Für die Verehrer von Elisabeth Schwarzkopf dürfte das eine gute Nachricht mit Tendenz zur Sensation sein: Knapp acht Jahre nach dem Tod der Sängerin erfährt ihre umfangreiche Diskographie eine bemerkenswerte Erweiterung – nämlich mit Antonio Vivaldis Gloria in C-Dur RV (Ryom-Verzeichnis) 589 und den Quattro Pezzi Sacri von Giuseppe Verdi. Es handelt sich um Mitschnitte in guter Klangqualität. Beide Stücke wurden am 22. Juni 1960 – einem besonderen Jahr in der langen Karriere der Schwarzkopf – in Amsterdam im Rahmen des Holland-Festivals aufgeführt. Carlo Maria Giulini leitete das Concertgebouw Orkest. Es sang der Groot Koor NRU. Im Gloria trat als zweite Solisten die mit Oratorien erfahrene Ursula Boese – im knappen Booklet als Boeze verhackstückt – hinzu.
Aufmerksame Leser der Biographie von Alan Jefferson hatten in der sehr umfänglichen Dokumentation der Schwarzkopf-Auftritte – das Amsterdamer Gastspiel längst ausgemacht. Leider werden in dem Buch nicht immer die Details dazu genannt. Vivaldi-, Verdi-Konzert heißt es knapp. Mit der beim Label Tahra herausgegebenen CD (765) ist nun das Programm in seinen Einzelheiten bekannt geworden. Ein typisches Festival-Programm. Anspruchsvoll und erlesen zugleich und typisch für Giulini, der stets einen Sinn für Exklusivität besaß. Sein Vivaldi ist groß gefasst, festlich, die historische Aufführungspraxis war noch nicht entdeckt. Der helle, sonnige Vivaldi und der dunkel-strenge Verdi bilden einen seltsamen Kontrast in der musikalischen Huldigung desselben Gottes.
Bei Vivaldi fällt der solistische Einsatz vergleichsweise üppig aus. In vier von zwölf Abschnitten des Werkes, das zu den populärsten Schöpfungen des Komponisten gehört, kommen die Sängerinnen zum Zuge, im „Laudamus te“ mit einem fast opernhaften anmutendem Duett, im „Domine Deus“, dem Höhepunkt des Werkes, der Sopran allein. Dieses Solo hat seine Tücken, es ist nur scheinbar schlicht. Für eine Sängerin wie die Schwarzkopf war es damals noch kein Problem, die mit gehauchten Trillern gespickte musikalische Struktur unter Einsatz technischer Mittel in Leichtigkeit zu verwandeln. Dennoch wurden da auch schon Grenzen deutlich, die Stimme kehrte sich mehr und mehr ins Dunkle. Die Neigung zur Kalkulation nahm hörbar zu.
Im Gegensatz dazu hat der Sopran im Verdischen Opus nur am Ende des letzten geistigen Stückes, dem „Te Deum“, einen kurzen Einwurf, mal gerade dreißig Sekunden lang, der übrigens gern exklusiv besetzt wird. In Giulinis Studioeinspielung bei der EMI übernahm Janet Baker den Part. „Nie werde ich zuschanden in Ewigkeit“, heißt die Zeile in deutscher Übersetzung. Wenn das so ins Überirdische gehoben wird wie von der Schwarzkopf, dann bleibt es nicht nur der letzte, sondern auch der bleibendste Eindruck der ganzen Aufführung. Insofern kommt die Frage erst gar nicht erst auf, ob sich denn diese Sängerin – seinerzeit ein unumstrittener Weltstar und als solcher auf dem Höhepunkt stehend – für die kleinen Aufgaben des Konzerts nicht zu schade gewesen sein muss. Gewiss nicht. Einmal mehr zeigt sie sich hier als Künstlerin, die der Musik diente und für die kein Werk zu gering war. 1960, ein besonderes Jahr im künstlerischen Leben der Sängerin. Fürwahr, die Fakten belegen das.
Es begann mit Marschallin in Wien und endete dort mit der Marschallin. Zweimal folgte sie dem Ruf zu ausgedehnten Reisen durch die USA mit den Stationen New York, Washington, Detroit, San Francisco, Chicago, Dallas, ein Abstecher zu einem Liederabend führte nach Puerto Rico in die Karibik. Dazwischen wieder Wien – und zwar mehrfach – sowie Strasbourg, Granada, London und schließlich Salzburg. Dort wurde wenige Wochen nach den bewussten Amsterdamer Konzert das neue Festspielhaus eingeweiht mit dem Rosenkavalier von Richard Strauss. Bei der Premiere am 26. Juli hatte aber die große Konkurrentin Lisa Della Casa den Vortritt, wenngleich die Verfilmung der Produktion unter Herbert von Karajan bis jetzt immer noch den Eindruck erweckt, als sei Schwarzkopf die erste Marschallin auf der spektakulären Breitwandbühne gewesen. Sie stieg erst am 6. August als Zweitbesetzung ein.
