Archiv für den Monat: April 2014

Land of Hope and Glory

Zuerst: Das Blatt, welches diesen CDs beigeben ist, damit sie nicht ganz schmucklos im Regal stehen, ist eine Unverschämtheit. Die „Cavalvcade of English Singers“ (bei Dutton) hätte es zweifellos verdient, außer mit einer klein gequetschten Titelei auf der Rückseite mit einer Handvoll biografischer Notizen vorgestellt zu werden. Die beiden CDs versammeln einige englische Sänger aus einer Zeit, als Kavalkaden, Reiterzüge, ein gewohnter Anblick waren. Ihren Landsleuten ähnlich vertraut waren diese Sänger , die uns in den um 1930 entstandenen Ausnahmen eine Ahnung vom Oratoriengesang auf der Insel geben. Darunter Walter Widdop (11892-1949), der zwischen 1925 und 30 einige Titel von Händel aufnahm – Acis and Galatea, Jephta – mit einer teils schwer erträglichen weinerlichen, blechern durchdringenden und wenig einschmeichelnden Stimme, aber auch („Deeper and Deeper“ aus Jephta) schiere Kraft und vokales Stehvermögen, dazu erstaunliche Beweglichkeit und Zartheit beweist, was ihn in seiner Heimat zu einem geschätzten Heldentenor und bis heute idolisierten Sänger werden ließ. Etwas altmodisch wirkt heute der gestelzte Vortrag des Bassisten Trevor Anthony in einer Nachkriegsaufnahme von „Revenge! Timotheus cries“ aus Alexander’s Feast, schwer erträglich auch der schwerfällig-schwermütige Vortrag des mit einem üppigen Bass auffahrenden Norman Allin. Hübschen, kleinformatig festen und reinen Sopranklang bieten die als Oratoriensängerin fast institutionalisierte Isobel Baillie (1895-1983) 1941 in The Blesses Virgin’s Expostulatin und die gleichaltrige Dora Labette (1898-1984), welche als Lisa Perli an Covent Garden im italienischen Repertoire fremdging, mit zwei Arien von Haydn und Bishop. Eine Kategorie für sich ist Clara Butt. Der Unbefangene könnte hinter manchen Tönen dieser (zu) späten Aufnahmen eine Travestie vermuten: „He shall feed his flock“ aus Messiah und „O rest in the Lord“ aus Elijah. Dame Clara erklimmt Sopranhöhen, steigt in gruselige Basstiefen und bietet einen unerschrockenen Gesang zwischen nobler Ausstrahlung und Rotkäppchens Großmutter. Clara Butt war eine nationales Monument, der klingende Ausdruck der postviktorianischen Ära, sie  wirkte Gutes im Ersten Weltkrieg, wurde dafür geadelt, erkrankte späte schwer und absolvierte ihre späten Aufnahmen im Rollstuhl. Nach so viel Oratoriengesang sind die von der piepsigen, technisch gut ausgerüsteten Evelyn Scotney abschießend  gesungenen Arien der Donna Anna und Elvira („Mi tradi“ und „Non mi dir“) nicht das, was man erhoffte.

caval 1Und weiter stürmt die Reiterschar auf der zweiten Ausgabe, wo wir einigen zentralen Sängern jener Epoche begegnen, wie dem lyrisch leichten Heddle Nash (1894-1961) und dem ebenfalls lyrischen, heute vor als Lehrer von Jussi Björling bekannten Joseph Hislop (1884-1977). Doch zuerst stellt uns abermals Norman Allin (als Sarastro) eine Geduldsprobe, während Frank Mulligans packend, kraftvoll und ausladend aus Gounods The Queen of Sheba singt. Nash singt „O Paradis“ und „Una furtiva lagrima“ (als „Down her soft cheek a pearly tear“) mit bubenhafter Frische und Natürlichkeit, während Hislop mit zwei Ausschnitten (1929 unter John Barbirolli) als Lohengrin und Stolzing mehr Wagner-Kompetenz beweist als Widdop. Den Schwerpunkt von Volume 2 bildet ein 1931 unter der Leitung von Clarence Raybould entstandener Querschnitt aus der 1845 uraufgeführten grand opera Maritana von William Wallace, die im 19. Jahrhundert zusammen mit Balfes The Bohemian Girl und Julius Benedicts Lilly of Killarney zum eisernen Kanon nationaler Opern im Vereinigten Königreich gehörte. Größtenteils mit Miriam Licette (1885-1969) und Dennis Noble (1898-1966), die zuvor auch das Rosina-Figaro-Duett aus dem Barbiere recht hübsch (natürlich auf Englisch) sangen. Selbst wenn man da und dort Einschränkungen machen möchte und die Stimme gelegentlich sehr individuell sind, handelt es sich bei den Maritana- Ausschnitten (wozu es im Faltblatt immerhin eine Inhaltsangabe gibt) um idiomatische und charaktervolle Aufnahmen von eingeschnürter Heiterkeit.

deller ina memoireWer Lust auf mehr English Singers hat, wird sich Alfred Deller zuwenden, der eine Generation jünger als seine hier versammelten Kollegen, seine Karriere erst nach dem zweiten Weltkrieg startete. Seine Aufnahmen von Dowland, Purcell – auf INA  erweitert um Robert Johnson, Palestrina, Bach, Grandi – eröffneten in den 1960er und 70er Jahren neue Welten. Das klingt auch beim Wiederhören manchmal noch verführerisch, balsamisch, manchmal auch eierig.

Rolf Fath

 

Singers to Remember: Cavalcade of English Singers Vol. 1 mit Walter Widdop, Trevor Anthony, Dora Labette, Isobel Baillie, Clara Butt; Dutton CDBP 9797

Singers to Remember: Cavalcade of Englis Singers Vol. 2 mit Heddle Nash, Joseph Hislop, Norman Allin, Miriam Licette, Clara Serena; Dutton CDBP 9802

Alfred Deller. Contre tenor mit Monteverdi . Bach . Purcell.; INA mémoire live IMV004

Jung, sexy und hochaktuell

Der albanische Tenor Saimir Pirgu schoss fast über Nacht zu internationalem Star-Ruhm empor – und das mit nur 21 Jahren. Inzwischen ist er kein Geheimtip mehr, sondern eine feste Größe im internationalen Operngeschäft. Seine prachtvolle lyrische Tenorstimme und sein sexy Aussehen lassen ihn heute einen der wirklich gesuchtesten jungen Künstler sein, den wir schon lange auch einem deutschsprachigen Publikum vorstellen wollten. Anlässlich seine Edgardo in Lucia di Lammermoor in Los Angeles interviewte ihn unser Kollege Matthew Richard Martinez von ConcertoNet.com  und war so liebenswürdig, uns das Gespräch zur Verfügung zu stellen, wofür wir ihm und ConcertoNet.com sehr danken. Im Folgenden ein umfangreicher Auszug aus dem Interview, das im März in Los Angeles gehalten wurde (Foto oben Fadil Berisha). G. H.

Ein gutgelaunter Gesprächspartner Saimil Pirgu/c. Fadil Berisha

Ein gutgelaunter Gesprächspartner Saimir Pirgu/Foto Fadil Berisha

How long have you been in Los Angeles? I’ve been here for three weeks. I like being here because the weather is fantastic. There’s sun every day. I spent this last winter in Europe and to be here in the sun is much better. I’m very happy!

How are you liking this new production of Lucia di Lammermoor? It’s a very interesting production. It uses a lot of special effects and everything is going well. I’m very happy with my Lucia, Albina Shagimuratova, and James Conlon. We’ve known each other for many years and worked together often. I’m very positive. Edgardo a role that I like a lot. You can tell a lot about a tenor from this role: his acting, his bel canto, etc. You can tell exactly what you want the public to know.

als Idomeneo beim Styriarte Festival Graz 2008/Foto Styriarte Festival

als Idomeneo beim Styriarte Festival Graz 2008/Foto Styriarte Festival

t’s a little unusual in that you get the last word in this opera which is fun. But it’s not so fun! If you have such a good soprano, everybody is waiting to go home after the Mad Scene and they have to listen for thirty minutes for the death of the tenor! The tenor needs to be very good to make it interesting for the public after the Mad Scene. This is my third time in Los Angeles. The first time Plácido Domingo invited me to debut in the United States in Gianni Schicchi in a production directed by Woody Allen. It was a big deal for me because I was debuting in the United States, in L.A., and with Woody Allen and James Conlon. I thank Plácido every time I see him! Then I returned for Così fan tutte with James Conlon and now with Lucia. Every three years I’m here. I like this company very much. They do beautiful work and we have good chemistry with everybody here.

als Duca in "Rigoletto" in Zürich 2014/Foto Opernhaus Zürich

als Duca in „Rigoletto“ in Zürich 2014/Foto Opernhaus Zürich

What do you enjoy about working with Maestro Conlon? We don’t just work together, we are friends. We meet each other in Italy, Vienna, and L.A. I know his family, he knows mine. It’s not just work and respect we have for each other. It’s closer. He knows me very well. He likes voices and I’m happy to work with people who really like beautiful voices. He is one of the conductors such as James Levine and Riccardo Muti, they are the generation who had the opportunities to work with the great singers. They worked with everybody. Everything they say helps you. When I work with Conlon, everything he suggests makes me better. He doesn’t make things more difficult. He’s a wonderful conductor but he’s a really good man. I’m very happy. When I’m here, I’m home.

Speaking of great conductors, you worked with Claudio Abbado who recently passed away. What was that experience like? I made my debut in Così fan tutte with him when I was just twenty-one , and then everyone was calling: Vienna, Salzburg Festival, all big theaters. After you do such a great production with one of the biggest conductors, people are very interested in you as a young artist. Claudio showed me the way to my career. He was the first conductor I worked with and thank God he was Claudio Abbado. Without him I wouldn’t have risen to where I am so quickly.

as Alfredo/"La Traviata" an der Metropolitan Opera New York 2013 /Foto Ken Howard

as Alfredo/“La Traviata“ an der Metropolitan Opera New York 2013 /Foto Ken Howard

Twenty-one is so young to start a career even for a tenor. It must have been overwhelming for you. When you have the opportunity to work with people like Muti, Abbado, they tell you everything you need. It makes it much easier as a young artist to work with good colleagues like them and Domingo with whom I sang Traviata at the Met. They’ve done this for many years. If everyone is young, you don’t have that guidance. I’m very fortunate to work with these people. It makes you much more secure when you’re singing.

Tell me about your coach, Vito Brunetti. He’s been with you since the beginning. Yes, he knows my voice better than anybody. I met him when I was nineteen and we worked together. I never changed a thing, even when I met Luciano Pavarotti. Luciano was very surprised to find a singer who could sing with this technique at such a young age. All three of us got to be friends. It was a really beautiful time because Luciano was in Bolzano enjoying his free time and I was a student there. Together with Brunetti I visited Luciano and talked about how the voice will grow. Every role I sang for Luciano was prepared with Brunetti. I prepared the big things with Brunetti and then we brushed up everything with Luciano. It was the best combination for a young singer. This time, for me, was like a dream. Every time I’m in Italy I check in with Brunetti. We live a little away from each other but when I’m home I go visit him and sing for him to see what has happened with the voice. After a big tour I go to be sure that everything is going well.

als Edgardo/"Lucia di lammermoor" an der Los Angeles Opera März 2014/Foto Robert Millard

als Edgardo/“Lucia di lammermoor“ an der Los Angeles Opera März 2014/Foto Robert Millard

Of course, you talked about Pavarotti. He was probably the biggest influence on you because he inspired you to be a singer, correct? All the Three Tenors did. When I saw them on television for the first time, I was about fourteen years old. Domingo was my favorite. I wanted to be one of these guys that are singing there! I was in school studying violin. I had a feeling for the music but I didn’t know one day that I would be a tenor like them. But it was a dream for me. And after ten years I was singing with Plácido Domingo at the Met and I was friends with Luciano Pavarotti. This was a big dream for me, but it turned out to be very real!

You’ve sung Rodolfo, Alfredo, these roles are slightly heavier, still lyric. Are you looking to expand your repertoire more? I think I need to stay in roles like these for ten years: RigolettoLuciaL’elisirBohème, probably not the big French repertoire, but Manon, or Roméo et Juliette are the next roles I would love to do. I’m not ready for Werther. To be a very good Werther, you need time. You need to be in the second part of your career, not the first as I am now. It’s easy when you are so young to make a mistake with roles. I haven’t so far and I want to go on without mistakes until I get to be forty and then we’ll see what happens! I imagine that I’m ok with all these lyric tenor roles I’m doing. I have about sixteen roles, which is a lot, and it’s ok for the moment. I try to make them better every time. (…) But every year is different. If you take care of your voice, every time that you go back to singing a role it will be much better. I want to do it this way.

... und noch einmal der Sänger privat/Foto Fadil Barisha

… und noch einmal der Sänger privat/Foto Fadil Barisha

What do you find the biggest challenge for you technically? The combination of what is in your heart that you are trying to express to the people together with the technique of the passaggio. This helps to make a longer life for a singer. If you cover the voice, if you take care of this passaggio, your life will probably be longer as a singer. But it’s not so easy to understand this, to learn these things takes many years. I think that technique is something that is completely different for everybody. In the end you just need to sing, and if you sing well for many years it means you have a good technique. If you sing for just five or six years, you can start to talk about technique. We can talk for technique for hours, but in this job you are a winner if you can sing for many, many years. If not, forget it.

Of course one of the most amazing things about Pavarotti was how long he sang so well. But not just him, but all his generation. We have the younger generation now who are singing like this. Ramon Vargas has been singing for thirty years. He’s still singing. We have all this generation of younger tenors, Piotr Beczala, Jonas Kaufmann, they’ve been singing for nearly twenty years. They are not so young now! That means they have good technique.

What do you find most rewarding about singing this music? The energy that I have when I’m singing. I lose my mind and I lose my body when I’m singing. I work hard so that everything will go well, but something happens when I’m on stage and it’s not just me. Many other colleagues say the same thing. You are not conscious when you are singing. This energy on stage makes me very crazy but very happy at the same time. You cannot control anything. This adrenaline is the best. It’s my passion to sing live, not to record something. Every day can be different. This is the beauty of my job. It’s not my job, it’s my life.

 

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Erfreuliche Wiederbegegnung

Diese 1976 in Dresden entstandene erste Studio-Aufnahme der ersten von drei Fidelio-Fassungen hat bereits eine Odyssee auf verschiedenen Labels hinter sich. War die Leonore ursprünglich eine Co-Produktion zwischen Electrola und VEB Deutsche Schallplatte, tauchte sie in den 90er-Jahren auf dem Berlin Classics Label wieder auf, jetzt in der Brilliant Opera Collection (94868). Um es vorweg zu nehmen, es ist in jedem Fall erfreulich, diese Einspielung wieder im Katalog zu wissen. Seinerzeit von der Kritik nicht sehr freundlich behandelt, hat man in Zeiten sich in Quantensprüngen verschlechternder Gesangskultur einen sehr viel positiveren Eindruck von der Aufnahme. Diese erste Version des Fidelio von 1805 kann man durchaus als eigenständiges Werk ansehen. Sicher, vieles findet sich fast unverändert in der Fassung letzter Hand, aber die Partie des Florestan beispielsweise weicht vollständig von der endgültigen ab. Und so ist insgesamt alles ein wenig anders – und zumeist schwieriger.

