Archiv für den Monat: Dezember 2017

Solide

 

Das Festival Rossini in Wildbad nimmt sich verdienstvollerweise auch der Nebenwerke des Komponisten an, die dank der Initiative von Naxos zumeist den Weg auf Tonträger finden. So wurde im Juli 2015 eine Aufführungsserie von Bianca e Falliero mitgeschnitten und nun auf drei CDs herausgebracht (8.660407-09). Das zweiaktige Melodramma komponierte Rossini nach seiner Donna del lago in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts; 1819 wurde es in Mailand uraufgeführt. Schauplatz der Handlung ist Venedig, wo Bianca nach dem Willen ihres Vaters Contareno, der dem Rat der Drei angehört, mit ihrem Verehrer Capellio vermählt werden soll, jedoch den venezianischen Feldherren Falliero liebt. Dieser Konflikt führt zu den üblichen dramatischen Situationen, endet jedoch glücklich mit der Heirat des jungen Paares.

Bis auf die Wiederverwendung von Elenas Schlussrondo aus der Donna nutzte Rossini kaum Themen aus früheren Werken, auffällig sind der Einsatz von Quartetten, großen Ensembles und Chören sowie zwei ausgedehnten Finali. Ein weiterer ungewöhnlicher Fakt ist, dass keiner der Nebenrollen eine eigene Arie zugeordnet ist. Mit energischen Akkorden beginnt die Sinfonia, gefolgt von einem munteren Vivace-Thema mit stürmischem accelerando, wo sich die Virtuosi Brunensis unter Antonio Fogliano als pulsierendes Ensemble von großer Spielfreude erweisen. Die Finali weiß der Dirigent mit Atem beraubendem Tempo rasant zu steigern, der Camerata Bach Choir Poznan (Einstudierung: Ania Michalek) in den Eingangschören zum 1. und 3. Akt mit kraftvollem Gesang zu überzeugen.

Das erste Solo fällt Falliero, eine der typischen Hosenrollen des Komponisten,  mit der Kavatine „Se per l’Adria il ferro strinsi“ zu. Die Mezzosopranistin Victoria Yarovaya, seit 2009 mit Pesaro-Erfahrungen, singt sie mit Nachdruck und einer bis in die Höhe gerundeten und flexiblen Stimme. Bei ihrer Kavatine im 3. Akt („Alma, ben mio“) gefällt sie mit weicher, inniger Tongebung, bei der nachfolgenden erregten Arie „Tu non sai“ mit dramatischem Impetus. Die weibliche Titelheldin beginnt mit ihrer Kavatine „Della rosa il bel vermiglio“, welche die Italienerin Cinzia Forte mit lyrischem Sopran von etwas larmoyantem Tonfall wiedergibt. Mit Falliero hat sie gegen Ende des 1. Aktes das erste Duett („Sappi che un dio crudele“), in dem sich beide Stimmen harmonisch mischen und das reiche Zierwerk überlegen bewältigen. Im 1. Finale weiß die Interpretin mit substanzreicher Lyrik zu überzeugen. Auch im 2. Akt hat das Titelpaar ein Duett („Va crudel“), das zunächst die Sopranistin dominiert und das dann in einen innigen Zwiegesang mündet. Schließlich bestimmt Bianca das Finale II mit ihrer Arie „Teci io resto“, die dem Rondo der Elena aus der Donna folgt und der Sopranistin gebührend Gelegenheit gibt für einen bravourösen Auftritt. Als ihr Vater Contareno ist mit Kenneth Tarver ein Rossini-Veteran im Einsatz. In seiner Arie „Pensa che omai resistere“ beweist er noch immer intaktes Material und souveräne Technik sowie eine sichere Bewältigung der Tessitura. Die tiefen Töne steuert der Bassist Baurzhan Anderzhanov als Senator Capellio bei, der im Duett mit Bianca im 2. und im Quartett des 3. Aktes für das grundierende Fundament sorgt. Bernd Hoppe

Im Doppel und im Kontrast

 

Zwei Produktionen von Opern Claudio Monteverdis aus dem Jahre 2009, die in ihrer Ästhetik nicht unterschiedlicher sein könnten, hat OPUS ARTE in einem Schuber zusammengefasst (OA 1256 BD). Aus dem Teatro alla Scala kommt Robert Wilsons Inszenierung des Orfeo, bei der Rinaldo Alessandrini der kompetente Sachwalter für einen authentischen Barockstil ist und das Orchestra of Teatro alla Scala zu einem lebendigen Musizierstil beflügelt. In der Besetzung finden sich einige prominente Vertreter dieses Genres, allen voran Roberta Invernizzi, die nach La Musica im Prolog noch die Euridice gibt, Sara Mingardo, die als Messagera und Speranza ihren betörenden Alt hören lässt, und Raffaela Milanesi, die als Proserpina ihren Gatten Plutone (Giovanni Battista Parodi) becirct, Orfeo die Geliebte zurückzugeben. Eher ein Interpret für das interessante Charakterfach ist Georg Nigl, der nicht umsonst als Wozzeck und Jakob Lenz auf vielen Bühnen Triumphe feiert. Hier singt er die Titelrolle mit farbigem, flexiblem und ungewohnt weichem Bariton, der aber dennoch den Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen mit expressiver stimmlicher Gebärde formulieren kann.

Wilson zeichnet auch für die Bühne verantwortlich, die in ihrer strengen Ordnung besticht, zunächst eine Zypressenallee mit allerlei Getier zeigt, das auch tanzt und oft als Silhouetten zu sehen ist. Die Unterwelt im 3. Akt sieht man als dunkles, düsteres Mauerwerk. Später wird die schwarze Wand durch helle Flächen mit kubistischer Wirkung unterbrochen, bis im 5. Akt die gesamte Bühne leer ist und einen Lichtstreif, später eine glutrote Abendsonne am Horizont zeigt.  A J Weissbard als Lighting Designer taucht die Szene in wechselnde, oft zauberische Stimmungen. Die Personen mit weiß geschminkten Gesichtern, kostbar gewandet von Jacques Reynaud, verharren – auch dies ein Stilmerkmal Wilsons – in statuarischen Posen oder schreiten gemessen. Bei Liebhabern einer artifiziellen Ästhetik dürfte die Aufführung auf besondere Zustimmung stoßen.

 

Aus dem Gran Teatre del Liceu  stammt David Aldens Comic-hafte Inszenierung von L’incoronazione di Poppea, bei der mit Harry Bicket gleichermaßen ein ausgewiesener Barock-Spezialist am Pult steht. Er dirigiert das Baroque Orchestra of the Gran Teatre del Liceu und eine erlesene Besetzung, die Sarah Connolly als cholerischer Nerone anführt. Von androgyner Erscheinung, Aura und Stimme darf sie als Idealbesetzung für diese Rolle gelten. Und mit ihrem Mezzo hat sie – im Gegensatz zu manchen Countertenören – keinerlei Schwierigkeiten mit deren Tessitura.

Auch die Titelpartie ist mit Miah Persson hochrangig besetzt. Von körperlicher Attraktivität und verführerischer Ausstrahlung ist sie optisch die Inkarnation einer Frau, die alle ihre Trümpfe einsetzt, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Und der farbige, auftrumpfende Sopran korrespondiert dazu prächtig.  Wie  so oft ist das finale Duett zwischen Poppea und Nerone, „Pur ti miro“, auch in dieser Aufführung der gesangliche Höhepunkt dank der hochkarätigen Stimmen und der subtilen Interpretation. Jordi Domènech ist der Ottone mit klangvollem, weichem Counter. Geradezu abonniert auf die Rolle des Seneca ist Franz-Josef Selig. Eben hat er sie in der wiedereröffneten Berliner Staatsoper gesungen und auch hier besticht er mit seinem sonoren Bass, der in der Sterbeszene wiederum ergreifende Wirkung  erzielt. Maite Beaumont mag optisch die imperiale grandeur für die Ottavia fehlen, Stimme und Vortrag aber sind von singulärer Dimension. Das expressive Pathos bei „Disprezzata regina“geht ans Äußerste und streift die Hysterie, „Addio, o Roma!“ ist von existentiellem Umriss.

Kaum eine Aufführung der Poppea ohne Dominique Visse mit seinem unverwechselbar krähenden Timbre als Amme Arnalta, wie stets in bizarrem Outfit und mit skurrilem Gehabe. Hier gibt er sogar eine Doppelrolle  als Ottavias Nutrice in der Kostümierung einer Krankenschwester.

Alden lässt den Prolog und viele weitere Szenen an oder auf einem roten Ledersofa vor einer gläsernen Drehtür spielen (Bühne: Paul Steinberg), wo die Göttinnen in plissierten Renaissance-Kostümen (Buki Shiff) sich mit keifenden Stimmen streiten, Nerone und Poppea ihre Liebe besingen, Ottavia das Los der verstoßenen Kaiserin beklagt und Poppea sich lasziv räkelt. Pat Collins taucht die Szenerie in schrille Bonbonfarben und wechselt gemeinsam mit Steinberg erst im 2. Akt zu einem dunklen Interieur, um im 3. wieder zu greller Buntheit zurückzugehen und am Ende ein flimmerndes Schwarz-Weiß-Raster  zu zeigen. Für Freunde von Slapstick,  Popkunst und Clownerien ist diese Inszenierung,  die an der Bayerischen Staatsoper München während der Intendanz von Peter Jonas ihre Premiere hatte, sicherlich ein großes Vergnügen. Bernd Hoppe

Ein zu toller Tag

 

In der alten Giorgio-Strehler-Inszenierung an der Scala hatte Diana Damrau noch die Susanna gesungen, nun war sie 2016 am gleichen Haus die Contessa in der Produktion von Le Nozze di Figaro, die Frederic Wake-Walker zu verantworten hat. Auch die italienischen Opernbühnen haben sich inzwischen modernen Regietrends geöffnet, gehen aber meistens nicht so weit, gesellschaftskritische Botschaften zu verkünden oder (und) Piefke-Milieus zu bevorzugen. Stattdessen versucht man ästhetisch noch einen draufzusetzen, welche Aufgabe hier einige modelmäßige Damen in engen schwarzen Kostümen, mit hochgetürmten Frisuren und affektiert stöckelndem Gang erfüllen. Sie „helfen“ auch bei der Einrichtung des Zimmers für Figaro und Susanna, und die beiden Bauernmädchen im Hochzeitsbild sind hier zwei zu drag queens aufgetakelte Riesendamen in knappen Spitzenhöschen. Bühnen- und Kostümbildner Anthony McDonald sorgt dann andererseits im letzten Bild für Ernüchterung, wenn es den Park nur als Hintergrundprospekt gibt und sich die Paare nicht in Pavillons, sondern hinter Bürostühlen verstecken. Insgesamt meint man eher einer harmlosen italienischen Farsa beizuwohnen als einem doch für seine Zeit sehr brisanten Stück. Zu diesem Eindruck trägt auch der häufige und unbegründete Farbwechsel in der Lichtregie von Fabiana Piccioli bei.

Diana Damrau kann sich auch in dieser Produktion die Rolle des Publikumslieblings ersingen und erspielen, wie Szenen- und Schlussapplaus beweisen. Sie sieht auch in den irrwitzigsten Kostümen phantastisch aus und singt ihre beiden Arien mit feiner Empfindung, vielleicht nicht mit ganz so viel Wärme in der Sopranstimme wie berühmte Vorgängerinnen. Sowohl optisch wie stimmlich dem Conte bereits entwachsen ist Carlos Alvarez, der wenig Aristokrat und zu deftig und grobkörnig, auch was den Gesang betrifft, ist. Dass er im „Park“ gleich in Unterhose erscheint, macht ihn nicht liebenswürdiger. Ein munterer, wendiger Bursche ist der Figaro von Markus Werba, der zudem stilistisch keine Wünsche übrig lässt und dessen Diktion einfach vorbildlich ist. Ihre „Rosenarie“ im (herabgelassenen) Kronleuchter singen muss die Susanna von Golda Schultz, sie tut es mit feiner, zarter Sopranstimme und zeigt im Spiel viel quirligen Charme. Prägnanter wünscht man sich den Basilio von Kresimir Spicer, der seine Arie singen darf, was leider der Marcellina von Anna Maria Chiuri nicht vergönnt ist, die eine köstliche Studie im Wandel von giftender alter Jungfer zur liebenden Mutter abliefert. Andrea Concetti singt die Vendetta-Arie des Bartolo mit schöner Sonorität, Theresa Zisser bleibt etwas fad als Barbarina. Die Straße zu einer großen Karriere hat inzwischen Marianne Crebassa eingeschlagen, die auch hier als Cherubino, leider zur Karikatur geschminkt, ihre beiden Arien wunderbar facettenreich singt und sich mit der Damrau die Krone der Beliebtheit teilen darf. Franz Welser-Möst versteht sich mit den Professori im Orchestergraben bestens, und aus ihrem Einvernehmen entsteht ein wunderschöner Klangteppich, auf dem sich die Sängerstimmen wohlfühlen können (DVD C-major 743108). Ingrid Wanja   

Frau Venus und die klare Brühe

 

Tannhäuser kann nicht mehr. Zu viel! Zu viel! Er muss fliehen. Er hat die Nase voll. Es verlangt ihn nach des Waldes Lüften. Nach etwas Frischem. Im Venusberg sind die ros’gen Düfte verflogen. Es verbreitet sich Küchendunst – der Feind von Erotik, Lust und Begehren. Noch schaut Venus ungläubig drein. Ist sie überrascht, oder tut sie nur so? Ist sie mit ihrem Zauber am Ende? Ist es wirklich schon so weit, dass Liebe durch den Magen geht? Wie dem auch sei. Jedenfalls hat sie vorsorglich im Rücken ihrer mit rosenumrankten Recamiere ein Fass mit Fleischextrakt platzieren lassen. Daraus kann mancher Liter Boullion hergestellt werden.