Davor absolvierte sie in der letzten Neuinszenierung im Landestheater als Fiordiligi und als Donna Elvira im Alten Festspielhaus Salzburger Festivalalltag vom Allerfeinsten, wie er in diesen Jahren Normalität war, und gab obendrein noch einen Schubert-Liederabend mit Gerald Moore im Mozarteum. Mit den beiden Mozartpartien, als dritte kam die Contessa im Figaro hinzu, der Marschallin sowie der Capriccio-Gräfin hatte die Schwarzkopf 1960 ihr spätes Kernrepertoire auf dem Gebiet der Oper gefunden, das sie fortan immer mehr zu perfektionieren versuchte, sich gleichzeitig aber auch von der Frische und Ursprünglichkeit des Anfangs entfernte. Nur 1967 gab es eine der für sie typischen Überraschungen. Bei zwei konzertanten Aufführungen von Glucks Orfeo ed Euridice in der New Yorker Carnegie Hall übernahm sie die Partie der Eurydice an der Seite von Dietrich Fischer-Dieskau und Lucia Popp als Amor. Der Mitschnitt – offenkundig mit privatem Mikrophon – erschien beim Label Golden Melodram und ist sogar noch zu haben.
Die Salzburger Festspiele blieben noch bis 1964 ein fester Posten im prall gefüllten Terminkalander der Schwarzkopf. Im Abschiedssommer standen passenderweise auch die Vier letzten Lieder von Richard Strauss auf dem Programm, die mit der Zeit zu einer Art Markenzeichen der Sängerin geworden waren. 1962 wurden sie ebenfalls gegeben. Der Mitschnitt des damals viel beachteten Konzerts der Berliner Philharmoniker unter István Kertés liegt nun bei Orfeo in guter Tonqualität (C 881132 B) vor, die vergessen lässt, dass es sich um Mono handelt. Die Lieder sind zwischen der 8. Sinfonie von Ludwig van Beethoven und dem Konzert für Orchester von Bela Bartók platziert. Auch wegen dieser beiden Werke unter Leitung eines hochbegabten Dirigenten, der 1973 bei einem Badeunfall ums Leben kam, lohnt sich die Anschaffung des CD-Albums, in dem auch Fotos, ein sehr informativer Text von Gottfried Kraus sowie eine zeitgenössische Kritik zu finden sind. Verglichen mit der Studioeinspielung unter George Szell, zu der es erst 1965 kam, ist der Eindruck gemischt. Die einzelnen Lieder zerfallen in viele eindrucksvolle, gar betörende Details, ein rechter gestalterischer Zusammenhang, sonst eine der Stärken dieser Künstlerin, will sich nicht einstellen. Lag es daran, dass ihr gleich am Beginn ein Lapsus unterläuft? „In dämmernden Grüften…“, singt sie. Richtig muss es heißen „In dämmrigen Grüften…“
Auf Wien muss noch einmal zurückgekommen werden. Am 29. Mai verabschiedete sich dort der der 83jährige Bruno Walter am Pult der Philharmoniker mit einem Mahler-Programm von seinem Wiener Publikum. Mit dabei Elisabeth Schwarzkopf, die das Solo in der 4. Sinfonie sowie die Lieder „Wo die schönen Trompeten blasen“, „Ich atmet‘ einen Lindenduft“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ sang. Auch davon hat sich ein akustischer Mitschnitt erhalten, der aber derzeit nur in den USA greifbar ist. Ein bewegendes Konzert. Lieblos herausgelöst waren das Solo und die Lieder vor etlichen Jahren auf einer CD des Labels Verona herausgekommen. Ihr eigener Abschied vom Konzertpodium sollte erst neunzehn Jahre später mit einem von Geoffrey Parsons begleiteten Liederabend in Zürich erfolgen.
(Das große Foto unten ist ein Screenshot aus dem Salzburger Rosenkavalier-Film in der prachtvollen Inszenierung von Rudolf Hartmann, der inzwischen auch als Blu-Ray-DVD auf den Markt gekommen ist – siehe Cover oben. Neben der Schwarzkopf wirken Sena Jurinac als Octavian, Anneliese Rothenberger als Sophie und Otto Edelmann als Ochs mit. Diese filmische Version gilt als eines der bedeutendsten Schwarzkopf-Dokumente (Kultur B0043988GW.)
Rüdiger Winter