Archiv für den Monat: Mai 2015

Verpasste Gelegenheit

Ungewöhnlich dilettantisch kommen eine CD und eine DVD daher, die sich eigentlich einige Verdienste hätten erwerben können, denn ein Interview mit Simonetta Puccini, der einzigen Nachfahrin Giacomo Puccinis, sowie eine wenn auch konzertante Aufführung von des Komponisten erster Oper Le Villi sind ein verheißungsvolles Programm. Leider hapert es aber schon einmal an der technischen Ausführung, wenn sich eine Kamera unbeweglich der Musikwissenschaftlerin Puccini starr gegenüber positioniert und sich nicht mehr vom Fleck rührt, wenn in den in englischer Sprache (dem Englisch einer Italienerin!) gehaltenen Vortrag andauernd die Musik eigeblendet wird, die man bereits auf der CD gehört hat und so Verständigungsprobleme programmiert sind und wenn beim filmischen Stadtrundgang durch Lucca Banken und die Zigarette in der Hand Puccinis gleich bei zwei Denkmalen besonders ins Bild gerückt werden. Da kommt der Verdacht auf, geheime Werbung solle betrieben werden.

Simonetta Puccini/youtube

Simonetta Puccini/youtube

Die Gelegenheit, die Enkelin des Komponisten, die, weil unehelich geboren, jahrzehntelang die italienischen Gerichte und zahlreiche Anwälte wegen ihres Erbes bemühen musste, zu speziellen Themen zu befragen, wurde verschenkt, so dass man eigentlich, angefangen von den fünf Generationen von Puccini-Musikern vor der Geburt des berühmten Giacomo, nicht viel mehr erfährt, als was im Booklet steht oder was man ohnehin weiß. Dazu gehört auch die erstaunliche Tatsache, dass Puccini in der Mauer seiner Villa in Torre del Lago bestattet ist, die heute Museum ist und in deren Nähe die berühmten Puccini-Festspiele allsommerlich stattfinden.  Die DVD bietet ein Gemisch von alten Aufnahmen, so einer Bahnfahrt von Lucca nach Torre, ebensolchen Fotos, und modernen Ansichten der Stadt nebst darin promenierenden japanischen und anderen Touristen. Der Jäger, Autofahrer und Raucher Puccini wird eher im Gedächtnis bleiben als der Komponist.

Auf der CD befindet sich als erste Einspielung überhaupt ein kurzes Requiem des Komponisten für Chor und Orchester aus dem Jahre 1905, das gemeinsam mit der kurzen Erstlingsoper 2008 (150. Geburtstag des Komponisten) in La Valletta auf der Insel Malta aufgeführt wurde. Das ungefähr fünf Minuten dauernde Requiem bietet einen interessanten Kontrast zwischen hellen Streichern und vorwiegen dunklen Stimmen. Wie für die Oper wurde das Orkestra Nazzjonali (Maltesisch?) unter Joseph Debrincat eingesetzt, der Classique Chorus wurde von Simone Attard einstudiert. Das Preludio und die Intermezzi der Oper können am meisten gefallen, denn die Sänger genügen nicht den Ansprüchen zumindest verwöhnter Hörer. Lediglich der Sopran Miriam Cauchi (nicht Miriam Gauci, die auch von der Insel Malta stammt) erfreut durch eine jugendliche, empfindsam eingesetzte und gut gestützte Stimme als verlassene Anna, wird nur ein wenig scharf im klagenden „Roberto“, generell aber ist der schmerzliche Klang der Stimme im zweiten Akt sehr schön, weil ohne Larmoyanz. Der treulose Liebhaber  findet in Carlo Torriani einen dunkel getönten Tenor, der hölzern klingt und mit zunehmender Höhe immer gepresster erscheint, ehe die Stimme kaum noch zu vernehmen ist. Antonio Stragapede singt abgehackt ohne jeden Legatoversuch und mit gequetschter Höhe den unglücklichen Vater Guglielmo. Insgesamt verspricht die gesamte Aufnahme mehr, als sie einlösen kann (Cameo Classics  9040Ingrid Wanja    

Echos der Stars

Der DG waren allein schon die kostbaren, von Escada gesponserten Roben der beiden Damen wie auch der von Chopard gestiftete Schmuck 2008 eine DVD wert gewesen, vielmehr noch die attraktiven Sägerinnen selbst, und auch der Bariton ist auf dem Cover von die operngala der stars angenehm anzusehen. Es handelt sich – auch als nur-akustische Konserve – um das dreifache Konzert von 2007 aus Baden Baden mit Anna Netrebko, Elina Garanca, Ramón Vargas und Anna NetrebkoElina GarancaRamón Vargas unter der Leitung von Marco Armiliato, das die DG (restverwertet für DVD-Müde) bereits 2007 CD verewigt und noch einmal aufgelegt hat.

DG Gala Baden-Baden 2007 DVDDie beiden Sängerinnen beginnen mit dem Blumenduett aus Delibes‘ Lakmé, in dem der Sopran schon einiges an Metall hören lässt und man ein dramatischeres Repertoire erahnen kann, die beiden schönen Stimmen umspielen einander zärtlich und verklingen in wundersamer Weise. Der Tenor singt, was er immer am besten konnte, nämlich Donizetti, für den das Timbre besonders geeignet erscheint, der perfekte Registerausgleich und das gut gestützte Piano sowie die sanfte Melancholie des Singens sind bewundernswert. Auch im französischen Fach erscheint er als richtig eingesetzt mit dem Duett aus den Pêcheurs de Perles, erfreut mit einer farbigen Mittellage, und der  Bariton sekundiert ihm in schöner Dunkelheit. Acht Jahre sind seit dem Konzert vergangen, aber ihre Karriere hat Anna Netrebko nicht zur Norma geführt, deren „Casta Diva“ sie mit dunkel getöntem Sopran beginnt, der über ein tadelloses Legato verfügt, generös phrasieren kann und wunderschön geflutet wird. Die Höhe in der Cabaletta leuchtet und strahlt. Immer etwas unglücklich erscheint die Wahl von Posas Tod, herausgerissen aus dem Zusammenhang, für ein Konzert zu sein. Der französische Bariton singt die Szene unpathetisch mit genauer Beachtung auch der kleinen Notenwerte, die Stimme hat nicht die Wärme eines italienischen Baritons und das gemessene Tempo scheint nicht ideal für ihn zu sein. Mit der großen Szene der Dalila, die sie auch nicht in der Zwischenzeit in ihr Repertoire aufgenommen hat, setzt der lettische Mezzosopran das Programm fort. Eher Innigkeit als Leidenschaft herrscht in dem mit wunderbarer Ebenmäßigkeit vorgetragenen Stück vor. „Samson, je t’aime“, klingt sehr „echt“.  Alle vier Stars vereinen ihre luxuriösen Stimmen in der „Bella figlia“, in der Vargas naturgemäß, d.h. partiturgemäß, dominiert und  beweist, dass die Stimme die Brillanz für den Duca hat. Für „Quando le sere al placido“ mag man ein dunkleres Timbre vorziehen, die Höhe ist natürlich tadellos, der Tenor setzt auf starke Kontraste, so zwischen „angelico“ und „tradito“. Für den anderen Rodolfo hat er das jugendliche Strahlen, während die Mimì der Netrebko mit leicht verschattetem Timbre bereits am Schluss des 1.Akts der Puccini-Oper den des letzten Akts voraus zu ahnen scheint. Schade, dass der Tenor nicht auf das C am Schluss verzichten will. Das nimmt der Szene etwas von ihrem ganz besonderen Reiz. Temperament und Präzision weiß La Garanca in einer Zarzuela-Arie einzusetzen, Tézier singt das Torerolied ohne Schwächen eines Basses in der  Höhe oder die eines Baritons in der Tiefe, wenn er auch nicht ganz unangestrengt klingt. Und zum Schluss gibt es natürlich das Brindisi aus der Traviata.    Durchgehend als solider Sängerdirigent erweist sich Marco Armiliato mit dem SWR Sinfonieorchester (DG 477 7176). Ingrid Wanja

Frida Weber-Flessburg

 

Kennt jemand noch den Namen Frida Weber-Flessburg? Nein, sie ist nicht eine dieser fabelhaften Operettendiven, deren Karriere die Nazis vernichteten. Aber deren Leben haben sie gewaltsam ausgelöscht. Die Erinnerung an sie lebt dennoch in ihren bemerkenswerten Aufnahmen fort. Das soll nicht heißen, dass die Koloratursopranistin aus Krakau (1890 – 1943) nicht viele und unglaublich populäre Schellacks während ihrer Berliner Zeit gemacht hat, aber sie fiel in tiefe Vergessenheit, nachdem sie nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht wurde. Dank der Initiative der Frida-Leider-Gesellschaft gibt es nun eine CD mit einigen der besten  Einspielungen der Weber-Flessburg – einschließlich dreier der bedeutendsten Leo-Fall-Aufnahmen, die je gemacht wurden.

Frida Weber-Flessburg/youtube

Frida Weber-Flessburg/Wikipedia

Die Timbre der Weber-Flessburg ist eine ganz markantes und typisches für die 1920er Jahre: Man hört diesen  leicht nervösen „Bibber“ im Ton, eine mädchenhafte Unschuld gemischt mit einem  Hauch von „Frechheit“/Keckheit. Als ein Koloratursopran besitzt die Flessburg nicht den stimmlichen Glamour einer Gitta Alpar; ihre Top-Noten haben nicht diesen umwerfenden Effekt ihrer ungarischen Kollegin. Eher findet man hier eine gewisse Fritzi-Massary-Qualität in ihrem Klang, nicht jedoch im Stil. Was vielleicht erklären mag, warum die Flessburg in den späten Zwanzigern – angesichts von so vielen anderen superlativen Konkurrentinnen – es nicht in die erste Reihe der Stars schaffte. Aber sie nahm massenhaft auf und bewegte sich problemlos zwischen der Oper, Operette und den Schlagern hin und her.

Das Album Frida Weber-Flessburg: OperOperetteLiedSchlager beginnt mit „Quando m´en vo´soltetta per la via“ aus der Bohème, bietet Mignons „Connais-tu le pays“ als „Kennst du das Land“ und Marthas „Letzte Rose“  um sich dann ins Land der Operette zu begeben. Das erste Lied hier ist – natürlich – „Vilja“, was die Stimme nicht zum besten präsentiert, denn Weber-Flessburg singt diese Nummer eher distanziert, wie ein schlichtes Volkslied. Was es ja auch sein sollte. Man bekommt eine bessere Vorstellung von dem, was sie kann, beim nächsten Track: „Warum hast du mich wachgeküsst?“ aus Lehars Friederike, wo die Flessburg wiederrum eine schlichte, volksliedhafte Interpretation favorisiert. Aber dann – im Mittelteil des Liedes – öffnet sich die Stimme und fügt erstaunliche Intensität  zu einem effektvollen emotionalen Ausbruch hinzu. Plötzlich ist alles da: diese kraftvollen Top-Noten und die Fähigkeit zur Betonung der Worte, ihnen Bedeutung zu verleihen. Denn hier, wie sonst auch, beeindruckt die absolut exemplarische Diktion. Und die Sängerin  hat überhaupt kein Problem, sich dem besonderen Stil der Operette anzupassen – eine Kunst, die leider nur wenige Opernsänger besitzen, wenn sie die Grenzen zur Operette überschreiten.

Frida Weber Flessburg/radiomuseum.org

Frida Weber Flessburg/radiomusaeum.org

Mitten in einer umfangreichen Reihe von Liedern auf dieser CD (Grieg, Reger, Taubert) tun sich wahre Wunder auf. So zum Beispiel im „Baby-Lied“ von Walter Jurman aus dem Film Melodie der Liebe. Oder in „Ma curly headed Baby“ von George H. Clutsan von 1932 bzw. 1928. Diese Songs liegen der Flessburg viel tiefer in der Stimme, und sie findet hier reichere Farben, einen spontaneren Umgang mit dem Text. Dasselbe gilt für „Chérie, I love you“ von Lillian Rosedale Goodman. Etwas ganz besonderes – und eine Rarität – ist ihre Interpretation von „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ und „Ich bin die fesche Lola“ aus dem Blauen Engel. Natürlich kann man die Dietrich hier nicht vergessen, aber die Flessburg gibt diesen beiden Liedern ihre ganz ureigene und eben andere Interpretation, die sich behaupten kann und Spaß macht.

Flessburg oder auch Fleszburg/Wiki

Alexander Flessburg oder auch Fleszburg/Wiki

Und dann kommen die drei wirklichen Perlen dieser Sammlung – drei Duette aus Leo Falls Operette  Der liebe Augustin, 1929 aufgenommen. Im ersten, „Anna, was ist denn mit dir“ singt neben der Sopranistin ihr Mann, Alexander Flessburg. Er hat eine viel „natürlichere“ Stimme, die sich mit ihrer besser fokussierten „Opernstimme“ hervorragend mischt. Der Effekt ist ein hochlebendiges, lustiges, quirliges Duett, und ich muss gestehen, dass ich keine andere Version diese Duetts kenne, die so schmissig ist und so in die Beine geht. Das gilt auch für „Und der Himmel hängt voller Geigen“  und „Wo steht denn das geschrieben?“. In diesen beiden hört man Frida Weber-Flessburg mit dem Tenor Max Kuttner als Partner. Und wieder hat man hier Leo Fall vom Feinsten, so dass man sich wünscht, es gäbe eine vollständige Aufnahme der Operette mit diesen Künstlern. Wenn man an die modernen Versuche einer Leo-Fall-Wiedererweckung denkt, fragt man sich eh, warum heutige Sänger solche Probleme mit dem richtigen Stil haben. Bei Weber-Flessburg & Co. klingt das alles ganz einfach!

Frida Weber-Flessburg: Tenor-Partner Max Kuttner/grammophon-platten.de

Frida Weber-Flessburg: Gesangs-Partner Max Kuttner/grammophon-platten.de

Es gibt noch ein weiteres Duett mit Alexander Flessburg: „Du musst heiraten“ – eine amüsante moderne Schlager-Parodie von Herrn Flessburg zusammen mit Eli P. Summers, aufgenommen 1932. Das Paar ist auch hier in großer Form, voller Lebensfreude, eben einer überspringenden  joie de vivre. Aber das Leben sollte sich 1933 wenig freudevoll für beide verändern. Wegen ihrer jüdischen Abstammung wurde Frida Weber-Flessburg mit dem Auftrittsverbot belegt und ihr Name in dem  fatalen Lexikon der Juden in der Musik aufgelistet. Ihre Ehe mit Alexander Flessburg zerbrach. Ihre Tochter Ruth konnte in die Schweiz fliehen, Alexander Flessburg starb 1942. Frida Weber-Flessburg musste beim Anbruch des 2. Weltkrieges in einer Munitionsfabrik arbeiten. Am Abend des 18. Januar 1942 holte sie die Gestapo aus ihrer Wohnung in der Hektorstraße 3 in Berlin. Sie verbrachte zehn Tage im Sammellager  in der Großen Hamburger Straße, um dann mit 1.004 anderen nach Auschwitz transportiert  zu werden. Dort wurde sie unmittelbar nach ihrer Ankunft umgebracht und aus der Geschichte, auch die der Operette, ausgelöscht.

"Stolperstein" für Frida Weber-Flessburg in der Berliner Hektorstraße 3/Wiki

„Stolperstein“ für Frida Weber-Flessburg in der Berliner Hektorstraße 3/Wiki

Es dauerte bis 2012, bis sie einen sogenannten Stolperstein auf dem Gehweg vor ihrem alten Wohnhaus in Berlin bekam, um die Welt an sie zu erinnern. Und nun gibt es sogar eine CD mit ihrem Namen, die das Andenken an ihre Stimme bewahrt. Wie ich schon sagte, sie besitzt nicht diesen Glamour-Faktor wie die Alpar, aber ihre Leo-Fall-Aufnahmen sind schon einzigartig und ein Muss für jeden Operetten-Fan. Und auch ihre anderen populären Darbietungen machen einfach Spaß. Vor allem die Parodie im letzten Song, „Du musst heiraten“, den sie zusammen mit ihrem Mann aufgenommen hat, ist einer jener Momente, den man nicht so leicht vergisst: Heute wird man eine solche Intimität, solche  Keckheit, solchen  Drive dieser Interpretationen kaum noch finden.

Die CD zu Frida Weber-Flessburg bei der Frida-Leider-Gesellschaft

Die CD zu Frida Weber-Flessburg bei der Frida-Leider-Gesellschaft

Alles Tracks auf dieser CD, herausgegeben von Peter Sommeregger und der Frida-Leider-Gesellschaft, wurden meisterhaft von Christian Zwarg restauriert, im ganzen 24. Das Material stammt aus der Deutschen Nationalbibliothek – Deutsches Musikarchiv, von Michael E. Gunrem, Peter Sommeregger und Christian Zwarg. Die CD kann direkt von der Frida Leider Gesellschaft bestellt werden. Kevin Clarke/Neufassung von G. H.

Bei youtube gibt es einige Klangbeispiele von Frida Weber Flessburg. Den original englischsprachigen Artikel entnahmen wir in seiner deutschen Neufassung der wie stets bemerkenswerten  und hochinformativen website des Operetta Research Center Amsterdam/ ORCA, dessen Lektüre zu meinen täglichen Pflichtübungen gehört. Danke Kevin. G. H.

Phobische Angst vor dem Anderssein

 

Vor 175 Jahren wurde der russische Komponist Pjotr Iljitsch Tschaikowsky geboren. Bezeichnend zur Einschätzung des National-Komponisten für Russland ist die Vorab-Bemerkung von Wladimir Putin „Wir wissen, dass Tschaikowsky schwul war, aber wir lieben ihn bestimmt nicht deswegen!“ Vor dem Hintergrund der aktuellen LGBTI-Lage in Russland haben ZDF/ARTE einen Dokumentarfilm bei Ralf Pleger in Auftrag gegeben, in dem die Homosexualität des Komponisten gezielt ins Zentrum gerückt wird. Nachfolgend der Regisseur im Gespräch.