Klare Brühe statt Liebestrank – Liebigs Sicht auf den „Tannhäuser“/ OBA

Man weiß ja nie. Schon ein halber Teelöffel reicht, um ein Gericht für vier Personen anzureichern. Sie sind aber nur zu zweit. Amor, diese halbe Portion, ist frech auf das Gefäß geklettert und bringt den berühmten Bogen in Anschlag. Er zählt ja nicht. Denn er kommt in der Oper gar nicht vor. Die Mythologie ist umgeschrieben worden für diese Szene. Wo sind wir eigentlich? Keine Bange. So weit geht selbst das Regietheater noch nicht. Es ist der Versuch, ein Liebig-Bild aus der Tannhäuser-Serie zu beschreiben.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese bunten Bilder gibt es seit 1875. Sie dienen der Werbung für den berühmten Fleischextrakt, einer Erfindung des deutschen Chemikers Justus von Liebig (1803-1873). Er hatte das Verfahren Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Dabei wird kochendes Rindfleisch so weit eingedampft, dass nur noch das Konzentrat übrig bleibt. Im umgekehrten Verfahren kann es wieder in Brühe zurückverwandelt werden und dient auch dazu, Speisen zu würzen und zu verfeinern. Von 1864 an wurde der Extrakt – nicht zu verwechseln mit gekörnter Brühe – industriell hergestellt und verbreitete sich von Antwerpen aus in viele Länder. Noch heute wird er nach dem ursprünglichen Verfahren produziert, wie eh und je nicht eben preiswert. Der anhaltende Erfolg des beliebten Produkts beruht nicht zuletzt auf einer beispiellosen Werbekampagne, die in ihren Grundzügen die Werbeindustrie bis in unsere Tage vorwegnimmt. Ihr Kern waren die Bilderserien, die es beim Einkauf kostenlos dazu gab. Für Liebig selbst fiel fast nichts ab. Er verfügte lediglich über hundert Aktien und das Recht, sein Produkt auf seine Qualität zu überprüfen. Insgesamt sollen 1870 Serien mit etwa 11500 Bildern in 12 Sprachen erschienen sein, wobei diese Angaben schwanken.

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im "Rosenkavalier"

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“.

Ihren Höhepunkt erreichten die Serien vor dem Ersten Weltkrieg, versanken danach in völliger Bedeutungslosigkeit und erholten sich von 1925 an, ohne aber den ursprünglichen Verbreitungsgrad wieder zu erlangen. 1940 war in Deutschland Schluss, in Belgien 1962 und in Italien 1975. Oft ist das Behältnis mit dem Fleischextrakt mit übertriebenen Proportionen in eine auf vielen Bildern dargestellte Handlung einbezogen. Wenn sich dafür keine Gelegenheit bietet, tritt das Töpfchen in einer Ecke etwas ausgespart in Erscheinung. Fehlen tut es nur ganz selten wie etwas auf den Bildern zum Rosenkavalier von Richard Strauss. Nie sind die Bilder signiert. Die Grafiker waren angestellt und arbeiteten quasi im Akkord. Eine Serie umfasst sechs farbige Bilder sowohl im Hoch- als auch im Querformat. Eine DVD-Rom mit den Serien ist in der Zeno.org-Reihe im Verlag Direkctmedia Publishing erschienen.

1-Siegfriedidyll Liebig

Richard Wagner bringt seiner Frau Cosima das „Siegfried-Idyll“ als Geburtstagsständchen dar.

Richard Wagner, selber ein Gourmet, war ein gefundenes Fressen für die Fleischextrakt-Werbung. In seinen Opern spielen Getränke und Speisen eine nicht unwichtige Rolle. So ist es nicht verwunderlich, dass seine Person und sein Werk am häufigsten vertreten sind in der musikalischen Abteilung der Serien. Dabei war der Meister selbst oft auf Diät und schmale Kost gesetzt, weil ihn bis zum Schluss Verdauungsbeschwerden und Unterleibskrämpfe plagten. Die Lust am Bier soll dadurch nicht beeinträchtigt worden sein. Er und Frau Cosima schätzten Weizenbier, an dem in Bayreuth – die Region hat die größte Brauereidichte in Bayern – schon zu ihrer Zeit kein Mangel gewesen ist. Kräftig eingeschenkt wird im Fliegenden Holländer. Wenigstens musikalisch findet das turbulente Hochzeitsfest in Lohengrin im Vorspiel zum dritten Aufzug rauschhaften Ausdruck. Über den Liebestrank in Tristan und Isolde ist alles gesagt. In den Meistersingern gilt‘s der Kunst. Hans Sachs lehnt gelegentlich seines Namenstages das freundliche Anerbieten des Lehrbuben David ab, den Kuchen oder die Wurst zu versuchen, die ihm Magdalene heimlich zugesteckt hat. Im Rheingold werden nur Äpfel gereicht, die Wotan zum Ende hin nicht mehr anrührt. Nicht, weil sie nicht schmecken, sondern weil es der Handlungverlauf so will. In der Walküre muss Sieglinde den Männern das Mahl rüsten und ihrem wenig geliebten Ehemann Hunding den Nachttrunk reichen, den sie aus gutem Grund mit einem gehörigen Schuss Betäubungsmittel würzt. Statt ein Schwert zu schmieden, betätigt sich Zwerg Mime in Siegfried als Koch und braut eine fiese Lorke zusammen, mit der er den Helden zur Strecke bringen will. Vergebens. Am häufigsten getrunken wird in der Götterdämmerung – nach den unterschiedlichsten Rezepturen, bei den verschiedensten Gelegenheiten und nicht immer zum Besten derer, die sich daran versuchen.

1-Meistersinger Liebig

Walter von Stolzing bringt im dritten Aufzug der „Meistersinger“ Glanz in die Schusterstube.

Trinken wird gefährlicher. Gutrune reicht dem Ankömmling Siegfried in der Halle der Gibichungen einen manipulieren Begrüßungstrunk mit der für ihn fatalen Wirkung, dass er Brünnhilde vergisst und dem Liebreiz der Tochter des Hauses verfällt. Wenig später begießen Siegfried und Hausherr Gunther ihre Brüderschaft mit frischem Wein, dem beider Blutstropfen beigemischt sind. Hagen stimmt die Mannen auf den Empfang der reingelegten Brünnhilde mit dem Versprechen einer rüstigen Zecherei ein – „bis der Rausch euch zähmt“. Im dritten Aufzug findet die Jagdgesellschaft schließlich ein kühles Plätzchen, wo gerastet und das Mahl gerüstet werden soll. Noch bevor dies geschieht, lässt Hagen die Schläuche bieten mit den für Siegfried tragischen Folgen. In Parsifal ist die Kost – der heiligen Handlung entsprechend – nur noch symbolischer Natur. Das Brot ist der Leib, der Wein das Blut des Gekreuzigten. Wasser wird nicht getrunken. Es dient der Taufe. Schließlich tritt an die Stelle heil’ger Speisung gemeine Atzung. Kräuter und Wurzeln stehen auf dem Speiseplan des hinfällig geworden Gralsritters Gurnemanz. Aus den Wagnerschen Helden sind fundamentalistische Veganer geworden. Nix Fleischbrühe.

1-Turandot Liebig

Breite Treppe, lange Schleppe: Die prachtvoll ausgestattete Rätselszene in Puccinis „Turandot“.

Einen gehobenen künstlerischen Anspruch wollten die Liebig-Bilder nicht erheben, trotz der gelegentlichen Ausflüge in die Kunst. Dafür die Themen zu simpel, zu naiv, zu verschlagen. Oft sind sie den praktischen Seiten des Lebens entlehnt. Der Alltag wird grundsätzlich verklärt. Dabei spielen Kinder in allen Lebenslagen eine große Rolle – unter dem Weihnachtsbaum, vor dem Aquarium, auf dem Schaukelpferd, bei der Dressur von Hunden – aber auch schon mal beim Kriegsspiel. Hübsch herausgeputzte Mädchen und Knaben vermitteln in ihrer Unschuld selbst für Fleischbrühe eine positive Botschaft, obwohl sie eher Kakao trinken würden. Diese Kinder sind niemals arm und abgerissen. Liebigs Welt ist heil und gut situiert. Als Volksbildung sind ganze Serien über Tiere, Pflanzen, Bäume, Städte, Bauten, Verkehr, Sternbilder, Geflügel, Käse, Märchen, Schiffe oder historische Anlässe angelegt. Nicht selten sind imperiale Absichten zu erkennen, wenn nämlich die Kolonien der europäischen Mächte zu Themen werden und die Ureinwohner nach Art einer Völkerschau, wie sie bis in die 1940er Jahre stattfanden, in Szene gesetzt werden.

1-Stumme von Porrtici

„Den Buben, nenn ihn mir!“ Der Fischer Masaniello bedrängt seine Schwester in „Die Stumme von Portici“.

Richard Wagner ist der Komponist, der am häufigsten thematisiert worden ist. Er passt in die Zeit und ist deren vollkommenster Ausdruck, wie es Thomas Mann ausdrückte. Die ersten Bayreuther Festspiele und die Premiere der Bilder-Serien fallen zeitlich zusammen. Neben Tannhäuser haben auch Lohengrin, Die Meistersinger von Nürnberg, Die Walküre und Parsifal ihre eigenen Serien. Gestalten aus anderen Opern des so genannten Bayreuther Kanons treten in den zusammenfassenden Editionen „Frauengestalten“ und „Männergestalten“ sowie in markanten „Szenen aus Wagner-Opern“ auf. Es versteht sich, dass der Meister auch in einer Zusammenstellung „Berühmter Componisten“ neben Bach, Beethoven, Mozart, Verdi und Rossini, der gern kochte, nicht fehlt. Darüber hinaus sind in einer weiteren Folge sechs Stationen im Leben Wagners nachgestellt, die auf das eine große Ziel hinaus laufen: Bayreuth, wo ihm der deutsche Kaiser huldvoll die Hand schüttelt.

1- Liebig Othello

Der vor Eifersucht rasende rasende Otello wirft in Verdis Oper Jago zu Boden.

Zu solchen biographischen Ehren kommen auch Giuseppe Verdi, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Christoph Willibald Gluck. Verdis Aufstieg zum berühmtesten Komponisten Italiens beginnt in seiner Bilderfolge rührend an der Orgel seines Geburtsortest Le Roncole. Der Elfjährige greift mit dem Blick nach oben in die Tasten, als würde er seinen Segen vom lieben Gott höchst persönlich empfangen. Verdi widmete sich fortan mit Feuereifer der Musik. Welche Freude empfand er, als er schon mit 11 Jahren zum Organisten seines Heimatortes erwählt wurde. War neben der Würdigung seiner Tüchtigkeit damit doch ein Jahresverdienst von 36 Lire verknüpft! – Um diese Zeit lenkte Verdi die Aufmerksamkeit des angesehenen Kaufmannes Barezzi aus Busseto auf sich, der Konzerte einer musikalischen Gesellschaft dirigierte. Dieser nahm sich des strebsamen Knaben an und gab ihm zunächst eine Anstellung in seinem Handelsgeschäft, aber lediglich zum Schein, denn Verdi durfte sich währenddessen der Musik widmen so viel er wollte; damals machte er auch die ersten Versuche, selbst zu komponieren.

1-Freischütz Liebig

„Schieß nicht, Max, ich bin die Taube!“ Agathes dramatischer Auftritt am Schluss des „Freischütz“.

Und über den kleinen Wolfgang Amadeus ist zu lesen: Im Herbste 1762 unternahm Mozarts Vater mit seinem Söhnchen und der um 4 Jahre älteren Schwester Nannerl eine Kunstreise, um die Welt auf die begabten Kinder aufmerksam zu machen, denn auch Nannerl war trotz ihrer 10 Jahre eine vollendete Klavierkünstlerin. Die Kinder erweckten durch ihr Spiel überall höchste Bewunderung, besonders der sechsjährige Knabe, der auch durch sein drolliges Wesen überall die Herzen gewann. Die Kaiserin Maria Theresia nahm ihn auf den Schoß, herzte und küsste ihn. Solcher Art sind die Erklärungen, mit denen die allermeisten Bilder auf der Rückseite versehen sind. Wenngleich die Erklärungen sehr populär gehalten sind, vermitteln sie stets klare Informationen, so konzentriert wie der Extrakt. Die Opern La Traviata, Der Troubadour und Othello waren den Herausgebern noch eigenständige Serie Wert genauso wie Die Hochzeit des Figaro, Don Juan und Die Zauberflöte von Mozart. Titel werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks "Iphigenie in Aulis" ihre Degen

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks „Iphigenie in Aulis“ ihre Degen.

