thema, welches von fremder Hand später als motivische Grundlage für das buffoneske „Katzenduett“ missbraucht wurde. Hier kann er nicht nur seine Virtuosität zur Schau stellen, sondern macht aus dem Stück auch ein spannendes Charakterporträt eines leidenschaftlich Liebenden, der zerrissen ist zwischen Verzweiflung und Vergeltung. Auch im Terzett mit Otello und Desdemona im 2. Akt überrascht er mit erstaunlichem gestalterischem Furor und stimmlichem Aplomb.

Die Titelrolle, die bei der Uraufführung Andrea Nozzari interpretiert hatte, singt der im Rossini-Fach erfahrene John Osborn (beispielsweise war er Renée Flemings Partner in der Armida an der Met), der sogleich in seiner Auftrittskavatine („Ah sì, per voi già sento“) heldische und lyrische Momente zu vereinen weiß. In der Stimmfarbe und -typ trifft er, verglichen mit großen Rollenvertretern der letzten Jahre, den Charakter der Figur allerdings nicht ideal. Darstellerisch zeichnet er den Verfall des Helden genau und (besonders in der tragischen Schluss-Szene) auch ergreifend.

In der dritten großen Tenorpartie, der des Jago, geschrieben für Giuseppe Ciccimara, ist in Zürich Edgardo Rocha zu hören – mit einer etwas allgemeinen, nicht unbedingt spezifischen Rossini-Stimme. Die Koloraturen machen ihm Mühe, die exponierte Höhe klingt grell. Optisch und darstellerisch wirkt er ein wenig harmlos, für diese Figur wünschte man sich ein geschärfteres Profil. Das „Nessun maggior dolore“ des Gondoliero aus dem Off, das Desdemona mit roter Farbe an die Wand ihres Schlafzimmers schreibt, singt Ilker Arcayürek – allerdings nicht mit jener Süße, die Desdemona in dieser Stimme beim Erklingen des kurzen Liedes empfindet. Die kontrastierend dunkle Farbe in der Tenor-lastigen Besetzung bringt der Bass Peter Kálmán als Desdemonas Vater Elmiro ein, der mit autoritärem Nachdruck singt und gestaltet.

Star-Vehikel für die Zürcher Produktion ist natürlich Cecilia Bartoli, die an diesem Opernhaus viele Rollen ausprobiert und darin ihre Bühnendebüts gegeben hat. Mit der Desdemona versuchte sich die Sängerin nach ihrer Adèle im Comte Ory (am selben Haus 2011) an einer weiteren Rossini-Partie, die der Komponist für seine spätere Ehefrau Isabella Colbran geschrieben hatte. Ihr erster Auftritt im unvorteilhaften kleinen Schwarzen (Kostüme: Agostino Cavalca) an Emilias Seite (mit energischem Ton Liliana Nikiteanu) offenbart in beider Duettino „Vorrei, che il tuo pensiero“ schnell das Problem der Besetzung: Die Stimmen klingen zu ähnlich. La Bartoli tönt eben nicht wie ein dunkler Sopran, den die Partie brauchte, sondern einmal mehr wie ein Mezzo. In der Erscheinung erscheint mir ihre Desdemona zu privat und zu herb, in der Gestaltung zu resolut, zu fauchend in den Rezitativen (wie so oft), zu rasend und zischend in den dramatischen Ausbrüchen. Zweifellos bewältigt sie die Partie vokal souverän, aber eben (s. o.) – etwas mehr Soprananteil, etwas mehr Liebreiz hätte man gern gehört. Die Canzone del salice, deren Harfeneinleitung von einer alten Schallplatte erklingt, singt sie träumerisch-entrückt und mit visionärem Ausdruck, das sich anschließende Gebet „Deh calma, o Ciel“ innig und schlicht – die Szene ist der überzeugendste Moment ihrer Interpretation.

Die zwischen dem Barbiere und der Cenerentola entstandene Oper wird musiziert vom Ensemble La Scintilla der Zürcher Oper unter Leitung von Muhai Tang. Er nimmt bereits den Beginn der Sinfonia sehr straff, lässt danach das kantable Thema der Holzbläser weit ausschwingen und sorgt immer wieder für überraschende Impulse aus dem Graben. Die Originalinstrumente ergeben einen reizvollen, federnden Klang, besonders in den accelerandi, die der Dirigent rasant anzieht und damit große Wirkung macht (wie im Finale II). Sie können aber auch gebührend poltern (wie in der temporale der Mordszene) oder beim Flageolett nach Desdemonas Tod faszinierende Farbeffekte hervorbringen.