Was Beethoven hier seiner Titelheldin stimmlich abverlangt, lässt interessante Rückschlüsse auf die sagenumwobene Anna Milder-Hauptmann zu, welche die Rolle in allen drei Uraufführungen kreierte. Die nicht unumstrittene Edda Moser singt sich hier förmlich die Seele aus dem Leib, gerät auch deutlich hörbar an ihre Grenzen, kann letztlich aber doch durch dramatische Präsenz und Intensität überzeugen. Die dreiaktige Fassung verändert die dramaturgische und musikalische Dramaturgie des uns bekannten Fidelio erheblich, der Sänger des Pizarro bestreitet das Finale des zweiten Aktes nahezu allein, und hat  in Theo Adam einen hervorragenden Interpreten, in den 70er-Jahren und auch noch später war er der Pizarro vom Dienst. Das gleiche gilt für Helen Donath, die als warm timbrierte Marzelline überzeugen kann, besonders im Duett mit Leonore, einer der später (leider) gestrichenen Gesangsnummern.

Richard Cassily findet nicht nur zu heldischen, sondern auch wärmeren lyrischen Tönen, ein Sänger der immer ein wenig unter Wert gehandelt wurde. Karl Ridderbuschs Rocco war seinerzeit eine Standardbesetzung, er singt kernig und ohne die in dieser Rolle häufig zu erlebende Altherren-Gemütlichkeit. Hermann Christian Polster als Minister und Eberhard Büchner als Jaquino sind unauffällig rollendeckend. Herbert Blomstedt, inzwischen zum Doyen der Beethoven-Dirigenten gereift, hat mit der Staatskapelle Dresden und dem Rundfunkchor Leipzig einen hervorragenden Apparat zur Verfügung, den er zu Höchstleistungen zu motivieren versteht .Eine insgesamt erfreuliche Wiederbegegnung!

Peter Sommeregger

Wunder aus der Kiste

Der Name ist kreuzworträtselverdächtig. Sängerin mit sechs Buchstaben, davon zweimal Y und zweimal V. Das kann nur Jennifer Vyvyan sein. Stimmt genau. Kenner schätzen ihren hellen, gut sitzenden Sopran, dessen Höhe leicht belegt sein kann und dessen Stärke nicht die tieferen Lagen sind, ein Mangel, den sie mit viel Geschick und Einsicht in die eigenen Möglichkeiten verwaltet. Dafür sind die Mittellage und die Atemtechnik phänomenal. Nicht sehr voluminös ist diese Stimme, aber sehr belastbar. Und reell. Auf Aufhieb ist sie nicht gleich wiederzuerkennen. Wer sie zum ersten Mal hört, staunt allemal, wie gut diese Jennifer Vyvyan singen konnte. Sie war meist in musikalischen Randbezirken unterwegs, hat außer viel Händel kein zentrales Opernrepertoire gesungen, von einigen Mozart-Rollen – darunter Konstanze, Elvira und Elettra – einmal abgesehen. Ihre Domäne waren Barockopern, Oratorien, Konzertprogramme und Werke ihres Landsmannes Benjamin Britten. Die bekannteste Aufnahme mit ihr dürfte der monströse Messiah von Händel unter Beecham sein, der nie vom Markt verschwunden ist und damit auch ihren Namen im Katalog hielt. Im Internet wird Jennifer Vyvyan mit einer sehr ästhetisch anmutenden Seite gewürdigt, deren Besuch sich lohnt und von ihrem Sohn betrieben wird. Nun wird sie mit der Wiederauflage einer alten Platte von 1956 bedacht.

VYvYanDecca ist dazu tief ins Archiv hinab gestiegen und hat auch entlegenste Räume geöffnet.  Erstaunlich, was da alles zum Vorschein kommt und jetzt in einer neuen Reihe zusammengefasst wird: Most Wanted Recitals! Die ersten CDs sind im Handel. Wie heutzutage weit verbreitet, prangen auf den Vorderseiten Abbildungen der Plattenhüllen der Erstausgaben. Da kommt Nostalgie auf, wenn nicht gar Sehnsucht nach dem guten alten Vinyl-Zeitalter. So soll es sein, das ist Kalkül, verkaufsfördernd. Ich bekenne freimütig, davon fasziniert zu sein, obwohl ich in meinen eigenen Beständen kaum noch Platten habe. Nun kehren sie wenigstens als platzsparende Reminiszenz zurück. Ansonsten ist die Ausstattung schlicht: In den Booklets finden sich auch die Rückseiten der jeweiligen LPs abgebildet, was konsequent ist, zudem Tracklisten, Aufnahmedaten und unerklärliche drei unbedruckte Seiten, die bestenfalls für eigene Notizen verwendet werden können. Die CDs selbst sind in der Art der alten Plattenetiketten bedruckt. Behutsam wurde das Klangbild den gestiegenen Erwartungen der Gegenwart angepasst, die früheren Stereotitel sind als solche auch benannt, Mono ist Mono geblieben. Nichts klingt übersteuert. Da eine CD mehr Platz bietet als eine LP, wurde meist sehr sinnvoll aufgefüllt. Der Bonus ist aber immer als solcher kenntlich gemacht, so dass der Platteninhalt in seiner ursprünglichen Zusammenstellung erhalten bleibt. Es wird nichts vermengt. Dadurch ist auch Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung das Konzept nachvollziehbar. Aufnahmen sind dabei, die selbst gut sortierte Sammler lediglich dem Titel nach kennen.

So auch die Uralt-LP  „Mozart and Haydn Recital“ mit der Vyvyian und einem für sie typischem Programm (480 8185). Von Joseph Haydn ist die vierzehn Minuten lange Szene und Arie für Sopran und Orchester „Berenice, che fai“ zu hören, die erst durch Janet Baker in einer viel späteren Decca-Einspielung so richtig berühmt wurde. Sie erzählt von Antigonus Gonatus, einem König im antiken Mazedonien. Dieser möchte Berenice heiraten, die jedoch unglücklicherweise in seinen Sohn Demetrius verliebt ist. Haydns Komposition setzt in dem Moment ein, als Berenice davon überzeugt ist, dass sich ihr Geliebter Demetrius in seiner Pein das Leben nehmen möchte. Es folgen Laudamus und Quoniam aus der Cecilienmesse sowie von Mozart die Konzertarien „Ah, lo previdi“ KV 272 und „Ch´io mi scordi di te“ KV 505. Aufgefüllt wurde mit anderen Mozart-Titeln, darunter das „Alleluia“ aus Exsultate Jubilate, das Appetit auf die komplette Kantate macht, sowie Canzonetten von Johann Christian Bach.

DermotaMit Liedaufnahmen werden Anton Dermota (480 8151), Hans Hotter (480 8159), Hilde Gueden (480 8156) und Lisa Della Casa (480 8149) bedacht. Dermota singt, begleitet von seiner Frau Hilde, Die schöne Müllerin von Franz Schubert. Sie wurde 1953 im Großen Musikvereinssaal in Wien eingespielt und findet in der Diskographie des Sängers in dessen Autobiographie „Tausendundein Abend – Mein Sängerleben“ (ISBN 3423016892) im Gegensatz zur dreiundzwanzig Jahre später entstandenen Aufnahme keine Erwähnung. Kaum zu glauben, dass da eine Absicht im Spiele war. Dafür ist die Aufnahme viel zu gelungen, auch wenn der leicht näselnde Ton des Sängers auf bestimmten Vokalen einen seltsamen Kontrast bildet zur Leichtigkeit und Offenheit der jugendlichen Stimme. Für mich ist diese Müllerin in ihrer Ursprünglichkeit eine der besten. Muss es wirklich zu diesen Zyklus noch etwas obendrauf geben? Unbedingt! Nachdem ich nämlich den „Nussbaum“ und die „Lotosblüte“ von Schumann und vier Lieder von Wolf – darunter „Der Musikant“ und „Auf ein altes Bild“ – gehört hatte, möchte ich nicht mehr darauf verzichten. Diese Lieder, die drei Jahre früher eingespielt wurden, sind in meinen Ohren ohne jeden Makel. Ich würde sie noch der Müllerin vorziehen.

HotterEin schwieriger Fall ist Hans Hotter. Das letzte, was von diesem Heldenbariton im Jahr 1973 –  das stand er im 64. Lebensjahr – zu erwarten gewesen wäre, waren Lieder von Hugo Wolf. Als sei der filigrane Feinsinn bei diesem Komponisten nie entdeckt worden, dröhnt es aus den Lautsprechern. Mussten es ausgerechnet diese vier Nummern aus dem mit viel Ironie gespickten Italienischen Liederbuch sein, die diese schwere, hallige Stimme gar nicht verträgt. Damit hatte die Decca weder sich noch ihrem Exklusivkünstler einen Gefallen getan. Man muss diesen Sänger sehr verehren und sehr gut kennen, um dieser CD gute Seiten abzugewinnen, die es am Ende aber doch gibt. Die Drei Gedichte von Michelangelo würde ich von allzu harscher Kritik ausnehmen. „Alles endet, was entsteht“ ist in seiner tiefen Resignation bei Hotter am Ende doch ganz gut aufgehoben. Es ist, als ob er noch einmal alle seine gestalterischen Fähigkeiten zusammen nahm. Damit konnte er auch einigen Liedern von Schubert wie dem „Doppelgänger“ oder der „Gruppe aus dem Tartarus“, die die ursprüngliche zweite Plattenseite füllten, Wirkung abgewinnen. Am Flügel saß Geoffrey Parsons, der auch Elisabeth Schwarzkopf bei den Liederabenden in den letzten Jahren ihres Künstlerlebens begleitete.

GuedenHilde Gueden nahm 1956 Lieder von Richard Strauss auf, auch diese sind eine späte Premiere auf CD. Ihr Begleiter war Friedrich Gulda, Produzent John Culshaw. Die Güden garantiert selbst nach so langer Zeit hundertprozentigen Wiedererkennungswert. Wer diese Stimme einmal gehört hat, vergisst sie nie mehr. Sie setzt sich fest. Nicht immer zur Freude. Im Liedgesang tritt besonders stark hervor, was man eine Kinderstimme nennen könnte. Sobald ein Orchester hinzutritt, klingt die Stimme weicher, geschmeidiger und liebenswürdiger. Dreizehn Strauss-Lieder hintereinander können sehr lang und anstrengend sein. Deshalb habe ich mich dankbar auf den Bonus geworfen, der sich aber als unglücklich zusammengestellt erweist. Warum wurden aus dem Querschnitt des Rosenkavalier unter Silvio Varviso nur zwei Szenen entnommen, nämlich die Rosenüberreichung und das gesamte Finale – und nicht auch noch der Rest? Die Gueden ist dort die Sophie, Regine Crespin die Marschallin und Elisabeth Söderström der Octavian. Die Kapazität der CD hätte es hergegeben. Stattdessen wird das Duett mit Lisa Della Casa aus dem ersten Akt von Arabella unter Rudolf Morat – so wunderbar es auch ist – hinzugezogen, das es längst auf CD gibt?

Della CasaGute alte Bekannte versammeln sich auch auf der Lisa Della Casa gewidmeten CD. Das Material stammt von zwei Langspielplatten, wobei das Operatic Recital bereits bei seinem ersten Erscheinen mit Arien aus Gesamtaufnahmen aufgefüllt wurden. Exklusiv waren seinerzeit lediglich die fünf von Heinrich Hollreiser dirigierte Szenen aus Händels deutsch gesungenem Giulio Cesare, die es aber bereits auf CD gibt. Sei es drum. Sie – wenn auch etwas unterkühlt – sind betörend genug, dass es sie gar nicht oft genug geben kann. Ein Premieren-Siegel hat der Bonus aus fünfzehn der bekanntesten Lieder von Schubert, Brahms, Wolf und Strauss mit Klavierbegleitung (Karl Hudez), die nach ihrer Produktion im Jahre 1956 eine eigene Platte bildeten. Ob die Übernahme auf CD komplett erfolgte, ist nicht ersichtlich. Den Zeiten nach schon, denn LPs mit eine Spieldauer von sehr guten vierzig Minuten waren die Regel. Mir geht es mit der Casa wie mit der Gueden, ich habe sie lieber mit Orchester, das den Marmor in ihrer Stimme erwärmt. Mit Klavier wirkt sie mitunter auch etwas kokett, was man ihr nicht abkauft, weil viel zu kalkuliert. Aber dann plötzlich der Hugo Wolf, der für alles entschädigt, was ich bei Brahms oder Schubert vermisse: Wahrhaftigkeit. „Geh‘, Geliebter, geh‘ jetzt“, womit das Spanische Liederbuch endet. Eine nicht enden wollende Entsagungsszene voller Wehmut, Schmerz und Trauer. Solche Gefühlslagen sind ihre Stärke – im Lied wie in der Oper. Da ist sie ganz in ihrem Element. Auf die Fortsetzung dieser Decca-Reihe darf  man wirklich gespannt sein. – Das große Foto oben wurde uns freundlicherweise vom Betreiber der englischen Internetseite über Jennifer Vyvyan überlassen. Danke.

Rüdiger Winter

 

… und die Decca-Serie geht weiter!