Obwohl keine von Glucks Opern im Einzelnen gewürdigt wird, gewährt seine biographische Bilderserie auch einen Blick in ein nicht näher bezeichnetes Opernhaus: Offiziere ziehen begeistert ihre Degen bei der Aufführung der Iphigenie in Aulis. Glucks bisherige Opern waren ganz im herkömmlichen Stil der damaligen italienischen Schule gehalten. Sie wurden daher auch von den Zeitgenossen sehr beifällig aufgenommen, und der Papst verlieh dem Verfasser sogar den Orden vom goldenen Sporn. Allmählich aber trat ein Wandel in den Kunstanschauungen Glucks ein und er trachtete nunmehr, die Oper von der Verflachung zu befreien, in die sie nach und nach geraten war. Da zu jener Zeit das dramatische Kunstinteresse zu Paris am lebhaftesten war, begab er sich dorthin, um seine Bestrebungen zur Geltung zu bringen. Mit der ersten durchweg nach den neuen Prinzipien geschaffenen Oper »Iphigenie in Aulis« errang er einen ungeheuren Erfolg, doch dauerte es noch mehrere Jahre, ehe der Einfluss Piccinis und seiner Anhänger, der Hauptgegner der neuen Richtung, überwunden war. Mit Noten versehene Opernszenen sind erstmals 1884 verbreitet worden. Nur gestreift wird das Thema Operette mit einer Folge, in der Szenen aus beliebten Werken von Johann Strauß machgezeichnet sind.

1-Liebig Oberon

„Ozean, du Ungeheuer!“ Rezia in Webers Oper „Oberon“ am Gestade des Meeres (und das gibts auch in Französisch).

Welche Opern finden sich noch? Der Rosenkavalier war schon erwähnt. Mehr findet sich nicht zu Strauss. Dann Der Freischütz und Oberon von von Weber, Fidelio von Beethoven, Die Königin von Saba von Goldmark, Boris Godunow von Mussorgski, Wilhelm Tell von Rossini, Turandot von Puccini, Sappho von Pacini. Sappho? Wer heutzutage im Internet nach Bildmaterial über diese Oper und ihren Schöpfer Giovanni Pacini (1796-1867) sucht, stößt bald auf die Liebig-Serie, als hätte sie dazu beigetragen wollen, die Erinnerung an diesen italienischen Komponisten, der in der Hauptsache Opern schrieb, wachzuhalten.

Ernest Reyer ist in einer Serie über französische Komponisten dargestellt

Sogar Ernest Reyer gibt´s in einer Serie über französische Komponisten

Auffällig ist die starke Präsenz von Opern aus Frankreich, dem damals ungeliebten Nachbarland der Deutschen. Während das Schwert des 1875 im Teutoburger Wald eingeweihten Hermannsdenkmals drohend gegen Frankreich gerichtet wurde, öffnete sich auf den im selben Jahr in Serie gegangenen Liebig-Bildern im Laufe der Zeit der Vorhang für zwölf französische Musikdramen: Die Hugenotten, Die Afrikanerin und Robert der Teufel von Meyerbeer, Carmen von Bizet, Faust von Gounod, Hamlet und Mignon von Thomas, Die Stumme von Portici von Auber, Samson und Dalila von Saint-Saens Der Cid von Massenet sowie Faust’s Verdammung von Berlioz. Gounod, Thomas, Massenet, Saint-Saens, Halevy und Reyer sind dazu noch einer der Serie abgebildet, die französischen Komponisten gewidmet ist. Liebig-Bilder als völkerverbindend, als kulturelle Botschaften für Toleranz? Ein bisschen schon. Rüdiger Winter

Strenges Gericht

 

Von der hohen Warthe der besserwissenden um nicht zu sagen besserwisserischen Nachgeborenen her betrachtet ein vierköpfiges Autorenkollektiv (Jürgen Schläder, Rasmus Cromme, Dominik Frank und Katrin Frühinsfeld) die Geschichte der Bayerischen Staatsoper vor und nach 1945 unter dem Titel „Wie man wird was man ist“. Es geht um die Jahre 1933 bis 1963, und so legt der Titel nahe zu denken, die Bayerische Staatsoper habe ihre Prägung in den Jahren der Naziherrschaft erhalten, und sie habe sich, da es zwischen 1963 und 2017 keinen Einschnitt mehr wie 1933 oder 1945 gegeben hat,  von den Einflüssen, denen sie zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt war, noch immer nicht befreien können. Für die Jahre von 1964 bis heute ist das Spekulation, für die davor liegenden jedoch, ausgenommen die Intendanz von Rudolf Hartmann, erwecken die Autoren den Eindruck, sowohl in der Bühnenästhetik als auch der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Hauses habe sich nach 1945 nichts verändert, wobei auffällt, dass durchgehend Oper angeblich und offensichtlich die Aufgabe hat, aufklärend und erziehend auf ihr Publikum einzuwirken, dass der ästhetische Genuss, das Eintauchen in eine andere Welt, das Entzücken über die Musik und den Gesang uninteressant und zu vernachlässigen sei. Auch von Dirigenten ist nur insofern die Rede, als sie sich gut oder weniger gut mit den Nazis standen, Sänger sind nur interessant, sofern sie unter deren Herrschaft zu leiden hatten, und immer wieder klingt durch, dass derjenige verächtlich sei, der nicht als Widerstandskämpfer sein eigenes und das Leben seiner Familie riskiert habe. Dabei wird zudem noch ein Unterschied gemacht zwischen einem nach Meinung der Verfasser nicht so sehr „Belasteten“ wie Carl Orff, dem die jüdische Großmutter als Entschuldigung für vorsichtiges Verhalten angerechnet wird, während bei Richard Strauss nicht einmal der halbjüdische Enkel und dessen Großmutter sowie Mutter zählen, um deren Schicksal er sich sorgen musste.

Zunächst wird die Geschichte des Bauwerks, seine Zerstörung 1943, der Einsatz der Münchner Bürger für einen Wiederaufbau beschrieben, wobei bereits deutlich wird, dass dieser ganz bestimmt nicht aus den Gründen gewünscht wurde, die die Autoren für  maßgebend für den Wert eines Opernhauses halten, die sie vielmehr als „Historizität und Festlichkeit“ definieren und damit abkanzeln. Bereits in diesem Kapitel nimmt man allerdings erfreut den Reichtum an Abbildungen zur Kenntnis, durch den sich das gesamte Buch auszeichnet.

Tadelnd vermerken die Autoren im Kapitel über die Eröffnungsfestwochen nach dem Wiederaufbau, dass „Mythisierung und Historisierung“ Triumphe feiern, dass die „Nazioper“ Die Meistersinger zu den aufgeführten Werken gehört, dass der „Naziprofiteur“ Egk die einzige Uraufführung bietet. Auch in weiteren Kapiteln werden Strauss und Egk bzw. die Aufführung von deren Opern als Beispiele für „Verdrängungsstrategie“ getadelt, und auch das „Starwesen“ in der Person von Christa Ludwig kommt nicht gut weg, immer wieder aber verstört die Unbarmherzigkeit der Autoren gegenüber den Persönlichkeiten, die sich nicht als mutige Widerstandskämpfer profilierten.

In einem historischen Rückblick bis auf 1810 verwundert, dass das Spielen italienischer Opern als Affront gegenüber Napoleon angesehen wird.

Neu ist für den Leser, dass der Begriff der Werktreue eine Erfindung der Nazis sein soll, skeptisch gesehen auch, denn man „glaubte…aus dem Geist ihrer Schöpfer interpretieren zu können“ ( An anderer Stelle heißt es „im scheinbaren (besser: anscheinenden) Sinne des Autors“.) . Damit wird jeder, der die „Werktreue“ schätzt, zu einem in die Fußstapfen der Nazis Tretenden. Und wie konnte 1917  die Uraufführung von Pfitzners Palestrina „auf die darbenden Menschen“ „wie ein Labsal“ wirken- wer von denen ging wohl in die Oper, die hier wie an vielen Stellen in ihrer Wirkung auf die Massen wohl überschätz wird. In der Kritik steht auch die Spielplanpolitik, wenn kaum ein uraufgeführtes Werk auf eine zweistellige Aufführungszahl kommt, was bei entsprechendem Publikumszuspruch wohl hätte vermieden werden können. Ironisch wirkt vermerkt, dass diese „konservativ zu nennen“ schon „ein Euphemismus“ ist.

Mit dem Bildungsbürger haben die Autoren auch ein Hühnchen zu rupfen. Sie werfen ihm „Germanentreue“ vor, und seine Vorstellung von Kunst mündet angeblich in der Naziideologie. Warum für das Bildungsbürgertum der „Liberalismus den Untergang“ bedeutete entbehrt der Begründung (gerade dieses wählte die beiden liberalen Parteien), ebenso wie es nicht verwunderlich ist, dass 90% des Spielplans nach 45 sich nicht von dem in der Nazizeit unterschieden.

Sehr ausführlich und deshalb hier in dieser Ausdehnung fehl am Platze wird die Geschichte der Reichskulturkammer beschrieben, über die „Säuberung“ an der Semperoper, über Arabella, die nicht in München uraufgeführt wurde und über die berühmte Hoteltreppe in verschiedenen Inszenierungen des Werks informiert.

Immer wieder wird Richard Strauss vorgeworfen, er „schuf also…eine Oper, die genau auf der ästhetischen wie kulturpolitischen Linie der Nationalsozialisten lag“– was dann seltsamerweise nicht nur auf den Friedenstag (die Times nannte das Werk allerdings „pazifistisch“.) wie auch auf Capriccio zutreffen sollte, das sicherlich nicht auf die von Bombenangriffen genervten Massen zugeschnitten war. Da könnte man ebenso von „innerer Emigration“ sprechen wie bei den Personen, denen das von den Autoren nicht verwehrt wird.

Die Verfasser stellen immerhin fest, dass in der Personalpolitik in der Nazizeit in der Oper Qualität vor Parteitreue ging, dass es keine einheitliche Linie gegenüber jüdischen Künstlern gab, behaupten aber auch, Clemens Krauss habe die Judenverfolgung unterstützt, indem er für sich ein ehemals von Juden bewohntes Domizil  forderte.

In den Beiträgen über die Nachkriegszeit taucht natürlich die alte Frage danach auf, ob es sich bei den Nazis um einen Irrweg oder um eine Konsequenz aus der bisherigen deutschen Geschichte handle, was den Rahmen bei dem Thema Bayerische Oper al-zu weit spannt.

Leicht durcheinander kommen kann der unbefangene, d.h. uninformierte Leser, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass es nach 45 zwei Hartmanns als Intendanten gab: zunächst Georg, ab 63 Rudolf, wobei der Erstere eher die Sympathie der Verfasser genießt. Ehe auf deren Wirken eingegangen wird, erfährt man, dass auch bei der Entnazifizierung in Künstlerkreisen ähnliche Probleme auftraten wie auf anderen Gebieten, vor allem, dass die Fachleute häufig belastet waren, aber gebraucht wurden.

Für den „gemeinen“ Leser am interessantesten sind die Portraits, so die von Clemens Krauss, Ludwig Sievert (Bühnenbildner, dem vorgeworfen wird, er habe seine expressionistischen Anfänge verleugnet), Richard Strauss, der die Musik Schönbergs bereits vor 33 nicht mochte und so die „Haltung der NS-Musikpolitik voraus“ nimmt., der als „Propagandakomponist“ bewertet wird und der sich mit Capriccio schlauerweise schon einen Persilschein beschaffte. Das las sich einige Kapitel zuvor etwas anders. Völlig verkannt wird auch seine Beziehung zu Stefan Zweig, den er unbedingt als Librettisten halten wollte.

Mit Anteilnahme liest man, was über das Schicksal jüdischer Sänger berichtet wird oder solcher, wie Hilde Güden, die Beziehungen zu Juden hatten.

Mehrfach setzen sich die Autoren mit Werner Egk auseinander, besonders mit seiner Zaubergeige, die sie als übles Nazistück entlarven, wenn sie die Rückkehr des Helden  nach vielen Abenteuern zu seiner treu auf ihn gewartet habenden Gretel für das Beweisstück halten, obwohl dieses Motiv doch kein ungewöhnliches ist (Peer Gynt!). Und dass der Komponist seinen künstlerischen Überzeugungen „treu blieb“, macht ihn natürlich zusätzlich verdächtig. Ehrlicherweise enthalten sie dem Leser nicht vor, dass das Stück von Nazis, weil zu „unpolitisch“, auch abgelehnt wurde.  Dann wieder sind sie erbarmungslos, wenn sie eigentlich jedem, der nicht aktiv Widerstand leistete, vorwerfen, „durch Aufrechterhaltung der Normalität dem Verbrechen Vorschub geleistet“ zu haben.

Mit Carl Orff wird milder verfahren, auch wenn man ihm vorwirft, durch seine Musik zum Sommernachtstraum quasi Mendelssohn-Bartholdy in den Rücken gefallen zu sein.

Der Sympathie der Amerikaner und auch der Autoren erfreut sich Karl Amadeus Hartmann, der dritte Hartmann also, für seine „kompromisslose innere Emigration“, denn er „schuf rund um die Bayerische Staatsoper eine musikalische Offenheit und Lauterkeit, die man….auf der Bühne des großen Hauses vermissen musste“.