 

Ein schöner Mann: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky/Wiki

Ein schöner Mann: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky/Wiki

Als Fachmann für Komponisten-Dokumentar-Filme haben Sie sich bereits Beethoven und Wagner vorgenommen. Was reizte Sie für den neuen Film, der auf Arte am 3. Juni gezeigt wird, nun an Tschaikowsky? War es das Jubiläum? Ein Jubiläum ist immer hilfreich, um die vielen Ideen, die man im Kopf hat, zu sortieren und Prioritäten zu setzen. Tschaikowskys Fall ist im Moment besonders brisant: Ein schwuler russischer Komponist war ein Tabuthema und ist ein Tabuthema in Russland. Das gilt fürs 19. Jahrhundert, es gilt auch für die Sowjetzeit. In den frühen 1990er Jahren gab’s eine kurze Phase, wo das Tabu aufgeweicht wurde und Archive erstmals geöffnet wurden für westliche Forscher, die Schätze heben durften, die uns gerade über das Thema Homosexualität erstaunlich viel Auskunft geben. Danach war wieder Schluss. Jetzt wird das Thema abermals tabuisiert. Wir haben eine russische Gesellschaft, die in großen Teilen extrem homophob ist, beeinflusst von der orthodoxen Kirche, und wir haben eine russische Regierung, die dies befördert mit Gesetzgebungen, die viele Menschen irritieren. Das war für uns als Filmteam ein wichtiger Aufhänger, Tschaikowsky auf der Liste ganz nach oben zu rücken und den Film jetzt, 2015, zu machen.

 

Tschaikowsky und Vladimir Davydov/Wiki

Tschaikowsky und Vladimir Davydov/Wiki

Ein Wort zu den Archivschätzen aus der Phase der Öffnung. Der amerikanische Wissenschaftler Alexander Poznansky durfte als erster die Briefe Tschaikowskys im Archiv in Klin in der Nähe von Moskau einsehen. Poznansky stellte fest, dass Tschaikowskys jüngerer Bruder Modest nach Tschaikowskys Tod viele Passagen in den Briefen geschwärzt hatte. Offensichtlich wollte er die Briefe nicht vernichten, hat aber alles, was sexuell explizit war oder in irgendeiner Form ein schlechtes Licht auf Tschaikowsky werfen könnte, geschwärzt. Dazu gehören auch ausfällige Bemerkungen über Kollegen, sein Jähzorn usw. Ein kleiner Teil der Briefe war allerdings schon vorher der Öffentlichkeit zugänglich; deswegen war auch die Tatsache, dass Tschaikowsky schwul war, immer bekannt. Aber in welcher Fülle und Detailfreude Tschaikowsky über seine Sexualität und über seinen Kampf mit sich selbst geschrieben hat, das ist erst durch Poznanskys Bücher der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Und er fand natürlich heraus, was unter den Schwärzungen stand. Vieles war nur halbherzig übermalt und konnte leicht entziffert werden. Angesichts dieser Quellenlage ist es umso irritierender, dass man in Russland jetzt plötzlich sagt, man wolle davon nichts wissen. Eine russische Regierungsstelle, die einen Film finanzieren soll, den ein russischer Regisseur drehen will, legte vorab fest, dass das Thema Homosexualität nicht vorkommen darf. Das ist nachgerade absurd.

 

Tschaikowsky: Nadeshda von Meck/Wiki

Tschaikowsky: Nadeshda von Meck/Wiki

Warum ist eigentlich in der Öffentlichkeit so wenig über Tschaikowskys Privatleben bekannt? Da wird ja immer noch die Legende des unglücklichen Komponisten zwischen den Frauen und natürlich auch die ungeklärte Beziehung zu Frau von Meck bemüht. Filme wie der Zarah-Leander-Streifen „Es war eine rauschende Ballnacht“ trugen zu dieser Verklärung bei, bis Russells Tschaikowsky-Film wie eine Bombe einschlug, aber nicht ernst genommen wurde. Es ist eine prinzipielle Berührungsangst, nicht nur in Russland. Auch viele im Westen wollen nicht zur Kenntnis nehmen, wie sexuell aktiv Tschaikowsky war. Musikwissenschaftler fürchten, als „unseriös“ abgestempelt zu werden, wenn sie sich mit Sexualität und Lebensstil befassen. Ich gehe in meinem Film ganz anders an die Sache ran. Es geht nicht um Tschaikowsky, den Komponisten, sondern um Tschaikowsky, den Menschen, der mit seiner Sexualität gerungen hat. Diese Geschichte zu erzählen, ist von großem Belang, aber sie gehört nicht unbedingt in eine musikhistorische Kategorie, sondern in eine gesellschaftshistorische. Und da frage ich mich schon: Wieso hat nicht schon längst jemand Tschaikowskys Briefe herangezogen, um Einblick zu gewinnen in die schwule Szene in Russland im 19. Jahrhundert und in anderen europäischen Städten, die Tschaikowsky bereist hat und deren Möglichkeiten für schwulen Sex er ausgiebig geschildert hat? Vermutlich kommt man  nicht darauf, dass es eine solche Materialfülle zu schwuler Geschichte bei einem klassischen Komponisten gibt. Mir ging das auch so. Erst als ich die deutsche Ausgabe der Briefe gelesen habe, ist mir die ganze Dimension klar geworden. In dieser Ausgabe sind die vormals geschwärzten Stellen gekennzeichnet: Man muss nicht lange nach den pikanten Details suchen, sondern wird direkt drauf gestoßen.

 

Tschaikowsky mit seiner Frau Antonina Miliukova/Wiki

Tschaikowsky mit seiner Frau Antonina Miljiukova/Wiki

Was also erfährt man? Der Wendepunkt für Tschaikowskys Umgang mit der eigenen Homosexualität kommt, als er merkt, dass er berühmt wird. Das ist wie bei einigen Pop- oder Filmstars heute. Er verliert die Unbefangenheit, die er bis dahin in Bezug auf seine Sexualität hatte. Er war zwar immer schon jemand, der nicht anecken wollte, hat aber trotzdem seinen Weg in schwule Kreise hinein gefunden, um seine Homosexualität auszuleben. Und zwar so, dass man das Gefühl hat, er war frei im Kopf. Er hat sich nicht geschämt, für das, was er tat. Er hat mit Lust Drag-Performances veranstaltet, er hat schwule Männer als Gastgeber unterhalten, fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl. Dann kommt der Moment, wo er allgemein bekannt wird, wo seine Karriere international abhebt, wo er auf gute Presse angewiesen ist, wo er beäugt wird von der Öffentlichkeit. Und da sagt er sich: „Das kann so nicht weitergehen, denn es wird als Perversion wahrgenommen und ist somit geschäftsschädigend.“ Er reißt das Ruder rum und bekämpft erst sich selbst, und dann auch die Homosexualität seines jüngeren Bruders Modest. Das ist ja ebenfalls eine interessante Geschichte, dass die Brüder beide schwul sind und sich voreinander geoutet haben, wodurch sie ein sehr enges Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Anschließend versucht Tschaikowsky, sich und seinen jüngeren Bruder umzupolen.

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt tschaikowsky mit seinem vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885). Der war ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskis. Wiki: "Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung." Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und kehrte nach Davos zurück, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Tschaikowsky und Josif Kotek: Das Bild stammt aus dem jahr 1877 und zeigt Tschaikowsky mit seinem Vertrauten, dem Geiger Josif Kotek (1855 bis1885), ein russischer Violinist und enger Vertrauter Tschaikowskys. Dazu Wikipedia: „Kotek studierte unter Jan Hřímalý am Moskauer Konservatorium Violine, sowie Musiktheorie und Komposition bei Tschaikowski und graduierte 1876. Auf Empfehlung von Nikolai Rubinstein wurde er von Nadeschda Filaretowna von Meck engagiert und spielte privat für sie auf ihrem Gut in Clarens. Dort half er Tschaikowski bei der Ausarbeitung seines Violinkonzertes, insbesondere bei der Ausgestaltung der Solopartien. Außer der gemeinsamen Arbeit verband die beiden auch eine romantische Liebesbeziehung.“
Nach dem Ende der Beziehung zog Kotek 1882 nach Berlin, studierte dort bei Joseph Joachim und Friedrich Kiel an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte er auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und lebte in Davos, wo er am 4. Januar 1885 verstarb/ Foto Wiki

Er baut eine Fassade auf, für die er andere Leute mit ins Unglück zieht, zuallererst seine Ehefrau, die er quasi wahllos aus der Schar seiner Bewunderinnen am Konservatorium herausgreift, wo er Dozent ist. Er heiratet also Antonina Miljukowa, die mit dieser ganzen Konstruktion völlig überfordert ist. Er erklärt sich nur durch die Blume, indem er ihr sagt: „Mit mir wirst du nur eine Freundschaft haben können, wir werden keine Sexualität und keine Kinder haben. Aber wir können uns miteinander arrangieren.“ Darauf lässt sie sich ein. Aber sie hat als Frau in jener Zeit und mit dem Wissensstand der Epoche gar nicht das verbale Instrumentarium – auch nicht das gedankliche! –, um sich klar zu machen, was das bedeutet. Sie wird es dann sicher irgendwann gewusst haben, ohne es mit Begriffen belegen zu können, denn sie hat ihm zum Vorwurf gemacht, dass er sich mit ihr nur maskieren wollte. Das hat ihn wiederum zur Raserei gebracht. Was zu einem fürchterlichen zwischenmenschlichen Verhältnis führte. Er flüchtet dann vor sich selbst. In die Schweiz und nach Italien, wo er sich intensiv ins schwule Leben stürzt. Ihm wird klar, dass dies seine Natur ist und dass er dagegen nicht ankämpfen kann, auch nicht mit einer äußeren Fassade. Er hat sich damit abgefunden und es immer wieder als sein natürliches Begehren bezeichnet. Zu dieser Erkenntnis ist er erst durch die Ehe-Katastrophe gekommen; er hätte sich das auch einfacher machen können. Aber er musste erst diese Schäden an sich und seiner Ehefrau verursachen, um das zu begreifen.

 

Modest Tschaikowsky/Wiki

Modest Tschaikowsky/Wiki

Geben die Briefe auch Auskunft über seine Eskapaden im westlichen Ausland? Erfährt man etwas über die homosexuelle Szene in Berlin oder Paris? Man weiß, dass es innerhalb der großen Städte Treffpunkte gab, wo es ein reges Geschäft mit männlichen Prostituierten und ihren Zuhältern gab, für wohlhabende Kunden wie Tschaikowsky. Man weiß, dass es in Moskau und St. Petersburg Badehäuser gab, die als Treffpunkte für Schwule bekannt waren. Man weiß, dass es über schwule Kreise möglich war, sich neue Bekanntschaften zu organisieren. Der Eindruck, den die Briefe hinterlassen, ist der, dass Tschaikowsky sich mit Fragen zu seiner Sexualität intensiv auseinandergesetzt hat und dass dieser Kampf auch in sein Schaffen fließt. Der Konflikt spielt in seiner Musik eine Rolle. Es wäre sicher einseitig, diese Musik deshalb als „schwule“ Musik zu bezeichnen, denn Tschaikowskys Werke sind universell. Aber es ist auf alle Fälle eine Musik, die deshalb so klingt wie sie klingt, weil sich da jemand mit seinem tiefsten Inneren auseinandergesetzt hat. Er hat es wohl geschafft, sich ein Sexualleben zu organisieren, aber ich würde es nicht als erfüllt bezeichnen. Was ihm definitiv fehlte, war eine Langzeitbeziehung. Die Sehnsucht danach wuchs, je älter er wurde. Wir wissen, dass drei seiner Liebhaber Selbstmord begangen haben, und dass Tschaikowsky zunehmend unter diesen Verlusten litt. Er betont in seinen Briefen immer wieder, wie sehr er diese jungen Männer geliebt hat und sie vermisst. Er fällt regelmäßig in eine schwer melancholische, fast depressive Stimmung.

 

"Es war eine rauschende Ballnacht" mit Zarah leaynder/Frau von Meck und Hans peter Stüwe/Tschaikowsky/tvmovie.de

„Es war eine rauschende Ballnacht“ mit Zarah Leander/Frau von Meck und Hans Peter Stüwe/Tschaikowsky/tvmovie.de

Was passierte mit seiner Frau? Da gibt’s ja diese schrecklichen Szenen im Film von Russell…  Das bedauerliche Schicksal Antoninas wird im Film nur angedeutet. Sie wird in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Modest sorgt dafür, dass sie in dieser Anstalt bleibt, obwohl sie wieder gesundgeschrieben werden könnte. Er hat Angst, dass Antonina draußen schlimme Dinge über Tschaikowsky erzählen könnte. Tschaikowsky hat sich von ihren Kindern (von anderen Männern nach der Tennung) total distanziert und wollte von ihnen nichts wissen. Er fand es unangenehm, dass Antonia eines nach ihm benannt hat. Er hat nur sehr widerwillig ihren Geldforderungen nachgegeben und hat sich juristisch gegen sie abgesichert. Da sieht man, wie eine fatale Entscheidung des jungen Tschaikowsky auf Grund von irrsinnigem gesellschaftlichem Druck Personen ins Unglück stürzt, die damit eigentlich nichts zu tun haben müssten.

 

Richard Chamberlain als Tschaikowsky in Ken Russells Fim "Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn"/filmfest.org

Richard Chamberlain als Tschaikowsky in Ken Russells Fim „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“/filmfest.org

Und Modest selbst? Wir wissen, dass er ebenfalls schwul war. Das geht aus seinen Briefen und einem autobiografischen Fragment hervor. Obwohl er Tschaikowskys gesamten Nachlass nach Klin gebracht hat, gibt es einen Verlust an Dokumenten; es sind Briefe vernichtet worden. Das weiß man, weil man die andere Hälfte der Korrespondenz hat. Es gibt Behauptungen, dass in Klin immer noch Material liegt, das noch nie gesichtet wurde, bewacht von den Musikwissenschaftlerinnen, die den Schatz im Auftrag der russischen Regierung hüten. Was bislang zugänglich ist, hat aber durchaus Sensationswert und war für mich der eigentliche Aufhänger für den Film.

 

Tschaikowsky mit dem Cellisten Anatoly Brandukov/Wiki

Tschaikowsky mit dem Cellisten Anatoly Brandukov/Wiki

Sie mischen in Ihrem Film Original-Zitate Tschaikowskys mit einem heutigen Umfeld. Die Geschichte, die Tschaikowsky erlebt hat, ist eine, die einen sehr reinzieht. Selbst wenn man’s nur als bloße Beschreibung lesen würde, würde es einen mitnehmen. Wenn man es dann auch noch in seinen eigenen Worten erzählt bekommt, dann ist man ihm noch ein gutes Stück näher. Diese Nähe herzustellen, war mir wichtig. Ein Mensch, den man als Held der Musikgeschichte kennt, vertraut einem plötzlich intimste Dinge an. Das ist schon eine besondere Situation. Wir benutzen dazu heutige Bilder, um die Aktualität des Themas zu betonen. Dazu gehören auch erschütternde Dokumente aus dem heutigen Russland: Filmclips, die zeigen, wie schwule Jugendliche von Homohassern zusammengeschlagen, erniedrigt und gefoltert werden. Diese Clips sind von den Hassern selbst auf YouTube gestellt worden, um alle Welt an ihren grauenvollen „Säuberungsaktionen“ teilhaben zu lassen. Es ist die härteste Form des gesellschaftlichen Drucks, der man ausgesetzt sein kann: physische Gewalt.

 

Der Regisseur und Gesprächspartner Ralf Pleger/Foto Tatjana Dachsel/Pleger

Der Regisseur und Gesprächspartner Ralf Pleger/Foto Tatjana Dachsel/Pleger

Wie homophob ist denn die breite russische Gesellschaft? Grundsätzlich ist es mir wichtig, dass Homophobie heute kein russisches Phänomen ist. Das wird im Film auch gesagt. Homophobie gibt es überall, wie zum Glück auch das Gegenteil: Aufgeschlossenheit und Akzeptanz. Nicht alle Russen sind homophob. Ich würde mir wünschen, dass man sich diesen Film auch in Russland anschauen und darüber debattieren kann. Dass Berührungsängste abgebaut werden und man sich mit Tschaikowsky identifizieren kann, egal welche Lebensphilosophie man teilt.

Tschaikowskys Musik löst bei vielen Hörern unterschiedlichen Emotionen aus, einige lehnen sie auch ab. Könnten da Vorbehalte gegenüber einem schwulen Komponisten eine Rolle spielen? Es ist eher eine Furcht vor zu viel Gefühl. Die emotionale Wucht dieser Musik ist manchen Zuhörern unangenehm. Andere wiederum, die sich auf so etwas einlassen können, lieben Tschaikowsky genau deswegen. Es ist also eine grundsätzliche Frage nach der Einstellung gegenüber starken Emotionen. Das ist wie mit Filmen, wo zu viele Überwältigungsmomente vorkommen; das goutiert auch nicht jeder.