 

Erkel „István király“

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Gerade erst ist Ferenc Erkels bekannteste Oper Hunyadi László bei Brilliant als Wiederauflage erschienen, da zieht Naxos nach und präsentiert erstmals das letzte Bühnenwerk des ungarischen Komponisten. István király, zu deutsch König Stephan, wurde nach einem langen Schaffensprozess, der sich über 10 Jahre hinzog, 1885 uraufgeführt. Auch der weitere Rezeptionsverlauf gestaltete sich schwierig. Die Söhne Erkels, die schon bei der Originalorchestrierung beteiligt waren, nahmen nach dem Tod des Vaters zahlreiche Umarbeitungen vor. So wurde István király mal gekürzt, mal erweitert, mal – 1993 aufgrund der politischen Verhältnisse – mit neuem Libretto versehen gespielt. Erst 2010, anlässlich Erkels 200. Geburtstag, wurde die Oper in ihrer ursprünglichen Gestalt in dem kleinen Städtchen Komárom wieder inszeniert. Die vorliegende Aufnahme entstand zwei Jahre später in gleicher Besetzung. István király bietet, wie andere Opern Erkels auch, ungarischen Geschichtsunterricht. Sie handelt von der Christianisierung des Landes durch Stephan I., dem späteren ersten König des vereinigten Reiches und erklärtem Nationalhelden. Der historische Glaubenskampf und die Bekehrung der heidnischen Verschwörer werden verknüpft mit den privaten Konflikten des Sohnes Imre, der heimlich ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat, aber aus Staatsgründen die kroatische Prinzessin Crescimira heiraten soll – was zu emotionalen Verstrickungen führt.

erkel istvan kiraly naxcos

Erkels Werk ist ein grandioses Musikdrama im Geiste der Grand opéra. Es gibt Arien und Duette in Belcantomanier, doch vorherrschend sind die großen Ensembleszenen und die mächtigen Chöre. Der Aufwand ist erheblich, es gibt eine Reihe von Massenaufzügen, wie Hochzeitszeremonie, Prozessionen oder heidnischem Ritual, was zur enormen Wirkung der Oper beiträgt. Dirigentin Valéria Csányi koordiniert mit kundiger, schwungvoller Hand souverän den gigantischen Apparat. In dem aufmerksam ihren Intentionen folgenden Budapester Orchester hat sie einen adäquaten Partner. Weniger glücklich ist es um den eigens für die Produktion zusammengestellten „István Király Operakorus“ bestellt. Er erfüllt seine äußerst umfangreiche Aufgabe mit teilweise ungezügelter Begeisterung und nicht durchweg homogen, so dass sich einzelne Stimmgruppen immer wieder in den Vordergrund drängen. Die Leistungen der Solisten sind durchwachsen. Den besten Eindruck hinterlassen die Tenöre: Zoltán Nyári als Königssohn Imre singt weich und kultiviert, aber auch ab und zu mit gestemmten Höhen. Tamás Daróczi verleiht dem Verschwörer Sebös ein Organ heldischerer Prägung. Auch Ildikó Szakácz als seine Geliebte Zolna verbreitet mit ihrem hellen, agilen Sopran und zarten Pianoaufschwüngen stimmliche Freude. Zsuzsanna Bazsinska singt sich sicher durch die hochgelegene Partie der Prinzessin, überzeugt aber mehr durch dramatischen Ausdruck als durch vokale Schönheit ihres dünnen Soprans. König Stephan selbst ist mit dem schütteren, uncharismatischem Bariton János Gurbán unterbesetzt. Auch Ákos Ambrus als Stephans intrigantem Neffen Péter fehlt es im selben Stimmfach an Prägnanz. Den Einwänden zum Trotz packt das pompöse Musikdrama auch ohne solistische Höchstleistungen. Karin Coper

Ferenc Erkel: König Stephan (István király) mit Janos Gurbán (István), Zoltán Nyári (Imre, sein Sohn), Zsuzsanna Bazsinska (Crescimira), Kázmér Sárkány (Vazul), Tamás Daróczi (Sebös), Ildikó Szakács (Zolna), Akos Ambrus (Péter); König Stefan Opernchor, Budapest (Ákos Somogyváry) Budapest Symphony Orchestra MÁV, Leitung: Valéria Csányi; Naxos, 8.660345-46, 2 CD

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Mit Schmiss und Charme

Der franco-belgische Komponist André-Ernest-Modeste Grétry zählte im Jahr 2013 zu den Jubilaren, es galt seinen 200. Todestag zu begehen. Hierzulande war davon wenig zu bemerken, er hat  im deutschen Sprachraum auch nie große Popularität erreicht. Das ambitionierte Label Musique en Wallonie ehrt Gretry mit einer klug aus teilweise schon älteren Aufnahmen zusammengestellten 5-CD-Box (MEW 1371). Die in zarten Pastelltönen gehaltene Schachtel erfreut durchaus das Auge, ist somit ein Versprechen, das auch voll und ganz eingelöst wird.

Von Grétrys zahlreichen Opern werden drei in umfangreichen Querschnitten vorgestellt. Seine Caravane du Caire ist eine der zu seiner Zeit so beliebten Türkenopern, ähnlich Mozarts Entführung, auch fast zeitgleich entstanden. Sicher, Grétry ist kein Mozart, aber diese Musik hat Schmiss und Charme, nimmt immer wieder überraschende Wendungen und man bedauert fast, das Werk hier nicht komplett hören zu können. L’amant jaloux ist von seiner Struktur sehr viel intimer, fast ein Kammerspiel von beachtlichen musikalischen Qualitäten, äußerst anspruchsvollen Gesangspartien und erinnert ein wenig an Mozarts Così fan tutte. Und Le jugement de Midas wartet trotz des komödiantischen Stoffes mit erstaunlich heroischer, getragener Musik auf. Es spricht für die Klugheit der Edition, hier drei in ihrer Art doch recht unterschiedliche Werke vorzustellen.

Unter den Sängern begegnet man vielen alten Bekannten: Mady Mesplé ,Jules Bastin, Danielle Perriers,  Phillippe  Huttenlocher, Bernadette Degelin, um nur die prominentesten zu nennen. Marc Minkowski, Edgard Doneux und Ronald Zollman sind die Dirigenten. Eine komplette CD ist Transkriptionen und Bearbeitungen von Grétrys Musik durch andere Komponisten vorbehalten. Erstaunt stellt man fest, dass selbst Mozart Variationen über ein Chorstück von Grétry schrieb, sicherlich ein Ritterschlag für den Zeitgenossen! Abgerundet wird die Edition durch Grétrys sechs Streichquartette op.III, interpretiert vom Quatuor Haydn. Es sind Stücke von größter Anmut und Duftigkeit, gleichsam das krönende Soufflé dieses höchst empfehlenswerten musikalischen Menüs.

Peter Sommeregger

John Shirley Quirk

 

Der bedeutende englische Bass John Shirley-Quirk (geboren am  August 28, 1931 in Liverpool, England, gestorben am 7. April 2014 in Bath): Mit ihm geht wirklich eine Ära besten englischen und britischen Nachkriegs-Gesangs zu Ende, denn seine ebenso sonore wie vielfältig einsetzbare und sehr indivuell timbrierte Stimme ist auf vielen Einspielungen von Händel bis Britten und zeitgenössischer britischer Vokallitteratur zu hören – kaum ein anderer englischer Bass ist derart viel und häufig vertreten. Ich erinnere mich an seine Auftritte mit und ohne John Barbirolli in der Berliner Philharmonie, und in England wäre ein Messiah oder eine Missa Solemnis ohne ihn für viele Jahre nicht möglich gewesen. Er hat mit so gut wie allen bedeutenden Dirigenten und Orchestern gearbeitet. Wie seine Kollegen Norma Proctor oder Alexander Young gehörte er zum Besten, das die Insel zu bieten hatte, verfügte über eine wunderbare, warme, stets etwas nasal geführte, herrliche Stimme, zeichnete sich durch exemplarische Diktion aus und war ein Felsen britischen Bass-Gesangs. Man bedenkt bei dieser Todesnachricht, wie schnell die Zeit auch einem selber davon rennt, denn John Shirley-Quirk gehört auch für mich zu den Grundfesten meines eigenen Musiklebens – was für ein großartiger Sänger war er doch. G. H.

als Mr. Redfern in "Billy Budd", BBC 1972/OBA

als Mr. Redfern in „Billy Budd“, BBC 1972/OBA

Statt eines Nachrufes: John Shirley-Quirk im Gespräch: Helen Pearse sprach mit dem Bassisten im vergangenen Juni (2013) anlässlich seiner Masterclass in Bath und vermittelt ein bewegendes Dokument eines lebenserfahrenen und lebensfrohen Sängers, der nun im April 2014 in seiner Wahlheimat Bath verstarb. Wir haben den Wortlaut unverändert gelassen, daher das vielleicht verwirrende Präsens im Vorspann. Unsere Kollegen von der website fromfestival.uk (http://www.fromefestival.co.uk/the-john-shirley-quirk-interview/) und die Autorin und Journalistin Helen Pearse waren so liebenswürdig, uns den Text zu überlassen, wofür wir uns außerordentlich bedanken! G. H.

How to compress a life time of musical memories and experience into an hour-long conversation? Helen Pearse meets John Shirley-Quirk, one third of an alchemical musical partnership with Benjamin Britten and Peter Pears, that propelled all three onto the world stage. This summer sees the return to a UK audience of one of the twentieth century’s pre-eminient bass baritone voices. John Shirley-Quirk will lead a public masterclass at Cooper Hall as part of the Britten Centenary celebrations in which he passes on his ‘Britten torch’ to six professional singers.

John Shirley-Quirk in "Owen Wingrave" BBC 1971/Youtube

John Shirley-Quirk in „Owen Wingrave“ BBC 1971/Youtube

John Shirley-Quirk is sitting calmly on a sofa beside me in an elegant living room, his watchful green eyes and halo of silver-grey hair my focus as we begin our conversation. He is a tall, slender man with a fierce intelligence. I frame my questions with care. Aware that he has returned to the UK after a long absence – he retired just a couple of years ago from a twenty year tenure at the presitgious Peabody Conservatory in Baltimore – I decide to take him back to the very beginning, to his childhood in Liverpool, where his musical life began in the tumult of war.

“My parent were living in Wallesley, across the Mersey from Liverpool, at the time of my birth at the tail-end of August 1931. My mother was the proverbial housewife, my father a civil servant who worked in the the passport office. So, no. I had no ‘musical’ beginnings,” he tells me, “at the age of nine though, in 1940 – just a year after war had been declared – I joined a local church choir in Liverpool, and that was it. My voice changed over the years – from soprano to alto and finally to bass baritone – but I would have been singing wherever it ‘landed’. I think I’d got the singing bug by then. I didn’t realise I was going to have a remarkable career in music until I was forty…”

als Eugen Onegin mit Margaret Price in der TV-BBC-Verfilmung/Youtube

als Eugen Onegin mit Margaret Price in der TV-BBC-Verfilmung/Youtube

“During the war I was evacuated to North Wales, it was completely unsafe in the middle of Liverpool. Between the ages of nine and ten, after the war was declared, I lost a year of my life. It took a lot of making up. Schools everywhere were closed. Everyone was expecting an instantaneous invasion. All schools were turned into hospitals. Tiny schools were hastily convened in people’s houses with tiny classes. At the age of ten and a half I won a science scholarship to Liverpool Grammar School. And that’s where my first serious music lessons took place. My first music teacher asked me to sing a solo at the school’s Speech Day – the first time I sang in public – I remember it was ‘Flocks are Courting’ by Buononcini. Then there was Dr Marshall. Around that time, more or less by accident, I had taken up the violin. My parents could just afford the lessons at one shilling per five minutes. They used to last much longer, of course.  We bought a low-grade violin for £3 too, I think…” By the age of thirteen I had won a music scholarship which allowed me to have free music theory and violin lessons which took place as evening classes all over Liverpool. I was still singing in the choir. My piano career was over before it started though, due to an injured finger”. At this point he holds up a digit that bends alarmingly at right angles. “Fine for holding a violin bow, but the end of my piano career,” he smiles, ruefully. “By the age of seventeen I was made assistant ‘Choir Master’, teaching lots of 17th century contrapuntal church music. This meant that I had to teach myself the piano. I’m a very bad pianist,” he confesses. Shirley-Quirk then took up a place at Liverpool University to read chemistry, “I was very good at chemistry at school – it was great fun. I got quite good at it.” But the musical thread was never lost, “at university I took part in the chorus and the orchestra and small chorus – where I learned a lot of music. I’ve enjoyed music all my life. It’s always been an absolute thrill and delight – even though it is a hugely stressful profession.”

Bei der Aufnahme von brittens Kantate "The fiery furnace" 1957: Roger Brenner, John Shirley-Quirk und Robert Tear/Decca/Youtube

Bei der Aufnahme von Brittens Kantate „The fiery furnace“ 1957: Roger Brenner, John Shirley-Quirk und Robert Tear/Tony Palmer/Decca/Youtube

University over, the young Shirley-Quirk was headed for a career in industrial chemistry, “I hated it” he says, simply. “But I joined the airforce – their education branch – which was based in Melksham, Wiltshire. I was teaching the physics of flight to RAF folk. Whilst I was there I was introduced to a man called Fritz Spiegl, who was the Principal Flute in the Liverpool Philharmonic. I sang in some concerts for him. He then wrote to a friend of his family, called John Olive, who lived in Shawford House, just outside Bath. I was married at the time to a trainee doctor at the RUH in Bath. John and Phyllis Olive were to become very, very important in my life. We started singing, and he built an opera house in Shawford Mill. So you see, I’ve come full circle. One day Phyllis Olive took me aside and told me that I was going to teach in London. So I had an audition with Roy Henderson, who had just had tremendous success with Kathleen Ferrier.  There I was, studying, trying to learn how to sing by night and by day teaching chemistry at Acton Technical College, which later went on to become Brunel University. Shirley-Quirk was one of their founder members, “I’m very proud of being a Doctor of Science at  Brunel – and a Doctor of Music at Liverpool University, ” he smiles.

The Britten Family in Veneice/Decca

The Britten Family in Venice/Decca

Then came a period of “stressful overlap”, he explains, “a moment when I had to decide. I began to feel Jekyll and Hyde parts of me pulling in different directions. In the end I finally put in my resignation and was more or less simultaneously offered a role in Hans Werner Henze’s  “Elegy for Young Lovers” at Glyndebourne. The year was 1961 and it was the opera’s first English performance, translated from the original German. So there I was, learning new opera by day and marking final exam papers for Acton in the evening. I was told by a colleague that they had re-marked all my papers they were such a mess. I was young and foolish…” Soon after this Shirley-Quirk found himself singing Bach, alongside a tenor called Peter Pears with the Ipswich Bach Choir under the baton of a Dr Merlin Channon. “It was the Christmas Oratorio. At the end of the performance a man came up to me and told me that he’d very much enjoyed my D major Aria. That man turned out to be Benjamin Britten. Within eighteen months I was engaged to sing the role of the ferryman in his opera, „Curlew River.“ It was fantastic. Quite extraordinary.  A wonderful experience…Peter Pears and I worked a tremendous amount together after that. I had roles written for me from ‘Curlew’ onwards. I was working more or less on and off all the time with them from then on…” It was a musical partnership that was to define his career and endured right up until the time of Britten’s death from heart failure in 1976. “Peter Pears,( Britten’s partner and life-time companion), and I sang Bach together often accompanied by Britten. We sang the „St John’s Passion“ and the „Christmas Oratorios“ in the native German – so much better in the original language. Translation is contortion. You lose, you cannot but lose, by translation. However, there is some room for the argument that you should make room for two versions – go hear the text properly firstly, then go and hear the same piece in the original language. It is always so much the richer.”