Interessant sind die Ausführungen zum Schicksal von Hans Knappertsbusch, der es trotz Auftrittsverbots auf die Liste der „Gottbegnadeten“ schaffte, einem Irrtum unterliegt man, wenn man Sachsens Ansprache in den Meistersingern so deutet, als wenn das Reich unterginge, wenn dieses der Kunst geschehe, und ob Die Meistersinger ein „nationalsozialistisches Propaganda-Werk“ sind, mag jeder für sich selbst entscheiden, so wie er auch  diesen Satz : „Wer mit dem Standard-Repertoire der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende ästhetische Verharmlosung betrieb, erteilte nicht nur jeder kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit eine harsche Absage, sondern stellte die nationalsozialistische Theaterpolitik auf eine Stufe mit der Kulinarik der beginnenden Adenauer-Ära“ der kritischen Überprüfung unterziehen sollte. Darüber wird vergessen, dass das „Standardrepertoire“ bereits in der Weimarer Republik dasjenige war, dessen man sich auch heute noch erfreut.

 Man wünscht den im Verurteilen eifrigen Autoren, dass sie nie vor Gewissensentscheidungen gestellt werden, vor denen die von ihnen verurteilten Protagonisten einst standen, und man wünscht ihnen ein Opernerlebnis, das über das hinausgeht, was sie in der Oper sehen.

Übrigens ist der Titel, weil bereits als der für die Memoiren eines Psychotherapeuten benutzt, nicht sehr glücklich gewählt (Henschel Verlag 2017, 456 Seiten; ISBN 978 3 8948 7796 5/ Foto oben: Die Bayerische Staatsoper/ Ausschnitt/ Wikipedia). Ingrid Wanja

Lust auf Lieder

 

Wer gern Lieder hört, dürfte Florian Boesch schon oft begegnet sein – ob im Konzertsaal oder auf Tonträgern. Er baut sein Repertoire beständig aus. Seine neueste CD ist bei Linn Records herausgekommen (CKD 511). Sie enthält den Liederkreis op. 93 und die Lieder und Gesänge aus Wilhelm Meister von Robert Schumann sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler, begleitet von Malcolm Martineau, der ungewohnte rhythmische Akzente zu setzen weiß. Für einen, der sich so intensiv dem Liedgesang verschrieben hat wie der Bariton Boesch, sind diese Zyklen unverzichtbar – auch wenn sie im Übermaß eingespielt und dargeboten wurden und werden. Er will und muss sie singen. In einem Interview mit dem Österreichischen „Standard“ hatte er einmal gesagt, das Wort sei der Bedeutungsträger im Lied. Immer folge der Klang dem Inhalt. Davon lässt er sich auch bei seiner neue Einspielung leiten. Voraussetzung dafür ist seine gute Diktion. Er ist immer zu verstehen. Nicht eine Wendung, nicht ein Gedanke gehen unter. Die Dichtung kommt zu ihrem Recht, was ein Segen ist. Mit Eichendorff und Goethe hat Schumann literarische Vorlagen von Rang. Boesch kostet die Worte aus. Manchmal werden sie allerdings zu übermächtig, zu selbständig. Dann wird die Musik zur Untermalung. Was sie nicht ist. Musik will vertiefen und erhöhen. Dramatische Ausbrüche sind seine Sache nicht. Boeschs Stärken sind die lyrischen, nachdenklichen und leise Töne. Man hört, dass er sehr gut Singen gelernt hat. Er kommt aus einem musikalischen Haus. Als Kind spielte er Cello. Sein Vater Christian ist Sänger, seine Großmutter Ruthilde sang noch unter Furtwängler in Salzburg.

 

Die Stärken von Florian Boesch sind die Schwächen seines amerikanischen Bass-Kollegen Jared Schwartz, der sich bei Toccata Classics auf Lieder von Franz Liszt geworfen hat (TOCC 0441). Schwartz besuchte neben anderen Ausbildungsstätten die renommierte Eastman School of Music, komponiert nebenbei und ist auch außerhalb der Klassikszene unterwegs. Regelmäßig tritt er mit der Pianistin Mary Dibbern auf, die als Musikdirektorin für Bildung und Familienprogramme an der Dallas Opera wirkt. Sie begleitet ihn auch auf seiner CD. Er tut sich sehr schwer mit Liszt. Vor allem mit den deutsch gesungenen Titeln, die mit sieben von zwölf in der Mehrzahl sind. Liszt, der Weltbürger, hat mehrsprachig komponiert – auch in Französisch, Italienisch und Englisch. Schwartz verhebt sich, er presst manche Passagen regelrecht heraus und stolpert über die Buchstaben. Liszts berühmtestes Lied „O lieb, so lange du lieben kannst“ ist nicht wiederzuerkennen. Schon der Einstieg in die CD mit „Weimars Volkslied“ ist verstörend und lässt einen ratlos zurück. Es ist auf einen Text von Peter Cornelius komponiert, dessen Oper Der Barbier von Bagdad Liszt in Weimar uraufgeführt hatte. Diesmal erweist es sich als Gnade, dass fast nichts zu verstehen ist, von dieser Hymne auf die fürstlichen Arbeitgeber. Da „weht ein Hauch“ von der „Wartburg Zinnen nieder“, leben nahe dem „Throne großer Dichter Erzgestalten“, brechen „Lebensblumen“ aus „geweihter Gräber Spalten“ hervor – alles zum Ruhme von Weimars edlem Fürstenhaus, das Gott erhalten möge. Die mit Ilm, Saale und deutschen Gauen verzierte Heimatlyrik erfährt im letzten Lied, „Weimars Toten“, diesmal nach Franz von Schober, gar noch eine zweite Auflage: „Müß’ge Trauer sei vernichtet / Frisch das Aug’ empor gerichtet!“ Solche Stücke sind wenig dazu angetan, für Liszt als Liedkomponisten zu werben. Obwohl sehr tüchtig in diesem Genre, hat er sich damit nie richtig durchsetzen können. Nachhaltige Anstöße konnte nicht einmal Dietrich Fischer-Dieskau geben, der Anfang der 1980er Jahre bei der Grammophon vier Langspielplatten mit Liszt besang, die bisher nicht auf CD vorliegen. Es blieb bei dem Versuch.

 

„Meister Oluf, der Schmied von Helgoland, verlässt den Ambos um Mitternacht.“ Mit diesen Worten beginnt Carl Loewes Ballade Odins Meeresritt. Der Bassbariton David Jerusalem hat sie an den Beginn seiner CD In Erlkönigs Reich gesetzt, die bei hänssler Classic erschienen ist (HC 17012). Besser konnte der Einstieg nicht gewählt sein. Raumgreifend zieht der Sänger seine Hörer in den Bann. Sie geraten ohne Umschweife in diese wundersame Welt, wo der feurige Rappe durch die Lüfte schießt, die alten Weiden so grau scheinen, ein Zwerg seine Königin im tiefen Wasser versenkt und Elfen auf grünem Strand tanzen. Balladen erzählen Geschichten, unheimliche und spannende Geschichten, sie stecken voller Symbole, Topoi und historischer Anspielungen. Als Relikte des Bildungsbürgertums sind sie aus der Mode gekommen. Umso erfreulicher ist es, dass sich ein junger Sänger, Jahrgang 1985, in aller Öffentlichkeit auf diese anstrengende Bildungsreise begibt. Und wieder Lust auf Balladen macht.

Jerusalem hat das Zeug dazu, denn er weiß, wovon er singt. Er huscht nicht über die wortreichen Strecken hinweg. Er lotet und kostet sie aus. In seinem Vortrag bleibt nichts offen. Dafür braucht es die Gabe verständlichen Singens, für die ein Sänger in der Übung bleiben muss. Jerusalem ist gut zu verstehen. Aus seinem Mund ließen sich die literarischen Vorlagen mitschreiben. Ein Vorzug, der nicht hoch genug zu schätzen ist. Daran hat der Pianist Eric Schneider hörbaren Anteil, weil er sehr sangesfreudige Tempi anschlägt und inhaltsbezogene Akzente setzt. Der umfassend gebildete Schneider ist ein Enkel des Schriftstellers Albrecht Schaeffer und hat zweitweise selbst Schauspielunterricht genommen. Er und Jerusalem sind ein perfektes Team für die gemeinsame CD mit Balladen von Carl Loewe und Franz Schubert. Mit dem Erlkönig gibt es sogar einen unmittelbaren Berührungspunkt zwischen den Komponisten. Beide Versionen sind vergleichend im Angebot. Und das ist gut so. Loewe muss sich nicht hinter Schubert verstecken. Für Schubert aber muss nicht gestritten werden. Für Loewe schon. Sein Platz in der Musikgeschichte ist ihm noch nicht sicher. Er ist aber im Kommen. In die große cpo-Edition mit allen Liedern und Balladen hatten sich seinerzeit viele jüngere Sänger eingebracht. Und die Internationale Carl Loewe Gesellschaft mit Sitz in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten, arbeitet wirkungsmächtig an der Verbreitung seines Schaffens und Ruhms. Kein Zweifel, die neue CD wird in diesem Kreis aus Fachleuten und engagierten Musikfreunden viel Aufmerksamkeit finden. Zumal sich Jerusalem nicht scheute, neben Meisterstücken wie Tom der Reimer und Herr Oluf auch die gern verspottete Uhr ins Programm genommen zu haben, die in seiner frischen Interpretation ihre Betulichkeit verliert.

Jerusalem hat sich ein eigenes Timbre mit Wiederkennungswert erarbeitet. Seine Stimme wirkt sehr belastbar. Flexibel kann er zwischen dramatischen und lyrischen Passagen wechseln. Mittellage und Tiefe sind stabil und fest. Der Aufstieg zur Höhe könnte noch eleganter und freier klingen. Wer in Loewes Archibald Douglas nach einem Text von Theodor Fontane über mehr als zwölf Minuten die Spannung hält, hat die Feuerprobe als Balladensänger bestanden. Es wäre erfreulich, würde dieses Genre in seiner Karriereplanung einen festen Platz behalten. Bisherige Stationen werden im Booklet aufgezählt: Kammeroper München, Konzerte mit dem von Karl Richter begründeten Bach-Chor und der Academy St. Martin in the Fields, Madrid, Niederlande, Deutsche Oper am Rhein, deren festes Mitglied er ist. Dort sang er Sarastro, Figaro, Masetto und Sparafucile. Einen nicht unwesentlichen biographischen Hinweis sucht man vergeblich im Begleitheft der CD. David ist der Sohn von Siegfried Jerusalem. Es ist nachzuvollziehen und nur zu verständlich, wenn ein aufstrebender Sänger als eigenständig wahrgenommen werden möchte und nicht als der Sohn eines sehr berühmten Vaters – auch wenn der nicht im gleichen Fach gesungen hat. Ich freue mich auf neue Aufnahmen.

 

Obwohl klassische Liederabende seltener geworden sind im alltäglichen Musikbetrieb, überraschen Firmen und Labels immer wieder mit entsprechenden Angeboten. Dabei ist es guter Brauch geworden, Liedprogramme unter ein bestimmtes Thema zu stellen. Der Bariton Rafael Fingerlos hat Stille und Nacht gewählt. Seine CD ist bei Oehms Classics herausgekommen (OC 1879). Mit knapp fünfundsechzig Minuten wurde die Kapazität nicht unnötig ausgereizt. Sechsundzwanzig Lieder sollten genügen, um die Aufnahmefähigkeit der Hörer nicht unnötig zu strapazieren. Die sollen ja nicht nur den einzelnen Liedern lauschen. Sie sind angehalten, bei jedem Titel den Bezug zum Thema herzustellen. Überraschend ist der Auftakt mit Das war der Tag der weißen Chrysanthemen von Robert Fürstenthal. Der wurde 1920 in Wien geboren, musste vor den Nationalsozialisten fliehen und betätigte sich in den USA als Wirtschafsprüfer, wie die Wiener Zeitung berichtet. „Die Kompositionen entstanden nebenher, ausschließlich Kammermusik und Lieder. Er komponierte für seine Jugendliebe. Nach der Trennung von ihr schrieb er keine Note mehr, als er sie wiedertraf, kehrte seine Inspiration zurück.“ Fürstenthal starb 2016. Fingerlos hatte ihm bereits eine ganze CD gewidmet, die Anfang des Jahres bei Toccata Classics herausgekommen ist. Sein Stil ist traditionell und erinnert am ehesten an Hugo Wolf und Richard Strauss, der auf der CD mit drei Liedern vertreten ist. Spürt ein Säger Nacht und Stille nach, dann sind Franz Schubert, Johannes Brahms und Robert Schumann nicht weit. Erfreulich ist, dass auch Peter Cornelius berücksichtigt wurde. Sein reiches Liedschaffen führt noch immer ein Schattendasein, aus dem es langsam herausfindet. Nicht zuletzt durch eine beispielhafte Edition seiner sämtlichen Lieder bei Naxos. Rudolf Polsterer (1879-1945), Österreicher wie sein Interpret, dürfte mit dem eingängigen Lied Die Zeit steht still seine Tonträgerpremiere haben. Es muss Fingerlos ein Bedürfnis sein, sich mit der Programmauswahl zu seiner Heimat bekennen zu wollen. Wer ihm auf Facebook einen Besuch abstattet, wird dafür viele persönliche Belege in Form von Fotos, Nachrichten und Erinnerungen finden – und auch auf diesen Satz stoßen: „Es gibt kaum was Schöneres, als Lieder singen, besonders mit einem großartigen Freund und Klavierpartner wie Sascha El Mouissi.“ Der begleitet auch auf der neuen CD, hoch sensibel und einfühlsam. Die Stimme klingt reifer, voller und voluminöser als es das Foto des jungen Mannes auf dem Cover im zeitgemäßen Schwarz-Weiß erwarten lässt. Gründlich hat er am Text gearbeitet. In jedem Moment ist er sich der Notwendigkeit bewusst, pointiert und deutlich zu singen. Das sind allerbeste Voraussetzungen für eine Karriere, in der Lieder nicht zu kurz kommen sollen. Für einen Sänger, der am Anfang steht, ist Rafael Fingerlos schon gut im Geschäft. Ins Fernsehen kam er als spielfreudiger Moralès in der Carmen aus Bregenz. An der Wiener Staatsoper, der er inzwischen angehört, ist der 31jährige mit Dr. Falke in der Fledermaus, dem Harlekin in Ariadne auf Naxos und dem Figaro im Barbier von Sevilla erfolgreich gestartet.