 

Tschaikowsky: Dirk Johnston spielt den Liebhaber in Ralf Plegers Film/

Tschaikowsky: Dirk Johnston spielt den Liebhaber in Ralf Plegers Film/Beetz Filmproduktion/Pleger

In Ihrem Film singt Dirk Johnston, der den Liebhaber Tschaikowskys spielt, den Dauerbrenner „Nur wer die Sehnsucht kennt…“ in Englisch, warum? Ist das nicht ein bisschen geschmäcklerisch? Es gibt für einen englischen Vortrag Vorbilder: Nelson Eddy hat in den 1940er Jahren bevorzugt Tschaikowsky-artige Melodien zu Songs verarbeitet. Es gibt Frank Sinatra, der aus dem 1. Klavierkonzert einen Song gemacht hat und auch „Nur wer die Sehnsucht kennt“ aufnahm. Es ist eins von vielen Beispielen, wie Tschaikowskys Musik ins Heute transportiert wurde, ins Musical und in die Filmmusik. Wir haben auch Szenen mit dem Ballett-Star Vladimir Malakhov, der die Figur Tschaikowskys darstellt als Contemporary Dance; also losgelöst vom typischen klassischen Tschaikowsky-Ballettbild. Man sieht auch den exzentrischen Organisten Cameron Carpenter, der Tschaikowsky für seine Pop-Art-Orgel bearbeitet. Mir war wichtig, diesen Facettenreichtum deutlich zu machen, um zu zeigen, wie heutig, unorthodox und überraschend diese Musik immer wieder sein kann. Hei/Cla

 

„Die Akte Tschaikowsky – Bekenntnisse eines Komponisten“ (Gebrüder Beetz Filmproduktion/ 52 Minuten/ TV-Erstausstrahlung: 3. Juni 2015, 22.05 Uhr auf ARTE; Vorabpremiere in Berlin: Gebrüder Beetz Filmproduktion und York Kino GmbH präsentieren den Film am Dienstag, 2. Juni, um 22 Uhr im Kino International als “MonGay Special”.  Im Anschluss gibt’s ein Q&A mit Darstellern und Regisseur. Dank an K. C. für seine Anregung und Vorarbeiten!

Zum Buch von Alexander Poznansky (TCHAIKOVSKY The Quest for the Inner Man. By Alexander Poznansky. Illustrated. 679 pp. New York: Schirmer Books.) auch die sehr differenzierte Kritik in der New York Times: Outing Tchaikovsky von Paul Griffiths von 1992; in deutscher Sprache empfiehlt sich die Reihe bei Schott, die wegen ihres nun politisch korrekt geschriebenen Namens schlecht im Netz zu finden ist, die sich aber neben den musikalischen Betrachtungen auch und vor allem dem privaten Leben Tschaikowskys widmet…

So überflüssig wie ärgerlich

Wann darf ein Rezensent ein 350 Seiten umfassendes Buch über eine Sängerin, die ihre Karriere zumindest teilweise der Gunst Adolf Hitlers zu verdanken hat, bereits nach dem Lesen von 216 Seiten beiseitelegen? Wenn er folgende Sätze lesen muss: „Unter seiner Leitung hatte sich das Deutsche Opernhaus sehr verändert. Früher hatte man zeitgenössische Werke gespielt, Offenbach und Meyerbeer. Jetzt, unter dem neuen Intendanten, waren auf einmal ganz andere Werke gefragt. Nun spielte man Wagner, Lorzing und Kienzl.“

Hatte man sich bis dahin in Geduld geübt beim Lesen von Mädchen mit Beziehungen der Autorin Hanna von Feilitzsch, das sie als „biographischen Roman“ bezeichnet, waren einem bereits zahlreiche Fehler im Schildern der Zeit von den Zwanzigern bis zum Kriegsbeginn 1939 aufgefallen, angefangen von Begriffen, die es noch gar nicht hatte geben können wie „Führerhauptquartier“, in dem die Tochter Leo Slezaks, Margarete (aus der Ehe mit der der Schauspielerin Elisabeth Wertheim), Hitler vor Kriegsbeginn anzurufen versucht, oder „Persilschein“, den sie ihrem Vater ebenfalls noch vor Kriegsausbruch zu verschaffen weiß.  Auch will diese Hitler mit dem später berühmt-berüchtigten Bärtchen bereits vor dem Ersten Weltkrieg gesehen haben, als er es nachweislich noch nicht trug; die zahlreichen Gastspielreisen des Vaters in europäische Hauptstädte dürften während des Kriegs illusorisch gewesen sein, eher glaubt man schon an die mit Hakenkreuzen verzierten „bröseligen“ Lebkuchen im Hause Hitler, dessen Hauptverbrechen zunächst einmal darin zu bestehen scheint, dass der Tee  „dünn“ ist und die Petit Fours „blass“ sind. „Ob der frenetische Jubel und die Hurraschreie nur von der deutschen Polizei und dem deutschen Militär oder auch verstärkt von den Österreichern kamen – wer vermochte das zu sagen.“ Das kann ohne weiteres das reichhaltige Filmmaterial, das  eine eindeutige Antwort gibt. Anders sieht es mit der Behauptung der Verfasserin aus, die SS hätte sofort nach dem „Anschluss“  sämtliche Lebensmittelläden geplündert, so dass die Wiener nichts mehr zu essen hatten.  Von der SA dagegen scheint die Autorin wenig zu wissen, wenn sie an anderer Stelle von „Hitlers Polizei“, und das vor der Machtergreifung, schreibt. Zustimmen allerdings kann man ihr, wenn sie meint: “Hitler war ein vielbeschäftigter Mann.“ Weniger wäre allerdings besser gewesen. Nicht Ehen zwischen Christen und Juden, sondern zwischen „Ariern“ und Juden waren verboten. Und was flüsterte Goebbels der Sängerin zu? Wir erfahren es nicht, obwohl die Autorin ansonsten sehr unbefangen mit dem umgeht, was sie als erfundenen „Kitt“, als Verbindungsmasse zwischen den historischen „Tatsachen“ bezeichnet.

So wenig informiert wie über die geschichtlichen Zusammenhänge ist von Feilitzsch über Oper, Sänger und Stimmen. Sonst würde sie mehr über die künstlerischen Leistungen ihrer Heldin zu berichten wissen, als dass diese mit viel Herz, mit Humor, mit Anmut zu singen und zu bezaubern weiß, würde nicht Intonation mit Diktion verwechseln und  wissen, dass man in der Opern nicht mit „Hochrufen“, sondern mit „Bravo“ seine Zustimmung äußert, dass es in Lohengrin kein hohes C des Tenors gibt und dass das hervorstechendste Attribut der Slezak-Stimme (Vater) nicht „glockenrein“ war, so wie das der Stimme der Tochter nicht „samtig“. Über die Rollen wie Turandot und Traviata wird nichts berichtet, außer, dass Kritiker und Zuschauer sich in ihrer Begeisterung überschlugen, wobei es zur damaligen Zeit Artikel über jede Vorstellung gegeben zu haben scheint, nur bekommt man davon nicht einen einzigen zu Gesicht, obwohl es einen knappen Anhang mit Fotos und Originaltexten gibt. Zu denen  gehört auch ein Entschuldigungsschreiben Hitlers für eine schlechte Kritik in seinem Blatt. Eigenartig berührt  ein Foto mit der Widmung Magarete Slezaks für Hitler. Hat sie es nicht an ihn abgeschickt, wie es im Text behauptet wird, oder hat er es ihr zurück geschickt, wovon nichts berichtet wird.  Auch werden die angeblich unzähligen Theateranekdoten, die sich Hitler von Margarete Slezak erzählen lässt, dem Leser sämtlich vorenthalten, dafür ihm aber weisgemacht, mit einer Wurzen könne man „ein strahlender Stern am Opernhimmel“ werden.  Das Buch ist für einen „Roman“ nicht anschaulich und detailliert, für Biographisches nicht kenntnisreich und seriös genug. So bleibt der „Roman“ abstrakt, wenn es heißt „schreckliche Szenen spielten sich ab“ oder  wenn das Berliner Nachtleben pauschal als hektisch und  rauschend bezeichnet wird.

Auch stilistisch kann der „biographische Roman“ nicht befriedigen, denn der Wortschatz ist recht ärmlich, zu oft werden Vokabeln wie „glücklich“ (über Essen, Liebe oder Erfolg) und selig“ bemüht, gibt es unglückliche Wendungen wie „ Abertausend arme Sparer“, „marschieren“ Kolonnen „getragen“, „nickte“ jemand wiederholt „langsam“, will Margarete nichts mehr mit ihrem Ehemann zu tun haben, „was auch immer geschehe“, „trieb sie dahin im Strom der Zeit“, „malträtierte… sie ihre Karriere“, „Alkohol übertünchte die innere Leere“, „hinter der Fassade bröckelte der Putz“.  Da spielt es schon keine Rolle mehr, dass die Verfasserin den Unterschied zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“ nicht kennt.

Wie sich die Nutznießerin der Zuneigung Hitlers nach 1945 aus der Affaire gezogen hat, kann bei so vielen Mängeln dann nicht mehr interessieren, auch weil es vielen Lesern sicherlich als große Peinlichkeit, wenn nicht gar Obszönität erscheint, dass er in diesem unnötigen Buch als eine Art harmlose „biographische Romanfigur“ erscheint, selbst wenn Vater Leo Slezak immer wieder auf seine Gefährlichkeit hinweist, wobei die Vokabel „Terrorist“, die einmal auf ihn angewandt wird, auch nicht die historisch korrekteste ist (Feilitzsch-Verlag; ISBN 978-3-930931-04-4). Ingrid Wanja

Dazu auch zwei links zum Slezak-Haus und zur Autorin/Hotelbetreiberin

Tänzerlegende

Nach ihrem Buch über Egon Madsen hat Dagmar Ellen Fischer mit Ivan Liska nun eine weitere Ikone der Tanzwelt porträtiert und ihrer Biografie, erschienen wiederum im Henschel Verlag, den Untertitel Die Leichtigkeit des Augenblicks gegeben. Bereits im Vorwort zu dieser wichtigen Veröffentlichung umreißt der bedeutende Choreograf Jirí Kylián die eminente Bedeutung Liskas in der internationalen Tanzszene, nennt ihn einen „Zugvogel“, womit er einen Titel seines eigenen Balletts zitiert, das er 2009 für das Bayerische Staatsballett kreierte, als Liska bereits dessen Direktor war. Der Begriff trifft zudem Liskas Leben auf den Punkt, musste er doch 1969 aus seiner tschechischen Heimat emigrieren und fortan das für einen Künstler typische Wanderleben führen.

Das Buch ist gegliedert in zehn Kapitel, beginnend mit „Prag prägt“ – der Stadt, wo er 1950 als erstes von drei Geschwistern geboren wurde. Auszüge aus seinem Tagebuch schildern die Kindheit, die Anfänge in einem Studio für Rhythmischen Tanz und danach in der Eleven-Klasse des Prager Nationaltheaters, wo er in Smetanas Verkaufter Braut und als Fritz im Nussknacker seine ersten Soloauftritte absolvierte. Mit 14 Jahren begann er am Prager Konservatorium seine Ausbildung als Bühnentänzer. Dieser ist das 2. Kapitel gewidmet, zuweilen in weitschweifigen Einzelheiten geschildert, die den Leser heute kaum interessieren dürften. Zahlreiche Fotos aus jener Zeit belegen diese Anfänge und sind vor allem von dokumentarischem Wert. 1968 und 69 konnte Liska eine Volkstanzpädagogin bei Kursen in Paris begleiten, was mit den Ereignissen des Prager Frühlings zusammenfiel und zu seiner Flucht aus der Heimat führte. Diese wird in Kapitel 3 geschildert – ein Fakt, der auch in einschlägigen Biografien von Nurejew und Baryshnikov einen breiten Raum einnimmt. Liska begann seine Laufbahn im Westen beim Ballett der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf, wo Erich Walter in Der Tod und das Mädchen die erste Rolle für ihn schuf. 1973 traf er bei den Proben zu Die Folterungen der Beatrice Cenci von Gerhard Bohner auf die Solistin Colleen Scott, mit der er auch privat eine enge Beziehung einging.

In längeren O-Ton-Passagen aus den Gesprächen mit der Autorin, die 2012 in Prag und 2013/14 in München stattfanden, erfährt man viele private Details. Liska äußert sich mit sympathischer Offenheit, Ehrlichkeit und gänzlich uneitel über seine eigenen Leistungen und die von Tänzerkollegen. Ein ganzes Kapitel ist dem Privatleben des Stars gewidmet, der Colleen Scott 1977 in München geheiratet hatte, die ihm zwei Söhne schenkte (Roman, 1980, und Ruben, 1989). Nicht verschwiegen werden die Konflikte mit seiner Frau und Tanzpartnerin, Streitigkeiten bei Proben, Meinungsverschiedenheiten… Einen bedeutenden Raum nimmt Kapitel 5 ein, das Liskas Zeit als Tänzer in München behandelt. Dort hatte er 1974 im Bauern-Pas-de-deux von Giselle seinen ersten Auftritt und als Colas in der Fille mal gardée die erste Hauptrolle. Im dritten Münchner Jahr avancierte er zum Solisten. Zur Dornröschen-Premiere 1976 war John Neumeier aus Hamburg angereist und lernte Liska kennen – was Folgen haben sollte. So nennt sich Kapitel 8 folgerichtig Kongeniale Partnerschaft mit Neumeier. Zwanzig Jahre war Liska Erster Solist beim Hamburg Ballett, tanzte zahlreiche Rollen in Stücken, die Neumeier für ihn geschaffen hatte. Der Choreograf selbst kommt ausführlich zu Wort, äußert sich über die Entstehungsprozesse seiner Choreografien, über die Zusammenarbeit mit den Tänzern, um das Ringen um die perfekten Besetzungen. Besonders detailliert spricht er über den schöpferischen Prozess seiner Matthäus-Passion, in der Liska den Judas gab und damit ganz gegen seine Natur besetzt war. Liska vollzog in Hamburg auch den Übergang zu den reiferen Väterrollen – so mit dem Monsieur Duval in der Kameliendame, in der er zuvor sowohl den Gaston als auch den Armand getanzt hatte, und mit dem Vater in A Cinderella Story. Als Höhepunkt von Liskas Hamburger Jahren sieht Neumeier den Peer Gynt (1989), dem 1994 noch die Kreation Zwischenräume auf Mahlers 9. Sinfonie, in der Liska einen Mann von der Geburt bis zum Tod zeigt, und 1995 der Odysseus folgten.

Vor dem Wechsel an das Bayerische Staatsballett skizziert Kapitel 9 („Unterwegs“) Liskas ausgedehnte Gastspieltätigkeit und seine Partnerschaft mit den berühmtesten Ballerinnen (so mit Natalia Makarova beim Onegin in London). Den Schlusspunkt setzt „In München als Ballettdirektor“, wo er ab 1998 die Nachfolge von Konstanze Vernon als Ballettdirektor antrat. Früh nahm er klassische Choreografien wie Raymonda oder Le Corsaire ins Repertoire auf (die neueste Großtat ist die Rekonstruktion von Paquita Ende des vergangenen Jahres), sorgte aber mit Arbeiten von Forsythe oder Kylián auch für zeitgenössische Beiträge. Das Buch ist eine Fundgrube für alle Ballettfreunde mit wissenswerten Fakten aus dem Leben und der Arbeit des Künstlers, bringt 80 farbige und schwarz/weiße Fotos sowie ein Rollen- und Werkverzeichnis (Dagmar Ellen Fischer – Ivan Liska. Tänzer / Die Leichtigkeit des Augenblicks; 184 Seiten; Henschel Verlag, Leipzig; ISBN 978-3-89487-754-5). Bernd Hoppe

 

Dramatische Szenen im Konzertsaal

In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht BERLIN Classics/EDEL Aufnahmen mit der Sopranistin Christiane Karg – seien es Lieder oder Opernarien und nun auf dem neuen Album SCENE! Konzertarien von Haydn bis Mendelssohn (BC 03006488C). Fast alle dieser Szenen sind Vertonungen von Texten Metastasios, was für die starken Emotionen spricht, die in diesen Kompositionen stecken. Die Zusammenstellung der sechs Titel zeigt den Mut der Interpretin, ihr Fach des leichten lyrischen Soprans zu erweitern in Richtung von jugendlich-dramatischen Aufgaben mit heroischer Emphase. Beethovens „Ah. perfido“ op. 65 als Eröffnung des Programms ist solch ein Beispiel. Freilich ist es keine Interpretation in der Art des Fidelio oder der Isolde, aber eine, die erfüllt ist von der Intensität der lyrischen Stimme, einem eloquenten Vortrag mit intelligenter Wortbehandlung und klugem Aufbau der  dreiteiligen Szene mit gebührender Steigerung am Schluss. Mozarts „Ch’io mi scordi di te“ KV 505 (auf einen Text von Gianbattista Varesco), seiner ersten Susanna Nancy Storace aus Anlass ihres Wiener Abschiedskonzertes 1786 in die Kehle geschrieben, lässt die Stimme träumerisch und mit feinen Valeurs ertönen. Malcolm Martineau am Hammerflügel ist ein mitatmender Begleiter. Von Mozart folgt später noch die früher komponierte Szene „Misera dove son“ KV 369, welche den existentiellen Zustand der römischen Adelstochter Fulvia beschreibt, die wegen ihres toten Geliebten beinahe den Verstand verliert. Karg findet für das Rezitativ sensible Nuancen, welche die Kostbarkeit des Soprans herausstellen. Auch die Arie „Ah! non son’io che parlo“ ist in ihrem innigen Fluss ein berührendes Porträt. Berenice, die weibliche Hauptrolle in Metastasios Drama Antigono, scheint in ihrer seelischen Verwirrung eine Verwandte Fulvias zu sein. Haydn hat sie in das Zentrum seiner mehrteiligen „Scena di Berenice“ gerückt. Sie gibt der Interpretin Gelegenheit, Emotionen von vielerlei Arten auszudrücken. Sie hält dafür ein reiches Farb- und Ausdrucksspektrum bereit, gipfelnd im aufgewühlten Schluss „Perchè se tanti siete“. Vom selben Komponisten erklang vorher die Konzertarie „Miseri noi“, ebenfalls von Nancy Storace (1790 in London) kreiert. Die im Text geschilderten Schrecken des Krieges mit Tod und Zerstörung wurden vom Komponisten eher verhalten in Töne gesetzt, entsprechend introvertiert ist Kargs Gestaltung des Rezitativs mit nobler Tongebung. Die folgende Arie „Funesto orror“ zeigt die Stimme in ihrer lyrischen Kultur und bravourösen Flexibilität.  Mendelssohns „Infelice pensier“ in der 1. Fassung von 1834 beschließt die Auswahl. Maria Malibran sollte das Stück aus der Taufe heben (weshalb das anspruchsvolle Geigensolo für ihren Liebhaber und späteren zweiten Ehemann, den belgischen Geiger Charles-Auguste de Bériot, geschrieben wurde), doch wurde die Uraufführung von Maria Caradori-Allan wahrgenommen. Das begleitende Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen leitet die Szene mit dramatischem Impetus ein, welchen die Solistin in einem vehementen Rezitativ aufgreift. Die Arie „Ah ritorna“ wird von einem schwebenden Violinsolo (Alina Pogostkina) eingeleitet und gibt der Sopranistin Gelegenheit, die Stimme träumerisch-entrückt fließen zu lassen, bis die Cabaletta „D’amor nel regno“ das Stück energisch pulsierend beschließt.  Bernd Hoppe