Die weiße Locke war sein "Markenzeichen"/Foto Decca

Die weiße Locke war sein „Markenzeichen“/Foto Decca

Shirley-Quirk performed with Peter Pears at the premiere of Britten’s ‘Curlew River’ at St Bartholomew’s Church, Orford, Suffolk on 13th June, 1964. The opera was to mark a departure for Britten, making way for the operas, ‘Owen Wingrave’ and ‘Death in Venice’ that were to follow later. Shirley-Quirk singles both these operas out as milestones in his musical career, “Curlew River put me on the musical map – which was hair-raising. But I suppose that I have the greatest affinity with the role of Spenser Coyle in ‘Owen Wingrave’. (which premiered at Britten’s beloved Snape Maltings – and was also recorded for television in two parts – in November 1970. Like ‘Turn of the Screw before it, it was an adaptation of a Henry James short story) It was the role that Britten wrote for me, it fitted me like a glove. He told me, ‘There’s an awful lot of you in it…essence of you.’ I had the role of the man who saw both sides of the problem – Wingrave the pacifist, his familys’ rejection of this, and his subsequent mysterious death.  The role was very precious to me.” Shirley-Quirk knew only too well the disruption and chaos of war, perhaps not too clunky a point to make here. Britten was a committed pacifist. (His ‘War Requiem’, first performed at the reconsecration of Coventry Cathedral in May, 1962, is interwoven with nine poems by the war poet, Wilfred Owen.  John Shirley-Quirk later recorded the work with the London Symphony Orchestra and the choristers of St Paul’s Cathedral, conducted by Richard Hickox on the Chandos label.)

Three years later and Shirley-Quirk was back at Snape Maltings performing alongside Peter Pears in the premiere of Britten’s most famous opera, Death in Venice, based on the novella by Thomas Mann. The date was 16th June, 1973 and it was to be Britten’s last opera.  John explains, “This was the work that brought international acclaim and attention – particularly in America. We finished up doing more performances there than anywhere else, infact. Shirley-Quirk took several roles within the opera, a traveller, an ‘elderly fop’, an old gondolier, a hotel manager, a hotel barber, a leader of a group of players – and the voice of Dionysus. Britten wove him deep into the fabric of the opera.

wolf_0Shirley-Quirk went on to record and perform under all the legendary conductors of the second half of the twentieth century, including Sir Georg Solti, with whom he recorded Mahler for the Decca label; he has performed Tippett, including the premiere of ‘The Vision of St Augustine’ in 1971, and sung all the legendary bass-baritone roles on a world stage, from Covent Gardens’ Royal Opera House, to Sydney, to Vienna to New York and back again. But it is to Britten and Snape Maltings at Aldeburgh that he returns as he talks of his defining moment as a performer, “I think it was at Aldeburgh that I did my best work, my best performances. Peter Pears and I sang together in a performance of Schubert’s posthumous ‘Schwanengesang’, which translates as ‘Swan song’.  Ben  played piano. I think that that was possibly the peak of my career. Britten at the time was possibly the greatest accompanist in Europe. We also sang ‘The Songs and Proverbs of William Blake’ – a first performance of a cycle of early works. And a short cycle of Wolf’s ‘Michelangelo Lieder’. “I suppose you could call me a ‘torch bearer’ for Britten, as a teacher for what Britten’s music is about and how it should be approached.”

Ein signiertes Foto für eine Bewunderin/Youtube

Ein signiertes Foto für eine Bewunderin/Youtube

For the last twenty years, until his recent return to Bath, the city of his musical metamorphosis into a professional performer, Shirley-Quirk was doing just that, teaching the next generation of singers as a faculty member at the prestigious Peabody Conservatory in Baltimore. He explains the reason for leaving England for America,  “I was married at the time to an American oboeist. She was very unhappy living here in the UK so we moved to both work at Peabody. I even took dual nationality after 9/11 for some quixotic reason. I felt that they were under attack, we were all under attack. I ought to join them. It felt as if western civilisation were under attack.”

Shirley-Quirk went on to explain his philosophy of performance and the music which has informed his life, “Music is a language. When you put two languages together simultaneously there should be a great affinity between them. The act of getting a musical idea down on paper in the usual format – a series of dots – is extremely imprecise. It is a skeleton of what the music is trying to express. For every composer these ‘dots’ have to be clothed in flesh by the performer. And a performer my main struggle is to understand the composer. How to interpret these little black dots? There they are. How do you interpret them? And it’s different with every composer. That is the delight of being a performer – trying to understand the composers. It ought to be a struggle. It is not straightforward. If you hear a sentence on the phone you are missing the body language. The piece of music is just a telephoned message, really. For me the body language is missing. As a performer it is your job to find it. This is the constant search for meaning. During performances your concentration is on what is coming next – which makes it very difficult to be ‘in the moment’. You are thinking in two very special places at once. Music is very much a matter of playing with time. You are dealing with the very moment – and the immediate future. The trick is to be able to do that. To co-exist on different time scales.”

Shirley-Quirk gave his last public performance some six and a half years ago at the Edinburgh Festival, “I was one of the ‘golden oldies’ in ‘Die Meistersinger’” he smiles, “I had no idea that it would be my last.” Living in Bath now, surrounded by generations of his family with his third wife, Terry, a cellist, Shirley-Quirk is indeed a man come full circle. The final words must, of course, be his, “To think back on all the huge pleasure it’s been, the blood, sweat and tears too. The memories are wonderful…” …

The Art of Sándor Kónya

Für die Deutsche Grammophon hat Sándor Kónya zwei Solo-Alben eingespielt, eines mit einem reinen Puccini-Programm (1962) und eines mit deutschen und italienischen Opernarien (1959/60). Für die amerikanische DECCA entstand 1967 eine Platte mit Liedern von Verdi und Wagner. Alle drei Alben sind nun bei der Grammophon unter dem Titel The Art of Sándor Kónya als Doppel-CD erschienen.  Die Puccini-Arien gab es schon früher in der Favorit-Serie, alle anderen Aufnahmen sind CD-Premieren.

Das sensationelle Puccini-Recital wurde 1962 in Florenz mit dem Maggio Musicale unter Altmeister An­tonino Votto aufgenommen. Kónya singt hier zwölf Arien aus Tosca, Fanciulla, Butterfly, Turandot, Gianni Schicchi, Bohème, Tabarro und Manon Lescaut. Was Kónya in diesen Aufnahmen an Farbenreich­tum, lyrischem Schmelz, dramatischer Wucht und einfach berückendem Wohlklang zeigt, dürfte wohl von keinem Tenor überboten werden. Kónyas Stimme klingt in allen Lagen rund und voll, da gibt es auch in der extremen Höhe keine Verengung oder Verfärbung. Und er singt die Arien mit Gefühl und Herz; kleine Schluch­zer, wohldosiert und geschmackvoll eingesetzt, verstärken die emotionale Kraft dieser Aufnahmen. Man höre sich nur einmal das sen­sationelle „Guardate, pazzo son“ aus Manon Lescaut an – da bleibt niemand kalt! Der Klang der Aufnahmen ist ausgezeichnet. Und dass Antonino Votto einer der besten Puccini-Dirigenten seiner Zeit war, ist in jeder Phrase des klangprächtig aufspielenden Orchesters zu hören.

In den 1959/60 (mit den Bamberger Symphonikern unter Janos Kulka und den Berliner Philharmonikern unter Richard Kraus) entstandenen Aufnahmen auf dem anderen Recital der DG werden die Arien aus La Gioconda, L’Africaine, Aida und L’elisir d’amore italienisch gesungen. Besonders das schwärmerische „Cielo e mar“ sticht hier mit aufblühendem Ton heraus.

Die Ausschnitte aus Rigoletto und Il Trovatore werden deutsch gesungen, aber Kónya geht sie mit viel Legato und feinsten Nuancen absolut „italienisch“ an. Besonders gelungen ist Sie wurde mir entrissen aus Rigoletto,  weil die zarten Gefühle des Duca unmittelbar in emotionalen Gesang umgesetzt werden. Die deutsche Oper ist mit einem prachtvoll geschmetterten Ach, so fromm (Martha) und vor allem mit Lohengrin und den Meistersingern vertreten. Der  Lohengrin war Kónyas international wohl wichtigste Partie, in der er für mich bis heute nicht übertroffen wurde. Lohengrins melancholisch umflorter Abschied und die Gralserzählung legen davon hier deutliches Zeugnis ab. Man höre nur die Phrasierung bei dem Wort „Taube in der Gralserzählung, der Kónya ätherischen Klang und heldischen Ausdruck verleiht. Auch Kónyas Stolzing ist für seine belcantistische Ausformung stets bewundert worden. Selten hat man das Preislied so mühelos und rund, mit soviel Schmelz und so „italienisch“ gehört.

Hochwillkommen ist die Einbeziehung der Verdi- und Wagner-Lieder (mit Otto Guth am Piano), weil sie einerseits Kónya als Liedsänger zeigen, andererseits vom Repertoire her sehr interessant sind. Die sieben Verdi-Lieder (aus den Romanzen von 1838 und 1845) sind oft wie kleine Arien. Kónya singt sie ganz auf Linie und erfreut schon allein mit dem warmen Klang seiner Stimme.  More, Elisa, lo stanco poeta etwa beschert mit seinem musikalischen Fluss und der poetischen Stimmung reinste Wonne. Es sind wahre Kleinodien, diese Verdi-Lieder. Noch rarer dürften einige der Wagner-Lieder sein wie das melodisch und textlich reizende Lied „Die Rose oder das düstere „Der Tannenbaum“. Mit Schmerzen und „Träume“ gehören auch zwei der Wesendock-Lieder zum Programm. Kónya singt sie mit expressivem Ausdruck, ohne dabei die Gesangslinie zu vernachlässigen. Eine hochwillkommene Anthologie, die längst überfällig war und Kónyas unverwechselbare Stimme eindrucksvoll zur Geltung bringt (2 DG Australien, aber bei cpo oder Amazon/DGG 4807096)

 Wolfgang Denker

 

Bekenntnisse eines Direktorenlebens

So schmal das Bändchen, dessen zumindest deutsche Ausgabe als eine Art Testament des unlängst verstorbenen Gérard Mortier verstanden werden kann, auch ist, so bedeutungsschwer sind die Begriffe, die seinen Titel bilden: Leidenschaft, Theater, Religion, das Menschliche vereinen sich in ihm, dazu noch Dramaturgie, die sich auch in allen Kapitelüberschriften findet. Nun befasst sich Dramaturgie nach Duden mit „den Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur“ eben von Dramen im weitesten Sinne. Eine Dramaturgie einer Leidenschaft, so der Titel, ist deswegen schwer vorstellbar, entzieht sich doch Leidenschaft den Gesetzmäßigkeiten. Dazu kommt der geheimnisvolle Untertitel Für ein Theater als Religion des Menschlichen, der ebenfalls ein Widerspruch in sich selbst sein sollte.

Mortier entwirft von der Einleitung an ein pessimistisches Weltbild, in dem es des Theaters bedarf, um überhaupt noch Visionen entwickeln zu können. Er führt Beispiele von der Antike bis heute dafür an, mischt dabei Theater und Oper, als gebe es keine grundlegenden Unterschiede zwischen beiden, beschränkt sich oft sogar nur auf Beispiele aus dem Sprechtheater. Im Bereich der Oper wittert er landauf, landab nur Restauration und führt dafür als nicht gerade glückliches Beispiel die Besetzung des Intendantensessels in Bayreuth an. Beklagenswert findet er den geringen Anteil der zeitgenössischen Musik am Kulturleben trotz „erstklassiger Komponisten und hervorragender Schriftsteller, die sich der Oper widmen. So bleibt ihm nur die Hoffnung auf mehr Einsicht in Mali und Kinshasa – und natürlich auf die moderne Regie.

Die nächste „Dramaturgie“ ist die „eines neue theatralischen Genres“, womit Monteverdis Opern gemeint sind, bei dem bereits die drei großen Themen der Oper auftauchen: Reise und Heimkehr, der Konflikt zwischen Liebe und Pflicht und die Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod durch den Gesang. Der veristischen Oper wirft der Autor vor, die Verbindung zwischen der realen Situation und dem idealen Leben aufgehoben zu haben. Sollte daher seine bekannte Abneigung gegenüber Tosca rühren, obwohl doch im „Oh, Scarpia, davanti a Dio das Gegenteil bezeugt wird? In jedem seiner „Dramaturgie“-Kapitel rechnet Mortier mit einer seiner Wirkungsstätten ab. Hier ist es das Palais Garnier, in dem es von Anfang an auf die Selbstbespiegelung des adligen und großbürgerlichen Publikums ankam und nicht auf die Kunst, höchstens noch auf Meyerbeers Haupt-und Staatsaktionen, nicht aber auf Debussy oder Bizet. Auch das Gesangsvirtuosentum findet bei Mortier keinen Beifall, denn Oper muss „immer zum Gemeinwohl beitragen.

Im Kapitel über „Dramaturgie der Architektur und des Ortes“ kommt er noch einmal auf das Palais Garnier zu sprechen und stellt es zu seinem Nachteil dem Bayreuther Festspielhaus gegenüber. In Paris wagten sich von ihm eingeladene afrikanische Putzfrauen nicht über die prachtvolle Treppe in den Zuschauersaal. Ob sie sich in Bayreuth wohler gefühlt hätten, ist zu bezweifeln. In diesem Kapitel ist es Salzburg, das seine Watschen abbekommt, zunächst Karajan mit seinem überdimensionierten Festspielhaus, dann die Stadt, die aus kommerziellen Gründen kein „frei modulierbares Theater“ zulässt. Besser gefiel es Mortier dann bei den Ruhrfestspielen, denn hier steht das Bühnenbild in dialektischem Verhältnis zum Spielort“. Hiebe gegen Zeffirelli und die Met bleiben natürlich nicht aus, auch nicht gegen den damaligen Minister Franҫois Léotard, der den großen Verlust zu verantworten hat, den der Verzicht auf die Aufführung von Berios Cronaca del luogo bedeutete. Seltsam nur, dass es Mortier immer an Orte zog, deren Publikum und Administration mit seinen Ideen kaum übereinstimmen konnten.

Dass Spielplangestaltung etwas mit Dramaturgie zu tun hat, bezweifelt sicherlich niemand, und so galt bereits für Brüssel, dann auch für Salzburg, die Werke in historischen, sozialen und ästhetischen Zusammenhängen begreiflich werden zu lassen. So wurde der Frosch (trotz des peinlichen CDurQuartetts) zwischen Tannhäuser und Parsifal gesetzt und wohl davon ausgegangen, dass jeder Zuschauer alle drei Werke besuchen würde, um der erwünschten Einsichten teilhaftig werden zu können. Nach vergessenen Opern zu suchen bringt nach Mortier nichts, wohl aber die mindestens 50 wertvollen Werke des 20. Jahrhunderts den höchstens 40 bedeutenden des 19. Jahrhunderts gleichzustellen.