 

 

Franz Schuberts Schwanengesang findet sich bei aktuellen CD-Produktionen gern erweitert und umgestellt. Damit wird die Abfolge der letzten Lieder Schuberts in dem posthumen Zyklus, der auf den Verleger Tobias Haslinger zurückgeht, ganz bewusst in Frage gestellt. Jetzt hat der Bariton Roman Trekel bei Oehms Classics gemeinsam mit den Pianisten Oliver Pohl sein eigenes Konzept vorgelegt (OC 463). Begonnen wird mit dem Lied Schwanengesang, das Schubert im Herbst 1822 komponierte. Es folgen An den Mond (1815), Der Wanderer an den Mond (1826), Totengräbers Heimweh (1825) und Meeres Stille (1815). Dann setzen die nachträglich als Schwanengesang bekannt gewordenen Lieder ein, allerdings nicht in der überlieferten Reihenfolge. Dazwischen ist das Lied Herbst (1828) geklemmt. Dem Sänger und seinem Pianisten lag daran, die Lieder thematisch neu zu ordnen, wie im Booklet betont wird. Die Stimme Trekels ist dunkler und schwerer geworden. Auch geheimnisvoller. Ich fühle mich gelegentlich an Hans Hotter erinnert, der seinen gewaltigen Heldenbariton beim Liedvortrag stark zurücknehmen konnte, um ihn an passender Stelle voller Grimm wieder aufzudrehen. Das kann auch Trekel. Es scheint, als sinne er singend über die Lieder nach. Das hat großer Wirkung. Mit dieser CD dürfte er nach meinem Urteil eine seiner besten Aufnahmen vorgelegt haben.

 

Der Tenor Ilker Arcayürek wurde in Istanbul geboren. Wann, ist nirgends zu lesen. Nicht wenige junge Sänger haben es sich angewöhnt, den Jahrgang einfach zu übergehen, als sei das nicht vom Belang. Dabei haben sie das nicht nötig. Sie müssen sich nicht jünger machen. Sie sind es. Anhand der Daten über Debüts und erste Engagements lässt sich erahnen, in welcher Lebensphase sich jemand bewegt. Viel älter als dreißig dürfte Arcayürek nicht sein. Aufgewachsen ist er in Wien, wo angehende Sänger sozusagen an der Quelle sitzen. Erste Erfahrungen sammelte er beim Knabenchor der Stadt und als Mitglied des Arnold Schönberg Chores. Studiert hat er bei dem 1942 geborenen Wiener Tenor Sead Buljubasic, der aus Bosnien stammt und neben der Italienischen, französischen und slawischen Oper auch den Liedgesang pflegte. Seit 2015 ist Arcayürek Ensemblemitglied an Staatstheater Nürnberg. Auftritte hatte er auch am Salzburger Landestheater, in Zürich, im Concertgebouw Amsterdam und in Luzern. Er singt Rodolfo, Don Ottavio, Ferrando, Tamino, Nadir und den Alfred in der Fledermaus. In der Dresdner Keuzkirche machte er als Evangelist in Bachs Matthäuspassion von sich Reden. Am Teatro Real in Madrid ist er als Claudio in Wagners Liebesverbot aufgetreten, wovon es auch eine DVD bei Opus Arte gibt (OA BD7213 D). Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen gab er bei einer konzertanten Aufführung von Donizettis Lucrezia Borgia den Vitellozzo. Kritiker rühmen seinen hellen, strahlenden Tenor, stellen seine Natürlichkeit heraus, seinen geschulten Umgang mit dem Wort und lassen auch sein gutes Ansehen nicht unerwähnt. Diesem Urteil schließe ich mich gern an. Jetzt hat Ilker Arcayürek seine erste Lieder-CD vorgelegt. Sie ist bei Champs Hill Records London erschienen (CHRCD133), wo auch schon andere junge Sänger, die sich mit Liedern erproben wollen, großzügige Starthilfe auf Tonträgern bekamen. Einer von ihnen war der deutsche Bariton Benjamin Appl, den inzwischen Sony unter Vertrag genommen hat.

Die neue CD heißt Franz Schubert: Der Einsame. Dafür gibt es im Werk des Komponisten reichlich Stoff und Anhaltpunkte. Es ist erfreulich, dass junge Sänger keinerlei Scheu haben, offen mit ihren Gefühlen umzugehen und das auch mit ihren Programmen deutlich machen. Sie suchen in Werken, zu denen sie sich hingezogen fühlen, den Bezug zum eigenen Leben, zu ihren Träumen, Hoffnungen oder auch der eigenen Einsamkeit, der sie mit Hilfe der Kunst auf den Grund kommen wollen. Sie verschließen das eigenen Ich nicht vor der Öffentlichkeit, geben preis, was die Generation vor ihnen noch verschloss und mit Kunst sublimierte. Macht sich die Wirkung von Social Media auch auf diese Weise bemerkbar? Wenn ja, wäre das nicht schlechteste Erfahrung unserer Zeit. Arcayürek: „Franz Schuberts Musik und auch die Einsamkeit begleiten mich seit meiner Kindheit. Einsamkeit kann aus meiner Sicht durch viele Begebenheiten entstehen – durch Liebeskummer, einen Verlust, aber auch durch Umzug in ein neues Land.“ Die Vielfalt in Schuberts Gefühlswelt und seiner Musik hätten ihn „schon früh in ihren Bann gezogen“. Und weiter schreibt er in seinem Text über die Aufnahmen der Lieder: „Die Einsamkeit auszufüllen gelingt mir besonders gut, wenn ich selbst musiziere.“ „Frühlingsgaube“, „Schäfers Klagelied“, „Der Schiffer“, „Drei Gesänge des Harfners“, „Nacht und Träume“, „An den Mond“, „Wandrers Nachtlied“ II sind – den Harfner dreifach gezählt – neun Titel von insgesamt dreiundzwanzig. Für zehn Minuten wäre noch Platz gewesen auf der CD. Warum aber einen Gedanken auswalzen. Bei der Programmauswahl wird also größtenteils auf Bewährtes zurückgegriffen. Das ist dem Sänger insofern hoch anzurechnen, weil er den Vergleich mit der übermächtigen Konkurrenz nicht scheut. Muss er auch nicht. Was gehen ihn Fischer-Dieskau, Prey oder Wunderlich an? Ich bin fest davon überzeugt, dass er die Kollegen, die den Jahren nach seine Großväter hätten sein können, gut studiert hat. Wenn er etwas von ihnen lernte, dann sein starkes Bemühen, die Texte deutlich herüberzubringen. Ohne diesen Genauigkeitsfanatismus braucht ein Liedsänger gar nicht erst ins Studio oder vor das Publikum zu gehen. Arcayürek, der – wie sein Kollegen David Jerusalem und Rafael Fingerlos – gar nicht so jung klingt wie er aussieht, ist noch nicht am Ende seiner stimmlichen Möglichkeiten. Er hat einen schier endlosen Atem. Bestimmte Phasen kommen viel stärker zur Geltung, wenn sie nicht unterbrochen werden müssen, um Luft zu holen. Gleich im zweiten Lied, dem „Nachtstück“ bringt er diese Fähigkeit wunderbar zur Geltung. Die Stimme fließt ruhig dahin. Er weiß, was Legato ist. Rüdiger Winter

Niksa Bareza

 

Vielen Operngängern, von Berlin über Hamburg und Wien bis San Francisco, wird Nikša Bareza noch aus den 80er Jahren bekannt sein, vor allem im italienischen Repertoire. Im selben Jahrzehnt erarbeitete er sich in seiner Chefposition in Graz auch als Wagner-Dirigent einen exzellenten Ruf, der ihn u.a. an die Mailänder Scala führte und auch in seiner Zeit als Generalmusikdirektor in Chemnitz begleitete. Und selbst nach so vielen Karrierestationen und einem runden Geburtstag im vergangenen Jahr hält der in Split geborene Künstler (Jg. 1936) dem Theater die Treue.

Niksa Bareza/ Kuturmanagement GmbH

Für Januar/Februar 2018 ist am Nationaltheater Zagreb Der fliegende Holländer geplant; im  Herbst 2017 dirigierte Bareza dort eine Wiederaufnahme von Prokofjews Liebe zu den drei Orangen, die, kurz nach der Premiere im Frühjahr, ein Gegenstand unseres Gesprächs waren: „Ich habe dieses Werk bereits als junger Mann dirigiert und bin sehr glücklich, jetzt noch einmal dabei am Pult zu stehen. Es ist bis heute ungeheuer modern, wie Prokofjew so distanziert, herausgelöst aus der Aktualität, seine Komposition entwickelt hat und zugleich so originell mit der Vorlage von Gozzi umgegangen ist.” Die Entwicklungslinien im Schaffen großer Komponisten, besonders vor politischen Hintergründen, haben Bareza schon immer fasziniert. Durch die Erhebung einzelner Stücke zum Kanon droht die Vernachlässigung der experimentellen Seite von Werken, die fälschlicherweise oft als unausgereift abgetan worden sind (wie z.B. in Prokofjews Fall Der Spieler). Im Gegensatz dazu, findet Bareza, ist es geradezu als Ironie des Schicksals zu sehen, dass an Prokofjews Krieg und Frieden oder Romeo und Julia, nach der Rückkehr des Komponisten in seine russische Heimat, häufig gerühmt wurde, der Komponist habe endlich seinen persönlichen Stil gefunden.

Eben die ästhetischen und stilistischen Wandlungen desselben Komponisten von einem Werk zum anderen haben ihren Reiz auf Bareza ausgeübt. Wohl kaum ein Dirigent hat das Opernschaffen von Verdi, Wagner und Puccini, gleichmäßig verteilt auf jeden der drei, so komplett erkundet wie Bareza. Bei Wagner betont er, dass bereits im Liebesverbot motivische Anklänge an Tannhäuser und sogar Parsifal feststellbar sind. „Von Verdi habe ich, ausgehend vom Nabucco bis zum Falstaff, 15 Werke dirigiert – außerdem noch das Requiem und Te Deum.” An Verdi hebt Bareza den wiederum geradezu experimentellen Umgang mit den Form-Schemata hervor, vor allem von Cantabile und Cabaletta, bis dieser in der Zusammenarbeit mit Boito vollends aufgebrochen und aufgehoben wird. „Neben der oft zitierten ,verità’, gehörte zu den Prioritäten der Librettisten die ,unità’ – also das Verfassen des Libretto, um eine strukturelle, ja architektonische Einheit mit der Musik zu gewährleisten. Das ist eine Werkdimension, die manche Dirigenten ignorieren oder übersehen, obwohl wir einen Lehrer haben und seine Aufnahmen noch studieren können, der mit Verdi gearbeitet hat:Arturo Toscanini.”

Niksa Bareza mit dem Tenor Sebastian Ferrada anlässlich der „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb/ Nationaltheater Zagreb

Nicht umsonst war es ebenfalls Toscanini, der noch für die Komponisten der Generation nach Verdi eine Schlüsselfunktion innehatte: Puccini, aber u.a. auch Arrigo Boito: „Es ist auch bemerkenswert, dass Boito Literat aus dem Kreis der Scapigliatura war, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Dada-Bewegung des 20. Jahrhunderts aufweist. Boitos starke Affinität zu Wort und Text hat natürlich auch seine Beschäftigung mit Goethe und damit den Mefistofele geprägt; später war Boito dann durch die enge Zusammenarbeit mit Verdi bei der Arbeit an Nerone gehemmt.” Nerone ist eine der vielen Raritäten des italienischen Repertoires, die Bareza dirigiert hat – zuletzt Sakuntala von Alfano, 2016 in Catania. „Alfano ist tatsächlich ein weiterer zu Unrecht vergessener Meister. Ich habe mich schon vor einigen Jahrzehnten mit Rissurezione in Palermo für seine Wiederentdeckung eingesetzt. Bei Sakuntala ist allein schon die Instrumentierung großartig, aber man muss erneut besonders auf die Sprachbehandlung achten.”