Bühnenbildner Christian Fenouillat lässt die Inszenierung in einem holzgetäfelten Saal im Stil der Neorenaissance mit prachtvollem Lüster aus Murano-Glas beginnen, wo eine Abendgesellschaft mit Herren in Smokings Otello nach seiner siegreichen Rückkehr aus Zypern mit einem Sektempfang begrüßt. Der Doge in historischem Ornat ist ein zitternder, gekrümmter Greis am Stock, der Otello die Hand zum Kuss reicht. Nicola Pamio singt ihn mit entsprechend reifem, zuweilen schütter klingendem Charaktertenor. Bei der erregten Auseinandersetzung im 1. Finale, wenn Elmiro seine Tochter wegen ihrer heimlichen Vermählung mit Otello verflucht, kommt die Gesellschaft – nun auch mit Damen in großen Roben – aus den angrenzenden Räumen, wo reich  getafelt wird, um das Geschehen zu verfolgen und zu kommentieren. Der Zürcher Opernextrachor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) kann sich hier mit engagiertem dramatischem Vortrag einbringen. Der Raum wird später mit wenigen Versatzstücken variiert zu Desdemonas Schlafzimmer oder einer öden Kaschemme mit Kühlschrank, Billardtisch und Deckenventilator, wo die verhängnisvolle Unterredung mit Otello und Jago stattfindet und Desdemona am Ende dieser Szene auf dem Tisch stehend sich mit Bier übergießt. Ähnlich geschmäcklerisch ist das Finale, wenn der tote Otello von Rodrigo und Elmiro noch mit Fußtritten misshandelt wird.

Bernd Hoppe

 

 

„Elijah“ unter Krips in Box versteckt

„Welch ein Werk, welche Poesie, die harmonischste Stimmung durch das Ganze, alle Sätze wie aus einem Gusse, ein Herzschlag, jeder Satz ein Juwel! Wie ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem geheimnisvollen Zauber des Waldlebens! Ich könnte nicht sagen, welcher Satz mir der liebste? Im ersten entzückt mich schon gleich der Glanz des erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet, das ist wonnig! Im zweiten die reine Idylle, belausche ich die Betenden um die kleine Waldkapelle, das Rinnen der Bächlein, Spielen der Käfer und Mücken – das ist ein Schwärmen und Flüstern um einen herum, dass man sich ganz wie eingesponnen fühlt in all die Wonne der Natur. Der dritte Satz scheint mir eine Perle, aber es ist eine graue, von einer Wehmutsträne umflossen; am Schluss die Modulation ist ganz wunderbar. Herrlich folgt dann der letzte Satz mit seinem leidenschaftlichen Aufschwung: das erregte Herz wird aber bald wieder gesänftigt, zuletzt die Verklärung, die sogar in dem Durchführungs-Motiv in einer Schönheit auftritt, für die ich keine Antwort finde.“

CD - Beethoven und Brahms (Documents-Box)Für mich ist diese Beschreibung der 3. Sinfonie von Johannes Brahms durch Clara Schumann fast so schön wie die Musik selbst. Nachzulesen in einem Brief an den Komponisten vom 11. Februar 1884. Brahms schrieb die Sinfonie 1983 während eines Kuraufenthaltes in Wiesbaden. Das gab ihr auch den Beinamen als „Wiesbadener“. Sie ist eines seiner persönlichsten Werke. Wer genau hinhört, lernt Brahms besser kennen als durch Biographien. Ist das auch immer so zu hören? Der Interpretationsansatz fällt so unterschiedlich aus wie die die Zahl der Einspielungen groß ist. Fast unübersehbar sind die Angebote. Doch viele Dirigenten finden die Balance zwischen den relativ massiven Ecksätzen und dem dazwischen liegenden lyrischen Andante und dem Poco allegretto nicht, wodurch der Zugang erschwert wird. Schnell wächst sich diese Musik zur Langeweile aus. Nahezu ideal gelingt der thematisch-musikalische Ausgleich Rudolf Kempe mit den Münchner Philharmonikern. So sensibel habe ich die Sinfonie selten gehört. Es wird deutlich, warum sich Hans Knappertsbusch, der sie besonders häufig aufgeführt hat, das Andante für sein Begräbnis gewünscht hatte. Kempe hat zwischen 1975 und 1976 alle vier Sinfonien eingespielt, neu aufgelegt in einer 10-CD-Box bei The Intense Media / Documents (600135). Dort gerät diese Einspielung unter der Wucht der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven mit Otto Klemperer und dem Philharmonia Orchestra allerdings etwas ins Hintertreffen. Aber das ist schließlich nur äußerlich. Gegen Klemperer spricht natürlich nichts. Sein Beethoven in dieser Produktion mit Wilma Lipp, Ursula Boese, Fritz Wunderlich und Franz Crass als Solistenquartett in der Neunten, ist und bleibt ein Monument. Für ihn und Kempe ist genug Platz in dieser Box.