Chansons perpétuelles

Die kanadische Altistin Marie-Nicole Lemieux, renommiert vor allem im Barockgesang und  Belcanto-Repertoire, hat sich auch im Liedgesang einen Namen gemacht. Bei ihrer Stammfirma naïve veröffentlichte sie bereits mehrere Alben dieses Genres, so eine Schumann-Auswahl oder französische mélodies unter dem Titel „L’heure exquise“. Solche Kompositionen hat sie auch in ihr neues Programm „Chansons perpétuelles“ aufgenommen, erweiterte dieses aber um Lieder von Charles Koechlin, Guillaume Lekeu, Serge Rachmaninoff und Hugo Wolf (V 5355). Alle Werke entstanden zwischen 1890 und 1900, was sie auch stilistisch in einen Zusammenhang stellt. Begleitet wird die Sängerin von Roger Vignoles am Flügel sowie bei zwei Titeln vom Quator Psophos. Mit den selten zu hörenden Trois poèmes von Guillaume Lekeu eröffnet sie das Programm: 1893 in Brüssel uraufgeführt, sind diese Gesänge von melancholischer Grundstimmung und Lemieux kann hier mit ihrer berückenden Stimme von warmer Sinnlichkeit prunken. Subtile Nuancen und feine Piani bestimmen „Sur une tombe“, munterer erklingt das tänzerisch angelegte „Ronde“, wo der Alt in der Höhe einen herben Zug annimmt, wieder ganz träumerisch und schwebend das „Nocturne“ am Schluss, wo das Streichquartett einen warmen Teppich unter die Stimme breitet. Aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch wählte die Interpretin vier Titel, beginnend mit dem bekannten „Auch kleine Dinge“, das sie sehr poetisch und gänzlich unmanieriert formuliert. „Du denkst mit einem Fädchen“, „Mein Liebster singt“ und „Wohl kenn’ ich Euren Stand“ sind die weiteren Lieder – zwar nicht idiomatisch in der Wortbehandlung, aber mit wohllautender Stimme vorgetragen. Vignoles kann hier seine Kunst der empfindsamen Begleitung ins beste Licht rücken und markante Akzente setzen. Mit Gabriel Faurés Cinq mélodies „de Venise“ greift Lemieux das Genre der früheren CD  „L’heure exquise“ auf, zu dem sie als Kanadierin eine besondere Affinität hat. Ihre Stimme erklingt hier mit Raffinement, erotischem Flair und Eleganz. Wunderbar schwebt sie in „En sourdine“ und „À Clymène“, klingt entrückt und sich immer mehr in Trance steigernd bei „C’est l’extase“.

Einen Ausflug in unbekanntere Gefilde stellen die Kompositionen von Serge Rachmaninoff dar – vier aus seinen Sechs, eine aus den Zwölf Romanzen. Die Sängerin interpretiert sie im originalen Russisch und vermag ihrem Alt einen leidenschaftlichen, beschwörenden Klang zu verleihen. Man könnte sie sich sofort als Gräfin in Tschaikowskys Pique Dame vorstellen. Geradezu magische Töne hört man in „V moltchan e notchi taynoy“, wo nächtliche Sehnsüchte bezwingend eingefangen sind, von trauriger Stimmung erfüllt ist „Ne poy, krasavitsa“, schillernd und farbig der Gesang in „Ostrovok“.

Die Beispiele von Charles Koechlin in französischer Sprache stammen ebenfalls aus zwei Liederzyklen – den Cinq mélodies op. 5 und den Sept rondels op. 8. Betörend und flirrend „Si tu le veux“, beklommen „Menuet“, ausgelassen „La Pêche“, geheimnisvoll „L’Hiver“ und kokett „La Lune“ – die unterschiedlichen Stimmungen dieser Stücke werden von der Lemieux bezwingend eingefangen. Ernest Chaussons „Chanson perpétuelle“, das der Platte den Titel gab, beendet das Programm und gibt dem Quartett nochmals Gelegenheit für eine atmosphärische Untermalung dieses von der Solistin mit impressionistischem Flirren ausgebreiteten Gesanges, der bei seiner dramatischen Steigerung die Stimme wieder in ihrer vibrierenden Strenge vernehmen lässt. Bernd Hoppe

Eine Überraschung

Ganz ehrlich gesagt war mir der aserbaijanische Bariton Muslim Magomayev gar kein Begriff. Um so überraschender ist seine Wirkung auf der „neuen“ Melodya-CD (MEL CD 10 02345; noch bis vor kurzem als LP vertrieben und nun opportun auf dem probateren Medium)´mit Arien von Mozart, Rossini, Bizet, Gounod, viel Verdi und Leoncavallo, dazu Borodin, Tschaikowsky im üblichen Repertoire von Figaro, Don Giovanni, Barbiere bis hin zu den Pagliacci oder Rigoletto, Otello und mehr. Mehr in diesem Fall auch Zazà im Original, während Faust in Russisch und Carmen in Italienisch gegeben werden. Spannend sind die beiden raren aserbaijanischen Komponisten, nämlich Uzeyir Hajibeyev (Hassans Arie aus Der Sohn des blinden Mannes) und Magomayev grand-père (Asians Arie aus Schah Ismayil) – ich muss erneut gestehen: never heard before.  Was es alles gibt. Was man hört ist eine kraftvolle, schöntimbrierte Baritonstimme mit sehr guter Höhe, einem stabilen Kern und großer Ausdruckskraft. Und einem kräftigen Schuss Sinnlichkeit – der Mann kann „verkaufen“! Und er kann sich mit vielen wie Masurok und anderen Berühmten messen. Eine Entdeckung!

Magomayev magomayev mit Tamara Sinyavskaya/Wiki

Magomayev Magomayev mit Tamara Sinyavskaya/Wiki

Ein Blick ins Netz verrät mehr über ihn, denn der höchst blumige, mit Superlativen gespickten Artikel von Boris Mukosey ist sicher aus dem Russischen übersetzt und klingt wie die Anleitung zu einer Kaffeemaschiene aus Fernost.. . Muslim Magomayev (17. August 1942 – 25. Oktober 2008) gilt als der König der aserbaijanischen Sänger (so Wikipedia) und als „King of Songs“ oder auch der „Sowjetische Sinatra“ (naja). Er war einer der führenden sowjetischen Baritone und Popsänger der 60er und 70er, ein wirklich gut aussehender Mann, dessen Jugendfoto auf dem Cover der Melodya-CD den Betrachter anspricht wegen seines Lächelns und seiner Spontaneität. Muslim Magomayev repräsentierte eine der sehr respektierten Künstlerdynastien in Aserbaijan. Sein Großvater desselben Namens (1885 – 1937) war ein Freund und Zeitgenosse des aserbaijanischen National-Komponisten Hajibeyov und Begründer des modernen aserbaijanischen Musikstils. Vater Mahammad kämpfte gegen die Deutschen und starb kurz vor Kriegsende – er war ein renommierter bildender Künstler. Mutter Aishet Knizhalova galt als eine brühmte  Schauspielerin. Die Familie hatte türkische, georgische und aserbaijanische Wurzeln, was man der Beweglichkeit der Stimme Muslim Magomayevs anmerkt.

Magomayev: Jugendauftritt als Rossinis Barbniere im sowjetischen TV/Wiki

Magomayev: Jugendauftritt als Rossinis Barbiere im sowjetischen TV/Wiki

Der Sänger wuchs im polyglotten Haus seiner Großeltern auf und lernte dort früh amerikanische Jazz-Musik, italienische Lieder und verschiedene Stilrichtungen des populären Genres kennen. Am Konservatorium von Baku studierte er Klavier und Gesang. Der erste Auftritt führte ihn zu einem Jugendfestival in Helsinki. Die berühmt-berüchtigte Yekaterina Furtzeva, Kulturministerin der UdSSR (mit der wüsten Hochfrisur), wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm eine  Solistenposition am Bolshoi Moskau an, was er ablehnte. Er wollte sich vervollkommnen und trat erstmals in Moskau 1962 bei aserbaijanischen Kulturveranstaltungen im Kongresspalast auf. Über Nacht wurde er berühmt. Es folgte ein Jahr später ein Solokonzert in der ausverkauften Moskauer Tschaikowsky-Halle. Und er wurde Solist in Baku am Asebaijanischen Staatstheater. 1964 und 1965 folgten Auftritte an der Scala, aber er lehnte erneut Einladungen vom Bolshoi ab. Stattdessen widmete er sich der Popmusik und erreichte Millionen in der UdSSR damit. Er wurde zu einer Kultfigur, auch der Vertreter einer jungen  Generation. 1966 und 1969 trat er mit sehr großem Erfolg im Pariser Olympia auf.

Magomayev auf einer aserbaijanischen Briefmarke/Wiki

Magomayev auf einer aserbaijanischen Briefmarke/Wiki

Weitere Angebote aus Paris scheiterten am Widerstand Furtzevas, weil sich Muslim Magomayev weigerte, an „offiziellen“ parteiorientierten Konzerten in Moskau teilzunehmen. Auf der Midem 1960 erhielt er in Cannes den Gold Disc Award für den Verkauf von mehr als 45 Millionen Schallplatten. 1973 erhielt Magomayev den Nationalen Orden „People´s Artist oft he UdSSR“ (wohl nicht unbedingt mit dem Segen von Frau Furtzeva, die entmachtet im Jahr darauf starb… ). Muslim Magomeyev zog um nach Moskau in den frühen Siebzigern und wurde Dirigent des Azerbaijan State Bandstand-Symphonic Orchestra, mit dem er Tourneen durch Frankreich, Bulgarien, Finnland und Kanada machte. Er komponierte zudem auch selbst, namentlich Soundtracks, und trat als Schauspieler in Filmen auf. Er erhielt zahlreiche nationale Auszeichnungen; und sogar ein kleinerer Planet in der Milchstrasse, 4980 Magomayev, wurde nach ihm benannt…. Er war ein Massenidol. G. H.

Jessica Pratt

Viertelstündiger Jubel nach einer großen Arie, „Bis!“- und „Primadonna assoluta!“-Rufe. Man wähnt sich Jahrzehnte in der Vergangenheit, als Primadonnen noch Opernvorstellungen mit Bravourarien zum Stillstand gebracht haben. Dabei steht eine junge Sopranistin auf der Bühne: Die in Großbritannien geborene australische Sopranistin Jessica Pratt. Seit längerem schon auf den wichtigsten internationalen Bühnen etabliert, gilt sie bei vielen Melomanen und Kritikern als Erbin der fast schon verloren geglaubten großen italienischen Belcanto-Tradition. William Ohlsson traf für Opera Lounge die Sängerin vor ihrem Auftritt bei der Bonner Aids-Gala am 9. Mai 2015.

 

Jessica Pratt/Foto Pratt

Jessica Pratt/Foto Pratt

Die Lucia di Lammermoor gilt als Ihre Paradepartie, die Sie schon an vielen großen Opernhäusern wie der Deutschen Oper Berlin, der Mailänder Scala, der Niederländischen Oper Amsterdam oder am Opernhaus Zürich gesungen haben. Sie selbst bezeichnen sie als ihre Lieblingsrolle. Was reizt Sie an der Lucia besonders ? Mir macht die Bewältigung der verschiedenen technischen Schwierigkeiten großen Spaß, und mich fasziniert dieser Charakter. Sie ist ein junges Mädchen, die sich ihrer Familie widersetzt und heimlich heiratet. Am Ende treibt sie die männerdominierte Gesellschaft in den Wahnsinn. Vor Lucia di Lammermoor wurden die meisten weiblichen Charaktere wegen der Liebe verrückt, aber kommen wieder zu sich, wenn sie wieder mit ihren Geliebten vereint sind. Wie zum Beispiel die Elvira in I puritani. Lucia ist eine der ersten Figuren in der Opernliteratur, die völlig wahnsinnig bleibt und nicht wieder zu Verstand kommt.

als Lucia di Lammermoor in Neapel/Foto Luciano Romano

Jessica Pratt: als Lucia di Lammermoor in Neapel/Foto Luciano Romano

Nach Ihren Mailänder Vorstellungen als Lucia wurden Sie von der italienischen Fachpresse als die Lucia unserer Tage bezeichnet. Auch mit Ihrer Landmännin Joan Sutherland wurden Sie verglichen… Solche Art von Vergleiche liegen in der menschlichen Natur, schränken aber ein und stecken Leute oder Dinge in bestimmte Schubladen. Ich bin relativ groß, habe rote Haare und komme aus Australien… Zum Glück habe ich keine schwarzen Haare und komme nicht aus Griechenland! Die Realität ist, dass wir sehr verschiedene Stimmen und Persönlichkeiten haben und sich nur ein kleiner Teil unseres Repertoires überschneidet. Lucia ist eine dieser Partien. Es war natürlich eine wirklich große Ehre, die erste Australierin nach Joan Sutherland zu sein, die die Titelpartie in Lucia di Lammermoor an der Mailänder Scala gesungen hat. Und sie ist natürlich eine meiner Lieblingssängerinnen und ein großartiges Beispiel dafür, welche Möglichkeiten die menschliche Stimme hat, welche Sphären sie erreichen kann und sie ist eine Künstlerin, die mich sehr inspiriert.

 

Jessica Pratt: als Gilda in Sevilla/Foto Guillermo mendo/Pratt

Jessica Pratt: als Gilda in Sevilla/Foto Guillermo Mendo/Pratt

Partien aus der Feder Gioachino Rossinis scheinen Sie besonders zu interessieren, haben Sie doch seit Beginn Ihrer Karriere von ihm die größte Anzahl an Rollen verkörpert. Ganze neun haben wir gezählt, von der Lisinga in Demetrio e Polibio bis zur Matilde in Guillaume Tell. Es fällt vor allem die Vielfalt an Rollen auf, die Sie in Ihrem Repertoire haben, sowohl Colbran-Partien wie Armida oder Desdemona in Otello, als auch Manfredini-Partien wie die Amenaide in Tancredi. Was sind die jeweiligen Herausforderungen dieser sehr verschieden geschriebenen Rollen und welche liegen Ihnen am besten? Ich würde sagen, dass die Manfredini-Partien von Natur aus meiner Stimme momentan besser liegen. Diese konnte ich alle ohne jegliche Schwierigkeiten sofort singen, quasi gleich nachdem ich mir die Partituren zum ersten Mal angeschaut habe. Bei den Colbran-Rollen musste ich mich stärker auf meine Technik konzentrieren und erst einmal herausfinden, wie ich eine gewisse lyrische Qualität in der Mittellage und Tiefe erreiche. Das war eine nützliche Übung für mich, da die Entwicklung, die meine Stimme Dank der Colbran-Partien gemacht hat auch für manche Passagen in Werken Bellinis oder sogar in Lucia di Lammermoor sind. Um bei Bellini zu bleiben: Partien wie die Elvira in I puritani und die Amina in La sonnambula sind ebenfalls fester Bestandteil Ihres Repertoires. Bei Ihren stimmlichen Möglichkeiten stellt sich unweigerlich die Frage nach Ihrer ersten NormaNicht in der nahen Zukunft.

Jessica Pratt: als Lucia di Lammermoor in Neapel/Foto Luciano Romano

Jessica Pratt: als Lucia di Lammermoor in Neapel/Foto Luciano Romano

In Covent Garden haben Sie sehr erfolgreich als Königin der Nacht debütiert, seitdem haben Sie diese Rolle allerdings nicht mehr gesungen. Warum? Und sind weitere Mozart-Rollen in Planung? Konstanze in der Entführung müsste Ihnen doch wunderbar liegen! Die Konstanze würde ich liebend gerne singen, nur hat sich die richtige Gelegenheit leider noch nicht ergeben. Was die Königin der Nacht betrifft, hatte ich nach London Angst, nicht mehr genug Zeit für Partien wie Lucia und Elvira zu haben und habe die Rolle bisher abgelehnt. Ich werde sie in der nahen Zukunft wieder singen, will sie aber wirklich nur als kleinen Teil meines Repertoires behalten und nicht allzu oft singen.

Im September wird bei Opus Arte eine Lieder-CD erscheinen. Können Sie uns schon Details verraten? Es handelt sich um eine CD mit Liedern von unter anderem Rossini, Donizetti, Bellini, Massenet, Gounod und Delibes, die ich diesen Monat mit dem Pianisten Vincenzo Scalera im Rahmen unseres Londoner „Rosenblatt Recitals“ in der Wigmore Hall aufnehmen werde.

