Viertelstündiger Jubel nach einer großen Arie, „Bis!“- und „Primadonna assoluta!“-Rufe. Man wähnt sich Jahrzehnte in der Vergangenheit, als Primadonnen noch Opernvorstellungen mit Bravourarien zum Stillstand gebracht haben. Dabei steht eine junge Sopranistin auf der Bühne: Die in Großbritannien geborene australische Sopranistin Jessica Pratt. Seit längerem schon auf den wichtigsten internationalen Bühnen etabliert, gilt sie bei vielen Melomanen und Kritikern als Erbin der fast schon verloren geglaubten großen italienischen Belcanto-Tradition. William Ohlsson traf für Opera Lounge die Sängerin vor ihrem Auftritt bei der Bonner Aids-Gala am 9. Mai 2015.
Die Lucia di Lammermoor gilt als Ihre Paradepartie, die Sie schon an vielen großen Opernhäusern wie der Deutschen Oper Berlin, der Mailänder Scala, der Niederländischen Oper Amsterdam oder am Opernhaus Zürich gesungen haben. Sie selbst bezeichnen sie als ihre Lieblingsrolle. Was reizt Sie an der Lucia besonders ? Mir macht die Bewältigung der verschiedenen technischen Schwierigkeiten großen Spaß, und mich fasziniert dieser Charakter. Sie ist ein junges Mädchen, die sich ihrer Familie widersetzt und heimlich heiratet. Am Ende treibt sie die männerdominierte Gesellschaft in den Wahnsinn. Vor Lucia di Lammermoor wurden die meisten weiblichen Charaktere wegen der Liebe verrückt, aber kommen wieder zu sich, wenn sie wieder mit ihren Geliebten vereint sind. Wie zum Beispiel die Elvira in I puritani. Lucia ist eine der ersten Figuren in der Opernliteratur, die völlig wahnsinnig bleibt und nicht wieder zu Verstand kommt.
Nach Ihren Mailänder Vorstellungen als Lucia wurden Sie von der italienischen Fachpresse als die Lucia unserer Tage bezeichnet. Auch mit Ihrer Landmännin Joan Sutherland wurden Sie verglichen… Solche Art von Vergleiche liegen in der menschlichen Natur, schränken aber ein und stecken Leute oder Dinge in bestimmte Schubladen. Ich bin relativ groß, habe rote Haare und komme aus Australien… Zum Glück habe ich keine schwarzen Haare und komme nicht aus Griechenland! Die Realität ist, dass wir sehr verschiedene Stimmen und Persönlichkeiten haben und sich nur ein kleiner Teil unseres Repertoires überschneidet. Lucia ist eine dieser Partien. Es war natürlich eine wirklich große Ehre, die erste Australierin nach Joan Sutherland zu sein, die die Titelpartie in Lucia di Lammermoor an der Mailänder Scala gesungen hat. Und sie ist natürlich eine meiner Lieblingssängerinnen und ein großartiges Beispiel dafür, welche Möglichkeiten die menschliche Stimme hat, welche Sphären sie erreichen kann und sie ist eine Künstlerin, die mich sehr inspiriert.
Partien aus der Feder Gioachino Rossinis scheinen Sie besonders zu interessieren, haben Sie doch seit Beginn Ihrer Karriere von ihm die größte Anzahl an Rollen verkörpert. Ganze neun haben wir gezählt, von der Lisinga in Demetrio e Polibio bis zur Matilde in Guillaume Tell. Es fällt vor allem die Vielfalt an Rollen auf, die Sie in Ihrem Repertoire haben, sowohl Colbran-Partien wie Armida oder Desdemona in Otello, als auch Manfredini-Partien wie die Amenaide in Tancredi. Was sind die jeweiligen Herausforderungen dieser sehr verschieden geschriebenen Rollen und welche liegen Ihnen am besten? Ich würde sagen, dass die Manfredini-Partien von Natur aus meiner Stimme momentan besser liegen. Diese konnte ich alle ohne jegliche Schwierigkeiten sofort singen, quasi gleich nachdem ich mir die Partituren zum ersten Mal angeschaut habe. Bei den Colbran-Rollen musste ich mich stärker auf meine Technik konzentrieren und erst einmal herausfinden, wie ich eine gewisse lyrische Qualität in der Mittellage und Tiefe erreiche. Das war eine nützliche Übung für mich, da die Entwicklung, die meine Stimme Dank der Colbran-Partien gemacht hat auch für manche Passagen in Werken Bellinis oder sogar in Lucia di Lammermoor sind. Um bei Bellini zu bleiben: Partien wie die Elvira in I puritani und die Amina in La sonnambula sind ebenfalls fester Bestandteil Ihres Repertoires. Bei Ihren stimmlichen Möglichkeiten stellt sich unweigerlich die Frage nach Ihrer ersten Norma… Nicht in der nahen Zukunft.
In Covent Garden haben Sie sehr erfolgreich als Königin der Nacht debütiert, seitdem haben Sie diese Rolle allerdings nicht mehr gesungen. Warum? Und sind weitere Mozart-Rollen in Planung? Konstanze in der Entführung müsste Ihnen doch wunderbar liegen! Die Konstanze würde ich liebend gerne singen, nur hat sich die richtige Gelegenheit leider noch nicht ergeben. Was die Königin der Nacht betrifft, hatte ich nach London Angst, nicht mehr genug Zeit für Partien wie Lucia und Elvira zu haben und habe die Rolle bisher abgelehnt. Ich werde sie in der nahen Zukunft wieder singen, will sie aber wirklich nur als kleinen Teil meines Repertoires behalten und nicht allzu oft singen.
