So schmal das Bändchen, dessen zumindest deutsche Ausgabe als eine Art Testament des unlängst verstorbenen Gérard Mortier verstanden werden kann, auch ist, so bedeutungsschwer sind die Begriffe, die seinen Titel bilden: Leidenschaft, Theater, Religion, das Menschliche vereinen sich in ihm, dazu noch Dramaturgie, die sich auch in allen Kapitelüberschriften findet. Nun befasst sich Dramaturgie nach Duden mit „den Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur“ eben von Dramen im weitesten Sinne. Eine Dramaturgie einer Leidenschaft, so der Titel, ist deswegen schwer vorstellbar, entzieht sich doch Leidenschaft den Gesetzmäßigkeiten. Dazu kommt der geheimnisvolle Untertitel Für ein Theater als Religion des Menschlichen, der ebenfalls ein Widerspruch in sich selbst sein sollte.
Mortier entwirft von der Einleitung an ein pessimistisches Weltbild, in dem es des Theaters bedarf, um überhaupt noch Visionen entwickeln zu können. Er führt Beispiele von der Antike bis heute dafür an, mischt dabei Theater und Oper, als gebe es keine grundlegenden Unterschiede zwischen beiden, beschränkt sich oft sogar nur auf Beispiele aus dem Sprechtheater. Im Bereich der Oper wittert er landauf, landab nur „Restauration“ und führt dafür als nicht gerade glückliches Beispiel die Besetzung des Intendantensessels in Bayreuth an. Beklagenswert findet er den geringen Anteil der zeitgenössischen Musik am Kulturleben trotz „erstklassiger Komponisten“ und „hervorragender Schriftsteller“, die sich der Oper widmen. So bleibt ihm nur die Hoffnung auf mehr Einsicht in Mali und Kinshasa – und natürlich auf die moderne Regie.
Die nächste „Dramaturgie“ ist die „eines neue theatralischen Genres“, womit Monteverdis Opern gemeint sind, bei dem bereits die drei großen Themen der Oper auftauchen: Reise und Heimkehr, der Konflikt zwischen Liebe und Pflicht und die Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod durch den Gesang. Der veristischen Oper wirft der Autor vor, die Verbindung zwischen der realen Situation und dem idealen Leben aufgehoben zu haben. Sollte daher seine bekannte Abneigung gegenüber Tosca rühren, obwohl doch im „Oh, Scarpia, davanti a Dio“ das Gegenteil bezeugt wird? In jedem seiner „Dramaturgie“-Kapitel rechnet Mortier mit einer seiner Wirkungsstätten ab. Hier ist es das Palais Garnier, in dem es von Anfang an auf die Selbstbespiegelung des adligen und großbürgerlichen Publikums ankam und nicht auf die Kunst, höchstens noch auf Meyerbeers Haupt-und Staatsaktionen, nicht aber auf Debussy oder Bizet. Auch das Gesangsvirtuosentum findet bei Mortier keinen Beifall, denn Oper muss „immer zum Gemeinwohl beitragen“.
Im Kapitel über „Dramaturgie der Architektur und des Ortes“ kommt er noch einmal auf das Palais Garnier zu sprechen und stellt es zu seinem Nachteil dem Bayreuther Festspielhaus gegenüber. In Paris wagten sich von ihm eingeladene afrikanische Putzfrauen nicht über die prachtvolle Treppe in den Zuschauersaal. Ob sie sich in Bayreuth wohler gefühlt hätten, ist zu bezweifeln. In diesem Kapitel ist es Salzburg, das seine Watschen abbekommt, zunächst Karajan mit seinem überdimensionierten Festspielhaus, dann die Stadt, die aus kommerziellen Gründen kein „frei modulierbares Theater“ zulässt. Besser gefiel es Mortier dann bei den Ruhrfestspielen, denn hier „steht das Bühnenbild in dialektischem Verhältnis zum Spielort“. Hiebe gegen Zeffirelli und die Met bleiben natürlich nicht aus, auch nicht gegen den damaligen Minister Franҫois Léotard, der den großen Verlust zu verantworten hat, den der Verzicht auf die Aufführung von Berios Cronaca del luogo bedeutete. Seltsam nur, dass es Mortier immer an Orte zog, deren Publikum und Administration mit seinen Ideen kaum übereinstimmen konnten.