Jessica Pratt: "Ciro in Babilonia" in Pesaro/Foto Eugenio Pini/Pratt

Jessica Pratt: „Ciro in Babilonia“ in Pesaro/Foto Eugenio Pini/Pratt

Zu Ihren Anfängen: Wann war für Sie klar, dass Sie Opernsängerin werden wollten und mit wem haben Sie in Australien studiert? Und wie verlief Ihr Werdegang bis zu Ihrem professionellen Operndebüt als Lucia im Jahr 2007? Mein Vater ist Tenor und Gesangslehrer, meine Mutter bildende Künstlerin. Wir Kinder wurden von Beginn an ständig mit Kunst und Musik konfrontiert. Mein Vater hat uns Opernarien vorgesungen, bevor wir schlafen gingen und erzählte uns Opernhandlungen statt Märchen, und meine Mutter hat unsere Schlafzimmer angemalt. Ich habe erst Bildhauerei studiert und habe sehr gerne gemalt, habe aber zur selben Zeit auch Musik studiert. Das Problem war, dass ich meine Kunstwerke nicht verkaufen, sondern sie für mich selbst behalten wollte und so kann man ja leider keine Karriere als bildende Künstlerin machen… Als ich 18 war, habe ich begonnen, ernsthaft Gesang zu studieren. Ich wollte immer schon Sängerin werden, weil das einfach das war, was wir in meiner Familie gemacht haben, aber mein Vater weigerte sich, mich zu unterrichten, bis ich 18 war. Er wollte, dass sich meine Stimme auf natürliche Art und Weise entwickelt und bestand darauf, dass ich erstmal für mindestens 10 Jahre lernen sollte, ein Blasinstrument zu spielen. Ich habe dann Trompete gelernt, als Teenager in Orchestern und Jazzbands gespielt und als ich alt genug war, um anzufangen, Gesang zu studieren, begann ich damit und gab die Trompete auf. In Australien besuchte ich abgesehen von den Gesangsstunden mit meinem Vater die Musikhochschule. In Australien hat mich Maestro Gelmetti bei einem Wettbewerb in Australien gehört und mich nach Rom eingeladen, wo ich mit ihm gearbeitet und monatelang alle Proben und Vorstellungen verfolgt habe. Anschließend habe ich in der Accademia Santa Cecilia mit Renata Scotto studiert, bevor ich dann mein Operndebüt als Lucia in Como gab.

Jessica Pratt: als Cunigonde in "Candide" in Rom/Foto M. Falsini/Pratt

Jessica Pratt: als Cunigonde in „Candide“ in Rom/Foto M. Falsini/Pratt

Was konnten Sie von Lehrern wie Renata Scotto und Lella Cuberli lernen? Mit Renata Scotto habe ich hauptsächlich an Interpretation und der Stimmlinie gearbeitet, nicht an der Technik, weil sie fand, dass man, wenn man ihr Schüler war, schon im Besitz einer ausgereiften Technik sein musste. Sie ist sehr intelligent und war deshalb eine sehr gute Lehrerin für Interpretation. Sie kann ihren Schülern in ihren Gesangsstunden ganz genau sagen, was sie von ihnen will und erwartet. Lella Cuberli hilft mir sehr, meine Technik immer weiter zu verbessern, und sie hat viele Rollen gesungen, die ich im Repertoire habe. Sie ist eine große Hilfe, wenn es darum geht, verschiedene technische Aspekte des Belcanto zu verstehen und sie versteht es wunderbar, Interpretation und Phrasierung zu lehren. Abgesehen davon ist sie eine extrem liebenswürdige Person. Da sie Amerikanerin ist und nach Italien zog , wo sie auch viel gearbeitet hat, kann sie viele Dinge, persönliche sowie Karrierefragen, gut nachvollziehen und die letzten Jahre wären ohne sie für mich viel schwieriger gewesen

 

Jessica Pratt: als Violetta in Melbourne/ Foto Jeff Busby/Pratt

Jessica Pratt: als Violetta in Melbourne/ Foto Jeff Busby/Pratt

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Jahr ist in Italien ein Buch über Sie und Ihren Hund Fede erschienen. Fede ist leider letztes Jahr gestorben, er war ein kleiner Hund aus dem Tierheim, der schwer misshandelt wurde, nur ein Auge und ein lahmes Bein hatte. Als ich ihn bekommen habe, hatte er fast kein Fell wegen all dem Stress im Tierheim. Zuerst hat er sich nur im Schrank und unter dem Bett versteckt, dann hat er langsam angefangen, mir und später auch anderen Menschen zu vertrauen. Er hatte erst große Angst, wenn er alleine gelassen wurde, also nahm ich ihn überall hin mit, auch ins Theater. Man konnte ihn nur alleine lassen, wenn er in meiner Garderobe und der Lautsprecher an war! Wenn er mich singen und proben hörte, ging es ihm gut, auch wenn er alleine war. Er wurde irgendwann eine kleine Berühmtheit in den italienischen Theatern und die Opernfans wollten nach den Vorstellungen immer auch Fotos von ihm machen und ihn begrüßen. Eines Abends fragte mich Federica Fanizza, ob ich mit dem Autor Mauro Neri darüber sprechen würde, ein Buch über Fede und sein Leben aus dem Tierheim in die Opernhäuser Italiens zu schreiben. Daraus ist dann ein Kinderbuch entstanden, in dem Fedes Geschichte erzählt wird, mit der die Kinder an die Oper herangeführt werden, etwas über Tiere lernen und dazu erzogen werden sollen, Haustiere nicht auszusetzen. Das Buch ist beim

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Foto oben: Jessica Pratt als Lucia di Lammermoor am Teatro San Carlo in Neapel/Foto Luciano Romano

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Geistliches fürs Konzert

Joshua ist eines der spektakulären Oratorien von Georg Friedrich Händel – die Mauern Jerichos werden zum  Einsturz gebracht, Mond und Sonne müssen still stehen, ein Liebespaar findet sein Glück und Händel hat wunderbare Musik dazu komponiert. Dennoch gehört Joshua nicht zu den bekanntesten Werken des Hallensers. Christopher Hogwood urteilte, dass es sich weniger um eine zusammenhängende Handlung und mehr um eine Aneinanderreihung von Ereignissen handle. Eine Live-Aufnahme von den Göttinger Händel Festspielen 2014 bringt das zu Unrecht selten gespielte Werk aus dem Jahr 1748 zurück in die Aufmerksamkeit der Händel-Fans. Joshua ist eines der vier militaristischen Oratorien (neben dem Occasional Oratorio, Judas Maccabaeus und Alexander Balus), die im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Jakobiten-Aufstands von 1746 entstanden, bei dem der katholische Charles Edward Stuart aus Schottland von der englischen Armee unter Wilhelm August, Herzog von Cumberland, dem Sohn des englischen Königs Georg II. aus Hannover geschlagen wurde. Joshua ist ein Huldigungs- und Siegeswerk mit patriotischer Bedeutung – es gibt Schlachten mit Hörnern, Trompeten und Trommeln, Triumphchöre und Jubelgesänge. Und hier liegt auch eine der Stärken dieser Neueinspielung: Der NDR Chor, einstudiert von Robert Blank, bringt den Glanz und den Jubel der Israeliten mitreißend zum Tönen. Die vier individuell gezeichneten Solistenrollen sind ebenfalls sehr gut besetzt: Joshua singt Kenneth Tarver als strahlenden Held mit klarem, offenem und klangschönem Tenor – eine Referenzbesetzung! Bariton Tobias Berndt verleiht Caleb eine patriarchalische Würde, das Liebespaar Achsah und Othniel sind mit dem Sopran von Anna Dennis und dem Alt von Renata Pokupić ebenfalls ausgezeichnet besetzt. Dirigent Laurence Cummings, dessen Vertrag als musikalischer Leiter der Göttinger Händel-Festspiele vor wenigen Monaten bis 2021 verlängert wurde, und das Festspielorchester Göttingen zeigen die musikalische Ausdruckskraft Händels beim Einsturz der Mauern von Jericho zum Klang von Trompeten (aber keinen Posaunen wie Händel sie z.B. in Saul verwendete) und den affektreichen Arien. Auch ein Ohrwurm ist enthalten: „See, the conqu’ring hero comes“ wurde in den bekannteren Judas Maccabaeus übernommen und ertönt seit 1826 gerne zur Adventszeit – Theologe Friedrich Heinrich Ranke machte daraus „Tochter Zion, freue dich“. (2 CDs, Accent/note 1, ACC26403)

bach israeliten dhmKeine drei Wochen vor der obigen Aufnahme aus Göttingen wurde in Leipzig anlässlich des 300. Geburtstags Carl Philip Emanuel Bachs Oratorium Die Israeliten in der Wüste eingespielt, das musikhistorisch als wichtiges Bindeglied zwischen Barock und Frühklassik gilt und 20 Jahre nach Händels Joshua entstand. Die Israeliten in der Wüste wurde zu einer Kircheneinweihung 1768 in Hamburg uraufgeführt, mit der Bach auch die Nachfolge von Telemann antrat. Das lyrische Oratorium sollte nach dem Willen Bachs aber auch außerhalb der Kirche zu Feierlichkeiten gespielt werden – Händels Londoner Modell scheint hier auf dem Kontinent angekommen zu sein und tatsächliche war Bach damit Erfolg beschieden, wie Aufführungen in anderen Städten und die Drucklegung zeigen. Der Text verzichtet auf Bibelzitate und bietet leidende Seelenzustände der durch die Wüste irrenden und von Gott geprüften Israeliten im ersten Teil  und Lobpreisung und Danksagung im zweiten. Das Beiheft bezeichnet das als Stil der Empfindsamkeit, der bewusst auf Handlungsdramatik und Erzählstränge verzichtet und Situationen gefühlsbetont und kontemplativ deuten will. Bachs musikalischer Stil ist anschaulich, gelegentlich tonmalerisch und einfühlsam zwischen Flehen und Freude. Ein Zeitgenosse rühmte den „fliessenden, angenehmen und natürlichen Gesang“. Ein geschätztes Oratorium, das innerhalb weniger Jahre drei Einspielungen erlebte: 2008 mit Wolfgang Brunne und der Salzburger Hofmusik (CPO), 2014 mit Frieder Bernius und dem Barockorchester Stuttgart (Carus) sowie nun bei deutsche harmonia mundi.

Johannes Weisser på "Jul på slottet"/youtube

Johannes Weisser på „Jul på slottet“/youtube

Dirigent Christoph Spering erklärt im Beiheft, wie durch die neue Edition der Werke C.P.E. Bachs die Frage der nicht ornamentierten Da Capo-Arien aufgeworfen wurde und dass er zusammen mit den Sängern Verzierungen erarbeitet hat und eine größere Orchesterbesetzung gewählt hat, um orchestral farbigere Ausdrucksmöglichkeiten zu erzielen. Spering als Experte für historische Aufführungspraxis gelingt mit den sehr gutv gewählten Sängern, dem Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester einen authentisch klingender und gestisch ausdrucksstarker Höreindruck. Das Solistenenquartett besteht aus dem dramatisch-ausdrucksstarken Sopran von Sarah Maria Sun und dem schlanken, klaren Sopran von Anja Petersen in den Rollen der beiden Israelitinnen sowie dem norwegischen Bariton Johannes Weisser als beeindruckender Moses und dem stimmschönen Tenor von Daniel Johannsen als Aaron. (1CD, dhm/Sony 88875016302). Marcus Budwitius

Götterfrevel zum Zweiten

Spätestens seit Cecilia Bartolis mit viel Hype begleiteten Bemühungen um den Komponisten, Diplomaten und Bischof  Agostino Steffani, die sich 2012 in einem mehrteiligen Project bei Decca niederschlugen, steht der 1654 in Castelfranco Veneto geborene Italiener, der später in München und Hannover wirkte, wieder im Blickpunkt des musikalischen Interesses. Nach Bartolis Einspielungen von diversen Arien und seinem Stabat Mater gibt es seit einigen Jahren Bestrebungen, sein 1688 in München uraufgeführtes Dramma per musica Niobe, regina di Tebe wiederzuerwecken (wenngleich die früheren Ansätze wie die von Newell Jenkins oder Günther Kehr in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts nicht unerwähnt bleiben sollen). Erst kürzlich erschien bei Erato eine Studioeinspielung von 2013 aus dem Sendesaal Bremen mit Katarina Gauvin und Philippe Jaroussky in den zentralen Partien der Niobe und des Anfione, welche einer Produktion beim Boston Early Music Festival 2011 folgte. (Die Veröffentlichung wurde von meinem Kollegen Geerd Heinsen auf diesen Seiten besprochen.) Nun legt Opus Arte den Mitschnitt einer Aufführungsserie im September 2010 am Royal Opera House London unter Thomas Hengelbrock vor, der durch die abweichende Besetzung besonders Interesse erweckt. Vor allem der polnische Sopranist Jacek Laszczkowski als Anfione, König von Theben, der die Rolle bereits in Schwetzingen gesungen hatte und inzwischen in das Fach des Heldentenors gewechselt ist, versprach ein gänzlich anderes Rollenporträt als Jaroussky. Singt der Franzose mit purer Reinheit und Schönheit des Tons, hört man vom Polen wieder seine bekannt hysterischen Ausbrüche (wie in „Ascendo alle stelle“ zu Beginn des 2. Aktes), die zu verschiedenen Rollen (Nerone in Monteverdis Poppea) perfekt passten. Insgesamt aber lässt die Stimme nicht mehr die einstige Souveränität erkennen, klingt oft verschwommen und wattig, in der exponierten Höhe streng vibrierend und in manchen Szenen geradezu kläglich jammernd. Dann wieder vernimmt man Momente, in denen das besondere Timbre des Sängers zu reizvoller Wirkung kommt, wie in der Szene im Palast der Harmonie, wo die Stimme mit ätherisch entrücktem Ausdruck betört, oder in manchen Extremtönen von perfektem Sitz und magischer Aura. Vor allem die wehmütig-getragenen Arien überzeugen, zu denen auch der ergreifende Abschiedsmonolog seiner Selbstmordszene gehört – insgesamt ein uneinheitliches Rollenporträt.

In Katarina Gauvin bei Erato hat Véronique Gens in London eine starke Konkurrenz, aber sie behauptet sich respektabel mit ihrem eingedunkelten, empfindsamen Sopran und dem innigen, schlichten Ausdruck. Bewegend ihr Liebesbekenntnis zu Anfione mit berückender Tongebung („Amami“), ergreifend beider Zwiegesang („Mia fiamma“). In den furiosen Arien mit erregten Koloraturen wirkt der Fluss der Stimme zuweilen etwas bemüht („Qui la Dea“ zu Beginn des 2. Aktes), in den schmerzlichen Gesängen entfaltet die Stimme dagegen ihre ganze Noblesse und Kultur, wozu auch Niobes letzte Szene („Funeste immagini“) gehört. Ein Trumpf der Londoner Besetzung ist Delphine Galou als Amme Nerea mit dunklem Mezzo von beherztem Zugriff, der bestens zur Partie passt. Deren Arien sind durchweg von energisch-resolutem Charakter und munterem Rhythmus, zum Teil vom Orchester reizvoll begleitet mit tänzerischen Affekten, und die Sängerin interpretiert sie in idealer Weise, übertrifft damit die Altus-Besetzung bei Erato, wenngleich diese historisch korrekter sein dürfte. Countertenöre gibt es auch in London: Als Prinz Creonte lässt Iestyn Davies eine Stimme von recht larmoyantem Klang hören, zeigt in seinen Arien („Dove, sciolti“ und „Lascio l’armi“) aber eine bravouröse Flexibilität im Fluss der Koloraturen. Im Duett mit Niobe („T’abbraccio“) verschlingen sich die beiden Stimmen in schöner Harmonie. Und ihm fällt das letzte Solo des Werkes zu, wenn er mit festlichem Trompetenglanz zum neuen Herrscher von Theben gekürt wird und in „Di palme e d’allori“ Koloraturjubel verströmt. Der zweite Counter ist Tim Mead als Höfling Clearte, auch er von melancholisch bis weinerlichem Timbre. Da bildet die heitere Arie „Tutta gioia“ im 3. Akt einen willkommenen Kontrast, und der Sänger amüsiert durch sein atemloses Plappern. Freilich ist diese Stimmung trügerisch, denn kurz darauf folgt ein schreckliches Erdbeben, vom Orchester mit Donnergrollen untermalt. Das glückliche Paar des Stückes sind Tiberino, Sohn des Königs von Alba, und die Priesterin Manto, die am Ende von Creonte vereint werden. Lothar Odinius glänzt mit seinem Tenor, der sich wunderbar entwickelt hat, erfüllt ist von reifer Männlichkeit und auftrumpfender Energie. Aber er überzeugt auch in der reizvollen, von Flöten lieblich umspielten Arie „Quanto sospirera“ am Ende des 1. Aufzugs. Einmal mehr gibt der Sänger einen überzeugenden Beweis einer bedachtsam aufgebauten und klug geführten Karriere. Amanda Forsythe ist die Manto bei Erato und in London, mit ihrem feinen lyrischen Sopran, der vor allem in der nobel gesungenen Arie „Nel mio seno“ bezaubert, eine denkbar stimmige Besetzung. Ihr Vater, der Hohepriester Tiresia, ist eine der beiden tiefen Partien dieses Dramma per musica, die von Bruno Taddia mit grimmigem Bassbariton wahrgenommen wird. Die andere ist Creontes Ratgeber Poliferno, in der Alastair Miles mit zwar dumpfem, auch dröhnendem Bass zu hören ist, aber durch seine enorme Autorität, noch immer gebührende Gelenkigkeit („Nuovo soglio“) und das furiose Rasen im zweiten Akt  („Numi tartarei“) überzeugt.