CD - Fricsay (Documents-Box)Als Perfektionist und Energiebündel wird Ferenc Fricsay in der ihm gewidmeten Box gepriesen (233361). Treffender lässt sich seine kometenhafte Karriere, die durch tödliche Krankheit tragisch endete, nicht auf den Punkt bringen. Rasant ist die Programmauswahl mit Bartók, Mozart, Beethoven, Strawinsky, Tschaikowsky, Mahler, Rimsky-Korsakov, Franck, de Falla und Johann Strauß. Es scheint, als habe Fricsay alles gekonnt. Seinen Mozart – hier das legendäre d-Moll-Klavierkonzert KV 466 mit Clara Haskil, etliche Ouvertüren und ein großer Querschnitt durch Don Giovanni (Dietrich Fischer-Dieskau, Sena Jurinac, Maria Stader, Irmgard Seefried, Ernst Haefliger, Karl Christian Kohn) – empfinde ich als besonders beglückend. Deshalb hätte es ruhig mehr sein können von diesem Komponisten und auch der komplette Giovanni statt der Häppchen. Entstanden sind die Aufnahmen mit dem RIAS-Symphonie-Orchester, das 1956 in Radio-Symphonie-Orchester Berlin umbenannt wurde sowie mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester.

Gloria in excelsis Deo! Diese Box erweist sich erst bei näherem Hinsehen als Glücksfall (600114). Unter das Dach des berühmten Hymnus passt vieles, auch Werke von Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Mendelssohn, Fauré und Verdi, deren Namen auf dem Titel stehen. Auch Elijah. Dass es dieser Decca-Elijah ist, macht den Mehrwert dieser Box aus: die Einspielung unter Josef Krips mit Jacqueline Delman (Sopran), Norma Procter (Alt), George Maran (Tenor) und Bruce Boyce (Bariton), dem Hampstead Parish Church Boys’ Choir, dem London Philharmonic Choir und dem London Symphony Orchestra. Die in der Kingsway Hall entstandene Aufnahme in englischer Sprache von 1954 markiert das Ende der segensreichen Mono-Ära. Sie galt über Jahrzehnte als Maßstab und Referenz für dieses Chorwerk. Generationen haben damit Zugang zu Mendelssohn gefunden. Wer auf sich hielt, hatte schon die Schallplatten im Schrank. Es dürfte die erste Gesamtaufnahme gewesen sein, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gelangte, wo Mendelssohn während des Nationalsozialismus geächtet war. Inzwischen ist die Zahl der Einspielungen nicht mehr zu zählen, die Krips-Deutung voller Innigkeit und Schwung und Größe in den Chören hat ihre Einmaligkeit bewahrt. Insofern will es nicht ganz angemessen erscheinen, sie lieblos in so einer Sammlung zu verstecken. Sie hätte exklusive Aufmerksamkeit verdient wie bei der australischen Decca Eloquence (ELQ4804334). Nur ist es schwierig, in Deutschland an diese Ausgabe heranzukommen.

Was ist noch in der Schachtel? Die Matthäuspassion von 1958 unter Karl Richter (Irmgard Seefried, Antonia Fahberg, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Dietrich Fischer-Dieskau, Max Proebstl), das Verdi-Requiem von 1963 unter Fricsay mit Maria Stader, Marianna Radev, Helmut Krebs und Kim Borg als Solisten sowie Karajans Einspielung der Missa Solemnis mit Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda und Nicola Zaccaria. Mit Igor Markevitch am Pult sind gleich drei Titel zu finden, nämlich die Schöpfung (Irmgard Seefried, Richard Holm und Kim Borg), das Requiem von Fauré (Suzanne Danco, Gérard Souzay) sowie Mozarts Krönungsmesse mit Maria Stader, Oralia Dominguez, Ernst Haefliger und Michel Roux.