Dramaturgie und Werktreue werden im nächsten Kapitel beleuchtet. In ihm wird es den Traditionalisten so richtig gegeben, die noch immer nach Kerzenlicht schreien, obwohl es doch das überlegene elektrische Licht gibt. Auch die Behauptung, historische Kostüme könne man nicht mehr herstellen, weil es die Materialien nicht mehr gebe, geht wohl etwas an der Brisanz des Problems vorbei. Nach Mortier sind die Traditionalisten nur Faulpelze“, die sich weigern, lieb gewordene Gewohnheiten abzulegen. Die von ihm selbst angestrebte größtmögliche Treue gegenüber dem Gesamtzusammenhang“ erscheint da als ein recht vages Ziel.

Durch alle Kapitel hindurch stößt man immer wieder auf Absonderliches wie die Behauptung, Mozart habe den Figaro wegen der neuen Ehegesetze Josefs II. komponiert, nicht wegen seines revolutionären Charakters, die Traviata-Uraufführung sei wegen der fehlenden politischen Korrektheit ein Fiasko gewesen, in der Iphigenie würde ein falsches, weil „arisches“ Griechenbild gesehen. Und wo gibt es heute noch Zuschauer, die in Don Giovanni nur den Edelmann sehen, die Almaviva und den Don (Giovanni) „nebeneinander stellen? Und ist jeder, der buht, gleich ein Hooligan?

„Dramaturgie der Kommunikation“ heißt das nächste Kapitel, handelt von „Angriffen und Gemeinheiten“ dem Verfasser gegenüber, von den mächtigen Labels, die die Karrieren großartiger junger Sänger zerstören – was in dem einen oder anderen Fall zutreffen mag, nicht aber in dieser Verallgemeinerung. In der „Dramaturgie der Uraufführungen“ befindet Mortier das Nachspielen neuer Werke für genau so wichtig wie prestigeträchtige Uraufführungen – und hat damit sicherlich Recht. In „Dramaturgie der Arbeit mit Künstlern“ überrascht nach all den vorherigen Ausführungen der Satz, der „Sänger (ist) die zentrale Kraft der Oper, wozu nicht recht passt, dass fast alle seine Regisseure vom Sprechtheater kamen und so wohl nicht viel mit diesen wertvollen Wesen anfangen konnten. Wie in jeder Oper gibt es auch in diesem Buch ein „Finale“, in dem noch einmal das Credo verkündet wird: Ich will Künstler, mit denen ich am besten meine Befragung der condition humaine erzählen kann. Aber muss man dazu unbedingt singen? (126 Seiten,  Bärenreiter-Metzler)

Ingrid Wanja

Ost-West-Joint-Venture

Die Wiederveröffentlichung dieser ursprünglich bei der DGG erschienenen Aufnahme von Albert Lortzings Wildschütz beim Label  Brilliant Classics (94701) weckt Reminiszenzen an ihre Entstehungszeit, Anfang der achtziger Jahre. Damals wurden von den großen Labels noch reichlich Opern im Studio produziert, mitunter – wie hier – auch in der damaligen DDR. Die Produktionskosten waren dort niedriger, gute Orchester standen zur Verfügung, auch einige Rollen wurden jeweils mit einheimischen Sängern besetzt. In dieser Zeit war Bernhard Klee ein gerne eingesetzter Dirigent, er war (und ist) vielleicht nicht ganz zufällig der Ehemann von Edith Mathis, die damals eine der bevorzugten Exklusiv-Künstlerinnen der DGG war. Das Private ist eben immer auch (besetzungs-)politisch.

Offenbar wollte die Firma damals den noch aus den sechziger Jahren stammenden Wildschütz unter Robert Heger mit Fritz Wunderlich (EMI) aus dem Katalog verdrängen, aber der ältlich klingende Peter Schreier als Baron Kronthal verfügt nicht annähernd über das Charisma und die Schönheit des Timbres von Wunderlich. Was dieser Aufnahme eindeutig fehlt, ist der ganz große Star. Alle Beteiligten schlagen sich tapfer, allen voran der grundsolide Hans Sotin als Baculus, auch der Bariton Gottfried Hornik kann als Graf durchaus gefallen.

Gut besetzt sind auch die weiblichen Rollen, Edith Mathis findet mühelos den leicht frivolen Ton für die Baronin Freimann, Gertrud Ottenthal ist eine höhensichere Nanette. Mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass Doris Soffel damals bereits die Gräfin gesungen hat. Es spricht für diese Sängerin, dass sie noch heute in guter Form international zu hören und zu sehen ist. Die Staatskapelle und der Rundfunkchor Berlin spielen und singen durchaus schmissig und launig, aber warum nur kommt mir beim Hören ständig das Wort  „altbacken“ in den Sinn? Ist Lortzing wirklich nicht mehr zeitgemäß? Hat uns die Verdrängung der leichteren Spielopern aus dem Repertoire dieser Musik entwöhnt? Vielleicht ist es aber doch der fehlende Esprit dieser Aufnahme.

Peter Sommeregger

Quietschend lustig

Kräftig wird zum Zeichen des Beginns mit einem Stab auf den Boden gestampft, dass man fürchten muss, der Dirigent möge sich keine tödliche Infektion zuziehen wie einst Lully. Hat er natürlich nicht.  Hans Rosbaud überlebte diese Cosi fan tutte noch fünf Jahre. Es handelt sich um die Aufführung vom Festival in Aix-en-Provence aus dem Jahr 1957. Eine Legende. Ich kannte sie bislang nicht, weshalb die Ausgabe des Labels INA mémoire vive umso mehr willkommen ist. Das Institut National de l‘ Audiovisuel hat eine sparsam erscheinende Ausgabe mit fundiertem Textheftchen herausgebracht, das ein sehr interessantes, informatives, wenngleich ungemein selbstgefälliges Interview mit Gabriel Dussurget enthält, der die Geschicke des von ihm mitbegründeten Festivals bis 1972  leitete.

Rosbaud schlägt in der vom Alfonso dieser Aufführung, Marcello Corti, in den Bühnenbildern von Balthus – jenes Balthus, von dem das Essener Museum Folkwang im Zuge der Pädophilie-Debatte kürzlich eine Ausstellung absagte –  inszenierten Aufführung ein Tempo an, das einem schier den Atem nimmt, findet aber in der Begleitung der Sänger das rechte Maß aus jugendfrischer Spontaneität, alertem Tempo und ein wenig knisternder Gefühlstiefe. Vor allem spielt er eine Komödie: quietschend lustig. Es war die Stunde eines jungen Ensembles. Die 22jährige Berganza, später häufig eine zurückhaltende Interpretin, ist bei ihrem Aix-en-Provence- Auftritt, der zugleich ihr Debüt war, eine kernige und zupackende, elegante und angesichts des Alters erstaunlich reife Dorabella, sie singt sozusagen mit Biss und Selbstbewusstsein, die andere Teresa, die 30jährige Stich-Randall, ist daneben manchmal ein wenig scharf und lasch, sehr kunstvoll, wenn auch mit einigen gequälten Tönen im Rondo, dabei damenhaft neutral als Fiordiligi. Mariella Adani ist eine resche Despina, wie man sie sich nur wünschen kann. Der 27jährige Luigi Alva klingt etwas scheu, wartet als Ferrando mit einem schönen feurigen Timbre auf. Rolando Panereis Guglielmo, er war mit 33 Jahren der älteste der vier Liebenden, ist mir zu grimassierend gesungen. Ein Dokument: im zweiten Akt sind einige Momente aufgrund des Ausgangsmaterials klanglich dürftig und man darf sich nicht daran stören, dass der Souffleur ein wichtiges Wort mitzureden hat und die Aufführung auf bekömmliche 2 Stunden 20 Minuten zurechtgestutzt wurde.

cosiNoch interessanter ist der Mitschnitt eines Konzert vom Mai 1951 aus dem Théâtre des Champs-Elysées, wo Ernest Ansermet die „opéra comique de chambre“ Le diable boiteux von Jean Françaix und das Opern-Oratorium Oedipus Rex von Strawinsky leitete (ebenfalls von INA); Hauptaugenmerk liegt dabei auf Hugues Cuénod und Jean Vilar. Der 20minüter Le diable boiteux ist ein heiteres kleines Werkchen, das die bis zu seinem Tod 1901 mit Edmond de Polignac verheiratete Singer Nähmaschinen-Erbin Winnaretta de Polignac bei Françaix in Auftrag gab. Die kleine Oper für zwei handvoll Instrumente wurde 1938 im Salon der Fürstin in der Avenue Henri-Martin uraufgeführt. Es dirigierte Nadia Boulanger, es sangen der Bass Doda Conrad und der Tenor Hugues Cuénod, der das Stück in den kommenden Jahrzehnten überall aufführte. Cuénod ist auch der Solist in diesem Konzert. Mit fadendünner Stimme purzelt er durch die spanische Geschichte vom Hinkenden Teufel, die Alain-René Lesage 1707 nach einer spanischen Vorlage entworfen hatte, spricht, singt, wechselt ins Falsett. Recht nett. Geschickt ist die Kopplung mit einem Werk, das auch ein Ergebnis des regen künstlerischen Austauschs der Gattungen in den 1920er und 1930er Jahren in Paris war, dem zehn Jahre vorher am heutigen Théâtre du Châtelet, damals Théâtre Sarah Bernhardt, uraufgeführten Oedipus Rex. Cocteaus Text wird von Jean Vilar gesprochen, der Leiter des Théâtre National Populaire geworden war, auch wenn man ihm 1951 einen Mangel an Gefühl bescheinigte, wirkt er heute geradezu emphatisch. Das restliche Ensemble ist unauffällig, darunter der grell charakterisierende Ödipus von Joseph Peyron, den man u. a. durch Aufnahmen von opéra-comiques von Audran, Ganne, Boieldieu, Hérold, aber auch Ravels L’enfant et les sortilèges kennt.  

Rolf Fath

 

W. A. Mozart: Cosi fan tutte mit Teresa Stich-Randall (Fiordiligi), Teresa Berganza (Dorabella), Mariella Adani (Despina), Luigi Alva (Ferrando), Rolando Panerei (Guglielmo), Marcello Cortis (Don Alfonso). Choeurs du Consevatoire, membres de l’Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire, Leitung: Hans Rosbaud; INA, mémoire vive IMVO24

Igor Strawinsky: Oedipus Rex/ Jean Françaix: Le diable boiteux mit Hugues Cuénod (Tenor, Le diable boiteux), André Vessières (Bass, Le diable boiteux), Jean Vilar (Erzähler), Marie-Thérèse Hollet (Jocaste), Joseph Peyron (Oedipe), André Vessières (Tirésias),  u.a.; Orchestre national; Leitung: Ernest Ansermet; INA, mémoire vive IMVO47

 

 

Victorin Joncières‘ „Dimitri“

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Und wieder ist eine der großen, wunderbaren Grand opéras der romantischen Epoche Frankreichs als CD erschienen: Victorin Joncières‘ Russen-Oper Dimitri von 1876, unter Hervé Niquet im März 2013 in der Salle Flagey in Brüssel aufgenommen und nun bei Ediciones Singolares, der Hausmarke des hier vielfach erwähnten und gelobten Palazetto Bru Zane, herausgekommen.

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Fromntespièce des Klavierauszugs/Sammlung privat/Ediciones Singolares

Zu Joncières‘ „Dimitri“: Frontespiece des  Klavierauszugs/Sammlung privat/Ediciones Singolares

Zu Beginn gleich ein Blick auf die musikalische Seite der neuen Ausgabe bei Ediciones Singolares, die  in der Brüsseler Salle Flagey aufgenommen wurde. Hervé Niquet, diesmal nicht bei seiner Stammfirma Glossa, dirigiert sehr schwungvoll den Flämischen Radio und Kinderchor Chor, dessen „russische“ Eröffnung an Boris Godunow erinnert. Die Brüsseler Philharmoniker, die mir in dieser Formation vorher nicht bekannt waren, folgen ihrem erfahrenen Dirigenten tadellos und stürzen sich hochengagiert in das ihnen ja nicht fremde Idiom. Gesungen wird einfach hervorragend – anders als bei manchen anderen Aufnahmen im Verlauf dieser Serie (etwa Le mage von Massenet, ebenfalls bei Ediciones Singolares) hat man hier wirklich beste Stimmen versammelt. Allen voran der junge Philippe Talbot als leuchtend-lyrischer Dimitri mit eben jener ardeur, die französische Tenöre brauchen, dazu kommen die junge Gabrielle Philiponet als bezauberde Marina und Nora Gubisch als mütterlich-erfahrene Marpha. Andrew Foster-Williams macht den Bösewicht, den gemeinen Comte de Lusace (eine tolle Leistung)., angetrieben von der verschmähten, rächenden Vanda in Gestalt von der etwas dünn auftrumpfenden Jennifer Borghi Der attraktive Nicolas Courjal leiht seine sonore Baßstimme dem Bischof Job. Jean Feitgen, Joris Derder und Lore Binon sind erfolgreich in kleineren Partien  zu hören – selten hat man in den neueren Aufnahmen ein so stimmiges und dichtes Ensemble gehört, dazu so wortverständlich wie lange nicht mehr. Es geht also!

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Dank an den Palazetto Bru Zane, der in Gestalt von Alexandre Dratwicki einen interessanten Aufsatz über „Dimitrri – Text und Kontext“ beisteuert. José Pons schreibt über den fortschrittlichen Theaterintendanten Albert Vizentini, Nicolas Deshoulières über die Rezeption der Oper in der zeitgenössischen Presse. Und schließlich wird noch der Komponist selbst zitiert, der sich über das Théâtre-Lyrique seiner Epoche auslässt – gäb´s das alles auch in Deutsch (immerhin sind die drei deutschprachigen Länder der größte Markt in Europa) und nicht nur in Französisch und Englisch, wäre eine effektvollere Verbreitung gesichert. So wird, schon wegen seines unpraktischen Buchformats in wenig attraktivem, altmodischen Druckbild, die Aufnahem sicher nur die überzeugten Fans der Französischen Oper erreichen. da wäre dringend ein Formatwechsel anzuraten. Geerd Heinsen

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9788493968694Ein Vergleich mit dem Boris von Mussorsgsky (in der Originalfassung von 1869) mit dem Dimitri von Joncières bietet sich an: Die Libretti sind natürlich in Teilen unterschiedlich, aber es handelt sich um dieselbe Geschichte, zur selben Zeit auf beiden Seiten des post-romantischen Europa komponiert, zwei Werke, die dieselbe Episode in Angriff nehmen, aber unterschiedliche Personen in den Fokus stellen. Die Vorlage für beide ist natürlich Schillers Demetrio. Und es ist erstaunlich, wie stark auch Joncières seine Musik „russisch“ einfärbt – die Achse Frankreich. Russland war in jenen Jahren eine intensive, zweigleisige, wenn man bedenkt, wie sehr auch russische Komponisten wie Tschaikowsky oder Rimsky von der französischen Oper beeinflusst waren.