Hengelbrock nimmt zuweilen sehr breite Tempi, welche die Aufführung im Vergleich zu Paul O’Dette und Stephen Stubbs bei Erato getragener und ernster wirken lassen. Gemessen-feierlich beginnt die Ouvertüre, wechselt dann zu martialischem Fanfarengeschmetter, wo das Balthasar-Neumann-Ensemble ebenso großen Effekt macht wie in den rhythmisch prägnanten Tänzen, ob zur Jagd oder bei Schäfer-Szenen, und beim pompösen Freudenfinale. Das Publikum in Covent Garden reagiert enthusiastisch auf die Aufführung. (Agostino Steffani: Niobe, regina di TebeGens, Laszczkowski, Davies, Miles, Galou, Odinius, Forsythe; Balthasar-Neumann-Ensemble, Thomas Hengelbrock;  3 CD, Opus Arte OA CD9008). Bernd Hoppe

Méhuls Oper „Adrien“

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Zu den spannendsten Erscheinungen unter den Komponisten der Revolutionszeit (davor und danach einschließlich) gehört in Frankreich Étienne-Nicolas Méhul, der die Schrecken der Commune überlebte, zu Glanz unter Napoleon aufstieg, aber auch in der Nachrevolutionszeit sich einen bedeutenden Namen machte. Er lebt im Erbe Glucks und nimmt in seinen Sinfonien und Opern in vielem Beethoven und die kommende Klassik voraus . Er hat diesen drängenden Gluck-Drive, diese spannende Behandlung der orchesterbegleiteten Rezitative und den Atem für großangelegte Solo- und Ensembleszenen. Ein Blick zu Amazon oder jpc zeigt, dass es doch reichlich Méhul auf dem Markt gibt, seine Opern, an erster Stelle Stratonice (unter Christie/Erato), sowie Joseph (verschiedene Aufnahmen, namentlich die aus Compiegne/cdm), L´irato und anderes mehr, vor allem auch die Sinfonien und reichlich Kammermusik.

.Aber nur Stratonice ist diesem Adrien an Nachdruck und Würde gewachsen, Joseph bleibt in anbiedernder Bibelnähe stecken und kündigt ein neues Genre an, das der pietätvoll gedämpften Bürgerlichkeit eines Benda oder auch Cherubini in dessen kleineren Kompositionen wie Julie ou le pot des fleurs, L’hôtellerie portugaise und vor allem Les deux journées – Werke, die eine andere Ästhetik vorbereiten. Vielleicht ist dies auch der Ort, an dem man auf weiteres von Méhul hinweisen sollte, das Sammler natürlich haben: einen Horatius mit Orliac und Massard gab es beim französischen Rundfunk 196-, Uthal kursierte auf rabenschwarzen Scheiben in einem abenteuerlichen und auch abenteuerlich zusammengebastelten Live-Mitschnitt aus London von 1972 unter Stanford Robinson bei UORC (gekoppelt mit einem dto. Irato) und nun im Konzert 2015 in Paris (mit hoher Wahrscheinlichkeit einer CD-Dokumentation bei Ediciones Singolares), verschiedene Aufführungen vom L´irato kommen aus Tours 1985 und Bonn 2005, vom Joseph gibt es sogar ein Dokument aus Amiens mit Vanzo und Massis 1989.

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Méhul, 1817 (Palazetto Bru Zane)

Méhul, 1817 (Palazetto Bru Zane)

Vom Palazetto Bru Zane gab es (dem Vernehmen nach nur als mp3- und wma-download bei quobuz/Seite nicht mehr verfügbar!) die Neu- und Erstaufnahme des Adrien, die Geschichte vom kriegerischen, aber auch großmütigen Kaiser Hadrian, der seine Feinde begnadigt und ihnen die Freiheit schenkt. Dies 1799 mit deutlichem Hinweis auf Gnade und Großzügigkeit angesichts der Grauen der Revolution, auch in Hinsicht auf Napoleon, ein gütiger Kaiser zu sein. György Vashegyi leitet eine Einspielung von 2012 aus Budapest (die gabs sogar als optischen stream) mit einem hochprofilierten Cast, angeführt von Philippe Do in der Titelrolle, weiters singen Gabrielle Philiponet, der erfahrene Marc Barrad, Jennifer Borghi, Philippe Talbot und weitere Solisten, die schon auf anderen Aufnahmen des Palazetto Bru Zane, der im Rahmen seines Sponsorentums um die Wiedererweckung der Romantischen franzözischen Oper auch diese Ausgabe unterstützte. Nach einer kurzen Einleitung mit einem informativen Text von Wikipedia folgt hier der hochinteressante Aufsatz von Alexandre Dratwicki (in Englisch, sorry), dem Musikwissenschaftler und „Drahtzieher“ der Reihe beim Palazetto Bru Zane, dem man nicht genug Dank sagen kann. G. H.

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Der junge Méhul (Palazetto Bru Zane)

Der junge Méhul (Palazetto Bru Zane)

Étienne-Nicolas Méhul begann seine musikalische Ausbildung als Organist, und zwar im Franziskanerkloster seines Heimatortes. Später studierte er bei dem Organisten Wilhelm Hanser und wurde 1778 dessen Assistent oder Hilfsorganist an der Klosterkirche der Benediktiner von Lavaldieu in den Ardennen. Im Jahr 1779 übersiedelte er nach Paris, wo er bei dem Straßburger Komponisten und Cembalisten Jean Frédéric Edelmann Kompositionsunterricht nahm. Möglicherweise verdiente er seinen Lebensunterhalt als Organist, wofür es aber bisher keine Beweise gibt. In den 1780er Jahren arbeitete er als Lehrer und veröffentlichte in dieser Zeit zwei Bände mit Klaviersonaten. Der zweite Band war mit einer sogenannten „überlegten“ Violinstimme erschienen, die die Thematik im Klavier verdoppelt. Neben François-Joseph Gossec galt er als der Komponist der Französischen Revolution. Sein Chant national du 14 Juillet 1800, der von Napoleon nach der Schlacht von Marengo bestellt worden war, bekam fast den Rang einer Nationalhymne, und 1794 entstand seine Revolutionsoper Horatius Coclès. 1795 wurde er Inspektor des Conservatoire und Mitglied der Académie des beaux-arts. Méhul wurde vor allem durch seine mehr als vierzig Opern bekannt, von denen Joseph in Ägypten auch gegenwärtig noch aufgeführt wird; Carl Maria von Weber leitete eine Aufführung des Werkes 1817 anlässlich der Gründung der deutschen Hofoper in Dresden. Die bekannteste Melodie aus dieser Oper, die Romanze des Joseph A peine au sortir de l’enfance (dt. Ich war ein Jüngling noch an Jahren) wurde fälschlich als Vorlage für das Horst-Wessel-Lied ausgegeben, dieses geht jedoch vermutlich auf das deutsche Bänkellied Ich lebte einst im deutschen Vaterlande zurück. Neben den Opern komponierte Méhul sechs große Klaviersonaten, drei Ballette, sechs Sinfonien, Bühnenmusiken und Messen. Er hat sich – neben seinem Zeitgenossen und Rivalen Jean-François Lesueur – um die Erweiterung der Stoffe in der Oper sehr verdient gemacht. Auf ihn gehen einige kühne Neuerungen in der Orchestrierung zurück, und Méhul gilt als Pionier in der Verwendung von Leitmotiven. Méhuls Meisterschaft im Umgang mit sinfonischen Formen und rein orchestralen Werken kommt bereits in den Ouvertüren zu seinen Opern zum Ausdruck. Aus Ludwig van Beethovens Briefen ist zu ersehen, dass er den Kompositionen Méhuls großes Interesse entgegengebracht hat; der Einfluss des Franzosen auf seine Oper Fidelio ist unverkennbar. Wikipedia

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Der Autor Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Der Autor Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru Zane)

Und nun der Artikel von Alexandre Dratwicki in der Beilage  zur Download-Ausgabe: Étienne-Nicolas Méhul: Adrien (1791) “Adrien, another composition of the same time, was in every wayworthy of Méhul’s creative power, with a multitude of new effects,admirable choruses and a recitative that was in no way inferiorto Gluck’s; but by some sort of ill fate, the various successive governments proscribed the work every time it was revived.” (Fétis, Biographie universelle des musiciens.)

Born in Givet (Ardennes), Étienne-Nicolas Méhul received the first rudiments of his musical education from the German organist Wilhelm Hanser. Having arrived in Paris in 1779 with a letter of recommendation to Gluck, he continued his training with the Alsatian harpsichordist and composer Jean-Frédéric Edelmann, who most likely introduced him to the music of Mozart and Carl Philipp Emanuel Bach. During that time his first two sets of keyboard sonatas were published (1781). By 1789 Méhul had written his first opera, Cora, for the Académie Royale de Musique (the Paris Opéra), but after rehearsals were abandoned (the Opéra was going through financial difficulties at the time) he turned to the opéra comique genre at the Théâtre Favart, where his most important stage works were to be given.

Méhul: Cover für das Libretto der "Stratonice" (Palazetto bru zane)

Méhul: Frontespièce für das Libretto der „Stratonice“ (Palazetto Bru Zane)

The first of them, Euphrosine (1790), was a new kind of opéra comique marked by the severe heroic style – Méhul referred to the latter as ‘musique de fer’, music of iron – and perfectly in keeping with the expectations of audiences in those Revolutionary times. Stratonice (1792), Mélidore et Phrosine (1794) and Ariodant (1799) all broke out of the narrow confines of the old comédie mêlée d’ariettes (a form of French opéra comique consisting of a spoken comedy interspersed with short arias, which had developed in the mid-eighteenth century) and made opéra comique into the crucible from which the French Romantic opera was to emerge.

Méhul: Einsetzung des Conseil d´ Ètat (Palazetto Bru zane)

Méhul: Einsetzung des Conseil d´ Ètat (Palazetto Bru Zane)

Méhul’s quest for ever-greater dramatic expressivity led him to experiment with orchestration: in Uthal, for instance, an Ossianic opera written under the Empire (1806), he replaced the violins in the orchestra with violas for a darker sound. Between 1808 and 1810 he composed his five symphonies. But it was his biblical opera Joseph that was to ensure his fame in Europe in the nineteenth century. Méhul, like the painter Jacques-Louis David, kept pace in his style with the many political upheavals of that period in France. Under the Restoration he composed La Journée aux aventures (1816), recalling in its style and plot the opéra comique of the Ancien-Régime. Méhul died in 1817 of tuberculosis.

Méhul: Brief an den Bürger Langlet (Palazetto bru Zane)

Méhul: Brief an den Bürger Langlet (Palazetto Bru Zane)

In its revised version (recorded here), Adrien begins with a grand overture borrowed from an earlier one-act opera, Horatius Coclès (1794) that is nevertheless very appropriate to its subject; indeed, audiences of the time recognised in it now the solemnity of the emperor’s triumph, now the sighs and tears of his captive, Princess Émirène. The classical structure of the piece naturally opposed two contrasting motifs, easily identifiable as contrary emotions that were relevant to both works. The beginning of the opera contains long passages of mostly ‘dry’ recitative (i. e. with only a simple chordal accompaniment), which the modern listener may find somewhat disconcerting. Composers of that time were actively seeking new ways of modernising the declamation in operatic works, for indeed many critics and also some operagoers strongly objected to a musical style that made shouting obligatory for singers to be heard above the orchestra. Clearly Méhul chose to solve that problem by creating a freer vocal line, less subordinate to the instruments. Furthermore, dry recitative permitted greater freedom of expression, enabling the singers to lend more subtlety to the words of Adrien, Cosroès and Sabine, and bring out the underlying meaning by the use of pauses and however much rubato they deemed necessary; it also facilitated the expression of irony.

Méhul: Kaiser Hadrian in einer zeitgenössischen Darstellung (Palazetto Bru Zane)

Méhul: Kaiser Hadrian in einer zeitgenössischen Darstellung (Palazetto Bru Zane)

Spoken texts predominate in Act I, where they are used to establish the dramatic situation; but after that, the proportion of spoken and sung texts is reversed, with arias and duos providing a finer psychological perception of the characters. In Act I, there are only two sung episodes: a duo for Pharnaspe and Cosroès near the beginning and another one for Émirène and Adrien at the end. The dramatic progression of the latter results in a finale d’acte, a finale to the act, that looks forward to those of Meyerbeer, fifty years hence! There is no orchestral conclusion to encourage applause and the heated conversation between the emperor and his captive is interrupted by a chorus of terrified Romans as the Parthians attack the city. In the ensuing battle, the Parthians are put to flight and the people acclaim Adrien, who has captured Pharnaspe. This scene, superimposing the contrary affects of five soloists and three choruses (chorus of priests and vestals; chorus of Roman soldiers, alternating, then simultaneous with the chorus of Parthians), attains a maximum volume that was unbelievable at that time, and the composer even indulges in the luxury of an amazing symphonic episode.

Méhul: Die Solisten der neuehn Aufnahme (Palazetto Bru Zane)

Méhul: Die Solisten der neuen Aufnahme (Palazetto Bru Zane)

There is another captivating orchestral piece in the work, apart from the overture. It accompanies the scene in pantomime in which the Parthian soldiers slay their adversaries and strip them of their weapons and clothing in order to disguise themselves as Romans. This purely musical episode – much longer than one might have expected – reflects the use at that time of the pantomime and gesture, both realistic and experimental, that had been developed in Paris since the 1780s within the context of the modern ballet, championed by Noverre and later Gardel. While dance played an important part in the divertissements of the tragédie lyrique, it was rare for the choreography in a work to be represented only by a pantomime scene. Concerning the first version of Adrien, it is difficult to ascertain whether or not there were ballets at the end of the various scenes in celebration of Adrien’s triumph, but it is highly likely that the choruses at the end of Acts I and III were danced as well as sung. Furthermore, the marches that occur at several points in the work must have provided an opportunity for processions or spectacular theatrical actions. Why then did Fétis (born in 1784 and writing many years after the event) explain the work’s short run as follows: ‘While [Méhul’s]Ariodant was being performed at the Opéra-Comique, the administration of the Paris Opéra finally obtained permission from the Directory to stage Adrien, a fine composition, severe in style, that was praised by the critics but which, devoid of spectacular qualities and dancing, was unable to hold the stage for long’? Perhaps the real explanation for the opera’s only brief success was simply that too much time had elapsed between the work’s composition and its performance: what had been modern in 1791 was no longer so, despite the changes the composer had made, in 1799, just before the dawn of the new century of Romanticism. (Übersetzung Mary Pardoe)

 

mehul coverDen Artikel von Alexandre Dratwicki entnahmen wir der  Beilage der Download-Aufnahme bei www.quobuz.com, die inzwischen nicht mehr verfügbar ist und die  im Juni in 2012 in Budapest unter György Vashegyi mit dem Purcell Choir und dem Orfeo Orchestra eingespielt wurde. Zu den Solisten zählen Philippe Do/Adrien, Gabrielle Philiponet/èmiréne, Marc Barrad/Cosroés, Jennifer Borghi/Sabine und weitere rein Frankophone: Fotos Palazetto Bru Zane/Private Collection. Abbildung oben: Méhul in 1799; portrait by Antoine Gros/ Wikipedia

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Palestrina“ im Schnelldurchlauf

Bei Hans Pfitzner kommt vieles sehr spät. Auch die Klavier-Paraphrasen zu seinen musikdramatischen Werken. Für den Regisseur und Musikschriftsteller Peter P. Pachl scheint darin ein ganz besonderer Reiz zu liegen, denn er hat sich mit Hingabe für eine Produktion dieser Klaviermusik verwendet. Sie ist beim Label Thorofon auf CD erschienen (CTH2620). Der arme Heinrich, Die Rose vom Liebesgarten, Das Christelflein, Palestrina, Das Herz. Nichts fehlt. Die Bearbeitungen stammen nicht von Pfitzner selbst, der – was seinen Palestrina anbelangte – zunächst auch Vorbehalte dagegen hegte. Solche Paraphrasen erfreuten sich zu Liszts Zeiten größter Beliebtheit und verschwanden nach und nach aus den Konzertsälen und Musiksalons. Mit Pfitzner lebte dieses populäre Genre noch einmal auf. Otto Singer (1863–1931), der Sohn des gleichnamigen Komponisten, hatte dafür eine besondere Begabung. Seine Bearbeitungen von Palestrina und Christelflein gehören für mich zu den Höhepunkten der CD, weil sie den Tonfall und die Ausmaße dieser musikdramatischen Werke erfassen, als seien sie von Anfang an für dieses eine Instrument geschaffen worden. Die Paraphrasen unterscheiden sich im Umfang beträchtlich. Mit einer halben Stunde kommt Die Rose vom Liebesgarten am besten weg, weil hier zwei Bearbeitungen von Wilhelm Lehnert und Rudolf Siegel zusammengeführt wurden. Der Palestrina-Schnelldurchlauf dauert siebzehn Minuten, was auch seine Vorteile hat. Wissenschaftlich hat sich Hans Rectanus, der an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Musik lehrte, mit Pfitzner beschäftigt. Er steuerte für das vorbildlich gestaltete Booklet seine Forschungsergebnisse bei.  Solist der Paraphrasen ist Ulrich Urban, ein weitgereister Pianist, der mit deutschen Rundfunkorchestern mehr als zwanzig Klavierkonzerte eingespielt hat und an der Musikhochschule Leipzig, wo er auch studiert hat, Klavier lehrt. Pfitzner hat auch ihn intensiv beschäftigt. Im Booklet kommt er darüber mit Pachl ins Gespräch.  R.W.