Rüdiger Winter

Feldpost aus dem Nirgendwo

 

Eigentlich ist es ja schön, Leserbriefe zu bekommen, und eigentlich freut sich jeder Zeitungsmacher (oder Blog-Betreiber in diesem Fall), wenn die „abgedruckten“  Artikel gelesen werden und auch widersprüchliche Reaktionen hervorrufen. Schön, die eigene Eitelkeit freut sich auch, stimmt. Leserbriefe/mails sind ja oft erfrischend, zeigen eine andere Meinung, tragen zur Diskussion bei, bereichern auch. Niemand ist im Besitz der Wahrheit, jeder hört anders, und viele Augen sehen mehr. Aber weniger erfreulich ist es, wenn jemand seine partisanenhaften Vor- oder Unlieben öffentlich und dabei wenig liebenswürdig  austragen will und auch noch anonym bleibt. Und mit herben Worten Berichterstatter oder Künstler verunglimpft. So eine rabiate Stimme aus dem Nirgendwo, bei der nicht einmal immer die angegebene Absenderadresse funktioniert.

Warum wird bei vor allem Opern- und Stimmenfans die Sprache so schnell unfreundlich? Konzertbesucher reagieren gelassener und höflicher, sie konzentrieren sich mehr auf die Sache selbst, bringen sich nicht so in den Vordergrund wie viele Opernbesucher. Ich hab noch nie im Konzert einen Buhsturm erlebt. Missfallen wird da leise, diskreter geäußert. Bei Opernaufführungen, aber besonders in vielen Vokal-Chat- und -Sammler-Gruppen habe ich oft beobachtet, dass Teilnehmer  – die nicht derselben Meinung sind wie der Schreibende – sich im Ton vergreifen, sehr schnell persönlich werden. Und das durchaus beleidigend.  Ist es die Anonymität des Netzes, die das hervorbringt? Ich habe das Gefühl, dass das Internet als Therapieinstrument funktioniert, dass manche Menschen dort sich anders verhalten als im normalen Leben. Vieles spricht da für eine große Einsamkeit, für unausgetragene Konflikte, für Geltungsbedürfnis. Allein schon die Beschäftigung mit Oper und Gesang scheidet „uns“ ja von vielen anderen, die manchmal verständnislos oder verächtlich reagieren – ob es nun Partner, Kollegen oder Bekannte sind. „Du mit deiner Oper!“ war lange Jahre doch ein Spruch, den ich selber hören musste. Da braucht man Selbstbewusstsein und Standvermögen. Und das wunderbare Gefühl, dass wir eben mit unserer Liebe zur Oper nicht allein sind, dass es andere gibt, die diese Liebe teilen, mit denen man sich austauschen, schwärmen, sich in seinen Urteilen bestätigen oder korrigieren lassen kann.

Das Internet als Therapiemaßnahme? Manchmal hat es den Anschein, wenn in einzelnen Foren Mitglieder fast gemobbt werden, die nicht dem Mainstream folgen: Diesem korrekten Denken der Stunde: Die ist toll, die nicht, der kann nicht singen, der hat doch schon seine Stimme verloren, aber der ist selbst nach 50 Jahren auf der Bühne immer noch ein Wallfahrtsobjekt.  Ich denke, meine message hier ist, eine eigene Meinung zu haben, diese auch mit eigenem Namen mehr oder weniger überzeugend/persönlich darzulegen, auch witzig oder ironisch, aber den anderen gelten zu lassen, tolerant zu sein. Und mit eigenem Namen und der erkennbaren Persönlichkeit  für seine Meinung einstehen. Anderer Meinung zu sein ist doch erfrischend. Nur eben unter der Gürtellinie zu mäkeln, andere nieder zu machen („Die hat ja keine Ahnung!“ oder „Der sollte nicht schreiben…!“) geht gar nicht.