Nicht zuletzt an diesem Punkt legt Bareza großen Wert auf eine intensive Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Sängerensemble. Nicht nur bei Ausgrabungen, gerade auch bei Puccini, betont Bareza, gelte es jegliche Schlamperei zu vermeiden, um der kompositorischen Meisterschaft gerecht zu werden, die er durchaus auf eine Stufe mit jener Gustav Mahlers rückt. Freilich hat sich der Opernbetrieb seit den Zeiten Puccinis, Mahlers und Toscaninis gewaltig verändert. „In Catania war bei Sakuntala eine kurzfristige Umbesetzung vonnöten, die im Stagione-Betrieb bei einem so selten gespielten Stück kaum zu bewerkstelligen ist. Das traditionelle deutsche Ensembletheater war und ist insofern ein Privileg, da bestimmte Stücke nur unter diesen Bedigungen realisierbar sind. Aber auch in Zagreb sind wir immerhin imstande, Die Liebe zu den drei Orangen aus dem Ensemble heraus zu besetzen, abgesehen von Michael Hendrick als Prinz.” Mit diesem Gast-Tenor als Waldemar brachte Nikša Bareza 2016 auch überaus erfolgreich Schönbergs Gurrelieder, als kroatische Erstaufführung, zur Aufführung.

Niksa Bareza/ Nationaltheater Zagreb

„Für den Sommer 2017 hatte sich im Ensemble sogar die Möglichkeit ergeben, die Modena-Fassung von Verdis Don Carlo, mit so vielen Proben einstudieren, wie das im heutigen internationalen Jet-Set-Betrieb gar nicht möglich ist. Das ist, so gravierend die wirtschaftlichen und damit verbunden kulturellen Probleme in Kroatien sind, eine positive Kehrseite: die große künstlerische Freiheit, mit einem im internationalen Vergleich kleineren Budget konzentriert arbeiten zu können.“ Die Frage, ob für ihn in dieser Hinsicht musikalisch noch andere Parameter gelten als an den größten Opernhäusern und Festspielen gefeierte Brillanz und Glamour, beantwortet Nikša Bareza: „In dieser Hinsicht halte ich es wie mein verehrter Kollege Nikolaus Harnoncourt: lieber eine falsche Note als eine falsche Phrase.“  (Foto oben: Niksa Bareza bei Proben zur „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb) Sebastian Stauss

Preußische Zauberflöte

 

Johann Friedrich Reichardt ist heute vor allem noch bekannt als Lied-Komponist, von ihm stammen zum Beispiel die Melodien zu Volksliedern wie „Bunt sind schon die Wälder“ oder „Wenn ich ein Vöglein wär“. Aber Reichardt hat auch Opern geschrieben, eine davon ist jetzt bei cpo erschienen, Die Geisterinsel.  Eine Schaueroper ist das leider nicht. Und die war von Reichardt auch nicht zu erwarten. Obwohl dieser Komponist einer der großen Förderer der Romantik war, er war eng verbunden mit Arnim und Brentano, blieb er doch selbst der Aufklärung immer verhaftet. Dieses Opernhauptwerk von ihm, ein Singspiel von 1798, beschäftigt zwar viele Geister, Sylphen und Dämonen, aber das alles bleibt ein klassizistisches Gaukelspiel, und die wenigen düsteren, verhangenen Töne hat sich Reichard bei Mozart ausgeborgt. Und auch noch manch andere heitere Wendung…

Der Zauberflötenton herrscht vor. Die Geisterinsel ist Maschinen-Spektakelstück und frühe Shakespeare-Adaption zugleich; der „Sturm“ war hier die Vorlage. Es geht um italienische Adlige, die an einem verwunschenen Eiland landen und sich hier mit diversen Elementargeistern herumplagen müssen. Die großen Gefühle wie Freundschaft und Liebe stehen natürlich, typisch Aufklärung, im Mittelpunkt, interessanterweise geht’s aber auch dauernd um Müdigkeit – vielleicht ein zentrales Thema am langweiligen preußischen Hof, für den das Stück konzipiert wurde?

Schön, dass hier, in dieser sehr langen Rundfunkproduktion des WDR von 2002 (153 Minuten!) mal nicht versucht wurde, den Text der Dialoge zu modernisieren. Man sagt hier also wirklich „kömmt“ statt kommt, die für unsere Ohren oft lächerliche Gestelztheit sticht grell hervor, oft ist der Text Gotters und Einsiedels  in seiner Schlichtheit aber auch herzlich rührend. Unterm Strich merkt man doch, wie provinziell die deutsche Oper damals war gegenüber der französischen und italienischen Oper.

Auch musikalisch bleibt das Werk weit hinter dem internationalen Niceau zurück. Hört man sich etwa Peter von Winters Wiener Singspielmusik aus dieser Zeit an (ganz zu schweigen von den ambitionierten italienischen Buffe um 1800 von Mayr oder Spontini), wirkt diese preußische Zauberflöte doch etwas steifleinern. Dennoch könnte man hier von einem wichtigen historischen Dokument sprechen – denn genau das zu belegen erfordert einen gewissen Mut bei den Produzenten –, wäre die Einspielung rundum gut gesungen.

 Tolle Herren, bemühte Damen: Was nicht der Fall ist. Ich glaube, dass man die Gattung hier gewaltig unterschätzt hat.  Deutsches Singspiel um 1800, das klingt nach simplen Anforderungen. Aber weit gefehlt, der naive Ton ist nämlich so naiv gar nicht, er tut nur so – im Detail sind das dann schon vertrackte Noten, und wenn man das nicht wie aus dem Handgelenk zelebriert, wirkt es wie ein mißlingenes Souffle, dann wird das matschig und zäh, was eigentlich fluffig sein soll. Alle Männer sind zufriedenstellend, besonders Markus Schäfer als Fernando ist zu loben, ein schöner lyrischer Tenor, der die (angestrebte) Mozart-Nähe der Partitur wirklich würdevoll unterstreicht. Die drei Damen bleiben allesamt  frustrierend, (kein Zauberflöten-Kalauer, ehrlich!)  Diese Unagilität und Mühsamkeit der weiblichen Stimmen liegt Mehltau auf die Aufnahme (Ulrike Staude, Barbara Hannigan, Romelia Lichtenstein), im Gegensatz zu den Herren Ekkehard Abele, Tom, Sol und Jörg Hempel.  Was wirklich schade ist. Denn Herman Max und sein exzellentes Ensemble Das Kleine Konzert geben ihr Bestes. An ihnen liegt`s nicht, dass kein so rechter Schwung in die amüsanten Ensembles kommt, die doch das Beste an diesem bizarren Stück sind (cpo 2 CDs cpo 777548-2). Matthias Käther

Arme Elvira!

 

Will man seine Erfahrungen verallgemeinern, so bevorzugt das Publikum in schlechten Zeiten die heitere Kunst, geht es ihm gut, geben sich die Künstler gern miesepetrig und servieren ihm Übles jeder Art, so auch auf der Opernbühne. Als Beispiel, wenn auch der milderen Ausführung, mag die Inszenierung von Bellinis I Puritani an der Nederlandse Opera durch Francisco Negrin von 2012 gelten, wenn dieser am Schluss des eigentlich  happy  zu Ende gehenden Stücks Arturo von seinem Rivalen Riccardo niederknallen lässt und wenn der gute Onkel Giorgio nebst dem Chor zu anteilnehmendem Gesang dräuende Gebärden gegenüber der unglücklichen Elvira zeigen. Ein bisschen crudeltà muss sein, und ansonsten ist die Regie behutsam im Umgang mit dem fragilen Werk und seiner ebenso beschaffenen Heldin. Es Devlin siedelt die Puritaner in blinkendem Metall an, das mit unentzifferbarer Blindenschrift bedeckt ist, nur selten öffnen sich die engen Mauern und geben den Blick auf Himmel und Meer frei. Der Chor singt meistens von Emporen herab, die Kostüme von Louis Désiré können als solche der Handlungszeit durchgehen, charakterisieren die Puritaner als strenges, weltlichem Tand abholdes Volk, dem Gesangsbücher in ungeheurer Anzahl immer und überall zur Verfügung stehen, Elvira aber trägt einen Aktenordner mit sich herum, von dem nie ganz klar wird, was er enthält.  Die Lichtregie sorgt dafür, dass die Alu-Dekoration mal silbern, mal golden blinkt.

Sehr uneinheitlich ist die Besetzung für das seltener zu erlebende Werk. Der einzige Italiener im Ensemble ist Riccardo Zanellato mit ebenmäßig gefärbtem, kraftvollem Bass als Sir Giorgio. Neben ihm ist John Osborn als Arturo ein großes Plus der Aufführung mit bei aller Leichtigkeit der Stimmführung virilem Tenor der ungefährdeten Höhe  auch in den berüchtigten extremen acuti, die nicht Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel zu sein scheinen. Dazu sieht er auch noch gut aus und kann gut als jugendlicher Held durchgehen. Sehr poetisch und agogikreich gestaltet er die Abschiedsszene und am Schluss dominiert er unangefochten  das Ensemble. Der Bariton seines Gegenspielers Riccardo, gesungen von Scott Hendricks, hat eine angenehme Farbe, aber der Sänger klingt in der Höhe leicht gequetscht, drückt zu sehr auf die Stimme und findet oft nicht zu einer ruhigen Gesangslinie.  Daniel Borowski klingt zu dumpf in der kleineren Partie des Gualtiero.

Leider ist die Stimme von Mariola Cantarero, die ehemalls als nun verlöschender shooting-star gefeiert wurde die Elvira singt, nicht mehr so üppig wie ihre Erscheinung, ist ihr Spiel so verhalten, dass daneben die kleine Partie der Enrichetta, von Fredrika Brillemboug mit Feuer und Leidenschaft gesungen und gespielt, mächtig aufgewertet wird. Im zweiten Akt kann der Sopran mit einer schönen Mittellage für „lasciatemi morir“ punkten, aber die Höhe ist grell, und die mezza voce klingt flach.

Martin Wright  hat den Chor bestens vorbereitet, das Orchester unter Giuliano Carella erfüllt seine Begleiterfunktion perfekt (DVD Opus Arte 1091). Ingrid Wanja

Nur akustisch attraktiv

 

Als Glück erweist sich manchmal das eingeschränkte Blickfeld einer Videokamera, die es dem Betrachter einer DVD am häuslichen Fernseher erspart, allzu früh von dem absurden Einfall eines Regisseurs Kenntnis nehmen zu müssen. Im Falle des Fliegenden Holländer aus Lyon, der auch nach Madrid reiste, wo die Aufnahme entstand, ist es die geniale Idee, Daland und Holländer nur ein einziges Schiff zuzugestehen, das sich zudem noch im bedauernswerten Zustand des Abgewracktwerdens befindet, und das alles nicht etwa in Norwegen, sondern an einem wohl indischen Strand, wie es die Metallteile säubernden und nicht etwa das Spinnrad bedienenden exotischen Damen vermuten lassen. Alex Ollé hat sich das alles einfallen lassen und mit Unterstützung von La Fura dels Baus in die Tat umgesetzt. Im ersten Akt kommt also Daland auf einer Riesentreppe von der Reling des rostigen Tankers, während der Holländer samt Mannschaft offensichtlich im Bauch desselben haust. Echter Sand türmt sich zu mannshohen Dünen und erleichtert weder Solisten noch Chor irgendwelche Bewegungen. Handlung und Charaktere bleiben  unangetastet, wenn auch in diesem Ambiente höchst befremdlich, am Schluss schmiert sich Senta mit der weißen Paste ein, die dem Holländer das Aussehen einer sehr lange dem nassen Element ausgesetzten Wasserleiche verlieh, d.h. wohl, sie ist bereit, sein Schicksal zu teilen, ihn so zu erlösen. Auch von Ferne an menschliche Körper erinnernde, sich in den Elementen Luft und Wasser auflösende Schatten legen das nahe.

Einige vorzügliche Sänger trösten über optisches Ungemach hinweg, allen voran die wunderbar intensive Senta von Ingela Brimberg, die auch bei Großaufnahmen mit feiner Mimik und Gestik Angenehmes und Beeindruckendes vermittelt und deren heller, aber durchaus dramatischer Sopran keine Schwächen kennt, bei den Intervallsprüngen geschmeidig bleibt und keine Höhenprobleme hören lässt. Sie spielt sehr nachvollziehbar die von ihrer Mission geradezu Besessene. Eine Ausnahmestimme dunkel-dräuender Farben hat auch der Holländer von Samuel Youn, aber darstellerisch bleibt er zu statuarisch, den Text beherrscht er leider nur unzureichend, und was die Gesangslinie betrifft, bleiben ebenfalls viele Wünsche offen. Ganz anders verhält es sich mit Namens- aber keinesfalls sonstigem Vetter Kwangchul Youn, der für den Daland ein fast schon zu edles Timbre, ein sehr schönes, auch für Wagner durchaus passendes Legato und eine bemerkenswerte Textverständlichkeit hat. Einen kraftvollen Zwischenfachtenor setzt Nikolai Schukoff für den Erik ein, spielt ihn leidenschaftlich und wird nur in der Höhe etwas enger. Benjamin Bruns singt mit hübschem lyrischem Tenor den Steuermann, Kai Rüütel ist eine noch junge Mary mit ebensolcher Mezzostimme. Das Orchester unter Pablo Heras-Casado spielt besser, als die recht unbestimmte Zeichengebung des Dirigenten erwarten lässt. Ebenso ist der von Andrés Máspero einstudierte Chor, der auch ein gutes Deutsch singt, auf der Anspruchshöhe einer Hauptstadtoper.  (harmonia mundi Bluray und DVD HMD 9809060-61). Ingrid Wanja 

 

Aus diesem Wald ist kein Entkommen

 

Die 70er sind die neuen 50er. Nachdem die 1950er Jahre zweitweise die Bühnen beherrschten und alle Handlungen in die Rock and Roll-Ära verlegt wurden, sind nun die 70er Jahre dran. Zumindest in der Pelléas et MélisandeInszenierung des 40jährigen Benjamin Lazar, der Debussys Drame lyrique in Malmö herausbrachte, wozu die deutsche Übersetzung im Beiheft der DVD behauptet (BelAir BAC 144), „Die Malmöer Oper und ihr Direktor Bengt Hall haben uns im Jahr 2016 die Uraufführung von Pelléas und Mélisande in ihrem Haus anvertraut, also in den Räumen des Theaters, das Ingmar Bergmann von 1952 bis 1958 geleitet hatte“. Natürlich handelt es sich „nur“ um die Erstaufführung in dem Haus, in dem tatsächlich in den 1950er Jahren Schauspieler wie Ingrid Thulin und Max von Sydow unter Bergmann auftraten.