Der Komponist Victorin Joncières/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Der Komponist Victorin Joncières/OBA

Der Erfolg von Dimitri, 1876 uraufgeführt, dem Sardanapale (1867) voranging und Le dernier jour de Pompei (1869, im April 2014 in Auszügen in Paris in der Cité de la Musique konzertant gegeben), wurde durch seine erstaunliche Symphonie romantique von 1870 vorbereitet, die ihren Wagnerschen Einfluss nicht verleugnen kann, war Joncières doch ein rabiater Wagnerianer). Der Komponist verstand es auch, sich als Musikkritiker in der Pariser Musikszene durchzusetzen (für „La Liberté“ unter anderen), wie es auch Berlioz war, ein berühmter Redakteur und oft nachhaltig  im berühmten „Journal des Débats“ (für das auch Berlioz so viel geschrieben hat). Joncières verteidigt dort unter anderen Franck oder Chabrier, die eine französischen Version eines extrem schöpferischen Wagnerismus verband. Joncières letzten Opern (La reine Berthe, 1878; Le Chevalier Jean, 1885; schließlich Lancelot, 1900) gelang es nicht, seinen Namen berühmt zu machen: Zu seinen Lebzeiten blieb Joncières trotz seines unzweifelhaften Temperaments ein „Meister zweiter Klasse“ und Dimitri sein bestes Werk.

Armand Silvestre, einer der beiden Librettisten/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Armand Silvestre, einer der beiden Librettisten/OBA

Bereits 1870 beendet, wurde die Oper am 5. Mai 1876 uraufgeführt. Diese Verzögerung hatte  seinen Grund in dem Brand des Théâtre Lyrique, für das Joncières seinen Dimitri geplant hatte. Die neue Bühne des Théâtre Lyrique  (ein Tempel der modernen Komponisten) brachte  also 1876 das Werk heraus, dessen Entwurf  für das Grandiose eine viel größere Bühne verlangte, eben die Opéra-Comique, wo die Reprise ab 1890 auf dem Programm stand. Trotz seiner Nähe zur Wagnerianischen Strömung bleibt Joncières dem italienischen Nummernstil verbunden, gestaltet aber die Übergänge und manche Passagen sanfter.  Dimitri ist wie ein Fresko in einzelne Bilder aufgeteilt. Die Vielfältigkeit der Handlung drückt sich in zahlreichen Episoden aus, die Joncières mit Motiven und Sequenzen unterlegt, ohne sie zu entwickeln. Die längste Arie dauert hier drei  Minuten. Während der Kritiker Joncieres sich ausschließlich als Wagnerianer erweist (und mit denen scharf ins Gericht geht, die sich dem Bayreuther Meister nicht beugen), so offenbart der Komponist einen offenbar widersprüchlichen Eklektizismus, der außer zu Meyerbeer, Verdi, Halévy auch eine Nähe zu Gounod und sogar Chopin, Thomas und Bizet (Dimitri liegt fast zeitgleich mit Carmen) aufweist.

Zeitgenössische Illustration zu "Dimitri"/OBA

Joncières‘ „Dimitri“ – zeitgenössische Illustration zu „Dimitri“/BNF

Als gutes Beispiel einer konzisen und bewundernswert konstruierten Komposition, die immer nach einem für das Ohr angenehmen Fluss strebt, ist die Ouvertüre des Dimitri ein Vorbild des Genres –  eine gelungene Einleitung und ein Appell an die Phantasie des Hörers. Sie beeindruckt durch ihren großartigen epischen Zug: Die Aufeinanderfolge von musikalischen Episoden sichert eine bemerkenswert strukturierte Verdichtung des Werks, so das düstere slawische Thema von Vanda (die Hauptgestalt der Oper), das zynische Motiv von Lusace (die rächende Hand Vandas), die Feste in Vandas Palast zum Auftritt des polnischen Königs im 2. Akt, dann die Ausbreitung des Liebesthemas für Marina und Dimitri, dem seine aufeinander folgenden Wiederholungen in der Partitur entsprechen. Das Liebesmotiv, das sich fast über ein Drittel der Ouvertüre erstreckt, stellt diese verhinderte Liebe dar, die das junge liebende Paar gelebt hätte, wenn Vanda nicht ihren bösartigen Plan mit Hilfe von Lusace realisiert hätte. Die Motive vermischen sich hier miteinander wie die Teile eines musikalischen Puzzles, mit einem meisterhaften Sinn für Übergänge und Abläufe. Joncières gelingt seine Ouvertüre mit derselben Intelligenz (Aufbau, instrumentale Farben) wie seine Symphonie romantique. Hätte nur die Ouvertüre von Dimitri überlebt, wäre der Komponist zweifellos als großer Symphoniker anerkannt worden.

Wieder einmal eine Illustration aus der Schokoladenbeilage von Guérin-Boutron/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Wieder einmal eine Illustration aus der Schokoladenbeilage von Guérin-Boutron/OBA

Trotz seiner unterschiedlichen Strömungen beeindruckt Dimitri auf Anhieb durch seine Originalität  und Geradlinigkeit der dramatischen Synthese, die zeigt, wozu der Komponist fähig ist, vor allem in der klugen psychologischen Charakterisierung der Personen. Alle seine Einzelkompositionen, (wobei das Beispiel einer vokalisierten und verzierten Stretta von Lusace, um seine oberflächliche Bosheit auszudrücken, am typischsten ist) lassen einen Meister bezüglich der Situationsschilderung  erkennen.

Dimitri, äußerlich eine historische Bilderfolge, ist eigentlich ein Liebesdrama, dessen Kraft und Wildheit von einer abgewiesenen Frau in Gang gesetzt wird: Vanda. Sie liebt Dimitri, der ihr Marina vorzieht. Vanda rächt sich, indem sie den jungen Zaren töten lässt und indem sie Lusace, den Feind Dimitris, manipuliert. Sie ist eine Intrigantin von abstoßendem Zynismus. Um die psychologische Darstellung zu erhöhen, verwendet Joncières das Prinzip des Leitmotivs als Indiz  einer emotionellen Situation (oder für eine Person): Dasselbe Motiv charakterisiert die Liebe Dimitris für Marina oder das mütterliche Motiv von Marpha, als Dimitri die Verbundenheit erwähnt, die Vanda ihm bekundet. Joncières verallgemeinert sein Prinzip auch, um eine Person zu charakterisieren: ein grimassenhaftes, dämonisches Trillermotiv für Lusace; die Melancholie und Düsternis für Vanda, der vergeblich Liebenden. Die Nüchternheit der Mittel, ihre sparsame und niemals belanglose Verwendung zeigen klar Joncières´ musikalische Genialität. Stefan Lauter (Dank an Ingrid Englitsch für die Übersetzungshilfe).

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Joncières‘ „Dimitri“: Hervé Niquet am Pult und sein Solist Andrew Foster-Williams/Foto Brussels Philharmonqie

Victorin Joncières: Dimitri – Inhalt ACT I: A picturesque setting in Poland, late winter. On the right, the entrance to a monastery; at the hack, the slope of a hill; at the foot of the hill flows a river (the Don). (Ein wirklich russisch nachempfundener Chor eröffnet die Szene.)The Prior disembarks onto the riverbank, followed by a group of Cossacks. Dimitri, pretender to the Russian throne, was raised, under the name of Vasili, in a monastery. He left the monastery to follow Vanda, a cousin of the king of Poland, who saw in him a means of achieving her ambitious ends, but then he fell deeply in love with Marina. She had been promised by her father to the Count of Lysberg. On learning of this, Dimitri killed the latter in a duel and was thrown into prison, but Vanda set him free. Dimitri relates all this to the Prior. Meanwhile Marina, whose father has sworn to kill Dimitri, has left home and is travelling with a band of Gypsies; she is looking for Dimitri. The Count of Lusatia arrives at the monastery and reveals to the Prior that the young Vasili who was entrusted to his care some years ago, is none other than Dimitri, the son of Tsar Ivan IV (the Terrible), whose throne has been usurped by Boris (Godunov). The time has now come, he says, to overthrow Boris and restore the crown to the rightful heir. Dimitri lets Marina into the secret and asks her to go to the castle of Vyksa, where Tsarina Marpha, Ivan’s widow, is held cap­tive by Boris and there still grieves for her son, whom she believes to be dead. As he leaves the monastery, the Count comes upon Dimitri and Marina as they declare their love.

Und Henri de Bornier, der andere Verfasser des Librettos/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Und Henri de Bornier, der andere Verfasser des Librettos/OBA

ACT II:Vanda’s palace in Krakow. An Italian Renaissance interior; at the back, a gallery. (Eine schmissige Polonaise erklingt.) Ladies-in-waiting, splendidly dressed; Vanda, seated on an ottoman.The Count of Lusatia announces to Vanda that Dimitri is to be recog­nised as tsar and tells her that she must obtain his promise to marry her, in order to reign as tsarina. Alone with Dimitri, the Count urges him to abandon Marina, and does his utmost to stir his ambition and desire for power. Seeing that Dimitri will not give up his love for Marina, the Count reminds him that she is with Marpha at the castle of Vyksa, and that Boris, fearing for his throne, is likely to kill both of them; only Vanda can save them. The king of Poland, acting as arbitrator, declares that he will defend Dimitri’s rights against the usurper, Boris; he advises him to marry Vanda.

ACT III – First Tableau: Within the castle of Vyksa, in Russia. As the curtain rises, Marina is reading to Marpha, but she breaks off because the tsarina does not appear to be lis­tening. Marina tells the tsarina that her son, Dimitri, is still alive and that she, Marina, is his fiancee. Marpha is torn between joy and doubt. Job, the primate of Moscow, who is close to Boris, comes to warn Marpha that ‚a base adventurer‘, aiming to topple the throne and depose Boris, is claim­ing to be her son; he tells her that she must refuse to recognise him. Marpha is unsure in her mind, but she expresses her hatred for Boris. She dis­misses Job, after leading him to believe that she intends to recognise Dimitri as her son (und hat eine fabelhafte Arie in der Nachkommenschaft von Meyerbeers Prophete)ACT III – Second Tableau: Dimitri’s camp. Evening; tents towards the back of the stage (fabelhafte „Polowetzer Tänze“, richtig schmissig). The city of Moscow, with its domes, is just visible as a distant outline in the mist. Military music, movement of troops. Dimitri tells the Prior that he has been forced to agree to marry Vanda in order to save Marina and Marpha. It is announced that there has been a military uprising; Boris has been killed in his palace.

Das Libretto gehts auf Schillers "Demetrio" zurück/OBA

Joncières‘ „Dimitri“: Das Libretto gehts auf Schillers „Demetrio“ zurück/OBA

ACT IV – First Tableau/Inside one of the tents: Celebration of the forthcoming coronation of Dimitri. The Count of Lusatia drinks to the health of Tsarina Vanda, whereupon Dimitri smashes his glass and dismisses the soldiers. Left alone with Dimitri, the Count tells him his story. Fifteen years ago Boris was regent of Russia; Tsar Ivan had two sons; the elder son died, leaving his brother as heir to the throne. Deciding to get rid of the latter, Boris approached a nobleman who had fallen on bad times and offered him a substantial sum of money to kill the child, whose name was Dimitri. The murder was committed, but the nobleman was not paid, so he decided to seek revenge. He took a young slave boy to be raised in a monastery, with the idea of one day making that boy tsar of Russia. That child, long known as Vasili, is none other than Dimitri himself and, if he prefers not to be revealed as a slave, and the son of a slave, Dimitri must marry Vanda. For the nobleman who killed the real Dimitri and took the young slave to the monastery is none other than the Count of Lusatia himself. On hearing this, Dimitri grabs a knife that is lying on the table and stabs the Count. He orders the body to be taken away. Vanda, disguised as a soldier, follows as his body is carried out. Just then, Marpha appears; she recognises the body of the man who took her son from her. Alone with Marpha, Dimitri questions her: is he her son? He refuses to appear before the people to receive the keys of Moscow from the boyars, unless Marpha dispels his doubts.. ACT IV – Second Tableau/The camp: As the curtain rises, the men are striking camp. Bright sunlight. In the background, Moscow, with its golden domes. The crowd fills the stage. National anthem. The people acclaim Dimitri and Tsarina Marpha. The boyars have pres­ented them with the keys of the city. Vanda observes the scene and swears she will be avenged.

Spiritus Rector der Serie: Alexandre Dratwicki/Palazetto Bru Zane

Spiritus Rector der Serie: Alexandre Dratwicki/Palazetto Bru Zane

ACT V: Inside the courtyard of the Kremlin. On the left, the Kremlin; on the right, St Basil’s cathedral. As the curtain rises, there are lights on at the windows of the Kremlin. The night is almost over, the first glimmer of dawn is visible on the horizon. Beneath a broad balcony, opening on the left onto the salons of the Kremlin, stands Vanda, clad in dark clothing. Vanda, her heart devoured by jealousy, makes threats against the two lovers, who seem to be so happy and confident in their good fortune. The Count of Lusatia appears; he was only wounded by Dimitri and has survived, nursed by Vanda. The coronation is about to take place. Job stops Dimitri at the entrance to the cathedral; he asks Marpha to swear on the Gospel and on the Cross that he is indeed her son. She hesitates, and that moment of hesitation precipitates the denouement. The Count of Lusatia, armed with a musket, appears with Vanda on the balcony of the Kremlin. On seeing the Count, Marpha hastens up the cathedral steps, intending to swear that Dimitri is her son. But a shot rings out and Dimitri falls to the ground. He dies in doubt as to his identity: „Marina! Mother! Alas! You alone will tell me the truth, O God!“ (Aus der Aufnahme bei Ediciones Singolares)

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Victorin Joncières (1839-1903Dimitri (Oper in 5 Akten) mit  Gabrielle PhiliponetNora GubischPhilippe TalbotAndrew Foster-WilliamsFlemish Radio ChoirBrussels Philharmonic OrchestraHervé Niquet; Live-Aufnahme Salle Flagey Brüssel, März 2013; Ediciones Singolares/Note 1 ES 1015/ Abbildunbg oben: Dimitri Wassiljewitsch Wassiltschikow George Dawr Winter Palace Moskau Wikipedia, ca 1820

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Goldgräberstimmung

Für die Verehrer von Elisabeth Schwarzkopf dürfte das eine gute Nachricht mit Tendenz zur Sensation sein: Knapp acht Jahre nach dem Tod der Sängerin erfährt ihre umfangreiche Diskographie eine bemerkenswerte Erweiterung – nämlich mit Antonio Vivaldis Gloria in C-Dur RV (Ryom-Verzeichnis) 589 und den Quattro Pezzi Sacri von Giuseppe Verdi. Es handelt sich um Mitschnitte in guter Klangqualität. Beide Stücke wurden am 22. Juni 1960 – einem besonderen Jahr in der langen Karriere der Schwarzkopf – in Amsterdam im Rahmen des Holland-Festivals aufgeführt. Carlo Maria Giulini leitete das Concertgebouw Orkest. Es sang der Groot Koor NRU. Im Gloria trat als zweite Solisten die mit Oratorien erfahrene Ursula Boese – im knappen Booklet als Boeze verhackstückt – hinzu.