 

Der junge Hans Pfitzner/Manskopf (s. unten)

Der junge Hans Pfitzner/Manskopf (s. unten)

Peter P. Pachl: Vor der Verbreitung des Grammophons und des Rundfunks dienten den Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts Klavierfassungen zur Popularisierung. Dazu gehörten insbesondere auch die Klavierauszüge, die sowohl mit als auch ohne Text zum Zwecke der heimischen Realisierung (ohne Gesang) erschienen. Bereits Richard Wagner sorgte mit Einzelausgaben, die – wie etwa beim Brautchor aus Lohengrin für Sologesang – auch als Bearbeitungen angesehen werden können, für eine Popularisierung, und Hans Pfitzner folgte ihm ein halbes Jahrhundert später mit der frühen Vorveröffentlichung vom „Lied des Engels“ aus dem Christelflein. Selbst als Schallplatte und Rundfunk bereits Opernaufführungen in die Wohnstube tragen konnten, hielt die Produktion von Klavierfassungen zur Popularisierung neuer Kompositionen noch an. So schuf Ignaz Strasfogel kunstvolle Klaviertranskriptionen besonders wirkungsvoller Szenen aus Franz Schrekers Opern, aber auch dessen kompletter Kammersymphonie. Franz Reuss und später Karl Kittel schufen aneinander gereihte Ohrwürmer aus den Opern Siegfried Wagners für Klavier solo, sowohl in pianistisch schwierigen als auch vereinfachten, leichter spielbaren Versionen. In dieses Feld gehören wohl auch die Paraphrasen aus Hans Pfitzners Bühnenwerken? Ulrich Urban: Zweifellos. Pfitzner hat seine fünf Opern stets als besonders wichtige Stationen seines Gesamtwerkes angesehen, und es erscheint sinnvoll, sie auf eine solche Weise vorzustellen – sie sind auf dieser CD vollzählig vertreten. Damit bedeutet die Bezeichnung „Paraphrase“ auch so viel wie eine Kurzfassung. Aus den Daten der Drucklegung kann man sehen, dass die Bearbeitungen beinahe unmittelbar bzw. nur wenige Jahre nach der Vollendung der jeweiligen Oper entstanden sind. Die Verfasser dürften mit der Originalgestalt der Werke bestens vertraut gewesen sein, denn es wurden in echt Pfitznerschem Tonfall die durchaus wichtigsten und prägenden musikalischen Themen sinnvoll zusammengestellt.

 

Peter P. Pachl/PPP

Peter P. Pachl/PPP

Peter P. Pachl: Aber sie waren doch auch Werbeträger für Pfitzners musikdramatisches Oeuvre? Ulrich Urban: Soweit wir wissen, ging das stärkere Interesse an der Verbreitung dieser Notenhefte von den Verlagen aus. Diese waren natürlich bestrebt, die Opern einem größeren Kreis von Musikfreunden bekannt zu machen. Aber auch der stets kritische Pfitzner zeigte sich grundsätzlich offen für die Bearbeitungen. Solcherart Werbung kann man bei wohl allen Opernkomponisten zu dieser Zeit beobachten. Otto Singer, der „berühmte Klavierauszügler“ (wie ihn die Neue Zeitschrift für Musik in den Zwanzigerjahren genannt hat), der sich beispielsweise um Richard Strauss sehr verdient gemacht, ist auf dieser Einspielung mit zwei Beträgen vertreten.

Peter P. Pachl: Es fällt auf, dass solche Klavierfassungen ab Mitte der zwanziger Jahre immer seltener wurden. Das hängt offensichtlich mit der mehr und mehr verbesserten Aufnahmetechnik und dem Beginn des Rundfunks zusammen, welcher sich ja von Beginn an in weit ausgeprägterem Maße als Kulturinstitut verstand denn heutzutage. Pfitzner trat im neuen Medium als Interpret seiner eigenen Werke bereits frühzeitig in Erscheinung, denken wir etwa an den Trauermarsch aus der Rose vom Liebesgarten, aufgenommen im Jahre 1927. Was aber macht diese Paraphrasen, die damals – um mit Pfitzners Palestrina zu sprechen – für „überwunden“ galten, für heute wieder interessant? Ulrich Urban: Sie wurden Anfang des vorigen Jahrhunderts zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gedruckt. Und wir haben sie jetzt, obwohl sie nur mit großen Anstrengungen aufzufinden waren, wohl zum ersten Mal zusammengefasst vorliegen: wir können diese komprimierte Form aller Opern vorstellen und damit neugierig machen auf einen Theaterbesuch. Die Bühnenwerke, zu deren Realisierung zumeist ein beträchtlicher Aufwand erforderlich ist, werden doch mit einiger Regelmäßigkeit, wenn auch nicht allzu oft, in den Musikzentren gespielt.

Peter P. Pachl: Bleiben wir bei deren musikalischen Substanz. Bei der Begegnung mit den Kurzversionen – oder Ausschnitten – für Klavier erscheint es mir durchaus möglich, den jeweiligen musikdramatischen Verlauf nachzuempfinden: So ist beim Armen Heinrich deutlich das Leiden, der Weg nach Italien und die Errettung herauszuhören und in der Rose vom Liebengarten der in dieses Bühnenwerk eingewebte Naturton. Das Christelflein besticht in der hier für Klavier übertragenen Version, die insofern der Urfassung des Märchen-Melodrams folgt, als die für Pfitzners Bearbeitung zur Spieloper neu komponierten Teile von Otto Singer unberücksichtigt geblieben sind. In diesem direkt auf Weihnachten bezogenen Bühnenwerk treffen die Bereiche von Elementargeist (Elflein), populärer Sagenfigur (Knecht Ruprecht) und belebter Natur (Tannengreis) auf die erwartungsfrohe Stimmung der Menschen und schließlich auf das Christkindchen selbst. Palestrina, Hans Pfitzners meistgespielte Oper, arbeitet die schicksalhafte Spannung um Tradition und Fortschritt musikalisch sehr plastisch nach, während die „Liebesmelodie“ aus Das Herz musikalisch überlagert ist von der das Drama durchziehenden Frage der Gewalt über Leben und Tod. Soweit können die Paraphrasen durchaus nachvollziehbar die Grundstimmungen von Pfitzners Bühnenwerken vermitteln, dennoch ziehe ich eine vollständige szenische Realisierung der Partituren vor.  Ulrich Urban: Hier denke ich noch immer an den Besuch einer Aufführung des Herz in der Regie von Peter P. Pachl. Es ist wohl schon zwei Jahrzehnte her, aber es gibt zum Glück eine CD-Einspielung dieser Produktion unter dem Dirigat von Rolf Reuter. Wie selten jedoch besteht die Möglichkeit, diese Oper komplett im Theater zu erleben?

 

Der Pianist Ulrich Urban. Foto: Booklet

Der Pianist Ulrich Urban. Foto: Booklet

Peter P. Pachl: Und ich erinnere mich gerne an die erste Begegnung mit zwei Pfitznerschen Klavier-Paraphrasen, als Ulrich Urban diese in einem Konzert in Schondorf am Ammersee erstmals öffentlich zum Vortrag gebracht hat. Ulrich Urban: Das war damals in einem Gespräch mit Hans Rectanus angeregt worden. Wir bedauerten, außer den beiden Zyklen op. 47 und 51 keine Klaviermusik von Hans Pfitzner zu haben. Aber Rectanus wusste guten Rat: Er besaß einige Drucke der völlig vergessenen Paraphrasen, die er auf sehr abenteuerliche Weise besorgt hatte, und so starteten wir bei einer Pfitzner-Tagung in Schondorf den Versuch, diese Stücke auch aufzuführen. Dabei stellte sich heraus, dass sie von ihrer reinen Substanz her für Kenner der Bühnenwerke Hans Pfitzners einen besonderen Erinnerungswert besitzen, aber auch musikalisch so zu überzeugen vermögen, als handele es sich dabei um originäre und durchaus bedeutende Klaviermusik.

Peter P. Pachl: Haben Sie die Inhomogenität des musikalischen Materials anfangs nicht als befremdlich empfunden? Ulrich Urban: Ein solcher Eindruck hat sich bald nach der ersten Sichtung des Materials verflüchtigt. Dagegen wurden beim Zusammenfassen der zahlreichen Einzelstücke doch sehr abgerundete Gebilde sicht- bzw. hörbar. Dies war bereits durch die enge Anlehnung an die Originale bedingt. Obendrein habe ich mir gelegentlich erlaubt, weitere charakteristische Stimmen aus der Partitur hinzuzufügen, auf welche die Bearbeiter aus Gründen der Spielbarkeit verzichtet hatten. Zutaten der Bearbeiter beschränken sich im Allgemeinen auf einzelne Übergänge, die jedoch zumeist aus originalen kompositorischen Elementen Pfitzners hergeleitet sind. Die so gebildete Reihung einzelner Stücke basiert ja auf dem Operngeschehen, gilt durchaus als Prinzip der musikalischen Form und ist hier stärker vertreten, als die gewohnten klassisch-musterhaften Abläufe. Ein innerer Zusammenhalt stellt sich durch Pfitzners Genialität ein: denn die als höchst unterschiedlich wahrgenommenen Themen weisen in der Tiefe ihrer Struktur Gemeinsamkeiten auf. Wenn diese sich auch beim erstmaligem Hören kaum mitteilen, führen sie aber zu innerer Geschlossenheit.

Peter P. Pachl: Wie erfolgt denn die Vermittlung der Gesangslinien, und auf welche Weise kann der Pianist der Wiedergabe des spätromantischen Orchesterklanges nahekommen? Ulrich Urban: Die Gesangsstimmen sind in diesen Kompositionen in den Klaviersatz eingearbeitet, sollten jedoch als führende Partien hervorgehoben und dominant gespielt werden. Es gibt aber auch Situationen, in welchen der orchestrale Ausdruck an Bedeutung gewinnt und sinfonische Ausmaße erreicht. Viele der Orchesterfarben der Partitur kann das Klavier schon recht gut wiedergeben, etwa einen Satz hoher Flöten, das glanzvolle Orchester-Tutti, dunkle Blechbläserakkorde, auch einzelne Soli von Trompete, Horn, Violine und Harfe. Letztere hat besonders typische Anteile an Pfitzners Klanggeschehen und ist außerdem von der Tonerzeugung her dem Klavier am ehesten verwandt. Als schönes Beispiel hierzu kann der von einer Harfe bestimmte Mittelteil der „Liebesmelodie“ aus dem Herz dienen.

Peter P. Pachl: Abgesehen von der Ähnlichkeit zur Harfe ist das Klavier in seiner speziellen Eigenart durchaus weniger Melodieinstrument als alle anderen, bei der Realisierung der Opernpartituren hörbaren Orchesterstimmen und ihrer Verläufe. Ulrich Urban: Bemühungen um die gesangliche Linearität auf dem Klavier sind geradezu legendär und bereits seit Bach aktuell. Aber auf modernen Instrumenten haben sich die Möglichkeiten bedeutend verbessert. Zudem bietet das Klavier hinsichtlich schneller Figuration eindeutige Vorzüge.

Peter P. Pachl: Was war nun als Interpret Ihre vorrangige Absicht: das Verständnis für Pfitzner generell oder durch den Hinweis auf den Melodiereichtum in seinen Opernpartituren den Bekanntheitsgrad seiner Bühnenwerke zu erhöhen?´Ulrich Urban: Beides! Und die Zuversicht, dass diese Paraphrasen, auf dem Klavier gespielt, sehr wohl mit ihrem Eigenwert bestehen können.

Hans Rectanus: Verklungene Musik – die versunkene Welt der Potpourris, Paraphrasen und anderen „Melodiensträußchen“ aus Pfitzners Opern Bearbeitungen haben in der Musik eine lange Tradition, die bis zu den Anfängen unserer Musikgeschichte zurückreicht: Die Komponisten aller Epochen haben eigene und fremde Werke bearbeitet, sie für neue Funktionen arrangiert und ihnen damit neue Verwendungsmöglichkeiten und neue Märkte mit neuen Käufer- und Hörerschichten erschlossen. Bach hat eigene und fremde Werke bearbeitet und Themen von anderen (Vivaldi u.a.) verwendet, Mozarts Zauberflöte gibt es in kaum zählbaren Besetzungen, über Beethoven und Brahms reicht die Reihe bis in unser Jahrhundert. Auch Pfitzner hatte keine Scheu, entweder selbst eigene oder fremde Werke (Marschner, Loewe, E.T.A. Hoffmann) zu bearbeiten oder es zuzulassen, dass andere dies für ihn taten: Die Liste der ‚Fremdbearbeiter‘ ist erstaunlich lang. Er selbst hat über 20 seiner Klavierlieder instrumentiert, das Duo op. 43 (1937) ist gleich in zwei Versionen erschienen (mit Orchester- oder Klavierbegleitung), und Gretel, Hauptperson seines gleichnamigen ‚Liederhits‘ (op. 11/5; 1901) wollte er „Horden von Männern“ überlassen (als Männerchor erklingen lassen).

1-Pfitzner nachdenklichWas jedoch die hier erstmals eingespielten Klavierbearbeitungen – mit Ausnahme der zuletzt erklingenden „Liebesmelodie“ aus Pfitzners letzter Oper Das Herz – von einer üblichen Bearbeitung unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Originalkomposition fundamental in ihrer kompositorischen Struktur verändert und vor allem komprimiert wird, so dass diese ‚Musik über Musik‘ je nach der musikalisch-kompositorischen Qualifikation des Bearbeiters entweder zu einer ‚Quasi-Neukomposition‘ mit eigenständigem Charakter oder schlimmstenfalls zu einem zusammengestückelten Machwerk werden kann. In ersterem Fall kann es sein, dass der kreative ‚Zweitkomponist‘ von dem Primärkomponisten geradezu als Konkurrent angesehen wird, wie es Pfitzner im Zusammenhang mit der Kontroverse über die Christelflein-Paraphrase gegenüber Otto Singer, einem der fähigsten und anerkanntesten Bearbeiter, wohl empfand. Dieser wolle seine Musik verbessern und sich von der Buchstabentreue gegenüber dem (Original)-Werk emanzipieren, weil er seine Paraphrase als selbstständiges Kunstwerk ansehen möchte.

Damit ist die Bandbreite dieser Bearbeitungen und gleichzeitig ihre Problematik angesprochen: Auf der einen Seite stehen einfache ‚potpourrihafte‘ Aneinanderreihungen der Themen mit kurzen modulierenden Überleitungen, die oft nur aus wenigen Akkorden bestehen oder ganz fehlen, auf der anderen Seite eigenständige Bearbeitungen mit neuer Formgebung, orientiert an den klanglichen Möglichkeiten des Klaviers, mit oft tiefgreifenden Eingriffen in die Struktur des Originalwerks. Der Adressatenkreis ist das Klavier spielende bürgerliche Haus, wo auf diese Weise erste Kontakte zu dem paraphrasierten Werk geknüpft werden konnten, sei es als klangliche ‚Voraus-Information‘ im Hinblick auf den bevorstehenden Opern- oder Konzertbesuch oder als ‚Nach-Hören‘ der gerade erlebten Aufführung. Primär letzteres hat Otto Singer im Sinn, wenn er Pfitzner wissen lässt: „Der Zweck derartiger Paraphrasen ist, Dilettanten in möglichst angenehmer, mundgerechter Form Erinnerungen an die Melodien des paraphrasierten Werkes zugeben. Ein ernster Musiker wird ja immer vorziehen, sich den Klavierauszug anzuschaffen.“ Meist sorgten die Verleger dafür, dass diese Bearbeitungen möglichst zeitgleich mit der Uraufführung des jeweiligen Werks oder besser noch vor dieser auf dem Notenmarkt greifbar waren.

Der Arme Heinrich, Angereihte Stücke für Klavier, Verlag Max Brockhaus, Leipzig 1911 Pfitzners Opernerstling, immer ein rechtes Sorgenkind, nimmt innerhalb seines Opernschaffens eine Sonderstellung ein. Um zwei Jahre nach Vollendung des Werkes (1893) überhaupt Aussicht auf eine Aufführung zu haben, nahm der junge Komponist als ‚überzähliger‘, unbezahlter Hilfskapellmeister eine Stelle am Mainzer Stadttheater an, und als schließlich die Premiere 1895 anberaumt war, musste diese dann wegen der Absage des Sängers der Titelpartie verschoben werden. Es war auch weiterhin schwierig, das Stück an den Bühnen anzubringen, meist gab es nur wenige Folgeaufführungen, so dass die besondere Fürsorge verständlich wird, die der Komponist auch noch lange nach der Uraufführung gerade diesem Werk angedeihen ließ. Kein anderes Werk wurde so oft und so grundlegend umgearbeitet wie dieses: Das Textbuch erlebte fünf, der Klavierauszug gar acht Auflagen. Die vierte erschien 1911 und brachte weitgehende, umfassende und tiefgreifende Änderungen: Aus der bisher zweiaktigen Fassung wurde eine dreiaktige, Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen veränderten sich und über 50 Metronomzahlen präzisierten die Tempoangaben; von den insgesamt 159 Seiten des Klavierauszugs weisen über 130 Veränderungen auf. Hermann Büchel fertigte dann 1911 einen „Klavierauszug zu zwei Händen mit überlegtem Text“ an, der sich eng an den Klavierauszug Pfitzners anlehnte. Immer noch im gleichen Jahr erschienen auch die „Angereihten Stücke für Klavier“, allerdings ohne Verfasserangabe. Die Autorschaft Büchels dürfte allerdings eindeutig geklärt sein: Pfitzner bestätigt in einem Brief, dass Büchel sein Honorar für die „angereihten Stücke“ erhalten habe und lobte dessen Arbeit („gut gelungen“), an anderer Stelle bezeichnete er Büchel als „den rechten Mann“ für eine solche Bearbeitung. Um 1922 erschien, wiederum ohne Verfasserangabe, eine von 303 auf 186 Takte gekürzte Fassung der nun „Potpourri“ genannten Büchel-Bearbeitung in der Reihe Sang und Klang im 19. und 20. Jahrhundert, einer populären Sammlung von bekannten Einzelnummern aus Oper, Operette, Lied, Salonmusik usw., in der sich noch weitere Pfitzner-Kompositionen finden: neben fünf Liedern Ausschnitte aus dem Christelflein und der Rose vom Liebesgarten.