Bühnenbildnerin Adeline Caron ließ sich von Golauds Worten „Diesem Wald werde ich nicht mehr entkommen können“ anregen und schuf ein wandelbar helldunkles Waldbild, in das auch die Szenen in den Innenräumen von Schloss Allemonde, dessen Fenster und Einrichtungsgegenstände wie aus dem Nichts auftauchen, eingebettet sind. Lazars Inszenierung trifft auf starke Konkurrenz. Von Guth über Kosky, Sellars, Marelli, Katie Mitchell, Tcherniakov und Warlikowski haben sich Exegeten des geheimnisvollen Stücks angenommen, das an der Berliner Staatsoper auch noch in der inzwischen schon historischen Berghaus-Inszenierung existiert, in der Villazón im kommenden Jahr den Pelléas geben will. Neben den schönen, von Mael Iger höchst stimmungsvoll illuminierten Naturbildern, die geradezu zum Verweilen einladen, bringt Lazars hoch ästhetische Inszenierung keinen neuen Erkenntnisgewinn. Die Beziehung zwischen dem musterschülerhaften Pelléas, den Marc Mauillon, mit leichtem Bariton singt, von dem man sich fragt, was ihm ansonsten für Partien zufallen könnten – vermutlich ist der Pelléas eine Grenzpartie für ihn –  und der süßen Mélisande von Jenny Daviet, der es im kurzen Röckchen und grünem Pollunder etwas an der unwirklichen Aura der Figur fehlt, hat er zärtlich wie eine erste Teenagerliebe ausgemalt. Aber auch zwischen den beiden Jungen und dem deutlich älteren, in seiner resignativen Zurückgezogenheit sympathischen Golaud, für den Laurent Alvaro einen grobkörnigen Bariton bereithält, ergeben sich nachvollziehbare Begegnungen. Das schüchtern scheue Zusammenspiel der drei mir bislang unbekannten Franzosen, die auch den Text mit exquisiter Prononciertheit gestalten, gelingt bemerkenswert subtil. Ein paar Stunden beim Vocalcoach hätten Emma Lyréns Geneviève und vor allem Stephen Bronks Arkel, dessen Bass-Bariton es auch an gravitätischer Würde fehlt, nicht geschadet. Schön, wie zärtlich Yniold (Julie Mathevet) am Ende Mélisandes Tochter aus dem Kinderwagen nimmt.

Selten war die Wagnernähe so deutlich zu spüren, und vielleicht dachte man deshalb bei diesem Wald mehrfach an Parsifal, wie bei Maxime Pascal, der Chor und Orchester der Malmö Opera mit Energie leitete. Gut denkbar, dass die Zuschauer in Malmö die Balance nicht so vorteilhaft erlebten und der spannungsreiche Orchesterklang die Sänger etwas überdeckte.  Rolf Fath

Bruno Granichstaedten – Stationen eines Lebens

 

Als einziger seiner Kollegen der Komponistengilde wohnte Emmerich Kálmán am 2. Juni 1944 in New York der Trauerzeremonie für Bruno Granichstaedten bei. Auch Kálmán war erst 1940 nach New York gekommen, und wie Granichstaedten konnte er in Amerika nicht mehr richtig Fuß fassen. Mit Beiträgen zur Austrian Sylvester Cavalcade 1942, zu der auch seine einstigen Konkurrenten Paul Abraham, Ralph Benatzky und Robert Stolz Musik beisteuerten, hatte sich Granichstaedten in den USA ein letztes Mal Gehör verschafft. Die Einladung zu der Silvester-Gala der Wiener Operette hatte ihn geradezu in Euphorie versetzt; stolz verschickte er am nächsten Tag an Freunde und Kollegen Autogrammkarten mit der WidmungVom Wiener Herz am Sternenbanner“, die auch den Titel der neuen Granichstaedten-Biografie abgab, die jetzt Ernst Kaufmann, der Neffe von Granichstaedtens zweiter Frau Rosalie, vorlegte, und die, wie wir es von Biografien Benatzkys, Abrahams und Kálmáns kennen, einmal mehr das Schicksal eines in Wien und Europa gefeierten und in der Emigration entwurzelten Komponisten aufrollt.

Bruno Granichsteadten mit Betty Fischer und Dirigent Ernst Marischka/HafG

Bruno Granichsteadten mit Betty Fischer und Dirigent Ernst Marischka/HafG

Dabei durfte sich Granichstaedten berechtigte Hoffnung machen, auch in der Neuen Welt an seine Wiener Erfolge anknüpfen zu können, war er doch bereits 1930, nachdem er durch den Börsenkrach 1929 sein Vermögen verloren hatte, nach Hollywood gereist und hatte gemeinsam mit Nacio Herb Brown die Musik zu zwei Filmen geschrieben. Zehn Jahre später wollte dort keiner mehr etwas von ihm wissen. 1940 waren Rosalie Kaufmann und er nach New York gekommen. Vorausgegangen waren die Inhaftierung durch die Nazis und eine abenteuerliche Flucht über Luxemburg, wo für Granichstaedten die alte Operettenwelt nochmals kurz aufblühte. Als der schwer Herz leidende Granichstaedten die beschwerliche Reise von New York nach Hollywood auf sich nahm, fertigten ihn die Bosse kurz ab. Das traurige Schlusskapitel einer glänzenden Karriere, auf deren Höhepunkt Granichstaedten mit seinem 1925 uraufgeführten und bis zum Zweiten Weltkrieg über 2000 mal gespielten Der Orlow einer der wesentlichen Vertreter der Silbernen Operette war; Granichstaedten meinte später übrigens, dass er mit seinem Orlow und der die Geschichte eines nach Amerika geflüchteten russischen Großfürsten, dem als einziges Erbstück der Orlow-Diamant verblieben ist, Lehár zu seinem Zarewitsch inspiriert habe. Über dem Lied „Für dich mein Schatz, für dich“ stand zum ersten Mal in einer Operettenpartitur „Tempo di Blues“. Der Orlow war auch die einzige von Granichstaedtens Operetten, die später nochmals aufgegriffen wurde, darunter 1959 am Raimundtheater mit Johannes Hesters und 1963 an der Wiener Volksoper mit Eberhard Waechter. Für den Orlow hatte der Kettenraucher Granichstaedten auch das Zigarettenlied mit dem Refrain „Schicksal hau zu, ich halt was aus!“ geschrieben. Unvergänglich dürfte indes einzig das Lied des Zahlkellners Leopold „Zuschau’ n kann i net“ bleiben, Granichstaedtens Beitrag zu Benatzkys Operette Im weißen Rössl.

Bruno Granichsteadten mit seiner Frau Rosalie/HafG

Bruno Granichsteadten mit seiner Frau Rosalie/HafG

Begonnen hatte alles wie in einer Operette: Als der aus einer kunstsinnigen jüdischen Familie stammende Bruno Granichstaedten 1879 getauft wurde, war Alexander Girardi sein Taufpate. Bereits mit fünf Jahren erhielt er Klavierunterricht bei Anton Bruckner und mit 16 Jahre wurde er gelegentlich von Hugo Wolf unterwiesen. Er begann ein Musikstudium in Leipzig und erhielt noch während seiner Ausbildung das Angebot, als Korrepetitor an die Münchner Hofoper zu kommen, eine Stelle, die er bald verlor, weil er sich in der Kabarettszene um Frank Wedekind profilierte. Mit großem Erfolg wird 1908 in Wien seine erste Operette uraufgeführt. Von nun an geht es Schlag auf Schlag: fast jedes Jahr folgt eine neue Operette, manchmal sogar mehrere, wenige sind Flops. Die größten Erfolge – neben Der Orlow – sind 1915 Auf Befehl der Kaiserin, deren 500. Aufführung der kriegsverletzte Komponist mit schweren Schmerzmitteln und Stützkorsett dirigierte, 1921 Indische Nächte. Granichstaedten war ein Vorreiter. Herbert Prikopa schreibt in seinem Vorwort, „man vergisst vor allem, dass Granichstaedten es war, der alle modernen Tänze, alle modernen, meist aus Amerika kommenden Klänge mit der Operette musikalisch verband. Er scheute sich nicht, zusammen mit einem normalen Theaterorchester auch eine Jazzband auftreten zu lassen, Saxophon und Vibraphon gehörten zu seinen Schlagern und diese wurden wegen der neuen Instrumentation und der Verwendung von Blues und Shimmy bejubelt“. In seinem Buch setzt Ernst Kaufmann dieses Leben romanhaft in Szene – mit vielen Dialogen und Erlebnissen als habe er immer hinter dem Sessel gehockt und alles fleißig aufnotiert. Was ein bisschen anmutet, wie die fantasievollen Künstler-Biografien der 1930er und 40er Jahren erhält durch Kaufmanns familiären Hintergrund seine Berechtigung, „Rosalie, die nach dem Krieg in Amerika geblieben war, besuchte Granichstaedtens Grab regelmäßig und verbrachte jeden Sommer einige Wochen in Wien. Ich erinnere mich lebhaft an ihre Erzählungen, durch die sein Leben, sein Zugang zu Musik und die Kreise, in den er sich bewegte, ein Teil meines Denkens wurden“Rolf Fath

 

Der Wiener Regisseur/Autor und Granichstaedten-Neffe Ernst Kaufmann/ORCA

Der Wiener Regisseur/Autor und Granichstaedten-Neffe Ernst Kaufmann/ORCA

Ernst Kaufmann, Wiener Herz am Sternenbanner. Bruno Granichstaedten Stationen eines Lebens.; 314 Seiten, Edition AV, ISBN 978-3-86841-096-9

Beim Hamburger Archiv für Gesangskunst sind zwei Operetten Granichstaedtens in historischen Aufnahmen herausgekommen und in operalounge.de besprochen worden: Auf Befehl der Kaiserin und Der Orlow.

DornröschenHecke aus Kruzifixen

 

Man nehme eine allseits beliebte und bekannte Oper (diesmal Norma), entwerfe ein spektakuläres Bühnenbild, versetze die ohnehin bereits unwahrscheinliche Handlung in eine (modernere) Zeit, in der sie geradezu absurd wirkt, füge mehr Sex und Crime hinzu, als Opern, allerdings als Liebe und Verrat, ohnehin enthalten, stecke die Sänger in möglichst moderne und damit eher unvorteilhafte Kleidung und lasse ihre Figuren möglichst lächerlich erscheinen, da sie sich mit Problemen herumschlagen müssen, die es in der Zeit, in der das Stück nun spielt, gar nicht mehr gibt. Das halbe Feuilleton und ein kleiner Teil der Zuschauer werden jubeln, alle anderen werden schweigen, um nicht als hoffnungslos altmodisch zu gelten, als einfach zu blöd, die geniale Inszenierung zu verstehen.

So hat es Àlex Ollé von La Fura dels Baus mit dem Fliegenden Holländer in Lyon und Madrid gehandhabt, wenn Daland und Holländer sich an indischem Strand aus dem Wrack eines rostigen Tankers schälen, und so tut er es auch in London mit Bellinis Norma, wo ihm Alfons Flores eine Art Dornröschenhecke aus Kruzifixen entworfen hat, die ungemein attraktiv wirkt, besonders wenn ihre Beleuchtung wechselt, und wo Lluc Castells Pollione in einen zu engen Straßenanzug gesteckt und Adalgisa zur dicklichen Matrone im Sackkleid degradiert hat. Eine strenge katholische Riten pflegende Sekte will sich von der Herrschaft des Zivilisten Pollione befreien, alte Männer in Generalsuniform kriechen mit Maschinenpistolen durch die Dornenhecke, Normas Kindlein (das Mädchen mit Brille, die auch zum Schlafen nicht ablegt wird) spielen zu den Koloraturen der beiden Damen Hopseball, im Fernseher läuft ein Kinderprogramm, in dem es grausam wird, wenn Norma das Messer gegen den Nachwuchs zückt, der auch noch in der letzten Szene auf die Bühne geschleppt wird. Oroveso erschießt Norma in väterlicher Sorge wegen der Leiden, die ein Feuertod verursacht, und Pollione muss allein auf den Rogo im Hintergrund schreiten, wo er doch schon von Norma kurz vor „Sublime donna“ einen kräftigen Tritt in den Schritt und Nasenbluten aushalten musste. Der willige Opernbesucher hat sich damit abgefunden, an zwei unbemerkte Schwangerschaften und ebensolche Entbindungen, dazu die unentdeckt bleibende Aufzucht zweier lebhafter Sprösslinge von Pollione und Norma zu glauben, einfach glauben zu wollen, aber mit dieser Inszenierung wird sein guter Wille überfordert.