Giulini in AmsterdamAufmerksame Leser der Biographie von Alan Jefferson hatten in der sehr umfänglichen Dokumentation der Schwarzkopf-Auftritte – das Amsterdamer Gastspiel längst ausgemacht. Leider werden in dem Buch nicht immer die Details dazu genannt. Vivaldi-, Verdi-Konzert heißt es knapp. Mit der beim Label Tahra herausgegebenen CD (765) ist nun das Programm in seinen Einzelheiten bekannt geworden. Ein typisches Festival-Programm. Anspruchsvoll und erlesen zugleich und typisch für Giulini, der stets einen Sinn für Exklusivität besaß. Sein Vivaldi ist groß gefasst, festlich, die historische Aufführungspraxis war noch nicht entdeckt. Der helle, sonnige Vivaldi und der dunkel-strenge Verdi bilden einen seltsamen Kontrast in der musikalischen Huldigung desselben Gottes.

Bei Vivaldi fällt der solistische Einsatz vergleichsweise üppig aus. In vier von zwölf Abschnitten des Werkes, das zu den populärsten Schöpfungen des Komponisten gehört, kommen die Sängerinnen zum Zuge, im „Laudamus te“ mit einem fast opernhaften anmutendem Duett, im „Domine Deus“, dem Höhepunkt des Werkes, der Sopran allein. Dieses Solo hat seine Tücken, es ist nur scheinbar schlicht. Für eine Sängerin wie die Schwarzkopf war es damals noch kein Problem, die mit gehauchten Trillern gespickte musikalische Struktur unter Einsatz technischer Mittel in Leichtigkeit zu verwandeln. Dennoch wurden da auch schon Grenzen deutlich, die Stimme kehrte sich mehr und mehr ins Dunkle. Die Neigung zur Kalkulation nahm hörbar zu.

Alan Jefferson: Elisabeth Schwarzkopf. Die Biographie. Langen/Müller, München 1996, ISBN 3-7844-2586-0

Alan Jefferson: Elisabeth Schwarzkopf. Die Biographie. Langen/Müller, München 1996, ISBN 3-7844-2586-0

Im Gegensatz dazu hat der Sopran im Verdischen Opus nur am Ende des letzten geistigen Stückes, dem „Te Deum“, einen kurzen Einwurf, mal gerade dreißig Sekunden lang, der übrigens gern exklusiv besetzt wird. In Giulinis Studioeinspielung bei der EMI übernahm Janet Baker den Part. „Nie werde ich zuschanden in Ewigkeit“, heißt die Zeile in deutscher Übersetzung. Wenn das so ins Überirdische gehoben wird wie von der Schwarzkopf, dann bleibt es nicht nur der letzte, sondern auch der bleibendste Eindruck der ganzen Aufführung. Insofern kommt die Frage erst gar nicht erst auf, ob sich denn diese Sängerin – seinerzeit ein unumstrittener Weltstar und als solcher auf dem Höhepunkt stehend – für die kleinen Aufgaben des Konzerts nicht zu schade gewesen sein muss. Gewiss nicht. Einmal mehr zeigt sie sich hier als Künstlerin, die der Musik diente und für die kein Werk zu gering war. 1960, ein besonderes Jahr im künstlerischen Leben der Sängerin. Fürwahr, die Fakten belegen das.

Es begann mit Marschallin in Wien und endete dort mit der Marschallin. Zweimal folgte sie dem Ruf zu ausgedehnten Reisen durch die USA mit den Stationen New York, Washington, Detroit, San Francisco, Chicago, Dallas, ein Abstecher zu einem Liederabend führte nach Puerto Rico in die Karibik. Dazwischen wieder Wien – und zwar mehrfach – sowie Strasbourg, Granada, London und schließlich Salzburg. Dort wurde wenige Wochen nach den bewussten Amsterdamer Konzert das neue Festspielhaus eingeweiht mit dem Rosenkavalier von Richard Strauss. Bei der Premiere am 26. Juli hatte aber die große Konkurrentin Lisa Della Casa den Vortritt, wenngleich die Verfilmung der Produktion unter Herbert von Karajan bis jetzt immer noch den Eindruck erweckt, als sei Schwarzkopf die erste Marschallin auf der spektakulären Breitwandbühne gewesen. Sie stieg erst am 6. August als Zweitbesetzung ein.

Rosenkavalier DVDDavor absolvierte sie in der letzten Neuinszenierung im Landestheater als Fiordiligi und als Donna Elvira im Alten Festspielhaus Salzburger Festivalalltag vom Allerfeinsten, wie er in diesen Jahren Normalität war, und gab obendrein noch einen Schubert-Liederabend mit Gerald Moore im Mozarteum. Mit den beiden Mozartpartien, als dritte kam  die Contessa im Figaro hinzu, der Marschallin sowie der Capriccio-Gräfin hatte die Schwarzkopf 1960 ihr spätes Kernrepertoire auf dem Gebiet der Oper gefunden, das sie fortan immer mehr zu perfektionieren versuchte, sich gleichzeitig aber auch von der Frische und Ursprünglichkeit des Anfangs entfernte. Nur 1967 gab es eine der für sie typischen Überraschungen. Bei zwei konzertanten Aufführungen von Glucks Orfeo ed Euridice in der New Yorker Carnegie Hall übernahm sie die Partie der Eurydice an der Seite von Dietrich Fischer-Dieskau und Lucia Popp als Amor. Der Mitschnitt – offenkundig mit privatem Mikrophon – erschien beim Label Golden Melodram und ist sogar noch zu haben.

Die Salzburger Festspiele blieben noch bis 1964 ein fester Posten im prall gefüllten Terminkalander der Schwarzkopf. Im Abschiedssommer standen passenderweise auch die Vier letzten Lieder von Richard Strauss auf dem Programm, die mit der Zeit zu einer Art Markenzeichen der Sängerin geworden waren. 1962 wurden sie ebenfalls gegeben. Der Mitschnitt des damals viel beachteten Konzerts der Berliner Philharmoniker unter István Kertés liegt nun bei Orfeo in guter Tonqualität (C 881132 B) vor, die vergessen lässt, dass es sich um Mono handelt. Die Lieder sind zwischen der 8. Sinfonie von Ludwig van Beethoven und dem Konzert für Orchester von Bela Bartók platziert. Auch wegen dieser beiden Werke unter Leitung eines hochbegabten Dirigenten, der 1973 bei einem Badeunfall ums Leben kam, lohnt sich die Anschaffung des CD-Albums, in dem auch Fotos, ein sehr informativer Text von Gottfried Kraus sowie eine zeitgenössische Kritik zu finden sind. Verglichen mit der Studioeinspielung unter George Szell, zu der es erst 1965 kam, ist der Eindruck gemischt. Die einzelnen Lieder zerfallen in viele eindrucksvolle, gar betörende Details, ein rechter gestalterischer Zusammenhang, sonst eine der Stärken dieser Künstlerin, will sich nicht einstellen. Lag es daran, dass ihr gleich am Beginn ein Lapsus unterläuft? „In dämmernden Grüften…“, singt sie. Richtig muss es heißen „In dämmrigen Grüften…“

Als Dowload bei Amazon und als CD nur in den USA zu haben: Music & Arts>, auf dem Foto ganz rechts Elisabeth Schwarzkopf

Als Download bei Amazon und als CD nur in den USA zu haben: Music & Arts, auf dem Foto ganz rechts Elisabeth Schwarzkopf

Auf Wien muss noch einmal zurückgekommen werden. Am 29. Mai verabschiedete sich dort der der 83jährige Bruno Walter am Pult der Philharmoniker mit einem Mahler-Programm von seinem Wiener Publikum. Mit dabei Elisabeth Schwarzkopf, die das Solo in der 4. Sinfonie sowie die Lieder „Wo die schönen Trompeten blasen“, „Ich atmet‘ einen Lindenduft“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ sang. Auch davon hat sich ein akustischer Mitschnitt erhalten, der aber derzeit nur in den USA greifbar ist. Ein bewegendes Konzert. Lieblos herausgelöst waren das Solo und die Lieder vor etlichen Jahren auf einer CD des Labels Verona herausgekommen. Ihr eigener Abschied vom Konzertpodium sollte erst neunzehn Jahre später mit einem von Geoffrey Parsons begleiteten Liederabend in Zürich erfolgen.

Schwarzkopf beitragsbild neu

(Das große Foto unten ist ein Screenshot aus dem Salzburger Rosenkavalier-Film in der prachtvollen Inszenierung von Rudolf Hartmann, der inzwischen auch als Blu-Ray-DVD auf den Markt gekommen ist – siehe Cover oben. Neben der Schwarzkopf wirken Sena Jurinac als Octavian, Anneliese Rothenberger als Sophie und Otto Edelmann als Ochs mit. Diese filmische Version gilt als eines der bedeutendsten Schwarzkopf-Dokumente (Kultur B0043988GW.)

Rüdiger Winter

 

Italienischer Aufsteiger

Immer öfter wird in Deutschland der Name des jungen italienischen Dirigenten Matteo Beltrami erwähnt, der Aufführungen des italienischen Repertoires in Darmstadt, Essen, Lübeck und Dresden dirigiert hat. .

Matteo Beltrami/Foto Luigi De Frenza

Matteo Beltrami/Foto Luigi De Frenza

Ein paar Worte zum Werdegang und zur Berufswahl?  Ich bin in Genua geboren, und mein Vater war Orchestermusiker. Er spielte Posaune im Teatro Margherita, das damals als Ersatz für das im Krieg zerstörte Teatro Carlo Felice diente. Als ich mir als Fünfjähriger eine Geige wünschte, war er natürlich überglücklich und hat mir sofort eine besorgt. Um die Wahrheit zu sagen, liebte ich dieses Instrument dann nicht sehr, aber um meine Familie nicht zu enttäuschen, studierte ich das Geigenspiel weiter. Das Üben war nicht leicht, wenn meine Freunde spielten oder Sport betrieben! Am Konservatorium war ich dann Jahrgangsbester, und ich habe auch das Glück, ein absolutes Gehör zu besitzen. Während des Studiums wurde mir klar, dass mich mein Weg zur Orchesterleitung führen würde, auch weil ich eine angeborene natürliche Gestik habe. Die Technik des Dirigenten als solche ist ja viel weniger umfangreich als die eines Instrumentalisten. Es geht eher darum, dass man charakterlich dafür begabt ist. So führte mich die Hassliebe zu meinem Instrument zu dem Beruf, in welchem ich mich am besten ausdrücken kann.

Was braucht es heute, um Autorität beim Orchester zu erlangen?: Es gibt Dirigenten, die von Natur aus für ein gutes Verhältnis zum Orchester veranlagt sind, andere von Natur aus für ein schlechtes. Das ändert natürlich nichts am künstlerischen Wert des Dirigenten, doch kann dieser Punkt ein gutes Ergebnis der Arbeit mit dem Orchester gefährden, wenn sich die Musiker nicht wohlfühlen. Der Dirigent sollte jedenfalls nach seinen Einfällen beurteilt werden. Jeder kann, wie alle großen Dirigenten der Vergangenheit, Orchester haben, mit denen er besser arbeitet, mit mehr feeling, als mit einem anderen.

Und noch einmal der Dirigent Matteo Beltrami/MB

Und noch einmal der Dirigent Matteo Beltrami/MB

Wir entfernen uns also immer mehr von einem Vorbild à la Toscanini im Sinne eines allmächtigen  Tyrannen…? Nun, heute kann ein solches Modell nicht mehr existieren, weil die Musiker die Macht haben, einen solchen Dirigenten abzulehnen. Der Mythos vom allseits akzeptierten Dirigenten ist aber meiner Meinung nach ohnehin Utopie. Es gibt, auch unter den Großen, keinen, der niemals Probleme hatte. Ist es richtig, wenn zum Orchester ein Spannungsverhältnis besteht? Wenn damit ein entsprechendes Ergebnis erzielt wird, ist es akzeptabel, aber persönlich halte ich nichts von dieser Art der Kommunikation und würde vermutlich als erster von einer solchen Form der Machtausübung zermürbt. Natürlich muss es eine gewisse Autorität geben, aber die kann auch auf Kooperation beruhen.

Welchen Unterschied haben Sie – auch in der Farbe – zwischen italienischen und deutschen Orchestern gespürt? Im allgemeinen ist der Klang italienischer Klangkörper heller, der deutscher Orchester dunkler und kompakter. Es gibt natürlich Besonderheiten. Ich versuche, den spezifischen Klang eines Orchesters für meine interpretatorischen Vorstellungen zu nutzen. Als Beispiel nenne ich Verdis Macbeth, den ich in Lübeck dirigiert habe: Hier gab es zum Beispiel den dunklen Klang des Blechs, den ich optimal für die dunkelste Seite des Werks nutzen konnte, wie die Hexenszenen oder die Geistererscheinungen.

Eine spezielle Unterscheidung liegt natürlich auch im Vergleich zwischen Repertoire- und Stagione-System. Spielten vor 40-50 Jahren die italienischen Musiker in verschiedenen Orchestern, kannten sie ständig an den diversen Häusern gespielte Werke wie Rigoletto, Traviata oder Bohème in- und auswendig und konnten sich dem jeweiligen Dirigat anpassen. Heute wird ein Werk, wenn es ein Jahr nach der Neuproduktion wieder in den Spielplan aufgenommen wird, von A bis Z neu geprobt, und die Interpretation bleibt damit unverändert. Im deutschen Repertoirebetrieb läuft das klarerweise anders. In Italien ist es das Teatro La Fenice in Venedig, das mit seiner Mischung aus einer Reihe von Neuproduktionen und regelmäßig jedes Jahr gespielten Titeln ein gutes Vorbild für die bekanntlich mit Schwierigkeiten kämpfenden anderen Häuser wäre.