1-Pfitzner ohne BrilleDie Rose vom Liebesgarten, Potpourri I für Klavier zu zwei Händen von Wilhelm Lenert; Potpourri II für Klavier zu zwei Händen von Rudolf Siegel, beide Verlag Max Brockhaus, Leipzig 1906 (Originalausgabe Musikverlag Julius Feuchtinger, Stuttgart 1903) Dass von Pfitzners zweiter Oper zwei Jahre nach der Uraufführung Ende 1901 in Elberfeld und zwei Jahre vor der ‚eigentlichen‘ Premiere 1905 an der Wiener Hofoper unter Gustav Mahler gleich zwei „Potpourris“ erschienen sind, zeigt an, wie sehr der Komponist diesem Werk zum Durchbruch verhelfen wollte. Nach dem Übergang aller bei Feuchtinger erschienenen Pfitznerwerke im Jahre 1906 an Brockhaus wurde auf dem neuen Titelblatt des neuen Verlegers die Bezeichnung „Potpourri“ durch „Angereihte Stücke“ ersetzt. Die Bearbeiter waren Wilhelm Lenert, der Pfitzner aus seiner Zeit als Lehrer am Sternschen Konservatorium bekannt war und der dort ab 1898 studierte, und Rudolf Siegel, den Pfitzner ebenfalls in seiner Berliner Zeit kennengelernt hatte. Siegel, ein Schüler von Humperdinck (der die Verbindung zu Pfitzner herstellte), führte 1911 den Armen Heinrich im Münchner Prinzregententheater auf. Der Schwerpunkt des ersten Teils (Potpourri I) ist ganz der Melodienseligkeit der Chor- und Tanzszenen aus dem Vorspiel und ersten Akt und der heiter gelösten Atmosphäre, dem „munteren Getümmel“  – bestimmt von der Grundtonart D-Dur – verpflichtet. Teil II ist kontrastreicher angelegt, da hier auch die finstere Welt des Nachtwunderers und am Schluss der Trauermarsch (Beginn des Nachspiels der Oper) erklingt.

Palestrina, Paraphrase für Klavier von Otto Singer – Das Christelflein, Paraphrase für Klavier von Otto Singer, beide im Verlag Adolph Fürstner, Berlin 1918 Mit den beiden Paraphrasen zu Palestrina und Christelflein begann die Zusammenarbeit mit der damaligen ‚Nummer Eins‘ der Musikbearbeiter: Otto Singer (1863-1931). Die Verbindung stellte der Verleger Fürstner her, der neben Brockhaus nicht nur Pfitzners Hauptverleger, sondern auch der von R. Strauss war, zu dessen Opern und symphonischen Dichtungen Singer neben den Klavierauszügen auch weitere Klavierbearbeitungen erstellt hat. Fürstner gab zunächst die Palestrina-Paraphrase in Auftrag, ohne Rücksprache mit Pfitzner zu nehmen, der deshalb etwas ungehalten reagierte: „Durch die Zeitung erfuhr ich, dass in Ihrem Verlag ein ‚Potpourri‘ aus ‚Palestrina‘ erschienen ist […] der Gedanke, von diesem Werk ein ‚Melodiensträußchen‘ zu versenden, ist mir nicht gerade eingehend“. Nach Erhalt von einigen Freiexemplaren fand er jedoch die Bearbeitung „nicht ungeschickt gemacht“ und war damit einverstanden, dass Singer auch eine solche zum Christelflein zusammenstellen würde. Als er aber diese nach drei Monaten erhält, reagiert er empört, ist „geradezu entsetzt“ und hat eine Fülle von Änderungswünschen, die sich auf die Auswahl der Themen, ihre Veränderung durch Singer und abweichende Tonartenwahl beziehen: „Alles in allem scheint mir das ganze Vorgehen des Bearbeiters auf der Ansicht zu beruhen, dass meine Musik verbessert werden müsste“. Der selbstbewusste Bearbeiter aber ist nicht bereit, allen Änderungswünschen Pfitzners nachzukommen und belehrt den Komponisten in einem ausführlichen Brief über das Wesen einer Paraphrase: Sie sei eine freie Bearbeitung, bei der es im Ermessen des Bearbeiters läge, Zutaten, Ausschmückungen und klangliche Vervollständigungen des Klaviersatzes anzubringen. In seiner Antwort gibt Pfitzner zwar zu erkennen, dass er keine Rechte mehr an dem Werke habe, verlangt aber wenigstens die Wiederherstellung seiner Originalthemen in ihrer melodischen, harmonischen und rhythmischen Faktur; dies und anderes („keine eingeschobenen 5/4-Takte“) scheint Singer dann doch noch geändert zu haben, jedoch bleibt die Weigerung bestehen, eine vollständig umgearbeitete Paraphrase nach Pfitzners Vorschlägen unter seinem Namen herauszugeben, so dass Pfitzner seinen Widerstand gegen den Druck aufgeben muss: „Der Verlag und Druck der Singerschen Paraphrase geschieht auf Ihre und Herrn Singers Verantwortung. Ideell protestiere ich natürlich nach wie vor durchaus“.

Aus heutiger Sicht sind beide Singer-Paraphrasen überzeugend gestaltet, so u.a. die Übergänge zwischen den einzelnen Melodien, die meist aus dem thematischen Material des gerade gehörten bestehen und nicht ‚nur‘ aus einigen (oder gar keinen) Modulationsakkorden, wie dies in der Büchel-Bearbeitung des Armen Heinrich des Öfteren der Fall ist. Singer geht allerdings sehr eigenständig mit dem gegebenen thematischen Material um, was z. B. die Fortführungen mancher Originalthemen betrifft; so greift Singer am Schluss der Palestrina-Paraphrase auf das die Oper eröffnende Quint-Quart-Motiv zurück und schafft so einen thematischen Rahmen, der im Original nicht vorkommt. Zudem sind „Melodiensträußchen“ aus einer heterogenen Nummernoper wie dem Christelflein mit oft weit auseinander liegenden Tonarten und sehr kontrastierenden musikalischen Eigenschaften sicher besonders schwer zu einer überzeugenden Einheit zu binden. Singers Ausführungen und Entgegnungen auf Pfitzners Kritik belegen, dass er sich durchaus der Problematik dieser Art von Bearbeitung bewusst war.

1-Pfitzner als junger MannDas Herz, Liebesmelodie für Klavier, Vorspiel zu Akt II und 29 Takte Akt III (Klavierauszug Ziffer 55 bis 58), Klavierauszug von Felix Wolfes, Verlag Adolph Fürstner, Berlin 1931 Das als „Liebesmelodie“ bekannte Klavierstück besteht aus dem 72-taktigen Vorspiel zum zweiten Akt von Pfitzners letzter Oper Das Herz (1931) und einer nach Dur gewendeten 29-taktigen „Coda“ aus dem Finale der Oper (III. Akt, Klavierauszug Ziffer 55 bis 58). Die insgesamt 111 Takte in der Klavierauszugfassung von Felix Wolfes entsprechen der orchestralen „Liebesmelodie“ aus dem 1932 erschienenen zweiteiligen Orchesterstück Hoffest und Liebesmelodie, in dem letztere Bezeichnung erstmals verwendet wird. Nach dem Zeugnis des Münchner Freundeskreises um 1930, allen voran Helmut Grohe und Paul Winter, die beide am Klavier die Oper erstmals vierhändig aus dem Autograph in Anwesenheit des Komponisten gespielt haben, hat dieser gerade diese Musik insbesondere auf seine 1926 verstorbene Frau Mimi bezogen und ihr gewidmet, ohne dies durch eine ‚offizielle‘ Widmung zu dokumentieren. Die von Pfitzner autorisierte Klavierfassung ist bereits von dem Münchner Pianisten Julius Müller-Landau in den vierziger Jahren gespielt worden und am 9.10.1949 im Salzburger Mozarteum in Anwesenheit des Komponisten erklungen, interpretiert von Gilbert Schuchter, der das Stück als „vom Komponisten autorisierte Klavierfassung“ Ende der sechziger Jahre im Rahmen seiner Pfitzner-Schallplatte eingespielt hat. Ende der dreißiger Jahre hat Pfitzner diese Musik mit dem Philharmonischen Orchester Berlin aufgenommen und 1937 für Hans von Benda und dessen Berliner Kammerorchester „mit nur einem Horn und einer Klarinette“ bearbeitet.

Die virtuosen Opernparaphrasen im Stile von Franz Liszt verschwanden als typische musikalische Erscheinungsformen des 19. Jahrhunderts um die Jahrhundertwende aus dem Konzertsaal; zugleich endete auch, spätestens mit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die Zeit der Opern-Potpourris für Klavier, die fast immer auf Initiative der Verleger im Rahmen der vertraglich vereinbarten ‚Verwertungsrechte‘ in Auftrag gegeben wurden, um ein neues Werk zu propagieren, dies immer unter Berücksichtigung des spieltechnischen Leistungsvermögens der ‚Kenner und Liebhaber‘ und auch unter marktgemäßen Gesichtspunkten, wie die erstaunlich niedrigen Preise gegenüber den zugehörigen Klavierauszügen zeigen. Im Zeitalter der original besetzten Kompositionen, der Urtextausgaben und einer von bestimmten Kreisen geforderten ‚historischen Aufführungspraxis‘ sind Paraphrase und Potpourri suspekt geworden und leben nur noch in der U- und POP-Musik als Medley unangefochten weiter. Die um die 100 Jahre alte ‚Musik aus zweiter Hand‘ der Lenert, Siegel, Büchel und Singer sind zudem längst aus den Verlagsprogrammen und damit vom Notenmarkt verschwunden. Das ‚Nach- und Voraus-Hören‘ der Werke übernahmen ab Mitte der zwanziger Jahre zunehmend die neuen Medien der technisch vermittelten Musik wie Rundfunk und Schallplatte. Nach den um 1930 erscheinenden ‚Heim- und Kurzopern‘, den ‚Opernquerschnitten‘ und dem Siegeszug der Langspielplatte, des Tonbandes und der Musik-Kassette sowie letztendlich der CD und DVD mit den Gesamtaufnahmen von Opern und anderen Musikwerken, war das Kennenlernen und das unbegrenzte Wiederholen von Musik für jeden Musikliebhaber möglich geworden.

1-Pfitzner manskopfVerklungene Musik also? Versungen und vertan? Vielleicht nicht ganz, denn möglicherweise richtet eines Tages die Musikwissenschaft ihre Aufmerksamkeit auf diese bisher von ihr kaum zur Kenntnis genommene Gattung, trotz der hohn- und spottdurchtränkten Verdikte von Schopenhauer, die Pfitzner nachweislich kannte („eine aus Fetzen, die man honetten Leuten vom Rocke abgeschnitten, zusammengeflickte Harlekinsjacke“), Schönberg („erstarrtes Kaffeegeschwätz, ein Nichts, aus vielen Etwas bestehend“) sowie vielen anderen. Vielleicht wird einmal den zahllosen Potpourris und Paraphrasen, angereihten Stücken und Perlen, den Fantasien und Reminiszenzen eine ebenso überzeugende Darstellung zuteil wie der in gleicher Weise von vielen verachteten ‚Salonmusik‘. Die Schlussbemerkung in einem Standardwerk zur Bearbeitung schließt dies zumindest nicht aus: „Und vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, da die Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts [und mit ihnen auch die der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, HR]) als Originale [Hervorhebung HR] wieder entdeckt werden.“ (Silke Leopold [Hg.], Musikalische Metamorphosen – Formen und Geschichte der Bearbeitung, Kassel u. a. 1992)

Die Texte wurden uns freundlicherweise von Peter P. Pachl und Hans Rectanus zur Verfügung gestellt. Beide sind Präsidiumsmitglieder der Hans Pfitzner Gesellschaft. Die Fotos des Komponisten stammen aus der Porträtsammlung Manskopf der UB der Goethe-Universitat Frankfurt am Main.

 

Von Legrenzi bis Graun

Eine hochinteressante CD hat die schwedische Mezzosopranistin Ann Hallenberg bei harmonia mundi eingespielt. Sie nennt sich Agrippina, was eine Untertreibung ist, denn es geht gleich um drei Agrippinen, zwar miteinander verwandt durch den gemeinsamen Vater/Großvater, den Konsul Marcus Vipsanius Agrippa, aber mit sehr unterschiedlichen, wenn auch durchweg grausamen Schicksalen. Die Sängerin selbst hat sich damit gründlich beschäftigt, so wie sie es auch bei der Suche nach Barock-Opern tat, die eine der Drei zur Heldin haben, von denen nur die Händels allgemein bekannt sein dürfte. Agrippina I ist die ältere Halbschwester von Agrippina II und die Tante von Agrippina III, der Händelschen, die wiederum die Tochter von Agrippina II und die Nichte von Agrippina I ist. Sie ist gleichzeitig die Schwester der berüchtigten Wüstlings Caligula und die Mutter von Nero, dem sie zum Thron verhalf und der auf vielerlei Weise versuchte, sie umzubringen, was ihm schließlich erst mit Hilfe seiner

Soldaten gelang.

Das traurige Schicksal von Agrippina I bestand darin, dass sie sich von ihrem geliebten Mann, mit dem sie schon in der Wiege verheiratet worden war, scheiden lassen musste und trotz Wiederverheiratung bald danach starb. Agrippina II war die glückliche Ehegattin von Germanicus, Mutter seiner sechs Kinder und seine Witwe, als die sie auf eine einsame Insel verbannt wurde, wo sie Hungers starb. Gibt das Schicksal von Agrippina I nur wenig her für einen Opernstoff ( eine einzige erhalten gebliebene Oper), ist das bei Agrippina II schon etwas anders (drei Opern) und Agrippina III gar inspirierte eine Vielzahl von Librettisten und Komponisten, von denen sechs auf der CD vertreten sind. Die Sängerin und ihre Mitarbeiter haben offensichtlich keine Mühe gescheut, Agrippina-Opern aufzuspüren, wie viele davon verschollen sind, konnten sie natürlich auch nicht klären, wohl aber warum diese Figuren für das Barockpublikum so interessant waren, wovon im Booklet ausführlich und kompetent die Rede ist. Interessant sind auch die Ausführungen von Holger Schmitt-Hallenberg über die Musik, die auf der CD zu hören ist. Track 13 und 14 sind Agrippina I gewidmet, die Musik stammt von Giovanni Battista Sammartini und erscheint zunächst weniger tragisch als der Text, doch gibt es in 14 einen zwar kurzen, aber sehr schönen Adagio-Teil, in dem der wohllautende Mezzo geradezu baden kann, wird die Bruststimme wirkungsvoll als Ausdrucksmittel eingesetzt. Agrippina II fand auch die Aufmerksamkeit von Nicola Antonio Porpora, seit kurzem erst quasi wiederentdeckt. Eine feine Naturstimmung ist in der ersten Arie eingefangen, in schönem Ebenmaß und mit seelenvollem Klang nimmt sich die Sängerin in schwerelos erscheinendem Singen des Stücks an. Für „Deh, lasciami in pace“ hat sie einen schwermütig-holden Glockenklang zu düsterer Orchesterbegleitung. Ein interessantes Zwiegespräch mit dem Orchester schrieb Telemann in seiner Oper Germanicus für die unglückliche Agrippina II. Germanico sul Reno nennt sich das Werk von Giovanni Legrenzi, aus dem eine weitere Arie stammt. Opernreif und deswegen vielfach als Opernstoff benutzt ist natürlich das Schicksal von Agrippina III, sei es wegen der Intrigenhandlung um die Einsetzung Neros als Kaiser, sei es wegen der Art und Weise, in der der Sohn dies der Mutter dankte. Außer natürlich Händel sind noch die Komponisten Perti, Graun, Orlandini, Mattheson und Magni vertreten. In seiner Oper Britannico nach Racine komponierte Graun mit „Se la mia vita, oh figlio“ eine sanfte Klage, in der die Sängerin wunderschöne Bogen singt, und mit „Mi paventi il figlio“ raffinierte Koloraturen, wie hingetupft klingende Höhen, man vermeint auch einen leicht falschen Zungenschlag zu vernehmen, als wenn der Charakter der Figur so durchschimmern sollte, und ein ganz neuer Ton kommt mit dem beherzter Wut in die zweite Arie. Mit Giacomo Antonio Perti beginnt und endet die CD, wobei man mit den ersten Tönen bereits die sehr feminin klingende Stimme der feinen Konturen, die Fähigkeit zu Fermaten ohne Kontrollverlust über die Ebenmäßigkeit des Tons, die Wärme, die der Mezzo ausstrahlt, bewundern kann. Gift und Galle sprühen kann sie aber auch, so in Orlandinis „Tutta furie e tutta sdegno“. Drei Arien stammen aus Händels Agrippina-Oper, so „Ogni vento“, wo auch eine gesunde tiefe Lage zu hören ist sowie eine großzügige Phrasierung, „Pensieri, voi mi tormentate“ mit raffiniert furiosem zweitem Teil und „L’alma ma fra le tempeste“ mit leicht hingetupften Koloraturen. Durchweg ein kongenialer Begleiter ist der Sängerin Il Pomo d’Oro unter Riccardo Minasi, ausgewiesener Experte, der aus dem erst seit 2012 bestehenden Ensemble bereits ein weltweit akklamiertes geschaffen hat (deutsche harmonia mundi 88875055982). Ingrid Wanja