Ich denke, man/ich sollte meinem Instinkt vertrauen, dass ich eben merke was mir gefällt. Eigenständig denken, nicht wie ein Schaf der Herde folgen, sondern selber für sich entscheiden, Eigenes entdecken. Und neugierig bleiben auf manches, was ich nicht kenne. Sich auch öffnen, Neues annehmen, nicht immer gleich abblocken. Anregungen folgen. Das ist wichtig. Wir, die wir die Oper lieben, sind eine so kleine (und privilegierte, weil besonders sensible) Gruppe – wir sollten uns  miteinander freuen, dass es diese wunderbare Kunstform gibt. Und gute Umgangsformen ergeben sich daraus, denke ich. Oder sollten sie jedenfalls. „Horch´ die Lerche singt im Hain“, und nicht nur die. Geerd Heinsen

Suche nach den geeigneten Tönen

Dieser Mitschnitt der Götterdämmerung bei einem Live-Konzert in der Berliner Philharmonie vom März 2013 sollte eigentlich der krönende Abschluss von Marek Janowskis konzertantem Wagner-Zyklus werden. Das Wort Krönung wäre hier allerdings völlig fehl am Platz. Was hier an sängerischer „Kompetenz“ geboten wird, wäre schon für die Aufführung ärgerlich genug, als praktisch für die Ewigkeit konservierte CD-Produktion (PentaTone Classics PTC5186409) ist es inakzeptabel. Der durchaus bedeutende Wagner-Dirigent Marek Janowski ist hier in die Falle der Unwiederholbarkeit dieses Konzerts gegangen, man kann nur erahnen, welche Pein dem Dirigenten die Freigabe dieser Aufnahme bereitet haben muss. Dabei standen ihm mit seinem Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin und dem Berliner Rundfunkchor gestandene Musiker zur Verfügung, aber so souverän Janowskis Dirigat auch ist, für den Ring, speziell die Götterdämmerung braucht es belastbare, ihren Rollen gewachsene Stimmen.

Davon kann man aber praktisch bei keinem der beteiligten Sänger sprechen. Allen voran muss man hier die völlig überforderte Petra Lang als Brünnhilde nennen, die sich hörbar durch ihre Rolle quält und als Weisheit letzter Schluss die Partie nach unten transponiert, was sie und uns Hörer nicht vor schrillen und gequetschten Spitzentönen bewahrt. Eine Rollengestaltung kann unter diesen Umständen nicht stattfinden, es ist ein hörbarer Kampf um das stimmliche Überleben. Unglücklicherweise steht ihr in Lance Ryan ein Siegfried zur Seite, der mit schlecht fokussiertem Tenor ständig auf der Suche nach den richtigen Tönen ist und dessen näselnde Diktion ihn viel eher als Mime empfehlen würde. Wahrhaftig kein “weihevolles Paar“, wie der Text es verspricht.

Aber damit noch nicht genug: Als Hagen erlebt man den viele Jahre lang weltweit gefeierten  Matti Salminen am Ende seiner Karriere, und leider auch seiner früheren Stimmgewalt. Hier sind nur noch Reste einer einstigen Weltstimme zu hören. Eine in solcher Weise negativ dominierte Besetzung färbt leider fast ausnahmslos auf die restlichen Sänger ab. Am ehesten vermag noch der satte Mezzo von Marina Prudenskaya als Waltraute zu überzeugen. Rheintöchter und Nornen sind ausnahmslos unterbesetzt und zeichnen sich höchstens durch unsaubere Diktion aus. Gut, dass der Edition der komplette Text beiliegt. Markus Brück als Gunther und Jochen Schmeckenbecher als Alberich bleiben eher farblos, Edith Haller als Gutrune beweist einmal mehr, wie undankbar diese Rolle ist, und unterstreicht dies auch noch mit einigen unschönen Tönen.

Als Fazit bleibt anzumerken, dass Wagner ohne geeignete Sänger unaufführbar ist, eine Erkenntnis, an der sich speziell im Wagner-Jahr viele Intendanten und Dirigenten vorbei mogeln wollten, mit zum Teil unsäglichen Ergebnissen. Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet der hoch geschätzte Marek Janowski mit dieser Einspielung eine der wohl schlechtesten Veröffentlichungen zum Wagner-Jahr vorgelegt hat. Wie singt Brünnhilde gegen Ende? „Der Götter Ende dämmert nun auf“. Quod erat demonstrandum!

Peter Sommeregger