Im September wird bei Opus Arte eine Lieder-CD erscheinen. Können Sie uns schon Details verraten? Es handelt sich um eine CD mit Liedern von unter anderem Rossini, Donizetti, Bellini, Massenet, Gounod und Delibes, die ich diesen Monat mit dem Pianisten Vincenzo Scalera im Rahmen unseres Londoner „Rosenblatt Recitals“ in der Wigmore Hall aufnehmen werde.
Zu Ihren Anfängen: Wann war für Sie klar, dass Sie Opernsängerin werden wollten und mit wem haben Sie in Australien studiert? Und wie verlief Ihr Werdegang bis zu Ihrem professionellen Operndebüt als Lucia im Jahr 2007? Mein Vater ist Tenor und Gesangslehrer, meine Mutter bildende Künstlerin. Wir Kinder wurden von Beginn an ständig mit Kunst und Musik konfrontiert. Mein Vater hat uns Opernarien vorgesungen, bevor wir schlafen gingen und erzählte uns Opernhandlungen statt Märchen, und meine Mutter hat unsere Schlafzimmer angemalt. Ich habe erst Bildhauerei studiert und habe sehr gerne gemalt, habe aber zur selben Zeit auch Musik studiert. Das Problem war, dass ich meine Kunstwerke nicht verkaufen, sondern sie für mich selbst behalten wollte und so kann man ja leider keine Karriere als bildende Künstlerin machen… Als ich 18 war, habe ich begonnen, ernsthaft Gesang zu studieren. Ich wollte immer schon Sängerin werden, weil das einfach das war, was wir in meiner Familie gemacht haben, aber mein Vater weigerte sich, mich zu unterrichten, bis ich 18 war. Er wollte, dass sich meine Stimme auf natürliche Art und Weise entwickelt und bestand darauf, dass ich erstmal für mindestens 10 Jahre lernen sollte, ein Blasinstrument zu spielen. Ich habe dann Trompete gelernt, als Teenager in Orchestern und Jazzbands gespielt und als ich alt genug war, um anzufangen, Gesang zu studieren, begann ich damit und gab die Trompete auf. In Australien besuchte ich abgesehen von den Gesangsstunden mit meinem Vater die Musikhochschule. In Australien hat mich Maestro Gelmetti bei einem Wettbewerb in Australien gehört und mich nach Rom eingeladen, wo ich mit ihm gearbeitet und monatelang alle Proben und Vorstellungen verfolgt habe. Anschließend habe ich in der Accademia Santa Cecilia mit Renata Scotto studiert, bevor ich dann mein Operndebüt als Lucia in Como gab.
Was konnten Sie von Lehrern wie Renata Scotto und Lella Cuberli lernen? Mit Renata Scotto habe ich hauptsächlich an Interpretation und der Stimmlinie gearbeitet, nicht an der Technik, weil sie fand, dass man, wenn man ihr Schüler war, schon im Besitz einer ausgereiften Technik sein musste. Sie ist sehr intelligent und war deshalb eine sehr gute Lehrerin für Interpretation. Sie kann ihren Schülern in ihren Gesangsstunden ganz genau sagen, was sie von ihnen will und erwartet. Lella Cuberli hilft mir sehr, meine Technik immer weiter zu verbessern, und sie hat viele Rollen gesungen, die ich im Repertoire habe. Sie ist eine große Hilfe, wenn es darum geht, verschiedene technische Aspekte des Belcanto zu verstehen und sie versteht es wunderbar, Interpretation und Phrasierung zu lehren. Abgesehen davon ist sie eine extrem liebenswürdige Person. Da sie Amerikanerin ist und nach Italien zog , wo sie auch viel gearbeitet hat, kann sie viele Dinge, persönliche sowie Karrierefragen, gut nachvollziehen und die letzten Jahre wären ohne sie für mich viel schwieriger gewesen
Letztes
Jahr ist in Italien ein Buch über Sie und Ihren Hund Fede erschienen. Fede ist leider letztes Jahr gestorben, er war ein kleiner Hund aus dem Tierheim, der schwer misshandelt wurde, nur ein Auge und ein lahmes Bein hatte. Als ich ihn bekommen habe, hatte er fast kein Fell wegen all dem Stress im Tierheim. Zuerst hat er sich nur im Schrank und unter dem Bett versteckt, dann hat er langsam angefangen, mir und später auch anderen Menschen zu vertrauen. Er hatte erst große Angst, wenn er alleine gelassen wurde, also nahm ich ihn überall hin mit, auch ins Theater. Man konnte ihn nur alleine lassen, wenn er in meiner Garderobe und der Lautsprecher an war! Wenn er mich singen und proben hörte, ging es ihm gut, auch wenn er alleine war. Er wurde irgendwann eine kleine Berühmtheit in den italienischen Theatern und die Opernfans wollten nach den Vorstellungen immer auch Fotos von ihm machen und ihn begrüßen. Eines Abends fragte mich Federica Fanizza, ob ich mit dem Autor Mauro Neri darüber sprechen würde, ein Buch über Fede und sein Leben aus dem Tierheim in die Opernhäuser Italiens zu schreiben. Daraus ist dann ein Kinderbuch entstanden, in dem Fedes Geschichte erzählt wird, mit der die Kinder an die Oper herangeführt werden, etwas über Tiere lernen und dazu erzogen werden sollen, Haustiere nicht auszusetzen. Das Buch ist beim
italienischen Verlag Squilibri erschienen und wird in vielen italienischen Schulen beim Musikunterricht verwendet..
Foto oben: Jessica Pratt als Lucia di Lammermoor am Teatro San Carlo in Neapel/Foto Luciano Romano
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