Wie ist Ihre Haltung gegenüber Musikwissenschaft, Aufführungspraxis, Originalinstrumenten und Strichen? Was heute in einigen Fällen als Philologie ausgegeben wird, müsste gesetzlich verfolgt werden (lacht). Im Ernst: Opern des Belcantorepertoires sklavisch notengetreu zu spielen, wie sie geschrieben wurden, ist genau das Gegenteil von Philologie. Bevor man mich der Arroganz gegenüber dem Komponisten bezichtigt, ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit: Die italienische Oper wurde zunächst vom Komponisten am Klavier geschrieben, der dann aber bei den Proben dabei war, während derer er Änderungen vornahm. Bei Reprisen machte er neuerlich Änderungen, und nicht immer war Ricordi zur Stelle, um sie offiziell zu machen. Es heißt immer wieder, dass Verdi sich über Änderungen beklagte, aber wir ersehen aus seinem Briefwechsel, dass es um eine Verzerrung des Inhalts, des Titels usw. ging. Niemand kann mir einreden, dass Verdi dagegen war, wenn ein Sänger mit guter Höhe eine cabaletta mit einem Spitzenton abschloss, um dem Publikum zu gefallen.

A propos cabaletta. Warum wurde sie wiederholt? Um sie mit Variationen zu singen, sonst wäre die Wiederholung ja sinnlos gewesen. Und diese Variationen müssen geschmackvoll sein und der Entstehungszeit des Werks entsprechen. Dafür muss man dieses Repertoire sehr gut kennen, und es ist meiner Ansicht nach Aufgabe des Dirigenten – damals machte das der Komponist, der sein Werk sehr oft selbst leitete. Als Beispiel nenne ich Lucia di Lammermoor, wo mit der Titelrollensängerin eine neue Kadenz zu erarbeiten wäre. Es gibt ein Buch mit schon bestehenden Kadenzen, und aus Bequemlichkeit wird eine von ihnen ausgewählt. Aber früher war das nicht so: Die Vorstellung, eine Primadonna würde dieselbe Kadenz singen wie ihre Rivalin kurz zuvor, war völlig unmöglich. Es gilt auch zu bedenken, dass die Werke damals nicht als für die Ewigkeit geschrieben erachtet wurden. Denken Sie nur an Rossini und seine Eigenverwertung. Wenn eine Oper keinen Erfolg hatte, wurde sie abgesetzt und vergessen. Konnten die Sänger dazu beitragen, sie im Spielplan zu halten, so wurde ihnen das erlaubt. Verdi und Donizetti wussten sehr genau, worum es ging. Den Bedürfnissen der Bühne muss entsprochen werden. Das ist Musiktheater und das ist wahre Philologie!

Natürlich muss zugestanden werden, dass die Form der „sogenannten Philologie“ auch eine Reaktion darauf war, dass nicht nach den Bedürfnissen der Bühne und überhaupt übertrieben gestrichen wurde, sondern schlicht und einfach, weil man etwas „hässlich“ fand. Das ist natürlich kein guter Grund. Nur weil die Cabaletta des Germont nicht eine von Verdis besten Kompositionen ist, darf das natürlich nicht zu einem Strich berechtigen. (Im übrigen wiederhole ich, dass sich meine dezidierte Meinung zur Philologie auf die Belcanto-Opern des 19. Jahrhunderts bezieht. Mit Puccini und Co. hat das natürlich gar nichts zu tun).

Mit Originalinstrumenten haben Sie bislang noch keine Erfahrung? Nein, aber es kann schon sehr interessant sein. Dennoch ist auch zu bedenken, dass auch das Studium sich verändert hat, dass man sich im Konservatorium heute eine andere Technik aneignet als früher, dass wir nie sagen werden können „So war das damals“. Bei bestimmten Autoren ist es interessant, möglichst ähnliche historische Bedingungen zu schaffen. Aber es ist falsch, wenn behauptet wird, nur auf diese Weise könne man beispielsweise Mozart gerecht werden.

Wie nähern Sie sich einem neuen, Ihnen unbekannten Stück? Ich bin keiner, der die Partitur sogleich verschlingt, obgleich ich natürlich eine Oper bei kurzfristigen Anfragen auch in einer Woche studieren kann. Im Unterschied zu Kollegen, die das nicht lieben, höre ich mir zunächst so viele Aufnahmen als möglich anderer Dirigenten an. Ich möchte erfahren, was andere, die viel berühmter sind als ich, die schon Geschichte geschrieben haben, zu einem bestimmten Werk zu sagen hatten. Denn wenn man eine Oper zwar kennt, aber noch nicht wirklich studiert hat, ist der Kopf auch freier für von den Aufnahmen ausgehende Botschaften. Ab dem Moment, wo ich mir eine eigene Vorstellung mache, höre ich keine Aufnahmen von anderen mehr, weil ich dann meinen Weg alleine gehen will. Ich beginne dann langsam mit 1-2 Seiten pro Tag. Ich bin ja kein Pianist und spiele sehr schlecht Klavier, also singe ich und stelle mir die Musik einfach vor. Langsam kommt dann, ohne Nötigung, der Punkt, an welchem ich meine eigene Vorstellung zu konstruieren beginne von dem, was ich ausdrücken will, und bündele meine Konzentration darauf hin.

Gibt es Titel, die Sie aus reiner Lust für sich selbst studiert haben oder nur solche, die man Ihnen angeboten hat? Oft läuft das parallel oder wie voriges Jahr bei Falstaff, klarerweise ein Titel, mit dem sich für mich ein Traum erfüllt hat. Ich fühlte mich reif genug für eine erste Interpretation, und die Ergebnisse haben mich sehr befriedigt. In der Vergangenheit habe ich ein paarmal etwas abgelehnt, weil ich mich dafür noch nicht bereit fühlte. Natürlich kann man mit dem Studium eines Titels einfach so zuhause beginnen, aber bestimmte Probleme und Schwierigkeiten sieht man erst, sobald man am Pult steht. Am grünen Tisch verbergen sie sich und überraschen einen erst in der Praxis. Überhaupt unterscheidet sich die erstmalige Übernahme eines Werks sehr von solchen, die ich schon sehr gut kenne, weil ich sie geleitet hatte. Da habe ich schon die Streu vom Weizen getrennt, und der Teig ist richtig, um eine gute Pizza zu machen. Das gilt speziell für das Opernrepertoire, denn bei symphonischen Stücken ist es leichter, a priori eine Idee zu haben und diese auch durchzuziehen. In der Oper bestehen Faktoren wie die Bühne, die Entfernung, nicht zuletzt die Sänger (lacht). Jedenfalls gibt es je nach Stück tragische oder komische Tempi oder Stellen, wo die Spannung erhöht werden muss. Lauter Dinge, die man in der Theorie nicht vorhersehen konnte: Bei dem erwähnten Falstaff hatte ich das Glück von fast einem Monat Probenzeit, und ich habe an dem, was ich mir vorgenommen hatte, sehr viel geändert. Das war keine Niederlage für mich, sondern im Gegenteil ein großer Gewinn.

Sie haben sehr jung begonnen, sodass Sie vermutlich nichts von den vielen Zwischenfällen, zu denen es im Opernhaus kommen kann, mehr erschüttern kann…?… Ich glaube, ich habe eine Entwicklung wie viele frühere Dirigenten zurückgelegt, also wirklich von der Pike auf gelernt. Wenn man bedenkt, dass meist über 150 Personen mit einem Opernabend zu tun haben, müssen unerwartete Situationen mit eisernen Nerven beherrscht werden. Ich habe das ja oft gesehen, wie es ist, wenn in Augenblicken der Panik der Dirigent für alles verantwortlich ist. Da gibt es keinen Regisseur oder anderes mehr. Wenn etwas schiefgeht, sieht der Sänger ausschließlich auf den musikalischen Leiter, auch das Orchester erhebt sofort die Augen. Nur vom Dirigenten und seinem kalten Blut hängt es ab, ob weitergespielt wird oder nicht. Das ist keine Frage von Genie oder Musikalität, sondern ausschließlich eine solche der Erfahrung. Mit Kunst hat das nichts zu tun. Diese Erfahrungen kann man nur machen, wenn man sich von ganz unten hinaufdient. Ein Debüt als Zwanzigjähriger war in Italien vor einigen Jahren etwas sehr Seltenes. Ich habe das als Privileg betrachtet.

Und wo sehen Sie sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren? Ich liebe meine Arbeit sehr, das Dirigieren ist für mich zuallererst ein Quell des Vergnügens. Das bedeutet nicht, dass ich mich für vollkommen halte und nichts mehr zu lernen brauche. Ich möchte weiterlernen, auch experimentieren, aber weiter mit Vergnügen musizieren. Ich möchte auch bei Opern, die ich schon geleitet habe, gegensätzliche Ideen umsetzen, denn es nähert sich zwar der Vierziger, aber ich verspüre immer noch einen jugendlichen Überschwang, der mir nicht immer verziehen wurde. Von Dirigenten meiner Generation wird ständig ein Ergebnis erwartet, das es nicht erlaubt, auch Experimente anzustellen. Das ist ein Problem und kastriert die Kreativität. Ich denke, dass es möglich sein muss, auch Wagnisse einzugehen. Ich beziehe mich hier im besonderen auf Italien, denn in Deutschland ist man gegenüber neuen interpretatorischen Ansätzen toleranter.

Und gibt es einen Ausgleich zum Beruf? Was mich betrifft, halte ich es für richtig, dass das Studium nicht über meinen ganzen Tag geht. Ich bin der Meinung, dass man für eine Interpretation auch Anregungen aus einer ganzen Reihe von Situationen empfangen kann, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Es ist nicht unbedingt die Menge der dem Studium gewidmeten Stunden, die zu einer Vertiefung der Interpretation führt. Es braucht eine Tätigkeit, bei der man abschalten kann. In meinem Fall sind das – oft auch ziellose – Spaziergänge mit meinem Hund. Danach finde ich zu gesteigerter Konzentration. Wenn eine Produktion läuft, ist natürlich alles anders. Da kann es schon zu 10-12 Stunden ununterbrochener Arbeit kommen, zum Beispiel sechs Stunden Leseprobe mit dem Orchester, dann weitere drei Stunden Musikproben und noch drei Regieproben. Nachher müssen vielleicht noch weitere Probleme besprochen werden. Nach solch konzentrierten Tagen schalte ich ein oder zwei Tage ganz ohne Musik ein, ohne eine Note oder CD zu hören, also gänzlich ohne Musik. Mein Hund Goloso ist übrigens schon berühmt, denn überall stieß er auf ungeteilte Sympathie. Er liebt weibliche Stimmen, und wenn eine Sopranistin singt, hört er ihr richtig verzückt zu (Foto oben/Barbara Bellandi/Beltrami).

Adam Felix

 

Barock trifft auf die Moderne

Nicht nur der Frühling lässt sein blaues Band durch die Lüfte flattern, auch das markante blaue Naxos-Label hat einen ganzen Strauß neuer Aufnahmen aus allen nur erdenklichen musikalischen Bereichen und Epochen herausgebracht. Man muss die Kreativität und die editorische Sorgfalt jener Menschen bewundern, die hinter diesem inzwischen schon traditionsreichen Label stehen. Vielen jungen Künstlern wird hier ein Forum geboten, vergessene alte ebenso wie hörenswerte neue Kompositionen werden in einer schier unglaublichen Vielfalt produziert. Und man kann immer wieder wunderbare Entdeckungen machen.

ScheidemannAuf der CD Sarasate, Music for Violin 4 (8.572276) finden sich  Fantasien über Mozarts Don Giovanni und Webers Freischütz, die – von der jungen Geigerin Tianwa Yang mit schönem lyrischen Ton vorgetragen – auf Anhieb bezaubern und die Ohrwürmer aus den beiden Opern in ungewohnter Form präsentieren. Der Gitarristin Kyuhee Park ist eine Solo-CD (8.573225) gewidmet, auf der die Gewinnerin der „Alhambra International Guitar Competition“ mit Sonaten von Scarlatti, Diabelli, u.a. brilliert. Weit zurück in die Musikgeschichte führt die Naxos-CD 8.573119. Die Organistin Julia Brown spielt Werke von Heinrich Scheidemann (1595-1663). Mit der Fantasie über „Vom Himmel hoch“ begegnet man auch hier alten Bekannten. Aber auch lebende Komponisten kommen bei Naxos durchaus zum Zuge: Peteris Vasks (Jahrgang 1946) ist eine CD ausschließlich mit Werken für Flöte gewidmet (8.572634)  Chorwerke der beiden Briten Jeremy Filsell und David Briggs finden sich auf einer weiteren Neuerscheinung (8.573111).

Martinu lieder 2Der Böhme Bohuslav Martinu hat neben Orchesterwerken auch zahlreiche Lieder geschrieben. Auf der CD Songs 2 (8.572) interpretiert die Mezzo-Sopranistin Jana Wallingerova leider nicht ohne ein Quentchen Schärfe in der Stimme diese reizvollen Miniaturen im Volkston. Das australische Kungsbacka Piano Trio stellt Kammermusik von Gabriel Fauré vor (8.573042), der Pianist Idil Biret  nimmt sich auf zwei CDs (8.57301-02) des gesamten Klavierwerks von Paul Hindemith an, selten gehörte Stücke, die durch die Originalität der musikalischen Einfälle beeindrucken. Die vierte Symphonie von Sergey Prokofiev  spielte das Sao Paulo Symphony Orchestra unter der Dirigentin  Marin Alsop in der revidierten Fassung von 1947 ein, die CD (8.573186) enthält außerdem die Ballett-Musik zu L’enfant prodigue von 1928. Reizvoll ist die Kombination des 1. Violinkonzerts von Dimitry Shostakovich mit Gesungene Zeit von Wolfgang Rihm. Der Geiger Jaap van Zweden interpretiert beide Werke mit bewundernswerter Virtuosität und Kompetenz (8.573271).

rozsa streichquartett 1 und 2Gleich zwei CDs würdigen den ungarisch-stämmigen amerikanischen Komponisten Miklós Rózsa, der vor allem durch seine Film-Musiken größere Popularität erlangt hat. Wer erinnert sich nicht an seine, die Spannung noch steigernde Musik zum Wagenrennen in „Ben Hur“? Das BBC Philharmonic Orchestra unter Rumon Gamba hat auf der prall gefüllten Film-Music-CD – die bei Chandos herausgegeben wurde (CHAN 10806) – noch zusätzlich die Suiten „Dieb von Bagdad“, „Dschungel-Buch“ und „Sahara“ eingespielt. Sie wecken schöne Erinnerungen an diese alten, heute schon als Kult gehandelten Filme. Mit einem ganz anderen Rozsa – und damit zurück zu Naxos – macht die Einspielung seiner Streichquartette und des Streichtrios bekannt. Roszsa, der ursprünglich in Leipzig Musik studiert hatte, übrigens gleichzeitig mit Wolfgang Fortner, kann zur gemäßigten Moderne gezählt werden. Seine Kammermusik enthält Anklänge an die ungarische Folklore, hat aber einen durchaus eigenständigen Charakter. Dem jungen britischen Tippett-Quartett gelingt auf der eine überzeugende Interpretation (8.572903).

Peter Sommeregger