Dass Spielplangestaltung etwas mit Dramaturgie zu tun hat, bezweifelt sicherlich niemand, und so galt bereits für Brüssel, dann auch für Salzburg, die Werke „in historischen, sozialen und ästhetischen Zusammenhängen begreiflich werden“ zu lassen. So wurde der Frosch (trotz des „peinlichen C–Dur–Quartett“s) zwischen Tannhäuser und Parsifal gesetzt und wohl davon ausgegangen, dass jeder Zuschauer alle drei Werke besuchen würde, um der erwünschten Einsichten teilhaftig werden zu können. Nach vergessenen Opern zu suchen bringt nach Mortier nichts, wohl aber die mindestens 50 wertvollen Werke des 20. Jahrhunderts den höchstens 40 bedeutenden des 19. Jahrhunderts gleichzustellen.
Dramaturgie und Werktreue werden im nächsten Kapitel beleuchtet. In ihm wird es den „Traditionalisten“ so richtig gegeben, die noch immer nach Kerzenlicht schreien, obwohl es doch das überlegene elektrische Licht gibt. Auch die Behauptung, historische Kostüme könne man nicht mehr herstellen, weil es die Materialien nicht mehr gebe, geht wohl etwas an der Brisanz des Problems vorbei. Nach Mortier sind die Traditionalisten nur „Faulpelze“, die sich weigern, lieb gewordene Gewohnheiten abzulegen. Die von ihm selbst angestrebte „größtmögliche Treue gegenüber dem Gesamtzusammenhang“ erscheint da als ein recht vages Ziel.
Durch alle Kapitel hindurch stößt man immer wieder auf Absonderliches wie die Behauptung, Mozart habe den Figaro wegen der neuen Ehegesetze Josefs II. komponiert, nicht wegen seines revolutionären Charakters, die Traviata-Uraufführung sei wegen der fehlenden politischen Korrektheit ein Fiasko gewesen, in der Iphigenie würde ein falsches, weil „arisches“ Griechenbild gesehen. Und wo gibt es heute noch Zuschauer, die in Don Giovanni nur den Edelmann sehen, die Almaviva und den Don (Giovanni) „nebeneinander stellen“? Und ist jeder, der buht, gleich ein „Hooligan“?
„Dramaturgie der Kommunikation“ heißt das nächste Kapitel, handelt von „Angriffen und Gemeinheiten“ dem Verfasser gegenüber, von den mächtigen Labels, die die Karrieren großartiger junger Sänger zerstören – was in dem einen oder anderen Fall zutreffen mag, nicht aber in dieser Verallgemeinerung. In der „Dramaturgie der Uraufführungen“ befindet Mortier das Nachspielen neuer Werke für genau so wichtig wie prestigeträchtige Uraufführungen – und hat damit sicherlich Recht. In „Dramaturgie der Arbeit mit Künstlern“ überrascht nach all den vorherigen Ausführungen der Satz, der „Sänger (ist) die zentrale Kraft der Oper“, wozu nicht recht passt, dass fast alle seine Regisseure vom Sprechtheater kamen und so wohl nicht viel mit diesen wertvollen Wesen anfangen konnten. Wie in jeder Oper gibt es auch in diesem Buch ein „Finale“, in dem noch einmal das Credo verkündet wird: Ich will Künstler, mit denen ich am besten meine Befragung „der condition humaine erzählen kann“. Aber muss man dazu unbedingt singen? (126 Seiten, Bärenreiter-Metzler)
Ingrid Wanja