Die Produktion sollte eigentlich Anna Netrebko zur Protagonistin haben, die jedoch, weil sie sich stimmlich der Partie bereits entwachsen fühlte, durch Sonya Yoncheva ersetzt wurde. Sie ist eine vokal sehr mädchenhafte Norma mit heller, eher in Richtung Sutherland als Callas gehender Sopranstimme, technisch sehr sicher und sich nicht vor die Rolle drängend. Das ist bei dieser jedoch eher ein Nach- als ein Vorteil, da man einer der genannten Superdiven eher verzeiht, was Norma eigentlich zu einer unsympathischen Figur macht, wenn sie ihr der Priesterin blind vertrauendes Volk an der Nase herumführt, ihre Entscheidungen danach ausrichtet, wie gerade ihr privates Empfinden, d.h. ihre Stellung zu Pollione ist. Zur Yoncheva passt der noch lyrische Tenor von Joseph Calleja sehr gut zum Pollione, für den man sich ansonsten eine Corelli-Stimme vorstellen könnte. Seine Stimme hat ein sehr schönes Timbre, kennt keine Registerbrüche oder Höhenprobleme. Etwas müde hört sich der Mezzosopran von Sonia Ganassi als Adalgisa an, aber in den Duetten mit Norma ist sie tadellos. Schütter und hohl klingt der Bass von Brindley Sherrat, angemessen besetzt sind die kleinen Partien mit David Junghoon Kim (Flavio) umd Vlada Borovko (Clotilde). William Spaulding, lange an der DOB, leistet auch mit dem Chor von Covent Garden Großes, Antonio Pappano schwelgt mit dem Orchester in der unendlichen Melodie, ist von überwältigender Schönheit beim Vorspiel zum 2. Akt. Daran ändert auch die Inszenierung und Optik nicht.  (DVD Opus Arte 1247D). Ingrid Wanja      

Prachtband zum Jubiläum

 

Ein Fries mit den Statuen des Apollo und den ihm zugeordneten neun Musen, Töchter des Zeus und jeweils einer Kunstgattung zugeordnet, ist der Schutzumschlag für die untere Hälfte des Prachtbandes zum 275. Geburtstag der Staatsoper Berlin und weist auf die Inschrift über dem Portal des Hauses hin, so vom Erbauer Friedrich dem Großen gewollt und einst Zankapfel zwischen dem DDR-Regime und Dirigent Erich Kleiber. Bereits zum 250. Geburtstag des Hauses gab es einen noch weitaus dickeren Band mit dem Titel Apollini et Musis, aber das war ja auch zu einem noch runderen Geburtstag. Die gegenwärtige Festschrift nennt sich „Diese kostbaren Augenblicke: 275 Jahre Staatsoper unter den Linden“, enthält viele seltene und kostbare Fotos und gibt sich in Aufsätzen zu ganz unterschiedlichen Themen eher bildungsbewusst, als solche Momente beschwörend. Nach einem auch in Englisch abgedruckten Grußwort von Daniel Barenboim und den beiden Intendanten Flimm und Schulz, in dem Tradition und die Notwendigkeit neuer Impulse beschworen werden, werden in zehn Kapiteln, das erste Apoll, die weitern neun je einer der Musen beigeordnet, ganz unterschiedliche Themen behandelt, ist jedoch kaum von den magischen Momenten, die jeder Opernfreund schon erleben durfte, die Rede, am ehesten im Kapitel über die Dirigenten der Staatsoper, das besonders Barenboim gewidmet ist, aber da ist auch eher von sinfonischer Musik, so von Bruckner, etwas zu erfahren als von Opernerlebnissen.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Gemälde, dass die jeweilige Muse darstellen könnte, dazu gibt es einen kurzen Vers unterschiedlicher Herkunft, mal von Wieland oder aus antiker Quelle. Blättert man um, dann blickt man auf das Thema des folgenden Beitrags, einen erläuternden Untertitel und den Verfassernamen.   Die Verbindung zwischen dem Inhalt des Kapitels mit der Aufgabe der jeweiligen Muse erschließt sich nicht immer, aber die Idee als solche ist natürlich eine sehr hübsche.

Im Apoll gewidmeten Taxt von Detlef Giese geht es um den Knobelsdorff-Bau und seine vielfältigen Umbauten und seine mehrfache Zerstörung durch Feuer oder Krieg, die Umgestaltung durch Langhans und Paulick, den Kampf um die Inschrift.

Der Muse der Geschichtsschreibung, Klio, ist das Kapitel über Friedrich II. von Philipp Blom zugeordnet, dessen auch tätiges Interesse an der Oper (Montezuma), seinem Komponisten Graun und der ersten deutschen Primadonna. Urania geht dem Text (Susanne Kippenberger) über Schinkel und den Bühnenhimmel zur „Zauberflöte“ voran, Polyhymnia dem über Opernrevolutionen (Thomas Macho), der verwegen beide miteinander in Verbindung bringt, den Chor als deren Träger sieht und orakelt, was wohl das Verschwinden des Chors in den späteren Opern Wagners bedeutet.

Terpsichore lässt Stephanie Schroedter nach dem Wechselspiel zwischen Musik und Tanz fragen, kommt natürlich nicht um die Barberina herum und würdigt auch das Goldene Zeitalter unter Taglioni. Erato lässt nach den „Frauen in der Oper“ forschen (Daniel Schreiber), überschätzt vielleicht die Primadonnen, wenn er die Tenöre mit keinem Wort erwähnt. Tiefer gehender Forschungsarbeit hätte es vielleicht bedurft, um zu erklären, warum die Soprane (fast) immer sterben müssen.

Kalliope lässt Eva Gesine Bauer darstellen, wie Kleiber die Aufführung moderner Werke durchsetzte und welche Probleme ihm das Starwesen im Opernbereich bereitete. Dass dieses eher durch Film und Operette (Tauber) gefördert wurde, sei dahin gestellt, ebenso wie die Rivalität zwischen Lindenoper (Kleiber) und Krolloper (Klemperer) .  Misha Aster, von dem es ein auch neues Buch über die Staatsoper zwischen 1919 und heute gibt, steuert unter dem Zepter Melpomenes ein Kapitel über die Nazizeit bei. Thalia veranlasst Karl-Heinz Ott dazu, besonders über die Renaissance von Rossini nach dem Krieg und ganz besonders über den „Barbiere“ von Berghaus/Freyer zu berichten. Der entstand 1968 und ist bald 50 Jahre alt, aber die „Tosca“ von Barlog aus der Deutschen Oper folgt ihm mit nur einem Jahr Verspätung auf dem Fuße. Den „subjektiven Schmonzes“, den Berghaus zugunsten von „klassenspezifischen Charakteristika“ verbannte, sähe manch einer gern wieder auferstehen. (Übrigens singt Zerbinetta nicht nach Ariadne, sondern im Wechsel mit ihr.)

Euterpe beschließt den Reigen der Musen und lässt Holger Noltze mit viel Raum für Einerseits-Andererseits Daniel Barenboim portraitieren und dessen Verhältnis zu Furtwängler und zum „deutschen Klang“   erläutern. Eine umfangreiche Chronik (auch in Englisch wie das Grußwort) steht am Schluss des Buches, dass man mit Interesse und um einiges Wissen bereichert gelesen haben kann, ohne viel von den zitierten „kostbaren Augenblicken“ vermittelt bekommen zu haben – und die lassen sich wohl auch kaum beschreiben, sondern werden gefühlt (Carl Hanser Verlag, 288 S. ISBN   978 3 446 25757 3). Ingrid Wanja                                          

Von Göttern und Menschen

 

Nach dem Wotan und Wanderer in den konzertanten Aufführungen des Ring in Hong Kong widmet sich Matthias Goerne in einer groß angelegten Ausgabe bei harmonia mundi erneut der Musik des Komponisten (HMM 902250.51). The Wagner Project heißt diese Veröffentlichung auf zwei CDs, bei der das Swedish Radio Symphony Orchestra unter Daniel Harding nicht nur begleitet, sondern mit drei Vorspielen, einer Ouvertüre und zwei Instrumentalstücken maßgeblichen Anteil am Programm dieser Einspielung hat. Diese wird bestimmt von einer klugen Konzeption, welche die einzelnen Monologe inhaltlich und musikalisch einander zuordnet. Kein Arien-Potpourri also, wie häufig üblich, sondern eine Sinn stiftende Anordnung und programmatische Kombination mit den orchestralen Teilen zu großen, inhaltlichen Blöcken.

CD 1 ist betitelt  „Of Gods and Men“ (in freier Variation von George Londons berühmter Platte „Of Gods and Demons“). Sie beginnt mit dem grüblerischen Vorspiel zum 3. Akt der Meistersinger von Nürnberg, das in seiner Stimmung und Motivik die Nähe zum drei Jahre zuvor entstandenen Tristan zeigt und in welchem die tiefen Streicher einen wunderbar sonoren Klang hören lassen. Danach folgt Sachs’ nachsinnender Fliedermonolog, der die Verwandtschaft zwischen Sachs und König Marke offenbart. Goerne beginnt ganz duftig und introvertiert, wechselt dann zu grimmigem Ausbruch und endet in dem liedhaft-kantablen „Der Vogel, der heut’ sang“. Die Palette des Sängers mit feinen Nuancen und subtilen Zwischentönen ist enorm, die Stimme mittlerweile dem Bassbariton-Fach zuzuordnen. Der frühere samtweiche Ton des Organs hat sich nunmehr zu einem markigen Klang verändert.

Dem Tristan-Vorspiel, das in seinem sehrenden Charakter die Handlungszüge – Sehnsucht, Ekstase, Resignation, Verzicht, Trauer – offenbart, leitet über in Markes erschütternden Monolog „Tatest du’s wirklich“. Die tiefe Enttäuschung des Königs über den vermeintlichen Verrat seines Neffen macht Goerne auf bestürzende Weise deutlich. Ganz organisch schließt sich danach Isoldes Liebestod an, der die hohe spielerische Kultur des Orchesters demonstriert.

In den beiden Szenen des Wotan aus dem Rheingold und der Walküre spürt man die Erfahrung des Sängers in diesen Partien durch die Konzerte in Hong Kong. „Abendlich strahlt der Sonne Auge“ lässt in seinem majestätischen Auftrumpfen noch den triumphierenden Gott erkennen, während „Leb wohl, du kühnes herrliches Kind“ vom Abschiedsschmerz von der geliebten Tochter gekennzeichnet ist. Hier hört man Töne der Resignation, bei „Der Augen leuchtendes Paar“ auch berührende Momente der Zuwendung. Respekt gebietende Autorität besitzt der Schluss mit „Wer meines Speeres Spitze fürchtet“.

CD 2 trägt den Titel „Redemption“ und beginnt mit Szenen aus dem Fliegenden Holländer. Der Ouvertüre mit ihrem aufgepeitschten Beginn und dem nachfolgenden Motiv von Sentas sehnsuchtsvoller Ballade folgt der Monolog des ruhelosen, Erlösung suchenden Holländers. Goerne variiert im Ausdruck von Düsternis und Überdruss bis zum grimmigen Aufbegehren gegen sein Schicksal. Die Stimme zeigt sich souverän in Höhe wie Tiefe und auch den dramatischen Ausbrüchen gewachsen.

Der Wolfram im Tannhäuser zählt zu Goernes Bühnenrollen. Im Lied an den Abendstern gelingt ihm nach all den dramatischen und heroischen Szenen ein Beispiel von sublimer Lyrik. Beinahe zärtlich formuliert er „Da scheinest du“, innig und zugewandt erklingt der Gesang an den Abendstern, vom Orchester mit warmen Klängen getragen. Irritierend ist der abrupte Ausklang dieser Szene mit den einleitenden Takten zu Tannhäusers Auftritt für seine Romerzählung.

Beim Thema „Erlösung“ darf Parsifal nicht fehlen. Im Vorspiel zum 1. Aufzug und dem Karfeitagszauber zaubert der Dirigent eine feierliche, erhabene  Stimmung. Zwischen diesen orchestralen Teilen ertönt Amfortas’ schmerzliche Klage „Wehe! Wehe!“ aus dem 3. Aufzug, welche die einzigartige Stimme von Mathias Goerne mit ihrem persönlichen, zutiefst menschlichen Timbre  noch einmal in aller Eindringlichkeit ertönen lässt.  Vom lyrischen Bariton und exzellenten Liedsänger hat sich der Sänger inzwischen zum heldischen Bassbariton entwickelt, dessen Möglichkeiten wohl noch lange nicht erschöpft sind und sicher weitere Überraschungen erwarten lassen – wie sein Sarastro in der Salzburger Zauberflöte 2018. Bernd Hoppe